Die Hexen von Eastwick - John Updike - E-Book

Die Hexen von Eastwick E-Book

John Updike

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Beschreibung

«Ein boshaftes und dennoch liebevolles Porträt einer trügerischen Kleinstadtidylle.» Der Spiegel In dem kleinen Ort Eastwick in Rhode Island leben drei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch zwei Dinge haben sie gemeinsam: Sie sind geschieden. Und sie können hexen. Zunächst setzen die drei ihre magischen Kräfte nur für kleinere, charmante Zaubereien ein. Bis eines Tages ein reicher Kunstsammler aus New York in dem langweiligen Nest auftaucht – und der Hexensabbat beginnt ...  «Ich zähle John Updike zu den bedeutendsten Erzählern unserer Tage.» Marcel Reich-Ranicki

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John Updike

Die Hexen von Eastwick

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Maria Carlsson, Uwe Friesel und Monica Michieli

 

Über dieses Buch

«Ein boshaftes und dennoch liebevolles Porträt einer trügerischen Kleinstadtidylle.» (Der Spiegel)

 

In dem kleinen Ort Eastwick in Rhode Island leben drei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Doch zwei Dinge haben sie gemeinsam: Sie sind geschieden. Und sie können hexen. Zunächst setzen die drei ihre magischen Kräfte nur für kleinere, charmante Zaubereien ein. Bis eines Tages ein reicher Kunstsammler aus New York in dem langweiligen Nest auftaucht – und der Hexensabbat beginnt …

 

«Ich zähle John Updike zu den bedeutendsten Erzählern unserer Tage.» (Marcel Reich-Ranicki)

Vita

John Updike, geboren am 18.03.1932 in der Kleinstadt Shillington, Pennsylvania, als einziges Kind des Sekundarschullehrers und Diakon Wesley Russell Updike und dessen Frau Linda Grace Hoyer. Kindheit in materieller Bedrücktheit. Schulbesuch weiterhin in Shillington. 1950 Stipendium zum Studium am Harvard College, Hauptfach Anglistik; Abschluss des Untergraduiertenstudiums 1954 mit summa cum laude. Er heiratete 1953 die Kunststudentin Mary Entwistle Pennington, mit der er nach Abschluss des Studiums ein Jahr an die Ruskin School of Drawing and Fine Art in Oxford, England, ging. Nach Rückkehr in die USA von 1955–1957 fest angestellt beim Magazin «The New Yorker». Danach verfasste er als freier Mitarbeiter Kurzgeschichten und einflussreiche literarische Kritiken. 1957 Umzug nach Ipswich im neuenglischen Massachusetts. 1964 Vortragsreisen durch die UdSSR, Rumänien, Bulgarien und die Tschechoslowakei. Seit 1964 war Updike Mitglied des National Institute of Arts and Letters. 1973 Fulbright-Lektor in Afrika. 1976 Mitglied der American Academy of Arts and Letters. Auszeichnungen: Guggenheim Fellowship in Poetry für «The Carpentered Hen and Other Tame Creatures» (1959); Rosenthal Foundation Award des National Institute of Arts and Letters für «Das Fest am Abend» (1960); Pulitzer Prize for Fiction für «Bessere Verhältnisse» (1982); Lincoln Literary Award (1983); Distinguished Pennsylvania Artist Award (1983); National Book Critics Circle Award for Criticism für «Amerikaner und andere Menschen» (1984); St. Louis Literary Award (1988); Bobst Award for Fiction (1988); National Medal of Arts (1989); Premio Scanno (1991); O’Henry Award für «A Sandstone Farmhouse» aus «The Afterlife and Other Stories» (1991); Common Wealth Award (1993); Conch Republic Prize for Literature (1993); Commandeur de l'ordre des arts et des lettres (1995); The Howells Medal from the Academy of Arts and Letters (1995). John Updike starb am 27. Januar 2009 in Massachusetts. Sein gesamtes Werk ist auf Deutsch im Rowohlt Verlag und im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 1984 im Verlag Alfred A. Knopf, New York, unter dem Titel «The Witches of Eastwick».

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024

Copyright © 1985 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 «The Witches of Eastwick» Copyright © 1984 by John Updike

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

ISBN 978-3-644-02240-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

IDer Hexenring

«Er war ein schöner, schwarzer, rauher Mann und sehr kalt.»

Isobel Gowdie, 1662

«Als der Teufel mit seinen Ermahnungen fertig war, kam er von der Kanzel und hieß alle näherkommen und seinen Arsch küssen, der, wie sie sagten, kalt war wie Eis; sein Körper war hart wie Eisen, wie die dachten, die ihn berührt hatten.»

Agnes Sampson, 1590

«Ach, und noch was», sagte Jane Smart in ihrer hastigen, aber gezielten Art – jede Silbe war wie die schwarze Spitze eines eben ausgepusteten Streichholzes, die man sich zum Spaß, um sich ein bißchen weh zu tun, so wie Kinder es machen, auf die Haut drückt – «Sukie sagt, ein Mann hat das Lenox-Haus gekauft.»

«Ein Mann?» sagte Alexandra Spoffort; sie fühlte, wie sie aus der Balance rutschte, ihre friedvolle Aura an diesem Morgen dellte sich ein unter dem aggressiven Wort.

«Aus New York», hastete Jane weiter. Die letzte Silbe kam wie gebellt, ohne r, Yankee-Stil. «Ohne Frau und Familie offenbar.»

«Oh. So einer.» Während Alexandra zuhörte, wie Jane mit ihrem nördlichen Akzent ihr das Gerücht auftischte, ein Homosexueller aus Manhattan wolle sich bei ihnen einnisten, kam sie sich wie durchschnitten vor, durchkreuzt in diesem rätselhaften, unübersichtlichen Staat Rhode Island. Sie war im Westen geboren, wo weiße und violette Berge ragen zu den zarten, hochgetürmten Wolken hin, und Amarantenknäuel zum Horizont hinrollen.

«Sukie war sich nicht sicher», sagte Jane eilig, ihr scharfes s mäßigend. «Er kam ihr ziemlich grobschlächtig vor. Sie war beeindruckt, wie behaart seine Handrücken waren. Er hat den Leuten bei Perley-Immobilien gesagt, daß er das riesige Anwesen braucht, weil er Erfinder ist und ein Laboratorium hat. Und außerdem hat er mehrere Flügel.»

Alexandra kicherte; der Klang hatte sich kaum verändert seit ihrer Mädchenzeit, nicht ihre Kehle schien ihn hervorzubringen, sondern ein vogelähnliches Wesen, das ihr auf der Schulter hockte. Aber da war nur der Telefonhörer, er tat ihr am Ohr weh. Und ihr Unterarm kribbelte, wurde allmählich taub. «Wie viele Flügel kann ein Mensch denn haben?»

Jane war beleidigt. Ihre Stimme sträubte sich wie schwarzes Katzenfell, irisierend. Abwehrend sagte sie: «Sukie sagt nur, was Marge Perley ihr gesagt hat, gestern abend, auf der Sitzung des Pferdetrog-Komitees.» Das Komitee war zuständig für die Bepflanzung und, nach Vandalismustaten, Neubepflanzung eines großen blaumarmornen Trogs, der in alten Zeiten als Pferdetränke gedient hatte und mitten in Eastwick stand, da, wo die beiden Hauptstraßen aufeinandertrafen. Die Stadt war L-förmig angelegt, schmiegte sich um einen zerfransten Zipfel der Narragansett Bay. In der Dock Street spielte sich das Geschäftsleben ab, und in der rechtwinklig abbiegenden Oak Street standen die hübschen großen alten Wohnhäuser. Marge Perley, deren scheußlich kanariengelbe «Zu Verkaufen»-Schil-der von Bäumen und Holztafeln krähten, je nachdem, ob Menschen fortzogen oder neu zuzogen, im Sog der Gezeiten von Konjunktur und Mode (Eastwick lag seit Jahrzehnten in wirtschaftlicher Halbstille und modisch leicht im Abseits), war eine bombastisch aufgemachte, raffsüchtige Person; falls sie eine Hexe war, dann auf einer ganz anderen Wellenlänge als Jane, Alexandra und Sukie. Es gab einen Ehemann, einen winzigen, pingeligen, pusseligen Homer Perley, der ihre Forsythienhecke immer bis zu einer Stoppelreihe heruntertrimmte; das machte den Unterschied. «Der Kaufvertrag ist schon unter-schrieben, in Providence», sagte Jane, das nce erbarmungslos in Alexandras Ohr pressend.

«Und mit behaarten Händen», sagte Alexandra versonnen. Neben ihrem Gesicht schwamm die leicht zerschrammte, scheckige, oftmals überlackierte blanke Fläche der hölzernen Küchenschranktür. Alexandra war sich des atomaren Gestöbers bewußt, des Tobens und Strudelns unter dieser glatten Fläche – so wie es einem flimmert und flirrt vor erschöpften Augen. Wie in einer Kristallkugel sah sie, daß sie ihn kennenlernen und sich in ihn verlieben würde, in diesen Mann, und daß wenig Gutes dabei herauskommen würde. «Hat er zufällig auch einen Namen?» fragte sie.

«Es ist idiotisch», sagte Jane Smart. «Marge hat ihn Sukie genannt und Sukie mir, aber irgend etwas hat ihn sofort wieder aus meinem Kopf herausgegruselt. Irgendwas mit ‹van› oder ‹von› oder ‹de›.»

«Wie feudal», sagte Alexandra und machte sich ganz weich und weit, war bereit, genommen zu werden. Ein großer dunkler Europäer, ein Ausgestoßener, seines alten heraldischen Erbes beraubt, ein fluchbeladener Wanderer … «Weiß man schon, wann er einzieht?»

«Sie sagte, er hat gesagt, bald. Vielleicht ist er inzwischen schon da!» Jane klang alarmiert. Alexandra stellte sich vor, wie Janes viel zu dicke Brauen – zu dick im Verhältnis zu ihrem hageren, adlerscharf geschnittenen Gesicht – sich hochzogen und zwei Halbkreise bildeten über den dunklen, empörten Augen, deren Braun immer eine Spur blasser war, als man es in Erinnerung hatte. Alexandra verkörperte den ziellosen, dahintreibenden Hexentyp, breitete sich immer weit und flach hin, um alle Eindrücke in sich einsinken zu lassen und mit der Landschaft zu verschmelzen, und war im Grunde eher träge und, entropisch gesehen, kühl; Jane dagegen war hitzig, jäh, konzentriert wie eine Bleistiftspitze, und Sukie Rougemont, die den ganzen Tag in der Stadt unterwegs war, Neuigkeiten sammelte und nach allen Seiten «Hallo» und «Wie geht’s» lächelte, hatte ein oszillierendes Wesen. So dachte Alexandra und legte auf. Dinge zerfallen in Dreiheiten. Und Magie ist um uns, überall; die Natur sucht und findet die vorherbestimmten Formen, alle Dinge, kristalline und organische, fügen sich aus Winkeln von 60 Grad zusammen; das gleichschenklige Dreieck: die Mutter aller Struktur.

Sie kehrte zu den Einmachgläsern mit Spaghettisauce zurück: Sauce für mehr Spaghetti, als sie und ihre Kinder jemals würden essen können, selbst wenn sie für hundert Jahre verhext wären, in einem italienischen Märchen. Immer wieder hob sie das zitternde, sengendheiße runde Drahtgestell aus dem weißgetupften blauen Einmachtopf und nahm ein dampfendes Glas nach dem anderen herunter. Irgendwo, versteckt in ihrem Kopf, war ihr klar, daß dies eine Art Tribut war, ein lächerlicher Tribut für ihren derzeitigen Liebhaber, einen Installateur italienischer Herkunft. Ihr Rezept sah keine Zwiebeln vor, hingegen zwei Knoblauchzehen, fein gehackt und in heißem Öl drei Minuten sautiert (nicht mehr, nicht weniger, das war das Geheimnis), viel Zucker, um die Säure zu entschärfen, eine geriebene Mohrrübe und mehr Pfeffer als Salz; entscheidend aber war der Teelöffel voll zerkrümelten Basilikums, das die Virilität steigerte, und der Spritzer Belladonna bewirkte die Entspanntheit, ohne die alle Virilität nichts weiter als ein mörderischer Blutstau ist. Und die Tomaten: sie zog sie selbst; in diesen letzten Wochen hatte sie sie gepflückt und auf sämtlichen Fensterbänken ausgebreitet. Jetzt schnitt sie sie in Scheiben und stopfte sie in den Mixer. Seit dem Tag vor zwei Sommern, als Joe Marino sich zum erstenmal zu ihr ins Bett gelegt hatte, waren die an Stöcke gebundenen Pflanzen von einer unnatürlichen Fruchtbarkeit befallen, draußen im Garten, an der Seite, wo den ganzen Nachmittag lang die Südwestsonne schräg durch die Weidenreihe schien. Die gekrümmten kleinen Zweige, wabbelig und fahl, wie aus billigem grünem Papier, knickten ab unter der Last so vieler Früchte; sie hatte etwas Panisches, diese Fruchtbarkeit, etwas Schrilles: wie Kinder, die um jeden Preis Aufmerksamkeit erregen und gefallen wollen. Und sie waren ja tatsächlich ein wenig menschlich, diese Tomatenpflanzen, mehr als alle anderen Pflanzen, sie waren so eifrig, so empfindlich, der Fäulnis so nah. Wenn Alexandra diese wasserprallen orangefarbenen Kugeln pflückte, dann war ihr, als hielte sie die Hoden eines sehr großen Geliebten in der Hand. Sie erkannte, während sie sich so in ihrer Küche abmühte, daß das Ganze etwas traurig Menstruales hatte, blutrote Sauce, über weiße Spaghetti fließend. Die fetten weißen Schnüre würden zu ihrem eigenen weißen Fett werden. Dieser weibliche Kampf, dieser ewige Kampf gegen ihr Gewicht: sie fand ihn immer unnatürlicher, mit ihren 38 Jahren. Um Liebe zu erwecken: sollte sie deswegen ihren eigenen Körper verleugnen, wie eine neurotische Heilige aus alter Zeit? Die Natur ist das Maß und die Ordnung aller Gesundheit, und wenn wir Hunger haben, soll er gestillt werden, denn so wird das kosmische System aufrechterhalten. Dennoch, manchmal verachtete sie sich für ihre Trägheit, einen Liebhaber zu haben, der einer Rasse angehörte, die so notorisch nachsichtig war gegenüber leiblicher Fülle.

Die Liebhaber, die Alexandra in den paar Jahren seit ihrer Scheidung gehabt hatte, waren meist abgelegte Ehemänner gewesen; die Frauen, denen sie gehörten, hatten sie einfach streunen lassen. Ihren eigenen früheren Ehemann, Oswald Spaffort, bewahrte sie hoch oben in einem Küchenregal auf, in einem fest zugeschraubten Glas: ein Häufchen vielfarbigen Staubs. So sehr hatte sie ihn reduziert, als ihre Kräfte sich entfalteten, nach ihrem Umzug von Norwich, Connecticut, nach Eastwick. Ozzie hatte alles über Chrom gewußt und war von einer Armaturenfabrik in jener hügeligen Stadt mit ihren viel zu vielen abblätternden weißen Kirchen zu einem Konkurrenzunternehmen in Rhode Island gewechselt, einer 800 Meter langen, aus Hohlziegeln gebauten Fabrikanlage südlich von Providence, inmitten der befremdlich weiten Industrielandschaft dieses kleinen Staates. Vor sieben Jahren waren sie hierhergezogen. Hier, in Rhode Island, hatten ihre Kräfte sich ausgedehnt wie Gas in einem Vakuum: zuerst hatte sie den lieben Ozzie, derweil er Tag für Tag auf der Route 4 zu seiner Arbeit zog und wieder zurück, auf die Größe eines bloßen Mannes reduziert, der Harnisch des patriarchalischen Beschützers fiel ab von ihm, rostete weg in der Salzluft von Eastwicks mütterlicher Schönheit; und dann ließ sie ihn auf die Größe eines Kindes schrumpfen, seine chronischen Bedürfnisse und seine gleichermaßen chronische Bereitwilligkeit, sie von ihr stillen zu lassen, gaben ihm etwas Kümmerliches, Manipulierbares. Er verlor jegliche Verbindung mit dem Universum, das sich in ihr ausbreitete. Er beschäftigte sich mehr und mehr mit den Aktivitäten seiner Söhne in der Jugendsportliga und mit dem Bowling-Team der Armaturenfirma. Und als Alexandra sich erst einen, dann mehrere Liebhaber nahm, schrumpfte ihr betrogener Ehemann auf die Maße einer Puppe zusammen, klein und ausgedörrt, und nachts lag er neben ihr in ihrem großen, breiten, wartenden Bett wie ein bemaltes Stück Holz, das man in einer Bude am Straßenrand gekauft hat, oder wie ein ausgestopftes Alligatorbaby. Als sie sich dann endgültig scheiden ließen, war ihr einstiger Herr und Meister nur noch ein Häufchen Dreck – Materie am falschen Platz, wie ihre Mutter es einmal drastisch ausgedrückt hatte – , ein bißchen polychromer Staub, den Alexandra zusammenkehrte und als Souvenir in einem Marmeladenglas verwahrte.

In den Ehen der anderen Hexen hatte es ähnliche Transformationen gegeben. Jane Smarts Exmann, Sam, hing im Keller ihres Ranchhauses, zwischen getrockneten Küchen- und Heilkräutern, und hin und wieder wurde eine Prise von ihm in einen Zaubertrank gerieben, um eine pikantere Wirkung zu erzielen. Sukie Rougemont hatte ihren Verflossenen in Plastik eingegossen und benutzte ihn als Set auf dem Eßtisch. Das war noch gar nicht lange her; Alexandra sah Monty noch vor sich, in seinem Madras-Jackett und in petersiliengrünen Hosen, wie er auf Cocktailparties herumstand, sich in schmetterndem Ton über alle Einzelheiten seiner letzten Golfrunde ausließ und auf die vier zusammenspielenden Damen schimpfte, die so langsam waren und ihn und seine Gruppe den ganzen Tag aufgehalten und nicht ein einziges Mal vorbeigelassen hatten. Er hatte hochnäsige Frauen gehaßt – weibliche Gouverneure, hysterische Antikriegsprotestlerinnen, Ärztinnen, Lady Bird Johnson, sogar Lynda Bird und Luci Baines. Für ihn waren sie allesamt Lesben. Man konnte Montys wundervolle Zähne sehen, wenn er so krähte, sie waren lang und sehr ebenmäßig, aber nicht falsch, und wenn er ausgezogen war, hatte er rührende, dünne bläuliche Beine, die nicht annähernd so muskulös waren wie seine braunen Golferarme. Und der runzlige, leicht hängende Hintern: wie das erschlaffende Fleisch nicht mehr ganz junger Frauen. Er war einer von Alexandras ersten Liebhabern gewesen. Jetzt gab es ihr ein merkwürdiges, ein merkwürdig befriedigendes Gefühl, wenn sie einen Becher mit Sukies teerigem Kaffee auf dem plastikversiegelten Madras-Set absetzte und sah, wie er einen schmierigen Ring hinterließ.

Die Luft in Eastwick machte Frauen stark. Alexandra hatte nie vorher Vergleichbares geschmeckt, außer vielleicht, als sie elf war und mit ihren Eltern durch Wyoming fuhr. Sie hatten sie aus dem Auto gelassen, weil sie pinkeln mußte, und als sie sich hinter einen Salbeistrauch hockte und sah, wie auf der trockenen Gebirgserde für einen kurzen Augenblick ein feuchter, dunkler Fleck entstand, hatte sie gedacht: Es bedeutet nichts. Es wird verdunsten. Die Natur absorbiert alles. Diese Empfindung aus ihrer Mädchenzeit war ihr geblieben, zusammen mit dem süßen Salbeiduft jenes Augenblicks am Straßenrand. Eastwick wurde zu jeder Zeit vom Meer geküßt. Die Dock Street mit ihren schicken Boutiquen, die die Sommertouristen anlocken sollten mit Duftkerzen und bunten Glasklunkern an den Zugbändern der Sonnenrollos, mit ihrem Restaurant, das aussah wie ein alter Aluminium-Speisewagen, gleich neben der Bäckerei und dem Friseur nebenan vom Bilderrahmenladen, und der kleinen lärmigen Zeitungsredaktion und dem langen, dunklen von Armeniern geführten Eisenwarengeschäft, war verflochten mit Salzwasser; es schlappte und schlippte und schlürfte gegen die gemauerten Wasserdurchlässe und Verpfählungen, über die die Straße führte, so daß ein unruhiger, ädriger blaugrüner Meeresglanz auf den Gesichtern der Damen des Ortes schimmerte und flimmerte, wenn sie Orangensaft und fettarme Milch, ein bißchen Fleisch und Weizenkeimbrot und Filterzigaretten aus der Bay-Superette holten. Der Supermarkt, in dem man für die ganze Woche einkaufte, lag landeinwärts, in dem Teil von Eastwick, der einmal Farmland gewesen war. Im 18. Jahrhundert hatten hier vornehme Pflanzer, deren Reichtum sich auf Sklaven und Rindvieh gründete, einander hoch zu Roß ihre Aufwartung gemacht – ein Sklave galoppierte voraus und öffnete ihnen die Gatter der Umzäunungen. Jetzt war hier ein Shopping-Center-Parkplatz, eine asphaltierte Wüste, und die Ahnung, daß hier einmal Kohl- und Kartoffelfelder gewesen waren, wurde verschliert von den bleiern verfärbten Auspuffgasen. Wo generationenlang der Mais, das Ackerbau-Artefakt der Indianer, gediehen war, stellten nun fensterlose kleine Fabriken mit Namen wie Dataprobe und Computech Geheimnisse her, Geheimnisse, so fein, daß die Arbeiter Plastikhauben trugen, damit kein Stäubchen von ihren Schädeln in die winzigen elektromechanischen Innereien falle.

Rhode Island ist der kleinste der 50 Staaten, aber so klein er auch ist, es gibt typische amerikanische Wüsteneien hier: ganze Landstriche, die kaum einer kennt, mitten in den wuchernden Industriegebieten; aufgegebene Gehöfte und verlassene Wohnhäuser, brachliegendes Hinterland, hastig durchzogen von schnurgeraden schwarzen Straßen, heideähnliche Hochmoore und öde Ufer zu beiden Seiten der Bucht, die, ein mächtiger Keil aus Wasser, mitten ins Herz des Staates getrieben ist, ein Pfahl im Fleisch der so vertrauensvoll benannten Hauptstadt. «Das Schlußlicht der Schöpfung» und «die Kloake Neuenglands» hatte Cotton Mather diese Gegend genannt. Ursprünglich gar nicht vorgesehen als eigenständiges politisches Gemeinwesen, besiedelt nur von Ausgestoßenen wie der verzaubernden, todgeweihten Anne Hutchinson, ist dieses Land voller vielfältiger Gegensätze und Merkwürdigkeiten. Das am häufigsten vorkommende Straßenschild zeigt ein Paar Pfeile, die in die entgegengesetzten Richtungen weisen. Armselig und moorig hier und da, und woanders Tummelplatz der Superreichen; Zufluchtstätte für Quäker und Antinomisten, diese feinsten Destillate des Puritanismus, und doch fest in der Hand der Katholiken; ihre rötlichen viktorianischen Kirchen ragen wie Frachter aus der See vermanschter Architektur. Nirgendwo sonst gibt es diese Art metallischer Grünfärbung, die sich tief in die Schindeldächer aus der Depressionszeit gefressen hat. Wenn man die Staatsgrenze überquert, bei Pawtucket oder Westerly, wird man einer subtilen Veränderung gewahr, einer heiteren Aufgelöstheit, einer Verachtung für äußeres, einer unwirklichen Sorglosigkeit. Wo die verwahrlosten Bretterhäuser aufhören, gähnen Mondlandschaften; nur ein verlassener Stand an der Straße, der noch gurken im Schilde führt – Echo des vergangenen Sommers – , bezeugt die schmerzende, zerrissene Existenz von Menschen.

Durch solch eine Gegend fuhr Alexandra jetzt; sie wollte einen heimlichen Blick auf das alte Lenox-Haus werfen. Bei ihr, im kürbisfarbenen Subaru-Kombi, war ihr schwarzer Labrador Coal. Sie hatte das letzte Weckglas mit Tomatensauce auf den Küchentisch gestellt, zum Abkühlen, und mit einem snoopyförmigen Magneten für ihre vier Kinder einen Zettel an die Kühlschranktür geheftet: MILCH IM EISSCHRANK, SCHOKOKEKSE IM BROTKASTEN, BIN IN EINER STUNDE ZURÜCK, KUSS.

Die Lenox-Familie hatte in den Tagen, als Roger Williams, der Gründer der Kolonie Rhode Island, noch lebte, die Häuptlinge des Narragansett-Stamms um so viel Land geprellt, daß es für ein kleines europäisches Fürstentum gereicht hätte, aber dann war es, obgleich ein gewisser Major Lenox im King Philip’s War in der großen Sumpfschlacht, den Heldentod gestorben war und sein Urururenkel Emory auf der Hartford Convention 1815 beredt die Abspaltung Neuenglands von der Union gefordert hatte, mit der Familie im großen und ganzen eher bergab gegangen. Als Alexandra nach Eastwick kam, vor sieben Jahren, hatte es keinen Lenox mehr im South County gegeben; nur eine alte Witwe, Abigail, lebte noch im verschlafenen, verwunschenen Dorf Old Wick; sie ging auf den Wegen hin und her, vor sich hin murmelnd, sich duckend unter den Steinwürfen der- Kinder, die, wenn der Dorfpolizist sie verwarnte, behaupteten, sie müßten sich gegen den bösen Blick der Alten verteidigen. Die weiten Lenox-Ländereien waren längst parzelliert worden. Einer der letzten männlichen Lenox hatte veranlaßt, daß auf einer noch im Familienbesitz befindlichen Insel in den Salzmarschen hinter der East Beach eine Backsteinvilla gebaut wurde, eine verkleinerte, in dieser Gegend jedoch beeindruckende Nachbildung der pompösen «Summer-Cottages», wie sie während des Goldenen Zeitalters, um die Jahrhundertwende, in Newport errichtet wurden. Ein Verbindungsdamm war gebaut und mehrfach mit frisch herangekarrtem Schotter aufgeschüttet worden, aber bei Flut war das Haus regelmäßig vom Festland abgeschnitten, und seit 1920 hatte es eine wechselvolle Reihe von Besitzern erdulden müssen, die das Anwesen nach und nach dem Verfall preisgaben. Die großen Schieferplatten, mit denen das Dach gedeckt war, einige rötlich, andere bläulichgrau, krachten, ohne daß es jemanden kümmerte, in den Winterstürmen herunter und lagen wie namenlose Grabsteine im langhalmigen Gespinst des ungemähten Sommergrases; die zierlich geformten kupfernen Regenrinnen und Abdeckbleche wurden grün und brüchig; die reich verzierte achteckige kleine Kuppel, von der man in alle Himmelsrichtungen sehen konnte, kippte leicht nach Westen; die massigen Schornsteine an den Seitengiebeln, aus denen die Rauchabzüge wie gebündelte Orgelpfeifen oder starkmuskelige Hälse ragten, brauchten Mörtel, Steine hatten sich gelockert. Trotzdem, aus der Ferne bot das Haus immer noch einen imposanten Anblick, hatte es etwas Gebieterisches, dachte Alexandra. Sie hatte ihr Auto am Rand der Strandstraße geparkt und starrte über die Marsch zu dem 400 Meter entfernten Lenox-Haus hinüber.

Es war September, Zeit der hohen Fluten; die Marsch zwischen dem Festland und der Insel war an diesem Nachmittag ein ausgebreitetes Tuch aus himmelfarbenem Wasser, bestickt mit den Spitzen des sich golden färbenden Besengrases. In ein oder zwei Stunden erst würde der Damm wieder passierbar sein. Es war kurz nach vier; diese Stille, der Himmel wie Stoff, von einer Schwere, die die Sonne zudeckte. Früher war das Haus verborgen gewesen hinter einer Ulmenallee, die vom Damm hinaufführte zum Hauptportal, aber die Bäume waren gestorben an der Ulmenkrankheit, die ausladenden Äste waren abgehauen, nur die hohen Stümpfe standen noch da wie armlose Männer, unförmig in Tücher gehüllt, an Rodins Statue von Balzac erinnernd. Das Haus sah abweisend aus: die symmetrische Fassade mit den vielen Fenstern, die etwas zu klein wirkten, besonders im dritten Stock, wo sie sich gleichförmig aneinandergereiht unterm Dach hinzogen: der Dienstbotentrakt. Alexandra war einmal in dem Haus gewesen; Vor Jahren, als sie noch versucht hatte, sich wie eine gute Ehefrau zu benehmen, hatte sie mit Ozzie im Ballsaal dort ein Wohltätigkeitskonzert besucht. Sie erinnerte sich kaum an etwas, nur an endlose Zimmerfluchten, die kärglich möbliert waren und nach Salzluft und Moder rochen und nach unwiederbringlichen Freuden. Der Farbton des Schiefers auf dem verfallenden Dach verschwamm mit einer im Norden aufziehenden Dunkelheit – nein, nicht nur Wolken waren es, die die Atmosphäre beunruhigten. Dünner weißer Rauch stieg aus dem linken Schornstein. Jemand war im Haus.

Der Mann mit den behaarten Handrücken.

Alexandras zukünftiger Liebhaber.

Eher ein Handwerker, entschied sie, oder ein Wachmann, den er angestellt hatte. Die Augen taten ihr weh vom angespannten Sehen über diese Entfernung hinweg. In ihrem Innern war Dunkelheit aufgezogen, wie am Himmel, ein Gefühl, kläglich außerhalb zu stehen. In allen Zeitungen und Illustrierten war jetzt vom Aufbruch der Frauen die Rede, das Verhältnis der Geschlechter untereinander hatte sich umgekehrt: Mädchen aus guter Familie warfen sich diesen vertierten Rockstars an den Hals, all diesen grünschnäbeligen, unrasierten Gitarristen aus den Slums von Liverpool und Memphis, denen irgendwie obszöne Macht gegeben war, dunkle Sonnen, die diese Kinder aus behütetem Haus in selbstmörderische Orgiasten verwandelten. Alexandra dachte an ihre Tomaten, an den Saft der Gewalt unter der prallen, gefügigen Haut. Sie dachte an ihre älteste Tochter, wie sie allein in ihrem Zimmer saß, mit diesen Monkees und Beatles … mochte angehen für Marcy, aber nicht für ihre Mutter, so zu schmachten, sich so die Augen auszugucken.

Sie kniff die Augen zu, versuchte, zu sich zu kommen. Stieg mit Coal in den Wagen und fuhr die restlichen anderthalb Kilometer auf der schnurgeraden schwarzen Straße zum Strand.

Nach der Saison, wenn weit und breit niemand mehr da war, konnte man den Hund frei laufen lassen. Aber es war ein warmer Tag, und klapperige Autos und VW-Busse mit gardinenverhängten Fenstern und psychedelischen Streifenmustern standen dicht gedrängt auf dem schmalen Parkplatz. Ein Stück weiter, hinter den Umkleidehäuschen und der Pizzabude, lagen viele junge Leute in Badeanzügen, ihre Radios neben sich, rücklings ausgestreckt im Sand, als würden Sommer und Jugend niemals zu Ende gehen. Wegen der Strandordnung hatte Alexandra immer ein Stück Wäscheleine hinter dem Fahrersitz liegen. Coal erschauerte vor Widerwillen, als sie die Schlinge unter seinem Nietenhalsband durchschob. Alle Muskeln gespannt, drängend, zog er sie durch den widerständigen Sand. Sie blieb stehen, um sich die beigefarbenen Espadrilles von den Füßen zu streifen, und der Hund würgte. Sie warf die Schuhe hinter ein Büschel Strandgras am Ende des Plankenwegs. Eine hohe Flut hatte ihn vor kurzem zerstört, die zwei Meter langen Segmente hatten sich gelöst und verschoben, und auf dem flachen Sand, da, wo während der Flut der Wassersaum gewesen war, zog sich ein Gürtel von Cloroxflaschen und Tamponhülsen hin und von Bierdosen, die so lange im Wasser getrieben waren, daß sie ihre bunten Etiketts eingebüßt hatten; die Dosen hatten etwas Furchteinflößendes, so ohne Beschriftung – nackt und blank wie die Bomben, die die Terroristen herstellen und an öffentlichen Plätzen deponieren, um das System zu brechen und so den Krieg zu beenden. Coal zog sie weiter, an einem Haufen muschelbewachsener quadratisch behauener Felsen vorbei, die einmal Teil einer Mole gewesen waren, früher, als dieser Strand den Reichen gehörte und noch kein überfüllter öffentlicher Spielplatz war. Die Blöcke waren aus schwarzgesprenkeltem blassen Granit, und an einem der größten war mit Bolzen ein Winkeleisen befestigt, das im Laufe der Jahre zur Fragilität einer Giacometti-Skulptur verrostet war. Die Wellen aus den Radios der jungen Leute, Rockmusik von der leichteren Sorte, umplätscherten sie bei jedem Schritt; sie wurde sich ihrer Schwere bewußt, der hexenhaften Figur, die sie abgab, barfüßig und in sackigen Männer-Jeans und mit dem graublonden Haar und der abgewetzten grünen Brokatjacke aus Algerien, die sie mit Ozzie in Paris gekauft hatte, vor siebzehn Jahren, während der Flitterwochen. Ihre Haut nahm im Sommer einen zigeunerhaften Olivton an, obwohl Alexandra von nördlicher Herkunft war; als Mädchen hatte sie Sorensen geheißen. Ihre Mutter hatte ihr den alten Aberglauben vorgebetet, daß sich die Initialen ändern müßten, wenn man heiratet, aber Alexandra hatte damals keinen Sinn fürs Magische gehabt, war nur wild gewesen aufs Kinderkriegen. Marcy war in Paris gezeugt worden, auf einem Bett mit Eisengestell. Alexandra trug ihr Haar zu einem dicken Zopf geflochten; manchmal steckte sie ihn hoch, ganz gerade, wie ein Rückgrat am Hinterkopf. Ihr Haar hatte nie das trompetenhelle Wikingerblond gehabt, immer nur einen blassen Schmuddelton, der jetzt, da Grau sich dazwischenmischte, noch matter wurde. Die meisten grauen Haare wuchsen ihr an Stirn und Schläfen; im Nacken war ihr Haar noch so jung und fein gesponnen wie bei den Mädchen, die sich hier sonnten. Die glatten jungen Beine, an denen sie vorbeiging, waren karamellfarben, mit weißem Flaum überstäubt, und in Reih und Glied ausgerichtet, als hätten sie sich solidarisiert. Das Bikinihöschen eines der Mädchen glänzte, straff und einfach wie eine Trommel, im flachen Licht.

Coal stürmte weiter, schnaubte, witterte verwesende tierische Substanz im Tanggeruch des Meeres. Der Strand war hier leerer. Ein Pärchen hatte sich eine Mulde in den pockennarbigen Sand gewühlt und lag ineinander verschlungen da. Der Junge flüsterte in den Halsansatz des Mädchens hinein wie in ein Kehlkopfmikrofon. Ein muskelstrotzendes männliches Trio spielte Frisbee; keuchend, johlend schleuderten die Jungen einander die Scheibe zu, ihre langen Haare flogen, und erst als Alexandra sich absichtlich von dem kräftigen schwarzen Labrador durch das weite Dreieck des Spiels ziehen ließ, hielten sie inne mit ihrem unverschämten Gewerfe und Gegröle. Sie meinte, so etwas wie «Schlampe» oder «Schlumpe» hinter ihrem Rücken zu hören, als sie an den Jungen vorbeiging, aber es konnte auch eine akustische Täuschung sein, ein Wellenschlag, den sie mißverstanden hatte. Sie näherte sich der verwitterten Betonwand, die oben mit einer rostigen Stacheldrahtspirale bewehrt war; der öffentliche Strand war hier zu Ende, und immer noch gab es Knäuel von Jugendlichen und Jugendsüchtigen; sie traute sich nicht, den armen Coal freizu lassen, der immer öfter würgte, weil sein Halsband ihn so einschnürte. Sein Drang zu laufen schnitt ihr brennend die Leine in die Hand. Das Meer war unnatürlich still, in Trance, liniiert von milchigen Streifen weit draußen, wo auf dem Resonanzboden der glatten Wasserfläche ein einzelnes kleines Motorboot brummte. Auf der anderen Seite, zum Greifen nah für Alexandra, krochen Stranderbse und Heidegestrüpp von den Dünen herunter; der Strand wurde schmaler hier, bekam etwas Intimes; man sah es an den Nestern von Dosen und Flaschen und verbranntem Treibholz und den Brocken zerbrochener Styroporkühlbehälter und den Kondomen, die wie ausgetrocknete kleine Quallenleichen herumlagen. Die Betonwand war mit verschlungenen Namen besprüht. Überall Entweihung, nur die Fußspuren wurden weggewischt vom Meer.

An einer Stelle waren die Dünen so niedrig, daß man das Lenox-Haus sehen konnte, aus einem anderen Blickwinkel und in größerer Entfernung; die Schornsteine buckelten sich zu beiden Seiten der Kuppel wie angewinkelte Bussardschwingen. Alexandra fühlte sich gereizt und rachsüchtig. Ihr Inneres war aufgescheuert, wund, sie ärgerte sich über das Schimpfwort «Schlampe», das sie vorhin überhören wollte, und sie ärgerte sich überhaupt über die ganze ungeheuerliche Beleidigung, die diese rücksichtslose Jugend ihr zufügte, die sie daran hinderte, ihren Hund, ihren Freund und Vertrauten, frei laufen zu lassen. Sie beschloß, den Strand für sich und Coal zu räumen: ein Gewitter heraufzubeschwören. Das Wetter, das man in sich hatte, stand immer im Verhältnis zum äußeren Wetter; es ging einfach darum, den Spannungsfluß umzukehren, ein müheloser Vorgang, sobald dem Urpol, den man als Frau in sich hatte, Kraft zuteil geworden war. So viele von Alexandras ungewöhnlichen Fähigkeiten waren darauf zurückzuführen, daß sie das ihr bestimmte Ich wiedergewonnen hatte – erst jetzt war das geschehen, relativ spät in ihrem Leben. Erst jetzt glaubte sie wirklich, daß sie das Recht habe zu existieren, daß sie nicht nur ein nachträglicher Einfall der Schöpfung war, nicht nur als Pendant erschaffen, aus einer krummen Rippe, wie der infame «Hexenhammer» besagte, sondern als Hauptstütze der fortdauernden Schöpfung, als die Tochter einer Tochter und als Frau, deren Töchter wiederum Töchter gebären würden. Alexandra schloß die Augen, Coal zitterte und winselte vor Angst, und sie beschwor das unermeßliche Innere ihres Seins – diese ununterbrochene Folge, die zurückreichte durch die Generationen der Menschheit und der Primaten und, weiter zurück, der Echsen und der Fische, bis zu den Algen, die in ihrem mikroskopisch kleinen lauwarmen Innern die erste DNS des unwirtlichen Planeten brauten; ein Kontinuum, das, in der anderen Richtung, sich bis ans Ende allen Lebens wölbte: über pulsierende, blutende, der Kälte, den ultravioletten Strahlen, der sich aufblähenden und dann schwächer werdenden Sonne sich anpassende Erscheinungsformen hinweg – diese so reichen Tiefen ihres Seins beschwor sie, sich zu verdunkeln, zu kondensieren, ein Feld elektrischer Entladung zu erzeugen zwischen hohen Wänden aus Luft. Und am Himmel im Norden grollte es, leise, so daß nur Coal es hören konnte. Seine Ohren stellten sich auf, bewegten sich unruhig, waren angespannt bis in die Wurzeln unter der Kopfhaut. Mertalia, Musalia, Dophalia. In lauten, unausgesprochenen Silben rief sie die verbotenen Namen an: Onemalia, Zitanseia, Goldaphaira, Dedulsaira. Alexandra wuchs ins Riesenhafte, unsichtbar, wie in mütterlichem Zorn sammelte sie alle Lichtgarben dieser sanften Septemberwelt ein, und ihre Augen öffneten sich jäh, wie auf einen Befehl. Von Norden kam ein kalter Windstoß, die Vorhut einer Wetterfront, die die flatternden Wimpel an den Badehäuschen straff waagerecht peitschte. Ein kollektiver Laut der Überraschung stieg auf, da, wo das nackte junge Volk sich am dichtesten drängte, und dann aufgeregtes Geschnatter, als der Wind stärker wurde; und der Himmel über Providence stand drohend, hatte die Dichte eines lichtdurchlässigen purpurnen Felsens. Gheminaiea, Gegropheira, Cedani, Gilthar, Godieb. Kumuluswolken, die vor wenigen Augenblicken noch harmlos dahintrieben wie Blumen auf einem Teich, hatten sich am Fuß dieses atmosphärischen Kliffs zusammengeballt und begannen zu brodeln; ihre Umrisse hoben sich leuchtend wie Marmor von der dunkelnden Luft ab. Die Bilder auf der Netzhaut hatten sich verändert: die Strandgräser und kriechenden Queller neben Alexandras dicken, nackten Zehen, die verhornt und verkrümmt waren nach all den Jahren in von Männerbegehr und grausamen Schönheitsbegriffen geformten Schuhen, schienen wie Negative in den Sand gezeichnet, dessen zerfurchte, narbige Oberfläche, plötzlich lavendelfarben, so aussah, als wölbe sie sich wie die Haut einer Blase, die sich unter dem Druck der atmosphärischen Veränderung aufbläht. Die großmäuligen Jünglinge mußten mitansehen, wie die Frisbee-Scheibe ihnen davonsegelte, immer höher stieg, wie ein Drachen, und hatten es eilig, ihre Siebensachen in Sicherheit zu bringen: ihre Kofferradios und Sechserbierpackungen, ihre Turnschuhe und Jeans und Jäckchen im Military-Look. Das Pärchen hockte noch immer in seiner Kuhle, das Mädchen war nicht zu beruhigen, es schluchzte, während der Junge ungeschickt und hastig versuchte, Haken und Öse ihres Bikinioberteils wieder zusammenzubringen. Coal bellte, hierhin, dorthin, der Druckabfall in der Atmosphäre machte ihn verrückt, irritierte seine Ohren.

Jetzt spürte das Meer die Veränderung, das weite und undurchdringliche Meer, das sich eben noch so friedlich hingedehnt hatte bis nach Block Island. Seine Oberfläche kräuselte und riffelte sich, wo fegende Wolkenschatten sie berührten; die Stellen sahen runzlig und zusammengeschrumpft aus, wie etwas Verbranntes. Das Motorboot dröhnte schärfer. Die Segel auf dem Wasser waren weggeschmolzen, und die Luft vibrierte: alle Hilfsmotoren heulten gleichzeitig auf und trieben ihre Boote zum Hafen. Eine Stille verstopfte die Kehle des Windes, und dann fiel der Regen, große eisige Tropfen, die weh taten wie Hagelkörner. Honigfarbene Liebespaare rannten mit stampfenden Schritten an Alexandra vorbei zu ihren Autos, die am anderen Ende des Strandes, bei den Badehäuschen, geparkt waren. Donner grollte über dem Kliff aus dunkler Luft, und blaßgraue Wolkenfetzen, die wie Gänse aussahen, wie fuchtelnde Redner, wie sich entspulende Garnknäuel, jagten vor der Gewitterwand hin. Die großen stechenden Tropfen zerteilten sich zu einem feinen, dichten Regen, der sich zu weißen Streifen bündelte, da, wo der Wind ihn wie Harfensaiten packte. Alexandra blieb stehen, eingesiegelt in kaltes Wasser; in den Weiten ihres Inneren hallte es wider: Ezoill, Musil, Puri, Tamen. Coal winselte zu ihren Füßen; er hatte die Wäscheleine um ihre Beine gewickelt. Das Fell klebte ihm flach an den Muskeln, sein Körper glänzte und zitterte. Durch Regenschleier hindurch sah sie, daß der Strand leer war. Sie knüpfte die Leine ab und erlöste den Hund.

Aber Coal blieb bei ihr, kauerte sich verängstigt zu ihren Füßen zusammen, als ein Blitz aufzuckte und gleich darauf ein zweiter. Alexandra zählte die Sekunden bis zum Donner: fünf. Das Gewitter, das sie heraufbeschworen hatte, betrug also, grob geschätzt, fünfzehn Kilometer im Durchmesser, vorausgesetzt, die Entladungen fanden im Zentrum statt. Ein Donnerschlag hatte sich geirrt, rumpelte fluchend. Kleine gesprenkelte Sandkrabben krochen zu Dutzenden aus ihren Löchern hervor und trippelten seitwärts zur Gischt hin. Ihre Panzer waren so sandfarben, daß sie durchsichtig aussahen. Alexandra wappnete sich und zertrat eine der Krabben mit der Sohle ihres nackten Fußes. Opfern. Es mußte immer geopfert werden. Das gehörte zu den Regeln der Natur. Alexandra tanzte von Krabbe zu Krabbe, zertrat sie alle. Ihr Gesicht, vom Haaransatz bis zum Kinn, floß, und alle Farben des Regenbogens waren in diesem Fließen, so sehr in Aufruhr war ihre Aura. Wieder wurde sie von Blitzen fotografiert. Sie hatte eine kleine Kerbe im Kinn und eine kleinere noch, kaum wahrnehmbar, in der Nasenspitze; sie war schön, mit ihrer klaren, breiten Stirn, über der die graugesäumten Haarflügel symmetrisch nach hinten gestrichen waren zum Zopf hin, und mit den hellsichtigen, leicht vorstehenden Augen, deren metallisches Blaugrau an die Peripherie der Iris gedrängt wurde, als sei jede der beiden pechschwarzen Pupillen ein Antimagnet. Ihr Mund hatte etwas Schweres, Plumpes und tiefeingeschnittene Winkel, so daß ihr Gesicht immer aussah, als lächle es. Mit vierzehn hatte sie ihre endgültige Größe erreicht, einseinundsiebzig, und sie hatte 120 Pfund gewogen, als sie zwanzig war; jetzt mochten es etwas über 140 Pfund sein. Als sie Hexe wurde, hatte sie sich befreit von der ewigen Wiegerei.

So wie die kleinen Sandkrabben transparent waren auf dem gesprenkelten Sand, war Alexandra, durch und durch naß, transparent im Regen, eins mit ihm, seine Temperatur und die ihres Blutes waren im Einklang miteinander. Der Himmel über dem Meer hatte sich inzwischen zu horizontalen faserigen Streifen geordnet; der Donner verebbte zu einem Grummeln und der Regen zu einem warmen Nieseln. Dieser Wolkenbruch würde nie in die Wetterkarten kommen. Die erste Krabbe, die sie zertreten hatte, bewegte noch ihre Scheren, wie winzige, blasse Federn, die von einem Lufthauch berührt wurden. Coal hatte seine Angst verloren und rannte: zog immer weitere Kreise, stempelte die vierballigen Abdrücke seiner Pfoten zwischen die dreizehigen Möwenspuren, die feingeritzten Muster der Strandläufer und die Pünktchenlinien des Krabbengekrabbels. Diese Spuren anderer Lebensbereiche – Krabbe zu sein, seitwärts zu trippeln, auf Zehenspitzen, die Augen an Stielen! Entenmuschel sein, auf dem Kopf stehen, in einem kleinen Klappgehäuse, und sich die Nahrung in den Mund kicken! – waren zerlöchert von Regentropfen. Der Sand war vollgesogen, hatte die Farbe von nassem Zement. Ihre Kleider und die Wäsche darunter klebten ihr gipsfeucht an der Haut, sie hatte das Gefühl, eine Statue von Segal zu sein, aus reinem Weiß, das Geflecht all der Röhren und Knochen in ihr wie von feinem Nebel überhaucht. Alexandra schlenderte bis ans Ende des leergeräumten öffentlichen Strandes, bis zur stacheldrahtbewehrten Mauer und wieder zurück. Sie näherte sich dem Parkplatz und hob die klatschnassen Espadrilles auf, dort, wo sie sie hingeworfen hatte: hinter einem Büschel Ammophila breviligulata. Die langen, pfeilspitzen Halme funkelten, die Schneiden waren nachgiebiger geworden im Regen.

Sie öffnete die Tür des Subaru, drehte sich um und rief laut nach Coal, der in den Dünen verschwunden war. «Komm, Hündchen!» sang die statiöse, üppige Frau. «Komm, mein Kleiner! Komm, Engelchen!» Den jungen Leuten, die sich schmählich, gänsehäutig und mit durchweichten, sandigen Handtüchern im Badehäuschen mit dem grauen Schindeldach und unter der tomaten- und käsefarben gestreiften Markise der Pizzabude fröstelnd aneinanderdrängten, erschien Alexandra wundersam trocken, nicht eine einzige Strähne ihres schweren Zopfes hatte sich gelöst, nicht ein einziger nasser Fleck war auf ihrer brokatenen grünen Jacke. Unerklärbare Wahrnehmungen dieser Art waren es, die bei uns in Eastwick das Gerücht aufkommen ließen, daß Hexen ihr Wesen trieben.

 

Alexandra war Künstlerin. Ihr Werkzeug bestand aus wenig mehr als Zahnstochern und einem Buttermesser aus rostfreiem Stahl; mit den Fingern kniff und knetete sie kleine liegende oder sitzende Figuren, immer Frauen, denen sie knallige Kleider auf den nackten Leib malte. Sie wurden für 15 oder 20 Dollar in zwei Geschenkläden im Ort verkauft, die «Zum Bellenden Fuchs» und «Das Hungrige Schaf» hießen. Alexandra hatte keine klare Vorstellung, wer sie kaufte und warum, und weshalb sie sie eigentlich machte oder wer ihr die Hand führte. Die Gabe, Formen zu schaffen, war ihr zusammen mit ihren anderen Kräften zugewachsen, damals, als Ozzie sich in farbigen Staub verwandelte. Eines Morgens war der Impuls da: Sie saß am Küchentisch, die Kinder waren in der Schule, das Geschirr war gespült. An jenem Morgen hatte sie das Knetzeug eines ihrer Kinder verwendet, aber bald kam für sie nur noch ein besonders reiner kaolinartiger Ton in Frage, den sie in der Nähe von Coventry gefunden hatte, im Garten einer alten Witwe; dort stach sie ihn sich selber, in einer kleinen Grube, von einer freigelegten, glitschigen Bank schmieriger weißer Erde, hinter den moosüberwachsenen Resten eines Schuppens und dem Gerippe eines Vorkriegs-Buicks, des gleichen Modells – und das war ein unheimlicher Zufall – , wie ihr Vater es benutzt hatte, wenn er nach Salt Lake City und Denver und Albuquerque mußte und in die abgeschiedenen Orte, die dazwischen lagen. Er hatte Arbeitskleidung verkauft, Overalls und Blue jeans, als sie noch nicht schick und in Mode, noch nicht die Einheitstracht der Welt waren, das Kostüm, das gegen Vergangenheit imprägniert ist. Man nahm seine eigenen Rupfensäcke nach Coventry mit, und für einen vollen zahlte man der Witwe 12 Dollar. Wenn die Säcke zu schwer waren, half sie einem, sie zum Auto zu tragen; wie Alexandra war sie von kräftiger Statur. Sie war mindestens 65, aber färbte sich die Haare in einem strahlenden Messington und trug türkisgrüne oder magentarote Hosenanzüge, die so eng saßen, daß das Fleisch unterhalb des Gürtels sich zu wurstartigen Rollen quetschte. Das war hübsch. Alexandra sah für sich eine Botschaft darin: Altwerden konnte vergnüglich sein, wenn man stabil blieb. Die Witwe prunkte mit einem hellen Pferdelachen und großen Ohrringen, von denen sie immer das Messinghaar zurückstrich, damit sie zur Geltung kämen.

Zwei, drei Hähne stelzten in stolzem Zauderschritt durch das hohe Gras; die Rückseite des schmalen, schindelverkleideten Hauses war abgeblättert bis aufs nackte graue Holz, wohingegen die Fassade einen weißen Anstrich hatte. Alexandra kehrte von diesen Ausflügen in ihrem Subaru, dessen Heck durchsackte unter dem Gewicht der Tonerde, immer erquickt und angeregt zurück, sie fühlte: Verschwörung unter Frauen hält die Welt aufrecht.

Ihre Figurinen waren in gewissem Sinn primitiv; Sukie, oder war es Jane, hatte sie ihre «Duttelchen» genannt – pummeligunförmige weibliche Körper, zehn oder zwölf Zentimeter groß, oft ohne Gesicht und ohne Füße, zusammengerollt oder hingekauert in entspannter Haltung, und unerwartet schwer, wenn man sie in der Hand hielt. Die Leute schienen sie tröstlich zu finden und holten sie eine nach der anderen aus den Läden weg, der Verkauf riß nie ab, war im Sommer stärker, versiegte aber auch im Januar nicht. Alexandra formte sie als nackte Körper, stach mit einem Zahnstocher den Nabel heraus und ritzte sorgsam eine kleine Schamlippenspalte ein, aus Protest gegen die verlogene Glätte der Puppen da unten, mit denen sie als Kind gespielt hatte. Dann malte sie ihnen Kleider auf, manchmal pastellfarbene Badeanzüge, manchmal anstößig enganliegende Gewänder, mit Punkten oder Sternchen gemustert oder mit Wellenlinien, wie man in Witzzeichnungen das Meer andeutet. Keine glich der anderen, aber alle waren sie Schwestern. Alexandras Arbeitsweise war von dem Gefühl diktiert, daß so, wie man jeden Morgen seine Nacktheit mit Kleidern verhüllt, auch die Figurinen behandelt werden müßten: die Kleider durften nur leicht aufgemalt, nicht fest einmodelliert werden in diese Urformen aus gerundetem weichem Ton. Sie brannte sie, immer zwei Dutzend auf einen Schub, in einem kleinen elektrischen Brennofen aus Schweden, hinter der Küche, in einem Arbeitsraum, der noch nicht fertig ausgebaut war, aber immerhin einen Holzfußboden hatte, im Gegensatz zur angrenzenden Abstellkammer, wo auf der nackten Erde alte Blumentöpfe, Rasenrechen und Hacken, Gummistiefel und Gartenscheren verwahrt wurden. Alexandra hatte sich das Arbeiten mit Ton selber beigebracht, machte seit fünf Jahren Skulpturen, schon vor ihrer Scheidung, zu der diese Kunst, wie die meisten Manifestationen ihrer sich entfaltenden Persönlichkeit, beigetragen hatte. Ihre Kinder, besonders Marcy, aber auch Ben und der kleine Eric, haßten die Duttelchen, hielten sie für unanständig, und hatten einmal einen ganzen Schub, der gerade abkühlen sollte, zertrümmert, aus lauter peinvoller Scham. Inzwischen hatten sie sich mit ihnen abgefunden wie mit defekten Geschwistern. Kinder sind aus einem Material, das sich weitgehend anpaßt, aber im Ausdruck ihrer Münder bleiben Verwerfungen, und in ihren Augen härtet sich ein Glanz der Abwehr.

Auch Jane Smart war der Kunst zugeneigt: der Musik. Sie gab Klavierstunden, um ihren Unterhalt aufzubessern, und gelegentlich übernahm sie in den Kirchen der Umgebung die Chorleitung, aber ihre Liebe galt dem Cello. Seine melancholischen Klänge, in denen die Schwermut gemaserten Holzes vibrierte, die schattige Fülle von Bäumen, fluteten in warmen Sommernächten, zu mondheller, später Stunde, durch die fliegendrahtvergitterten Fenster des niedrigen kleinen Ranchhauses, das sich zwischen die vielen anderen kuschelte, die genauso gebaut waren an den gewundenen Straßen der Fünfziger-Jahre-Siedlung namens Cove Homes. Die Nachbarn auf ihren Tausend-Quadratmeter-Parzellen, Mann und Frau, Kind und Hund, wachten auf, wurden unruhig und berieten, ob sie die Polizei holen sollten oder nicht. Sie taten es so gut wie nie, waren beschämt und, möglich war’s, eingeschüchtert von dem schutzlos Nackten, dem Glanz und dem Schmerz in Janes Spiel. Es war wohl einfacher, wieder in Schlaf zu fallen, eingelullt von den Doppelgriff-Folgen – erst in Terzen, dann in Sexten – aus «Poppers Etüden», oder, wieder und wieder, den vier Takten gebundener Sechzehntel im zweiten Andante von Beethovens Quartett Nr. 15 a-Moll, wo das Cello fast allein zu Wort kommt. Jane war keine Gärtnerin, das wuchernde Forsythien-, Rhododendron-, Hortensien-, Thuja-Berberitzen-Buchsbaumgestrüpp dicht am Haus half, den Schwall aus den Fenstern zu dämpfen. Dies war eine Zeit der angemaßten Rechte und des allgemeinen Musikgebrülls; jeder Supermarkt dudelte seine Muzak-Version von ‹ Satisfaction› und ‹ I Got You, Babe›, und wo immer zwei oder drei Teenager zusammengluckten, machte der Geist von Woodstock sich breit. Nicht die Lautstärke, sondern die Klangfarbe von Janes leidenschaftlichem Spiel war es – die Art, wie sie tastend immer wieder dieselben Töne ansetzte, jedesmal in der gleichen dunklen Klangfülle – , die zum widerwilligen Hinhören zwang. Alexandra assoziierte die dunklen Töne mit Janes dunklen Brauen und mit dem inständigen Drängen in ihrer Stimme, das nach unverzüglicher Antwort verlangte, nach einer Formel, mit der die Lösung des Lebens gefunden, sein Geheimnis ein für allemal festgeschrieben werden konnte; ganz anders als Alexandra, die sich treiben ließ in der Gewißheit, daß das Geheimnis allgegenwärtig ist, ein aromaloses Element in der Luft, von dem die Vögel und wehenden Gräser sich nähren.

Sukie hatte nichts von dem, was sie künstlerisches Talent nennen würde, dafür war sie an allem interessiert, was mit menschlichem Miteinander zu tun hatte, und durch die finanzielle Einschränkung, die eine Scheidung mit sich bringt, war sie dazu gekommen, für das lokale Wochenblatt zu schreiben, den Eastwick-Anzeiger. Heiteren, geschmeidigen Schritts eilte sie in der Dock Street hin und her, die Ohren gespitzt, damit kein Klatsch ihr entgehe und sie auf dem laufenden bleibe über Gedeih und Verderb der Läden, und Freude durchrieselte sie, wenn sie in der Auslage des Bellenden Fuchses Alexandras grelle Figürchen sah oder ein Plakat im Fenster des Eisenwarenladens der Armenier, auf dem ein Kammermusikkonzert in der Unitarierkirche angekündigt wurde, mit: Jane Smart, Cello: das funkelte sie an wie ein Stückchen Glas im Strandsand oder ein blanker Vierteldollar, den man zufällig im Staub des Gehsteigs findet – ein Codefetzen in der verstümmelten Botschaft des alltäglichen Tages, ein Aufblitzen des Zusammenhangs zwischen der inneren und der äußeren Welt. Sie liebte ihre beiden Freundinnen, und sie liebten sie. Heute, Sukie hatte gerade ihren Bericht über die beiden gestern abend abgehaltenen Sitzungen im Rathaus niedergeschrieben – der Steuerausschuß hatte getagt (stumpfsinnig: immer dieselben alten Damen mit unrentablem Grundbesitz, die um Steuerermäßigung baten) und das Planungskomitee war zusammengetreten (beschlußunfähig: Herbie Prinz war auf den Bermudas) – , sah sie sehnsüchtig Alexandras und Janes Besuch entgegen, die auf einen Drink vorbeikommen wollten. Sie trafen sich für gewöhnlich jeden Donnerstag, immer abwechselnd, in einem ihrer drei Häuser. Sukie wohnte mitten in der Stadt, was praktisch war für ihre Arbeit, wenngleich das Haus, ein winziges Saltbox von 1760, an einem schlängeligen, von der Oak Street abzweigenden Gäßchen namens Hemlock Lane gelegen, ein ziemlicher Abstieg war, verglichen mit dem weitläufigen Farmhaus – sechs Schlafzimmer, 8000 Quadratmeter Grund, ein Kombi, ein Sportwagen, ein Jeep, vier Hunde – , in dem sie mit Monty gelebt hatte. Aber durch ihre Freundinnen wurde es zu einem Zwischenreich, einem Interludium der Verzauberung; sie zogen sich auch meistens irgendwelche seltsamen, bunten Gewänder zu ihren Treffen an. Alexandra trat, in einen mit Goldfäden durchwirkten Parsen-Schal gehüllt, den Kopf einziehend, zur Seitentür herein, in die Küche; in den Händen hielt sie, wie Hanteln oder wie blutige Beweisstücke, zwei Gläser ihrer gepfefferten, basilikumgewürzten Tomatensauce.

Die Hexen küßten einander auf die Wange. «Hier, Schatz, ich weiß, du magst trockene scharfe Sachen am zweitliebsten», sagte Alexandra, in diesem aufregenden Kontraalt, der von ganz tief unten aus ihrer Kehle kam, wie wenn eine russische Frau «bylo» sagt. Sukie nahm das Zwillingsgeschenk in ihre eigenen, schmaleren Hände, deren papierene Rücken mit blassen Sommersprossen getüpfelt waren. «Die Tomaten sind dies Jahr aus irgendeinem Grund wie eine Plage über mich gekommen», redete Alexandra weiter. «Ich habe an die hundert Gläser eingeweckt, und dann, neulich nacht, bin ich in den Garten gegangen, im Stockfinstern, und habe gerufen: ‹Ihr könnt mich mal, von jetzt an könnt ihr verrotten!›»

«Ich habe mal so ein Jahr mit Zucchini gehabt», sagte Sukie und stellte die Gläser artig in ein Schrankregal, von wo sie sie nie wieder herunterholen würde. Wie Alexandra gesagt hatte: Sukie liebte trockene, scharfe Sachen – Sellerie, Cashewnüsse, Pilaf, Salzstangen, winzige kleine Knabberkörner, wie ihre Affenvorfahren sie gesammelt und mit hinauf in die Bäume genommen hatten. Wenn sie allein war, setzte sie sich zum Essen niemals hin, tunkte im Stehen, über dem Küchenausguß, einfach ein bißchen Weizenknäckebrot in irgendwelchen Joghurt oder verzog sich mit einem Neunundsiebzigcent-Beutel Crinklechips mit Zwiebelgeschmack und einem steifen Bourbon in ihre Fernsehhöhle. «Ich habe alles gemacht», sagte sie zu Alexandra und genoß die Übertreibung, ihre lebhaften Hände flatterten untermalend: «Zucchinibrot, Zucchinisuppe, Salat, Frittata, Zucchini mit Hack gefüllt und gebacken, in Scheiben geschnitten und gebraten, zu Stäbchen geschnitten, damit man sie in eine Sauce tunken konnte, es war irre. Ich habe sie sogar in den Mixer geworfen und den Kindern gesagt, sie sollten sich das Zeug aufs Brot schmieren, statt Erdnußbutter. Monty war fix und fertig, er sagte, sogar seine Scheiße röche nach Zucchini.»

So vergnüglich sie sich auch anhörte, diese Geschichte aus einer Zeit, da Sukie noch verheiratet war und im Überfluß lebte: die Erwähnung eines ehemaligen Ehemannes war eine Verletzung der Spielregeln, und Alexandra schluckte ihr Lachen wieder hinunter. Die Scheidung von Monty lag noch nicht lange zurück, Sukie war die Jüngste der drei. Sie war eine schmale rothaarige Person, das Haar hing ihr glatt den Rücken herunter und war unten ganz gerade geschnitten, und ihre langen Arme waren über und über voller Sommersprossen, zedernfarben, wie Bleistiftspäne. Sie trug kupferne Armreifen und um den Hals eine billige, dünne Kette mit einem Pentagrammanhänger. Was Alexandra, mit ihren schweren, hellenischen Gesichtszügen, an Sukies Aussehen so mochte, war das fröhliche Äffchenhafte: ihre großen Zähne drängten die Linie ihres Profils unterhalb der kurzen Nase in einer Kurve nach vorn; eine Vorwölbung hauptsächlich der Oberlippe, die länger und ausgeprägter in der Form war als die untere, polsterig zu beiden Seiten der Mitte, was ihrem Mund, auch wenn er schwieg, etwas Koboldartiges gab, als schmecke sie Vergnügliches allezeit. Ihre Augen waren haselnußbraun und rund und standen ziemlich eng zusammen. Sie bewegte sich gewandt in ihrem kleinen Küchengelaß, wo alles dicht gedrängt stand und der Ausguß fleckig und winzig war und unter ihm ein Geruch nach Armut hockte, von all den Eastwick-Generationen, die in diesem Haus gelebt und nur die notdürftigsten Renovierungen zusammengestoppelt hatten im Laufe der Jahrhunderte, als alte Holzhäuser wie dieses noch nicht als malerisch galten. Mit der einen Hand nahm sie eine Dose teuflisch-zuckriger Planter’s Beer-Nüsse aus einem Regal und mit der anderen, vom gummiverkleideten, drahtenen Abtropfgestell neben dem Ausguß, eine kleine paisleygemusterte Schale mit Messingrand, um sie hineinzuschütten. Aus knisternden Packungen streute sie Kolonnen von Crackers um ein dreieckiges Stück rotrindigen Gouda, das auf einer Platte lag, und fügte noch eine Supermarktpastete dazu, die sie erst gar nicht aus der flachen, mit einer lachenden Gans geschmückten Blechbüchse genommen hatte. Die Platte war aus derbem gelbbraunem Steingut, leicht gehöhlt und glasiert und erinnerte an eine große Krabbenschale. Krebs. Alexandra fürchtete sich davor und sah sein Sinnbild überall in der Natur – in den Blaubeerbüscheln an vergessenen Stellen zwischen Sumpf und Steinen, in den Trauben, die an der einknickenden, morschen Laube vor ihren Küchenfenstern reiften, in den von Ameisen zusammengetragenen konischen, körnigen Hügeln in den Schrunden ihres asphaltierten Zufahrtswegs, in allen blinden, unaufhaltsamen Vermehrungen. «Wie üblich?» fragte Sukie, eine Spur besorgt, denn Alexandra hatte sich, als sei sie viel älter, als sie wirklich war, ohne den Schal abzunehmen, in die einzige einladende Sitzgelegenheit in der Küche fallen lassen, einen alten blauen Sessel, der zu häßlich war, um woanders hingestellt zu werden; er platzte aus den Nähten, die Füllung quoll heraus, und die Armlehnen vorn glänzten grauspeckig, abgewetzt von vielen schubbernden Handgelenken.

«Eigentlich ist ja noch Tonic-Zeit», sagte Alexandra; die Kühle, die mit dem Gewitter gekommen war, vor ein paar Tagen, hatte sich noch nicht wieder verzogen. «Wie sieht es mit deinem Wodka-Vorrat aus?» Irgend jemand hatte ihr mal gesagt, daß Wodka nicht nur weniger dick mache als Gin, sondern auch die Magenwände weniger reize. Reizung, psychische wie physische, ist die Ursache von Krebs. Krebs bekommen die, die auch nur die Idee an sich herankommen lassen; nur eine einzige Zelle muß außer Rand und Band geraten, schon ist es passiert. Die Natur lauert, wartet nur darauf, daß man seinen Glauben verliert und sie einem ihren tödlichen Stich versetzen kann.

Sukie lächelte, breiter. «Ich wußte ja, daß du kommst.» Sie hielt eine brandneue Gordön’s-Flasche hoch, mit dem abgetrennten Eberkopf, der aus einem runden orangefarbenen Auge starrt und seine rote Zunge eingeklemmt hält zwischen Zähnen und einem gekrümmten Hauer.

Alexandra lächelte beim Anblick des freundlichen Monsters. «Viel Tonic, bütte. Die Kalorien!»

Die Tonic-Flasche zischte in Sukies Hand, zänkisch. Vielleicht waren Krebszellen eher wie Kohlensäureblasen und blubberten im Blutkreislauf, dachte Alexandra. Sie mußte aufhören, darüber nachzudenken. «Wo ist Jane?» fragte sie.

«Sie sagte, sie würde sich ein wenig verspäten. Sie übt für das Konzert in der Unitarierkirche.»

«Mit diesem gräßlichen Neff», sagte Alexandra.

«Mit diesem gräßlichen Neff», gab Sukie wie ein Echo zurück und leckte Chininwasser von ihren Fingern, indes sie in ihrem leeren Kühlschrank nach einer Zitrone suchte. Raymond Neff unterrichtete Musik an der High-School, ein schwammiger, effeminierter Mann, der nichtsdestoweniger fünf Kinder gezeugt hatte mit seiner unappetitlichen, bläßlichen, nickelbebrillten deutschen Frau. Wie die meisten guten Lehrer war er ein Tyrann, salbungsvoll und beharrlich. Auf seine dumpfklebrige Art wollte er mit jeder schlafen. Derzeit schlief Jane mit ihm. Alexandra war in der Vergangenheit einige Male schwach geworden, aber die Episode hatte sie so wenig berührt, daß Sukie deren Nachschwingungen anscheinend gar nicht spürte. Sukie selber schien gefeit zu sein gegen Neff, aber andererseits war sie noch nicht so lange auf dem Markt. Als geschiedene Frau in einer kleinen Stadt leben, das ist ein bißchen wie Monopolyspielen; über kurz oder lang landet man auf jeder Immobilie. Die beiden Freundinnen wollten Jane retten, die sich in einer Art empörter Hast immer unter Wert verkaufte. Die fürchterliche Ehefrau war es, mit dem strohigen, stumpfen Haar, das kurz geschnitten war wie mit dem Rasenmäher, und den sorgfältig ausgesprochenen Wortentstellungen und der glotzäugigen, eifrigen Art, anderen zuzuhören – die Ehefrau war es, die ihnen nicht paßte. Wenn man mit einem verheirateten Mann schläft, schläft man in gewisser Hinsicht auch mit seiner Frau, sie sollte also nicht von äußerster Peinlichkeit sein.

«Jane hat so schöne Möglichkeiten», sagte Sukie, ein bißchen automatisch, während sie mit wütenden Äffchenbewegungen im Eiskasten des Kühlschranks kratzte und noch ein paar Würfel zu lösen versuchte. Eine Hexe kann mit einem Blick Wasser zu Eis machen, aber es wieder aufzutauen ist manchmal ein Problem. Zwei von den vier Hunden, die sie und Monty sich im Überschwang der Gefühle zugelegt hatten, waren kanternde silbrigbraune Weimaraner gewesen, und einen von ihnen hatte sie behalten, er hieß Hank; im Augenblick drückte er sich an ihre Beine in der Hoffnung, daß sie zu seinem Wohl im Kühlschrank herumkrame.

«Aber sie vergeudet sich», sagte Alexandra, Sukies Satz ergänzend. «Vergeuden im altmodischen Sinn», fügte sie hinzu, denn der Vietnam-Krieg hielt noch an und hatte dem Wort eine unangenehme neue Bedeutung gegeben. «Wenn sie es ernst meint mit ihrer Musik, sollte sie in eine ernsthafte Umgebung mit ihr gehen, in eine richtige Stadt. Diese schreckliche Vergeudung: eine Konservatoriumsabsolventin fiedelt einem Haufen tauber alter Betschwestern vor, in einer heruntergekommenen Kirche.»

«Sie fühlt sich sicher hier», sagte Sukie, als ob sie beide das nicht auch täten.

«Sie wäscht sich nicht mal, ist dir nie ihr Geruch aufgefallen?» fragte Alexandra, nicht Jane meinend, sondern Greta Neff, und Sukie hatte keine Mühe, dieser Assoziationskette zu folgen, ihrer beider Herzen waren so innig auf derselben Wellenlänge.

«Und diese Omabrille!» stimmte Sukie ein. «Sie sieht aus wie John Lennon.» Sie schnitt eine feierliche, quelläugige, dünnlippige John Lennon-Grimasse. « I sink sen we can drink ouur – wie sagt man – be-we-retsches neeoauu.» Aus Greta Neffs Mund kam tatsächlich ein gräßlicher unamerikanischer Diphtong, eine Art Verzwirbeln des Vokals gegen den Gaumen.

Schnatternd gingen sie mit ihren Drinks in die «Höhle», ein kleines Zimmer mit einer fleckigen, abblätternden, mit vergilbten Weinreben und Obstkörben gemusterten Tapete und einer bauchigen Stuckdecke, die zu einer merkwürdig scharfen Schräge abknickte, weil das Zimmer halb unter die Treppe geklemmt war, die in den mansardenartigen oberen Stock führte. Das einzige Fenster des Zimmers, zu hoch, als daß eine Frau, ohne auf einen Schemel zu steigen, hätte hinausschauen können, hatte rautenförmige Scheiben aus bleigefaßtem dicken Glas, das voller Blasen war und huppelig wie Flaschenböden.

«Kohlgeruch», sagte Alexandra vielsagend und ließ sich mit ihrem großen silbrigen Drink auf einem Loveseat, einer Art Zwillingssessel, nieder, der mit einer Crewelstickerei bezogen war – lauter flammende, zerfetzte Strudel: stilisierte, sich entschnörkelnde Weinranken. «Sein ganzes Zeug riecht danach», sagte sie und dachte gleichzeitig, daß das ein bißchen wie Monty und die Zucchini war und daß sie mit diesem intimen Detail Sukie unverblümt zu der Vermutung aufforderte, sie habe mit Neff geschlafen. Warum? Es war nichts, dessen man sich rühmen konnte. Und doch: Wie er geschwitzt hatte! Was das betraf – sie hatte schließlich auch mit Monty geschlafen, aber sie hatte nie Zucchini gerochen. Ein faszinierender Aspekt, wenn man mit verheirateten Männern schläft, ist der Blickwinkel, den sie einem auf ihre Frauen gewähren: sie sehen sie, wie niemand sonst sie sieht. Neff sah in der armen, schrecklichen Greta so etwas wie eine putzige kleine Heidi mit Schleifchen im Haar, ein süßes Edelweiß, das er von einer gefahrvollen, romantischen Bergeshöhe herabgeholt hatte (sie hatten sich in einem Frankfurter Bierlokal kennengelernt, als er in Westdeutschland stationiert war, anstatt in Korea zu kämpfen), und Monty … Alexandra sah verstohlen zu Sukie hinüber und versuchte, sich zu erinnern, was Monty über sie gesagt hatte. Er hatte wenig gesagt, war ein solcher Möchtegern-Gentleman gewesen. Aber einmal, als er von einer unangenehmen Besprechung in der Bank kam und in Gedanken noch damit beschäftigt war, hatte er sich, während er mit Alexandra ins Bett ging, die Worte entschlüpfen lassen: «Sie ist ein reizendes Mädchen, aber ein Unglück. Unglück für andere, meine ich. Für sich selbst ist sie, glaube ich, ein Glück.» Und es stimmte: Monty hatte, während er mit Sukie verheiratet war, einen großen Teil seines Familienvermögens verloren, was alle Welt schlicht seiner stillen Einfalt zugeschrieben hatte. Er hatte nie geschwitzt. Er hatte an dem hormonellen Defizit des aus feinen Kreisen Stammenden gelitten, einer Unfähigkeit, harte körperliche Arbeit für sich selbst auch nur in Erwägung zu ziehen. Sein Körper war nahezu haarlos gewesen, mit diesem femininen, weichen Hintern.

«Greta muß eine Wucht im Bett sein», sagte Sukie. «All diese Kinder. Fünf – bis jetzt.»

Neff hatte Alexandra gegenüber durchblicken lassen, Greta sei scharf, aber mühsam, könne nur schwer kommen, sei aber finster entschlossen dazu. Sie würde eine erbarmungslose Hexe abgeben: diese mörderischen Deutschen. «Wir müssen nett zu ihr sein», sagte Alexandra, zum Thema Jane zurückkehrend. «Als ich gestern mit ihr telefonierte, war ich entsetzt, wie wütend sie klang. Die Frau macht sich kaputt.»

Sukie äugte zu ihrer Freundin hin, dies war ein falscher Ton. Irgend etwas bahnte sich an bei Alexandra: ein neuer Mann. In dem Sekundenbruchteil, da Sukie zu ihr hinsah, schlappte Hank mit seiner baumelnden grauen Weimaraner-Zunge zwei Weizencrackers von der Krabbenschale, die Sukie auf einer hinfälligen Schiffstruhe aus Zedernholz abgestellt hatte; ein Antiquitätenhändler hatte sie so weit wieder hergerichtet, daß sie als Sofatisch zu gebrauchen war. Sukie liebte ihre schäbigen alten Sachen; es haftete ihnen etwas Pomphaftes an, etwas von dem Flitterkleid des Soprans im zweiten Opernakt. Hanks Zunge wollte gerade nach dem Käse langen, aber Sukie gewahrte die Bewegung aus dem Augenwinkel und gab ihm einen Klaps auf die Schnauze; sie fühlte sich wie Gummi an, hart, wie Autoreifen-Gummi, und der Klaps tat ihren Fingern weh. «Au, du Mistvieh», sagte sie zum Hund, und zu ihrer Freundin: «Wütender als irgend jemand sonst?» womit sie sich beide meinte. Sie nahm einen ruppigen Schluck unverdünnten Bourbons. Sie trank Whiskey sommers und winters, und der Grund dafür, den sie vergessen hatte, war, daß ein Freund an der Cornell-Universität ihr mal gesagt hatte, Whiskey lasse die goldenen Flecken in ihren grünen Augen leuchten. Aus demselben eitlen Grund kleidete sie sich gern in Brauntöne und in Wildleder, mit seinem animalischen Schimmer.