Sylt-Legende - Sebastian Thiel - E-Book

Sylt-Legende E-Book

Sebastian Thiel

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Beschreibung

Nachdem Kinder eine Schatulle mit dem Siegel der untergegangenen Stadt Rungholt fanden, wird Sylt von mysteriösen Vorfällen heimgesucht. Eine Frau im roten Rock geistert im Wattenmeer umher, alte Wracks tauchen wie aus dem Nichts aus den Fluten auf. Die Vorkommnisse gleichen einer alten Legende, welche die letzten Tage der Insel Strand beschreibt. Wird sich die Nordsee auch Sylt einverleiben? Oberkommissarin Lene Cornelsen ahnt, dass ein Sturm über ihre geliebte Insel hereinbrechen wird. Steht Sylt vor einer Katastrophe ungeahnten Ausmaßes?

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Sebastian Thiel

Sylt-Legende

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Martin / stock.adobe.com und Olha Rohulya / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7894-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1 – Wie bitte?

Lene brauchte ein paar Sekunden, um die Worte des Maklers sacken zu lassen.

»Wie bitte?« Sie sah sich um und ihre Stimme glitt eine Nuance tiefer.

Die Wohnung war in die Jahre gekommen, eine kleine Kochnische schmiegte sich eng zwischen Bett und Balkontür, die Raufasertapete wies einen gelblichen Ton auf und in die Einzimmerwohnung drang kaum ein Sonnenstrahl an diesem wundervollen Spätsommertag.

»Frau Cornelsen, dies ist leider der übliche Marktpreis, hier in Westerland. Tausenddreihundert Euro Kaltmiete.« Der junge Mann setzte ein Lächeln auf. »Aber die RE6 ist von der Nordstraße fußläufig erreichbar und zum Polizeirevier an der Stephanstraße ist es auch nicht weit.«

Lene deutete mit dem Finger nach draußen. »Der Balkon ist nach Norden ausgerichtet, oder?« Sie sah auf die viel befahrene Straße und blickte sich erneut in der renovierungsbedürftigen Wohnung um.

»Ganz genau«, antwortete der Makler freudestrahlend. »Eher was für Leute, die keine Sonnenstrahlen mögen.«

Sollte das ein Scherz sein?

»Auch deshalb können wir das Objekt so günstig anbieten.«

Günstig?

Lene musste einen Lachkrampf unterdrücken und zeitgleich verfestigte sich ein dicker Kloß in ihrem Hals. Das würde sie ruinieren. Dafür war sie von Düsseldorf zurück in ihre alte Heimat gezogen? »Das sind ungefähr tausendsechshundert warm, nur für Miete und Nebenkosten.«

»Mhh«, der Makler richtete seine Krawatte, hielt einen Moment inne und blätterte in seinen Unterlagen. »Rechnen Sie lieber mit tausendachthundert Euro. Denken Sie nur an die explodierenden Energiepreise. Andererseits, als Polizeioberkommissarin verdienen Sie bestimmt nicht schlecht.«

Sie seufzte resignierend. »Kennen wir dieselben Besoldungsgruppen? Außerdem läuft gerade meine Scheidung, und der Idiot von einem Ex-Gatten macht es mir nicht gerade einfach.«

Bei dem Gedanken knirschte sie mit den Zähnen. Selbst nach einem Jahr saß der Stachel noch tief in ihrem Fleisch. Trotzdem wollte sie sich nicht einfach geschlagen geben. Immerhin hatte Lene extra Urlaub genommen, einen schicken Zweiteiler angezogen, die brünetten Haare frisieren lassen und sich sogar dazu durchgerungen, ein wenig Dekolleté zu zeigen. Jetzt war es an ihr, sich ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.

»Kann man da nichts machen?«

Es klopfte an der Tür.

»Leider, nein.« Der Makler schüttelte den Kopf, als wollte er seinen Worten noch ein wenig Nachdruck verleihen. »Wie erwähnt, es ist der normale Marktpreis, und der wird eher steigen als fallen. Sehen Sie, die Groundcorp AG erwirbt massenhaft Grundstücke und Immobilien auf den nordfriesischen Inseln. Die Firma bietet den Eigentümern Höchstpreise, damit sie Wohnung und Häuser verlassen. Dies verknappt den Markt zusätzlich und, wie Sie sicherlich wissen, der Markt regelt den Preis. Dies dürfte Ihnen bestimmt geläufig sein. Aber …« Er vollführte eine kurze Kunstpause, während seine Augenbrauen zuckten. »… wenn Ihr Vater sein Friesenhaus am Lister Strand verkaufen würde, wären sicherlich genügend liquide Mittel da, um dort auszuziehen. Wenn Sie möchten, kann ich den Kontakt zu einer Investmentfirma herstellen und …«

»Nein, danke«, würgte sie ihn ab. »Mein Vater würde sein Haus nie verkaufen … und das ist auch gut so«, fügte sie leise hinzu. Lene bereute es, dass sie ihm ihre halbe Lebensgeschichte erzählt hatte. Das war allerdings notwendig, um überhaupt im Auswahlverfahren zu landen. Das Ausfüllen der umfangreichen Formulare reichte nicht. Der Makler ließ nicht locker. »Aber dann könnten Sie endlich ausziehen.« Die aufkommende Hast des Mannes war verschwunden, die Stimmlage wurde sanft und beinahe bedächtig. »Ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, mit zweiunddreißig Jahren wieder im Kinderzimmer zu wohnen.«

»Dreiunddreißig«, korrigierte Lene scharf. »Und mein altes Kinderzimmer habe ich nett hergerichtet.« Jedoch kam sie nicht umher, ihm schweren Herzens recht zu geben. Es war nicht einfach.

Es klopfte erneut, diesmal mit Nachdruck.

»Nun gut.« Der Mann schritt zur Tür. »Ich kann verstehen, wenn nicht genügend Finanzreserven zur Verfügung stehen. Die Zeiten sind hochkomplex, Sylt wird immer kostspieliger und ist definitiv nicht für jeden was.«

Lene musste sich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. Jetzt wurde sie schon von einem Mittzwanziger belehrt. Er breitete die Arme aus und verfiel in eine geschäftige Hektik. »Wenn die Groundcorp AG die Häuser und Wohnungen saniert, diese erschwinglicher sind oder Sie aufs Festland ziehen möchten, können Sie sich gerne noch einmal melden.« Der Mann öffnete die Tür und begrüßte ein älteres Paar.

Er Anzug, sie Kostüm – beide konnten sich bei der Begrüßung kaum einkriegen.

Lene war also nicht die Einzige, die einen Mummenschanz aufführte, um endlich eine Wohnung auf Sylt zu erhaschen. Es musste das Eldorado für Makler sein.

Sie nickte den Interessenten zu, die Herrschaften waren augenscheinlich froh, sie als Konkurrenz loszuwerden, und grüßten ebenso knapp zurück. Ein gemeines Geschäft war das.

Noch einmal drehte sich der junge Makler zu Lene und hielt ihr die Hand hin.

»Nun, denn.«

Die zwei Silben durchschnitten wie ein Hackebeil ihre Besichtigungszeit. Sie waren so endgültig, dass sie jetzt einfach verschwinden konnte.

»Vielen Dank für Ihre Zeit«, verabschiedete sich Lene, verstaute ihre Unterlagen, schritt aus der Wohnung und vernahm im Treppenhaus, wie der Makler zu seinem Eröffnungsmonolog ansetzte.

Natürlich gab es keinen Aufzug, warum auch, für schlappe tausenddreihundert Euro Kaltmiete? Schnellen Schrittes nahm sie die Treppen nach unten und stürzte aus der Haustür.

Es tat gut, den warmen Wind des Spätsommers und den salzigen Geruch der Seeluft zu spüren.

Manchmal war es nicht einfach, nach Hause zu kommen. Noch schwerer war es nur, die Heimat zu verlassen. Für einen Herzschlag dachte sie an die Nacht ihrer Abiturfeier zurück, als sie von einer nicht gekannten Sehnsucht gepackt wurde und beschloss, alle Zelte abzubrechen und die Insel zu verlassen. Sie wollte einfach nur weg, von ihrem Vater, von dem Getuschel, von den Gerüchten und die große, weite Welt sehen. Was wäre, wenn ihr neunzehnjähriges Ich sie heute sehen könnte? Hätte die junge Lene dieselbe Entscheidung getroffen, wenn sie gewusst hätte, dass sie nach vierzehn Jahren in Westerland stand und wieder zu ihrem Vater, in ihr altes Kinderzimmer schleichen musste? Zurück zu dem Ort, dem sie eigentlich für immer entfliehen wollte?

»Lehnchen?«

Die schwache Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

Lene sah hoch, erblickte ein allzu bekanntes Gesicht. »Frau Sörensen?« Die alte Dame lehnte mit dem Ellenbogen auf dem Fensterrahmen eines der nebenstehenden Mehrfamilienhäuser. Neben ihr lag der dicke Mischa. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie daran zurückdachte, wie sie den alten Kater letztes Jahr aus der Nordsee gefischt hatte. »Was machen Sie hier? Warum sind Sie nicht in der Jugendherberge?«

»Ach, Kindchen.« Ihr Blick bekam einen sehnsuchtsvollen Einschlag, sie wirkte verloren und unendlich müde. »Hast du es nicht gehört? Möwenberg ist nicht mehr.«

»Wie bitte?« Diese Frage stellte sie heute wohl öfters.

»Alles wird teurer, Lehnchen. Am Ende konnten wir einfach die Kosten nicht mehr bezahlen und mussten verkaufen. Gereicht hat es für das hier.« Sie nickte in ihre Wohnung und streichelte Mischas Bauch. »So hab ich mir das Alter nicht vorgestellt. Nicht einmal das Meer sehe ich von hier.«

»Aber Sie wohnten schon immer in der Jugendherberge«, protestierte Lene gegen einen unsichtbaren Feind. »Sind sogar dort geboren.«

Die alte Dame zuckte mit den Schultern. »Was willste machen? Ist der Lauf der Dinge.«

Typisch nordischer Pragmatismus.

Kaum zu glauben. Sie selbst hatte als Kind in Möwenberg genächtigt und die Schönheit der Nordgrenze im Morgengrauen bewundert. Als Kinder hatten sie sich ausgemalt, wie es wohl damals gewesen war, als der Königshafen tatsächlich noch befahren wurde. Alles weg, weil die exorbitanten Preise die Sylter von der Insel trieben.

»Und du?«, wollte Frau Sörensen wissen und atmete tief, als ob sie versuchen wollte, die bösen Gedanken zu verdrängen. »Siehst schick aus. Hab dich fast nicht erkannt ohne den Friesennerz und die Gummistiefel.«

»Ja, als Kind habe ich nichts anderes getragen.« Lene zupfte an ihrem viel zu teurem Zweiteiler und bemerkte, dass die Stöckelschuhe gehörig zwickten. »Ich habe heute frei, wollte mir eine Wohnung angucken, damit ich mal bei Vater rauskomme.«

»Lass mich raten: zu teuer?«

Lene nickte, selbst Mischa miaute zustimmend. »Eine Schande, dass die das zulassen«, sagte sie leiser und deutete auf die Wahlplakate. »Was halten Sie von denen?«

»Den Politikern?« Die alte Dame lachte auf und nickte in Richtung des Mannes mit Mondgesicht und Halbkranz auf den altbackenen Abbildungen an den Straßenlaternen. »Bürgermeister Dericksen ist schon ewig im Amt. Mal lief es besser, mal schlechter, aber nie so schlimm wie jetzt.«

Die Frau auf dem Plakat neben ihm war nun an der Reihe. Sie wirkte weitaus adretter, eine elegante Frau in ihren Vierzigern, deren Augen vor Tatkraft nur so strotzten. »Vielleicht ist es mal Zeit für einen Wechsel. Diese Helena van Huisen ist beileibe keine Sylterin, macht aber einen ganz ordentlichen Eindruck.« Frau Sörensen seufzte. »Zumindest stemmt sie sich gegen die ganzen Grundstücksverkäufe.«

Sie wollte noch antworten, öffnete die Lippen, doch ein Donnergrollen hallte auf die Insel herab. Ihre Blicke zog es gleichzeitig zu der nahenden, betongrauen Wolkendecke. Lene kannte ihre Insel nur zu gut. Sie konnte wunderschön sein, sanft und geruhsam, ebenso war sie imstande, sich innerhalb kürzester Zeit zu einem gemeinen Biest zu verwandeln.

»Du solltest dich sputen, nach Hause zu kommen, Lehnchen.«

»Ja«, stimmte sie der alten Frau Sörensen zu. »Kein Nachmittag, um draußen zu sein und im Watt zu tollen.« Sie konnte sich kaum vom Anblick losreißen. Blitzschnell trug der Wind die Wolkendecke über ihre Köpfe. Erinnerungen an das letzte Jahr wurden wach und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Die Windstöße, noch vor wenigen Minuten zärtlich wie eine Feder, rissen nun am dünnen Stoff des Kleides. Plötzlich kam sie sich in ihrem Aufzug unheimlich albern vor. Die Passanten um sie herum beschleunigten ihre Schritte, Sommerjacken wurden geschlossen, Kragen umgeschlagen. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass ein Unheil nahte. Lene ging zu ihrem angelehnten Mofa und nahm den Helm in die Hand. Wenn sie jetzt auch noch durchnässt nach Hause käme, war der Tag vollends im Eimer. Andererseits … schlimmer konnte es nicht werden. Oder?

»Du klingelst.«

Lene musste den Gedanken abschütteln. »Wie bitte?«

»Du klingelst, Lehnchen.«

Erst jetzt bemerkte sie die lauter werdenden Töne in ihrer Handtasche. Auf dem Display war die Nummer des Sylter Polizeireviers zu erkennen.

»Oberkommissarin Cornelsen«, meldete sie sich pflichtbewusst.

Einen Wimpernschlag herrschte Ruhe, dann drang die monotone Stimme ihres verhassten Chefs an ihre Ohren.

»Guten Tag, Frau Oberkommissarin. Mathissen hier. Wir haben ein Problem.«

Kurz schloss sie die Augen. Sie hatte sich offensichtlich geirrt, der Tag wurde schlimmer. Viel schlimmer.

»Es ist mein freier Tag.«

»Polizisten haben keine freien Tage, merken Sie sich das.«

Sie wollte antworten, ihr Chef fuhr in seiner roboterartigen Weise jedoch unbeirrt fort.

»Wir brauchen Sie am Übergang 78. Dort scheint es einen Aufruhr zu geben. Uns liegen mehrere Meldungen vor und wir haben nicht genug Kräfte, um aller Eventualitäten Herr zu werden. Wann kann ich mit Ihrem Eintreffen rechnen?«

Mein Gott, sie war sich immer noch nicht sicher, ob dieser rothaarige, überkorrekte Robocop nicht doch ein Experiment aus der Zukunft sei, um die Leidensfähigkeit der hiesigen Polizisten auf die Probe zu stellen.

Sie versuchte zu protestieren: »Verzeihen Sie, aber ich bin weder für einen Einsatz angezogen, noch habe ich Rufbereitschaft. Es ist gar nicht möglich …«

»Möglich ist es immer, wenn Sie es machen«, unterbrach er sie harsch und nahm gleichzeitig ein anderes Telefonat entgegen, um dem Anrufenden mitzuteilen, dass er warten solle.

Anscheinend war die Hütte wirklich am Brennen.

Die Wolkendecke wurde undurchdringlicher, einige Tropfen fielen auf ihre nackte Haut. Kater Mischa gab noch einmal ein Wort des Abschieds von sich und sprang von der Fensterbank in die Wohnung.

»Gut«, gab Lene sich geschlagen. »Mit was habe ich zu rechnen?«

»Die Lage ist unklar. Manche reden von angespültem Treibgut, andere von Handgreiflichkeiten«, gab Hauptkommissar Mathissen kurz angebunden zum Besten. »Seien Sie einfach auf alles vorbereitet.«

»Ich habe nicht mal Pfefferspray, geschweige denn meine Dienstwaffe dabei.«

»Dann benutzen Sie Ihren Kopf.«

Natürlich. Charmant wie immer.

»Treibgut? Kommt mir seltsam bekannt vor«, dachte Lene laut und sah zu Frau Sörensen. Sie hatte dem Gespräch aufmerksam zugehört.

Der Hauptkommissar wurde noch ruppiger. »Von einer Leiche haben wir keine Meldung, und ich möchte nicht, dass Sie solche Gerüchte in die Welt setzen.« Sein Ton wurde noch schärfer. Er wusste, worauf sie hinauswollte. »Reißen Sie sich zusammen. Ich bin mir sicher, das letzte Jahr war hart für Sie, trotzdem sollten Sie bedenken, dass weder Flüche noch alte Wikinger existieren, welche die Insel heimsuchen. Machen Sie einfach Ihre Arbeit. Haben Sie verstanden, Frau Oberkommissarin?«

»Ja, habe ich«, antwortete sie leise und musste schlucken, wenn sie an die vorangegangenen Ereignisse dachte.

»Gut.« Dann klickte es in der Leitung. Er mochte sie nicht, so viel war klar, und das lag bestimmt nicht daran, dass sie sich damals, als Jugendliche, Mopedrennen auf den Lister Straßen geliefert hatte, während er seine ersten Dienstjahre schob. Hastig steckte sie ihr Mobiltelefon in die Handtasche. Sie musste sich eilen.

Der Regen nahm zu und die Wolken legten einen dunklen Schleier über die Insel. Die vormals hell erleuchteten Straßen wurden in dickes Grau gepackt und kein Mensch war mehr auf dem Asphalt zu sehen.

»Sei vorsichtig, Kindchen«, rief die alte Dame gegen den Wind und war im Begriff, das Fenster zu schließen. »Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.«

Lene nickte, zog sich den Helm auf und stieg auf ihr Moped. »Ich auch nicht, Frau Sörensen. Ich auch nicht.«

Dicke Regentropfen klatschten gegen das Visier ihres Helms, während sie die Rantumer Straße nach Hörnum nahm. Selbst jetzt, während dieser düsteren Suppe aus Dunst und Regen, kämpften sich einige Sonnenstrahlen durch den trüben Wolkenteppich und beleuchteten die Dünen. Der Sand schien zu strahlen und die Straße wie eine Markierung zu flankieren. Weiter draußen tobte das Meer, und Schilf tanzte im aufkommenden Wind. Lene liebte dieses Wetter. Früher hatte sie oftmals stundenlang am Fenster gesessen und zugesehen, wie die Gischt im Blanken Hans brach. Nur, zu diesen Zeiten draußen sein, gestaltete sich oftmals schwierig, und noch schlimmer war es, bei diesem Wetter zu arbeiten … besonders ohne passende Kleidung. Aber das war sie ja mittlerweile fast gewöhnt.

Es dauerte, bis sich ihr uraltes Moped durch den Regen gekämpft hatte und Lene es zwischen der Schutzstation Wattenmeer und dem Hapimag-Resort am Hundestrand an einer Straßenlaterne anlehnen konnte. Den Weg durch die Dünen fand sie mühelos. Sie erinnerte sich nur zu gern, wie ihre Eltern sich hier immer besonders beeilten, damit sich die kleine Lene den FKK-Strand nicht allzu genau ansah.

Bereits auf der Düne erkannte sie, was ihr Chef meinte. Trotz des schlechten Wetters hatten sich circa fünfundzwanzig Menschen an einem unscheinbaren Abschnitt am Strand versammelt. Einige waren bereits mit Regenjacken ausgestattet und waren offensichtlich neu hinzugekommen. Jene allerdings, die ganz vorn standen, trugen teilweise noch kurze Hose und Shirt. Das Ereignis musste so spannend sein, dass selbst der Regen sie nicht vertreiben konnte. Von ihren Kollegen war keine Spur zu sehen, weder Rettungssanitäter noch Feuerwehr waren zugegen. Und das, obwohl die Wache in Hörnum nur einen Steinwurf entfernt lag.

»Na, großartig«, flüsterte sie, zog die Stöckelschuhe aus und schritt barfuß durch den nassen Sand.

Lene wurde augenblicklich klar, Mathissen hatte sie allein losgeschickt. Wollte er sie auflaufen lassen, sie zu Fehlern zwingen oder sollte sie tatsächlich nur die Lage auskundschaften?

Sie biss auf die Zähne. »Polizei! Was ist hier los?«

Ein paar Menschen drehten sich um, von den meisten wurde sie ignoriert. Freie Sicht auf das, was die Passanten angafften, hatte sie immer noch nicht.

Ein merkwürdiges Bild musste sie abgeben. Ohne Schuhe, im viel zu schicken Dress, nass bis auf die Knochen und sich Gehör verschaffend. Da die meisten der hier anwesenden Touristen waren, konnte Lene nicht mal auf den Inselbonus hoffen. Sie spürte, wie die Wut in ihr hochstieg, und holte tief Luft.

»Ich sagte, Sie sollen zur Seite gehen«, schrie sie und drückte die Menschen weg. »Ich bin Polizistin und möchte wissen, was hier …«

»Lehnchen! Was machst du für einen Aufruhr?«

»Vater?« Sie traute ihren Augen nicht. Roluf war mitten im Geschehen. Zwischen all den Leuten kniete er bei einem halben Dutzend Kindern und begutachtete eine modrige Schatulle. Lene trat näher. »Ich soll die Lage checken.«

»Die Lage ist gut«, antwortete er ruhig und fuhr sich durch seinen Vollbart. »Ich war spazieren und wurde von den Kindern gerufen, die das hier gefunden haben.« Roluf drehte sich zu der murmelnden Masse. »Leute, macht mal ein wenig Platz!«

Die tiefe Stimme ihres Vaters rollte über den Strand. Erst jetzt erkannte Lene etliche bekannte Gesichter unter den Kindern. Da war die kleine Hanna von den Buffters, Nele und Rico von den Hanssens, die etwas älteren Mats und Andreas. Alles Sylter Kinder, die mit staunenden Augen etwas in ihren Händen drehten und wendeten. Einige der Umstehenden versuchten, ebenfalls die Schatulle zu berühren, und wurden von ihrem Vater harsch zurechtgewiesen.

Lene kniete sich hinab.

»Hast du die Wohnung?«, wollte Roluf wie aus dem Nichts wissen. Dabei ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen und fuhr beinahe andächtig über das Holz der kleinen Kiste. »Und wieso bist du bei diesem Wetter so angezogen?«

»Bitte was?«

»Die Wohnung?« Er bedachte sie mit einem kritischen Blick. »Hast du sie bekommen? Du wolltest doch so dringend ausziehen.«

Wieso fing er hier mit so etwas an? »Äh, nein.« Verdammt, es wurde langsam frisch. Sie rieb ihre Hände aneinander. »Komme gerade von da. Ist alles zu teuer, aber das spielt im Moment überhaupt keine Rolle. Was zum Teufel ist hier los?«

»Das weiß ich noch nicht so genau. Aber es ist außergewöhnlich. Hab Geduld.«

Geduld. Etwas, das noch nie Lenes Stärke war. Der ehemalige Gymnasiallehrer und Hobbyarchäologe schnalzte mit der Zunge und war sofort wieder in seinem Element.

»Sieh dir das an«, forderte ihr Vater sie auf und drehte die Schatulle wie eine Kostbarkeit. »Siehst du das?«

»Nicht wirklich.« Lene verschärfte im Licht der Handytaschenlampen ihren Blick. »Sind da zwei Figuren eingearbeitet?«

»Heilige.« Das Wort kam nur geflüstert über Vaters Lippen, fast als hätte er Angst, ihre Namen auszusprechen. Seine Augen weiteten sich seltsam, und für eine Sekunde bekam es Lene mit der Angst zu tun. »Laurentius und Petrus. Sie waren die Patrone der Edomsharde.«

»Der Edoms… was?«

Vom Druck der immer dichter drängenden Menschen wurde sie nach vorn geschoben. Der stechende Schmerz eines Knies in ihrem Rücken durchfuhr sie.

»Bleiben Sie zurück, habe ich gesagt!«

Während die Passanten um sie herum wild durcheinander redeten, der Regen weiter auf sie einprasselte und Handykameras blitzten, erkannte Lene etwas Glitzerndes in den Fingern der Kinder.

»Sind das …?«

»Goldmünzen«, flüsterte ihr Vater.

Lene wurde leise, kam näher. »Sind die echt?«

Vorsichtig öffnete Roluf die Schatulle einen Spalt. Sie war randvoll mit dem glänzenden Metall. Er schloss sie und blinzelte ihr verschwörerisch zu. Lene verstand sofort, was die Leute hier wollten und was ihr Vater zu schützen versuchte.

Sie wandte sich flüsternd an die Kinder. »Wie wäre es, wenn ihr euren Schatz einsteckt und niemandem zeigt?« Anschließend erhob sie sich und breitete die Arme aus. »Bitte halten Sie Abstand«, befahl sie. »Ich bin Polizistin und Sie behindern eine Ermittlung.«

Nachdem Lene ihre Worte mehrmals wiederholt hatte, gelang es ihr, ihren Vater und die Kinder von der Masse ein wenig abzuschirmen. Viele Schaulustige hatten etwas mitbekommen und versuchten, wieder in die Nähe der Schatulle zu gelangen. Teilweise charmant, teilweise eher weniger und mit den üblichen Beleidigungen gegen die Polizei, den Staat und die Ungerechtigkeit auf dieser Welt.

»Bleiben Sie zurück, verdammt!«, schrie sie den lauter werdenden Pulk an und wählte die Nummer ihrer Arbeitsstätte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie endlich eine Stimme. »Hauptmeisterin Schafböck, Polizeirevier Sylt. Guten Tag, was kann …?«

»Frau Schafböck, Cornelsen hier, bitte schicken Sie alle verfügbaren Einheiten zum Aralsteg. Die Leute drehen hier langsam durch«, rief sie dem pfeifenden Wind entgegen.

»Tja, es sind leider kaum welche verfügbar.« Das Rauschen der Wellen übertönte ihre Stimme beinahe. »Alle sind bei …«

Die letzten Worte waren nicht zu vernehmen.

»Bitte was?« Lene hielt sich ein Ohr zu und drückte einen Mann beiseite, der nur mal kurz gucken wollte.

»Sind alle auf diesem Politikertreffen.« Die Schafböck rief in den Telefonhörer. »Die wollten im Wahlkampf ein paar Hände schütteln, Fotos machen, versprechen, dass die Sylter Polizei bald aus den Containern rauskommt und wieder an die Kirchstraße ziehen kann, und, und, und. Deshalb sind nur wenige Kräfte auf den Straßen.«

Lene verstand die Botschaft abgehackt, aber ausreichend. Ihr Vater und sie hatten alle Hände voll zu tun, die Schatulle von den Menschen abzuschirmen. Mittlerweile wurden auch die Kinder unruhig, im Schein der Handys wurde die Situation undurchsichtiger … und gefährlicher.

»Schicken Sie jeden, den Sie haben«, brüllte sie in ihr Mobiltelefon. »Ansonsten kann ich für nichts mehr garantieren. Sagen Sie das dem Hauptkommissar.«

»Leider nicht möglich, Lene.«

Sie biss sich auf die Lippen. »Er ist auch bei diesem Treffen, oder?«

»Gibt Häppchen und Sekt im Rathaus.« Die alte Schafböck stöhnte auf. »Warten Sie, ich komme mit allen, die noch hier sind, und reiße Mathissen aus seiner PR-Veranstaltung.«

Wieder einmal war sie der alten Schafböck unendlich dankbar. Sie war die Einzige, von der sich Mathissen zumindest ein bisschen etwas sagen ließ, und nicht nur wegen der Sache im letzten Jahr. Lene wurde nur allzu bewusst, wie glücklich sie sich schätzen musste, dass so jemand auf der Container-Wache die Stellung hielt.

»Beeilen Sie sich, Frau Schafböck. Danke.«

»Machen wir. Geben Sie uns zwanzig Minuten.«

Lene ließ das Handy in ihre umgehängte Handtasche gleiten und sah zu ihrem Vater.

Er stand auf, stellte sich neben sie, vor die Kinder. Gemeinsam blickten sie gegen eine lauter werdende Meute. Sie waren die Protagonisten etlicher Handyvideos und wurden vom Schein der Lampen angestrahlt. Regen klatschte in ihre Gesichter, Lene war durchnässt und fror. Doch ihre Augen, sprühten vor Angriffslust.

Roluf räusperte sich. »Das werden sehr lange zwanzig Minuten.«

»Mhh.«

*

Es dauerte, bis sich die Situation beruhigte. Lene fiel ein Fels vom Herzen, als sie die Signalhörner auf der Straße vernahm und Blaulicht durch das wogende Dünengras zu erahnen war. Frau Schafböck und drei weitere Beamte konnten die Menschen auseinandertreiben, kurz danach traf ein Wagen mit weiterer Verstärkung ein. Unter anderem Hauptkommissar Mathissen, der überhaupt nicht glücklich darüber zu sein schien, an den regnerischen Strand gerufen worden zu sein.

»Was veranstalten Sie hier?«, wollte er nach einigen Minuten wissen. »So viel Aufruhr wegen ein wenig Treibholz?«

»Das sind keine einfachen Bretter«, blaffte Roluf ihren Chef an. »Und ganz bestimmt kein normales Schwemmgut. Sehen Sie es sich doch an!«

Mathissen warf einen kurzen Blick auf die Schatulle, kniete sich hin und öffnete sie langsam. Der Hauptkommissar hielt inne. Anscheinend dämmerte es ihrem Chef, warum die Menschen so reges Interesse an der Kiste hatten.

»Absperren und Meldung machen«, befahl er seinen Leuten kurz angebunden, drehte sich zu Lene und drückte ihr die Stöckelschuhe in die Hände. »Jegliche Gegenstände werden ausgehändigt, und was Sie angeht … Es ist schon erstaunlich, dass Sie erneut im Fokus des Interesses stehen und dass dies alles unwiderruflich im Internet zu finden sein wird.« Er richtete seine straff sitzende Uniform und schlug den Kragen seiner Polizeijacke enger. »Haben Sie ein Faible für derlei Auftritte in Handyvideos? Planen Sie eine Karriere als Influencerin?«

»Ich habe nicht darum gebeten, hier zu sein.« Lene widerstand den Drang, über ihre Arme zu reiben. Ihre Hände formten Fäuste. »Das hätte jeden anderen auch treffen können.«

»Natürlich.« Seine Stimme bekam einen fordernden Einschlag. »Doch solche Dinge passieren immer Ihnen. Schon komisch, nicht wahr?« Mathissen drehte sich auf dem Absatz und ordnete den Einsatz, während Lene, ihr Vater und die Kinder bei der schmalen, unscheinbaren Truhe zurückblieben.

»Geht nach Hause, Kinder. Das ist kein Wetter für euch«, forderte Roluf die Kleinen auf und zwinkerte ihnen zu. »Behaltet ruhig die paar Münzen, die ihr eingesteckt habt. Als Andenken«, flüsterte er mit einem Lächeln, wohlwissend, dass dies gar nicht dem offiziellen Prozedere entsprach. Offensichtlich hatte Vater über die letzten Jahre seine weiche Seite entdeckt. »Immerhin habt ihr den Schatz gefunden, aber erzählt niemandem davon. Habt ihr verstanden?«

Die Kinder erwiderten mit kollektivem Nicken und waren alsbald vom Strand verschwunden. Vom Regen durchnässt, die Haare im Gesicht klebend, aber glücklich.

In der Ferne grollte ein kaum zu vernehmender Donner, als Lene ihre Stöckelschuhe fester griff und hinaus auf die See sah.

»Was war das für ein Blick?« Ihre Stimme war gerade so laut, dass Roluf sie vernehmen konnte.

»Was meinst du?«

»Als du dieses Wort aussprachst. Edomsharde. Es schien, als hättest du Angst.«

»Keine Angst, aber Ehrfurcht.« Er gesellte sich neben sie, legte seine Regenjacke um ihre Schulter. »Die Edomsharde war ein Verwaltungsbezirk in Nordfriesland. Zuständig für die Insel Strand.«

»Bitte, was?« Sie musste dringend damit aufhören.

Trotz der Tatsache, dass ihre Lippen zu zittern begannen, die Gelenke steif wurden wie Granit und sie Feuchtigkeit und Kälte vollends umfasst hatten, wurde Lene plötzlich heiß.

»Du hast richtig verstanden«, antwortete Roluf. Gemeinsam sahen sie dabei zu, wie zwei Kollegen die Schatulle mit einer Folie bedeckten und sie im Begriff waren, das kostbare Stück vom Strand zu entfernen. »Wer weiß, welche Geheimnisse der Blanke Hans noch vor uns versteckt?« Er berührte sie kurz an der Schulter. Eine Gefühlsregung, zu der er vor wenigen Jahren noch nicht imstande war. Er gab sich wirklich Mühe, in letzter Zeit. »Geh nach Hause, Lehnchen. Du bist ja ganz durchgefroren. Tut mir leid, dass es mit der Wohnung nicht geklappt hat.« Seinen Blick zog es weit auf die drohende See hinaus. »Denk nicht so viel darüber nach. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Tragödien sich auf unserer geliebten Nordsee abspielten.«

Ihr Vater schritt zur Kiste und hatte Mühe, im nassen Sand das Gleichgewicht zu wahren. Mit vielen Anweisungen half er dabei, die Schatulle vorsichtig von den klebrigen Körnern zu befreien.

Für einen letzten Moment sah sie hinaus auf das wilde Wasser. Wenn sie ruhig war, schimmernd in der Sonne lag und die Möwen über ihr kreischten, wurde sie einfach Nordsee genannt. Allerdings besaß sie auch einen anderen Namen, und den nicht erst seit gestern. Denn das Wasser konnte auch anders. Schäumend vor Zorn verschlang der Blanke Hans an manchen Tagen alles, was sich ihm in den Weg stellte. Unbarmherzig griff er bei Sturmflut nach allem, was den Menschen lieb und teuer war. Nicht wenige waren der reißenden Kraft zum Opfer gefallen.

Lene kannte die Seiten, welche dem Meer innewohnten. Sie mochte beide. Auf ihre ganz spezielle Weise.

»Manchmal doch, Vater«, hauchte sie leise ihrer Nordsee entgegen. »Manchmal doch.«

Kapitel 2 – Ein Sturm zieht auf

Rungholt, Dezember im Jahre 1361 Fünf Wochen vor dem »Großen Ertrinken«

»Wo bist du mit den Gedanken, Liebster?«

Jasper Bleicken drehte sich langsam um, lehnte sich an die Torfplaggenwand des Grassodenhauses und fixierte ihren nackten Körper. Der Schweiß auf ihrer Haut war beinahe getrocknet. Nur die dunkleren Spitzen ihrer langen blonden Haare zeugten noch davon, dass sie sich eben noch geliebt hatten.

Das Licht der lodernden Feuerstelle ließ ihre Haut in einem rötlichen Ton erscheinen. Ihr Lächeln machte, dass seine Knie ein ums andere Mal weich wurden, und verdrängte die düsteren Überlegungen zumindest für den Zeitpunkt eines Wellenbruchs.

»Irgendetwas passiert, Jella«, raunte er und sah wieder hinaus, durch die Luke des kleinen Hauses. »Die See ist unbeständig.«

»Ach, Jasper.« Sie lachte herzhaft, spielte mit ihren Haaren und erhob sich schlussendlich, um ihn von hinten zu umarmen. Gemeinsam sahen sie nach draußen. »Die See ist immer rau. Sie ist wild und ohne Gnade. Wir leben auf einer Insel.«

»Diesmal ist es anders«, hauchte er und küsste ihren Arm. »Mich beschleicht ein seltsames Gefühl.«

Noch einmal strich sie mit ihren Fingern seine Brust herab, umspielte die Bauchmuskeln, bis sie an seinen Lenden angelangt war. Auch hier verweilten ihre Fingerspitzen ein paar Sekunden, berührten zärtlich seine intimste Stelle, während sie seinen Rücken mit Küssen bedeckte. Es tat so unendlich gut, sie bei sich zu haben. Jasper schloss die Augen und genoss.

»Bist du sicher, dass nichts anderes dein Seelenheil belastet?«

Mit einem Mal versiegten ihre Zärtlichkeiten. Sie ließ von ihm ab, warf sich ihr Leinengewand über und nahm auf dem Bett Platz. Plötzlich war sie es, die von Schwermut ergriffen wurde. Jasper riss sich von der weit entfernten See los, nahm neben ihr Platz und küsste ihre Schulter.

»Wie meinst du das, mein Abendstern?«

»Du weißt, wie es um deinen Vater steht. Er ist der mächtigste Kaufmann von ganz Rungholt, ja, der gesamten Insel Strand. Torf, Leinen, Salz, Bernstein, alles geht über den Hafen, bis tief ins Rheinland. Die Einwohner von Pellworm, Nordstrandischmoor und Buphever zählen auf euch, und die Verwaltung der Edomsharde wird nicht zulassen, dass diese Geldquelle versiegt.« Ihre Stimme wurde leise, war von Trauer durchzogen. »Die Harde und die anderen Kaufleute der Insel werden darauf drängen, dass du dich schnell vermählst und die Erbfolge sicherstellst.«

Jasper stöhnte auf und vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Nicht schon wieder, Jella. Du bist die Einzige, der mein Herz gehört.«

»Nein, Jasper.« Erneut lachte sie. Dieses Mal waren der Ursprung jedoch Trübsinn und die Schärfe ihres Verstands. »Du musst eine der hübschen Töchter der anderen Kaufleute ehelichen. Nur so stellst du den Pfaffen und Würdenträger zufrieden.«

»Ich kann heiraten, wen ich will«, versuchte er zu protestieren, wohlwissend, dass sie recht hatte.

»Du willst dich gegen die ganze Insel und die Edomsharde stellen?« Sie schüttelte den Kopf, wurde vor verzweifeltem Trotz lauter. »Sieh dich um, mein Geliebter. Mein Vater und ich wohnen in einer kleine Torfhütte, wir sind Salzbauern, leben von dem, was wir am Vortag verdienen.« Behutsam strich sie über seine Wange und schenkte ihm ein Lächeln, in das er sich bereits vor vielen Monden verliebt hatte. »Es war ein wunderschöner Traum, mein Morgenstern, aber irgendwann müssen wir alle aufwachen, und dieser Zeitpunkt ist gekommen, wenn dein Vater von uns gegangen ist. Versprich mir, dass du mit einer der wohlerzogenen Töchter glücklich wirst. Dass du viele Kinder zeugst und ein zufriedenes, reiches Leben führst.«

Er sah in ihre wasserblauen, feuchten Augen. »Du weißt, dass ich das nicht kann.«

»Dennoch flehe ich dich an, genau dies zu tun«, sagte sie und küsste seine Lippen hastig. »Wir haben keine Zukunft, hier auf der Insel oder sonst wo. Mir ist ein hartes Leben beschieden, aber du, Jasper, du bist zu etwas anderem geboren.«

Wie oft hatten sie das Gespräch bereits geführt. Die Monate mit ihr waren das Einzige, was ihm Kraft gab, die vor ihm liegenden Aufgaben zu bestreiten. Und nun sollte er das alles hinter sich lassen, nach vorn sehen und ihren Duft, ihre Augen und das atemberaubende Lächeln einfach vergessen? Jasper weigerte sich, auch nur daran zu denken.

»Mitnichten, mein Abendstern.« Er erhob sich, zog seine Kleidung an und warf noch einen Holzscheit in die Glut. »Wir werden einen Weg finden. Glaube mir. Gemeinsam werden wir zufrieden diese Welt verlassen.«

Jella lächelte niedergeschlagen, stand auf, drückte ihn an sich und versuchte erneut, ihm die Worte abzuringen. »Versprich mir, dass du mit jemand anderem glücklich wirst«, hauchte sie und drückte seine Handgelenke so fest, dass es ihm beinahe schmerzte. »Ich flehe dich an.«

Was sollte er tun?

Wenn er in ihre Augen sah, konnte er gar nicht anders, als ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Selbst diesen.

Er nickte zaghaft. Die Sekunden fühlten sich wie eine Ewigkeit an. »Ich verspreche es.«

»Gut.« Jella schloss die Augen. »Der Abend bricht heran, und mein Vater kommt bald heim. Du solltest jetzt gehen.«

»Jella, ich …«

»Nein. Mach es mir bitte nicht schwerer, als es ohnehin schon für mich ist. Ich werde dich immer lieben, Jasper, mein dummer, dummer Jasper.« Sie drückte ihm seinen gefütterten Wams in die Hände. »Und jetzt geh bitte. In Rungholt ist deine ständige Abwesenheit bestimmt bereits Gespräch.«

Sie wandte sich ab. Jasper konnte ihr Gesicht nicht sehen, hörte jedoch, dass sie schluchzte.

Jedes Wort wäre eins zu viel gewesen. Langsam schlich er zur Tür hinaus und schloss sie hinter sich. Sein Herz war schwer, der Kopf voller aufwühlender Gedanken. Selbst die eiskalte Luft der See konnte die Überlegungen nicht sortieren. Obwohl er zu gern seine Jella noch Stunden im Arm gehalten hätte, machte er sich schnellen Schrittes auf zum Hafen. Mehrmals sackte er dabei auf den nassen Wegen ein. Ständiger Regen hatte Lehm und Sand aufgeweicht. Nachdenklich sah er zum grauen Meer. Die Wellen schlugen ununterbrochen auf die Stackdeiche, als ob sie wütend auf das Holz wären. Mit seinem geübten Blick konnte er erkennen, dass einige Stellen bereits morsch waren und dringend einer Ausbesserung bedurften. Den Bauern von Strand allerdings mangelte es an Geld, um die nötigen Reparaturen durchzuführen. Wenn sein Vater starb und er Zugriff auf das Vermögen hatte, würde er dafür Sorge tragen, dass die Harde einen Teil dazu beitrug, um den Hafen und die Gemeinden besser zu schützen. Auch die Warften, auf denen Häuser, ja sogar das Gotteshaus lagen, mussten besser befestigt werden. Immerhin konnte sich die Insel mehrerer Kirchenspiele rühmen. Sicherlich ein schützenswertes Gut, wie auch die feinen Herren der Harde befinden würden.

Den Hafen, die Rungholter Kirche und die friesischen Langhäuser erkannte er schon von Weitem. Die Sonne verabschiedete gerade den Tag, als er sein Elternhaus erreichte. Jasper stutzte, wurde langsamer und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Es war nicht selten, dass sein Vater in den Abendstunden noch Gäste empfing. Heute jedoch schien sich eine richtige Menschentraube vor dem Haus gebildet zu haben. Er konnte durchs Fenster sehen, dass die Flammen in der Feuerstelle hoch loderten. Dies machte sein Vater nur, wenn besonders hoher Besuch nahte.

Jasper sah an sich herab. Sein Schuhwerk war voll mit Schlamm, dicke Spritzer waren auf den Hosenbeinen zu erkennen. Er war ausgezehrt von den vielen Stunden mit Jella, sehnte sich nach einem guten Abendbrot und einer Portion Schlaf. Doch daraus sollte anscheinend nichts werden.

Die niedergeschlagene Stimmung bemerkte er bereits, als er das Haus betrat. Neben einer drückenden Hitze, die so gar nicht zu dem kühlen Winterabend passen wollte, wieherten die Pferde vor dem Haus. Zwei Dutzend Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Händler, Kaufleute, sogar zwei Geistliche waren anwesend und ließen sich von den Mägden bewirten.

»Jasper, mein Junge. Da bist du ja endlich.« Es war Priester Grotefeld, der als Erstes die unheimliche Stille brach. Seine Glatze glänzte im Schein des Feuers. Er stellte einen Weinkrug zur Seite, kam auf Jasper zu und legte fürsorglich seine Hand auf die Schulter. Offensichtlich hatte er die Kontrolle des Ausschanks im Hause übernommen. Jasper wurde heiß und kalt zugleich. Ihm gefiel nicht, was hier passierte.

»Weißt du, wenn der Allmächtige ruft, ist es nicht an uns, seine Wege infrage zu stellen«, begann der Priester für alle gut hörbar. »Das Leben wurde uns nur geschenkt, und irgendwann ist es an der Zeit …«

»Er liegt im Sterben. Nicht wahr?« Jasper wusste die Antwort. Schon heute Morgen hatte er sich nicht wohl gefühlt. Wie so oft in letzter Zeit.

Der Priester nickte und sah zu den anwesenden Kaufleuten. Jeder, der Rang und Namen hatte, war erschienen. Sie blickten bedrückt zu Boden oder nippten an den Tongefäßen. Bei einigen war bereits eine rötlich schimmernde Nase zu erkennen. Sie mussten schon länger hier sein und sich an ihren Vorräten ergötzen. Augenblicklich wurde Jasper von einem schlechten Gewissen erfasst.

»Sein Zustand hat sich in den letzten Stunden verschlechtert«, erklärte der Priester und dachte offensichtlich gar nicht daran, seine Stimme zu senken. »Mein guter Junge, es ist genauso wie bei …«

»Meiner Mutter vor einigen Jahren«, vollendete Jasper den Satz des Geistlichen. »Die Schwindsucht ist eine heimtückische Krankheit.«

»Das ist sie, in der Tat.« Endlich wurde Grotefeld leiser. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dich zu verabschieden.«

Mit diesen Worten ließ er Jasper allein, während noch immer alle darauf bedacht waren, ihn angestrengt anzusehen und gleichzeitig beschäftigt zu tun.

Der Sturm drückte gegen das Holz des Langhauses, er pfiff, heulte und raunte so laut, wie Jasper es noch nie zuvor gehört hatte. Trotzdem knarrten die Dielen ohrenbetäubend laut, während er sich seinen Weg in Vaters Schlafgemach bahnte. Ein gurgelndes Husten war aus der Kammer zu vernehmen.

Hier loderte kein Feuer, nur wenige Kerzen erhellten sein fahles Antlitz. Mehrere Decken wurden von den Mägden über seinen Leib gelegt. Der Vollbart war buschig und stand in alle Richtungen ab, das Gesicht versank beinahe im Kissen. Jasper kannte seinen Vater noch mit voller Kraft und Tatendrang. Ein groß gewachsener Bär von einem Mann, der mit seiner Stimme einen Raum zum Beben bringen konnte. Zumindest bis … bis er das große Bett allein beschlafen musste.

»Du siehst gut aus, Vater«, log er und setzte sich auf einen Stuhl neben ihm. Er ergriff seine Hand und spürte, wie der eisige Hauch des Todes bereits von ihm Besitz ergriff.

»Du Schuft.« Joris Bleicken rang sich ein müdes Lächeln ab. »Wenn du diesen Raffzähnen da draußen die Stirn bieten möchtest, musst du lernen, besser zu lügen. Ich dachte, das hätte ich dir vermittelt«, flüsterte er mit schwacher Stimme.

»Das hast du.« Jasper bemerkte, wie seine Augen feucht wurden. Er wollte nicht weinen, das hatte er sich verboten, in all der Zeit, in der das Unausweichliche näher rückte. »Verzeih mir, dass ich den Tag über nicht anwesend war.«

»Ist vergessen.« Seine Hand hob sich ein paar Zoll. »Du warst bei ihr, oder? Ich sehe dieselben verstrubbelten Haare, die ich seinerzeit immer nach Hause brachte, als ich deine Mutter kennenlernte.«

Diesmal wollte er nicht lügen und schmunzelte verlegen. »Ja, Vater.«

Joris wandte seinen Blick ab, sah durch die kleine Luke hinaus, und obwohl er das Meer von seinem Bett aus nicht sehen konnte, war Jasper überzeugt, dass er es sich in dieser Sekunde vorstellte. »Entschuldige, dass ich dir in deinen jungen Jahren bereits diese Bürde aufladen muss. Zu gern hätte ich dir ein paar Tidenwechsel mit dem Mädchen gegönnt, aber du weißt selbst, welch Haifischzähne hinter jedem lächelnden Mann der Edomsharde lauern. Ohne Fürsprecher wird dir kein gutes Unterfangen hier auf Strand gelingen.«

Jasper nickte nur, während sein Vater fortfuhr.