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Zwei junge Frauen in Hawaii zwischen Abenteuer, Liebe und einem Fluch, der sie zu zerstören droht: das neue, große Epos von Bestsellerautorin Barbara Wood. 1820 kommt die junge Amerikanerin Emily Stone nach Hawaii. Das wilde, exotische Land verzaubert und verunsichert sie zugleich. Darf sie ihren Gefühlen für Schiffskapitän Farrow nachgeben? Und wie tief geht die Freundschaft, die sie mit der hawaiianischen Hohepriesterin Mahina verbindet? Alleingelassen und verletzlich trifft Emily eine tragische Entscheidung … Vierzig Jahre später kommt die junge Theresa als Missionsschwester nach Hawaii und trifft dort auf Captain Farrows Sohn Robert. Bald erkennt sie, dass ein dunkler Fluch auf seiner Familie und auf der ganzen Insel lastet – ein Fluch, den sie nur mit der Hilfe von Emily und Mahina lösen kann. Wie kann sie die drohende Katastrophe abwenden, ohne ihr eigenes Glück zu zerstören?
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Seitenzahl: 687
Barbara Wood
Die Insel des verborgenen Feuers
Roman
Aus dem Amerikanischen von Veronika Cordes
FISCHER E-Books
Für meinen Ehemann Walt
Das Erste, was Emily auffiel, als die Triton sich der Insel näherte, war eine rätselhafte Erscheinung, die am klaren blauen Himmel schwebte. Sie sah aus wie ein durchsichtiger weißer Schleier, der sich auf einer Länge von mehr als einer Meile über die Insel zog.
»Eine optische Täuschung«, sagte Mr Hampstead, der neben Emily am Bug des Schiffes stand. »Was wir da vor uns haben, ist der Mauna Loa, ein noch aktiver Vulkan. Er weist beinahe die gleiche Färbung auf wie der Himmel. Das, was so aussieht, als würde etwas am Himmel schweben, ist der schneebedeckte Gipfel.«
Emily war überwältigt. Sieben lange Monate hatte sie von diesem Augenblick geträumt, und jetzt stand sie kurz davor, ein Land mit Palmen und Schnee zu betreten.
In der näheren Umgebung, nicht so weit entfernt wie der Berg, machte sie smaragdgrüne Klippen aus, eine fruchtbare Ebene mit Grashütten, einen Sandstrand sowie Kokospalmen, die sich im Wind wiegten. Während die Schiffsbesatzung Anker warf und in die Takelage kletterte, um die Segel einzuholen, der Kapitän lautstark Befehle erteilte und die Passagiere sich in gespannter Erwartung auf dem Deck versammelten, beobachtete Emily, wie Schwärme von Eingeborenen zum Strand liefen, ihre Kleider abwarfen und sich in die Fluten stürzten.
Wie grell und klar das Licht der Sonne war! Es strahlte in einer Leuchtkraft, die sie aus Neuengland nicht kannte. Und die Farben lebhaft und stark. Das Meer glitzerte wie Diamantsplitter. Wellen bauten sich auf, wölbten sich in hellgrünen Bogen, ehe sie sich im weißen Schaum brachen. Der unablässige Passatwind zerrte an Emilys Haube, während sie die Eingeborenen im Wasser beobachtete. Sie konnte hören, wie sie lachten. Man hatte sie davor gewarnt. »Die Frauen und Mädchen schwimmen nackt zu den Schiffen, um die Seeleute willkommen zu heißen. Ein Brauch, dem wir versuchen, Einhalt zu gebieten, bisher leider ohne nennenswerten Erfolg. Bleibt zu hoffen, dass durch den Einfluss christlicher Missionare diesem Treiben ein Ende gesetzt wird.« Soweit Mr Alcott, Vorsitzender des Missionar-Vorstands für die Sandwich-Inseln, am Vorabend von Emilys Abreise aus New Haven vor sieben Monaten.
Als die Insulanerinnen an Seilen und Leitern, die die Besatzung eilfertig heruntergelassen hatten, an Bord der Triton kletterten, als sie nackt und glänzend und übermütig lachend an Deck sprangen, als sie sich von Matrosen, die so lange Zärtlichkeiten entbehrt hatten, umarmen ließen, ehe sie den Passagieren Blumengirlanden um den Hals hängten, richtete Emily den Blick zur Küstenlinie und sah Auslegerkanus mit hoher Geschwindigkeit näherkommen, jedes von dreißig Ruderern angetrieben, kräftigen braunhäutigen Männern mit grünen Blattgirlanden um den Hals und ebensolchen Kränzen im Haar. Als sie bereits in Rufweite der Triton waren, johlend und grinsend und winkend, meinte Emily, ihren Blick abwenden zu müssen, stellte dann aber erleichtert fest, dass die Männer zumindest notdürftig bekleidet waren – mit einem Lendenschurz, der ihr Geschlechtsteil bedeckte.
In der Ferne ragten tief zerklüftete, grüne Berge in dunstige Wolken. Noch nie hatte Emily etwas derart Eindrucksvolles gesehen. Wasserfälle stürzten weiß aufschäumend über die Klippen, die von Regenwald umrahmt wurden. Regenbögen hoben sich majestätisch gegen den Himmel ab. Sie wusste, dass wenige, vereinzelte Weiße hier lebten – Männer, die einstmals zur See gefahren waren und solche, die als Entdecker hergekommen und geblieben waren. Weiße Frauen hingegen hatte es bislang noch nicht hierher verschlagen. Emily Stone, zwanzig Jahre alt und frisch verheiratet, würde mit die Erste sein.
»Wir sind bereit, Sie an Land zu bringen, Mrs Stone«, sagte Kapitän O’Brien, ein stämmiger, ruppiger Seebär mit Bart und dem rötlichen Gesicht eines Mannes, der nur allzu gern einen über den Durst trinkt.
Emily warf einen Blick auf die Menschen, die dicht gedrängt an Deck standen. Acht Missionare hatten sich auf die strapazenreiche Reise begeben, außerdem Passagiere, die nach Honolulu auf der Insel O’ahu weiterfuhren. Alle, auch sie selbst, sahen aus, als hätten sie sich für ein Gartenfest herausgeputzt – die Damen in Empire-Kleidern mit modischem Stehkragen und langen Ärmeln, mit Umhang, Haube und Handschuhen, Täschchen und Sonnenschirm; die Männer in schmucken Kniehosen, Leinenhemd und sorgfältig geknüpfter Krawatte, schwarzem Cutaway mit Schwalbenschwanz, Zylinder und Stiefeln.
Bei diesen Männern und Frauen, die sich da in bester Laune in ihrem Sonntagsstaat präsentierten, wäre man wohl kaum auf die Idee gekommen, dass sie noch vor Wochen unter Deck auf einer Pritsche geächzt, sich in Eimer übergeben und den Allmächtigen angefleht hatten, ihren Qualen ein Ende zu bereiten. Aber sie waren typische Neuengländer. Alle Mühsal war vergessen; sie machten sich bereit, stilvoll die Sandwich-Inseln zu betreten.
Da war er ja, Reverend Isaac Stone, ihr Gatte.
Gatte nur dem Namen nach, korrigierte sie sich. Nach einer überstürzten Hochzeit war keine Zeit gewesen, die Ehe zu vollziehen: Vorbereitungen für die lange Reise, die vielen Abschiedsbesuche bei Familien und Freunden, da so gut wie feststand, dass Emily und Isaac nie wieder nach New Haven zurückkehren würden. Schlafen in getrennten Zimmern. Emily hatte angenommen, die Hochzeitsnacht würde an Bord der Triton stattfinden, was sie sich damals als ungemein romantisch vorgestellt hatte. Stattdessen auf dem Schiff überfüllte Quartiere, die sie mit Wildfremden teilen mussten und wo jeder jeden hören konnte und man keinen Augenblick für sich hatte. Hinzu waren Seekrankheit gekommen, ein aufgewühltes Meer und der verzweifelte Kampf, Kap Horn zu umrunden, was dazu geführt hatte, dass zwei Seeleute über Bord gespült worden waren. Eine fürchterliche und grauenhafte Reise, die Emily um keinen Preis je wiederholen wollte.
Selbst auf dem relativ ruhigen Pazifik und begünstigt von Passatwinden hatte es kein Privatleben und somit für Isaac keine Gelegenheit gegeben, sich mit seiner Frau zu vereinen. Und jetzt waren sie hier und schickten sich an, zum ersten Mal nach hundertzwanzig Tagen an Land zu gehen. »Die Eingeborenen werden Ihnen ein Haus zur Verfügung stellen«, hatte Mr Alcott ihnen versichert, ehe sie mit ihrer irdischen Habe sowie Gebetbüchern und Bibeln Segel gesetzt hatten. »Sie brennen darauf, das Wort Gottes zu vernehmen.«
Dann wird es also heute Abend geschehen, überlegte Emily, während sie beobachtete, wie ihr schlaksiger Ehemann sich eingehend mit zwei anderen Geistlichen besprach, mürrischen Männern, wie sie befand, und derart versessen darauf, den Heiden das Evangelium zu verkünden, dass kaum noch anderes für sie zählte.
Reverend Isaac Stone, sechsundzwanzig Jahre alt, Absolvent des Theologischen Seminars von Andover, war eine schlanke Erscheinung mit schmalen, weichen Händen und eher feinen Gesichtszügen. Hochgewachsen, aber mit leicht gebeugter Haltung, so als wollte er sich für seine Körpergröße entschuldigen. Zum Lesen, was häufig genug der Fall war, benötigte er eine Brille, und sein wiederholtes Räuspern zeugte davon, dass er stets darauf bedacht war, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung verfügte er über eine kräftige Stimme. Er brüllte, bellte und wetterte. »Musst du immer so laut sein?«, pflegte seine Mutter einzuwerfen, und dann erwiderte er: »Gott hat uns die Gabe des Sprechens verliehen und erwartet von uns, dass wir sie gut nutzen!«
Emily vermutete, dass Isaac, ganz gleich, wo er sich aufhielt, stets auf der Kanzel zu stehen meinte und er, ganz gleich, worum es ging, gar nicht anders konnte, als diesen Predigerton anzuschlagen.
Sie und Isaac waren entfernte Vettern. Der Bruder von Emilys Mutter hatte eine Cousine zweiten Grades geheiratet und mit ihr Isaac bekommen. Emily war Isaac über die Jahre hinweg immer wieder bei Familientreffen begegnet. Beide hatten sie an jener sonntäglichen Zusammenkunft teilgenommen, auf der ein Hawaiianer zu der Versammlung sprach, ein gutgekleideter und wortgewandter Mann, der sich die englische Sprache und gute Manieren von Handelskapitänen angeeignet hatte, wenn sie unweit der Inseln ankerten, um Trinkwasser und Proviant zu fassen. Der dunkelhäutige junge Mann hatte ihnen von gottlosem Verhalten und unsäglichen Gepflogenheiten auf den Inseln berichtet, und als Mr Alcott von der Kanzel aus um mutige Männer und Frauen geworben hatte, die bereit wären, diesen Heiden die Botschaft von der Erlösung zu verkünden, war Emily sofort Feuer und Flamme gewesen. Das einzige Problem war, dass dafür nur verheiratete Missionare in Frage kamen. Wie sich herausstellte, zeigte sich auch Isaac von dem Plan begeistert, weshalb sich beide Familien zusammengesetzt hatten und die Hochzeit vereinbart worden war.
Zwei Wochen später wurden auf der Triton die Segel gesetzt – in eine unbekannte Zukunft voller Verheißungen.
Stolz war eine Sünde, dessen war Emily sich bewusst, aber sie konnte nicht anders, als stolz auf sich zu sein, stolz darauf, dass sie nicht so war wie ihre Mutter und Schwestern und Freundinnen zu Hause in Neuengland, die nichts für Abenteuer übrig hatten. Und hier war der Beweis dafür – sie war über den offenen Ozean gesegelt, auf einem schwankenden Schiff, einem unbekannten Ziel entgegen. Wie viele Frauen in New Haven konnten sich mit Ähnlichem brüsten? Die meisten verharrten in ihren festen Gewohnheiten, lebten nach festen Regeln, achteten auf Etikette und sittlich einwandfreies Verhalten. Ganz so wie Generationen von Frauen vor ihnen.
Aber ich nicht!, rief Emily stumm zu einem Himmel empor, der weiter war als der über Neuengland. Ich bin dazu bestimmt, Abenteuer zu erleben. Ich pfeife auf Konventionen. Ich bin eine moderne Frau auf einer Mission.
Beim Abschiedstee, bevor die Missionare Segel gesetzt hatten, hieß es von allen Seiten: »Wie mutig du bist, Emily. Du warst immer die kämpferischste von uns.«
»Gott verleiht mir den Mut«, hatte Emily bescheiden geantwortet, aber bei sich gedacht: Ja, ich bin tatsächlich ungemein mutig.
Die Hawaiianer, ein farbenfroher bunter Haufen, wirkten sympathisch, ihre kriegerische Vergangenheit lag weit zurück. Emily musste an einen Ausflug denken, den sie als kleines Mädchen mit ihrer Familie unternommen hatte, um Verwandte in Uncasville im östlichen Connecticut zu besuchen. Irgendwo am Straßenrand waren sie einer kleinen Gruppe von Mohegan-Indianern begegnet, die Spankörbe verkaufte. Auch sie waren mit ihrer bronzefarbenen Haut und den mit einer oder zwei Federn verzierten Perlenbändern um den Kopf und den Mokassins farbenfroh anzusehen gewesen, die Frauen in knielangen Röcken, die Männer in hirschledernen Beinkleidern. Scheu waren sie gewesen, gefügig und höflich und durchaus angepasst. Als ein wenig wunderlich hatte Emily sie empfunden. Bestimmt waren die Hawaiianer auch so.
Ich werde ihnen mit Toleranz begegnen. Mich für alles, was sie so machen, interessieren und mich vielleicht sogar an einigen ihrer Aktivitäten beteiligen, um ihnen meine Freundschaft zu beweisen. Allen gegenüber tolerant sein, so gebietet es der Allmächtige. Jeder ist mein Bruder, ganz gleich, welcher Rasse er angehört.
Vor Erregung zitternd verfolgte sie, wie die Eingeborenen in ihren Auslegern sich mit großer Geschwindigkeit dem Schiff näherten. Wie die Mohegan sind sie sicher auch Korbflechter, überlegte sie, ich werde mich also zu ihnen setzen und ihnen beim Flechten ihrer komischen kleinen Körbe zusehen. Damit ich das ebenfalls lerne und ihnen bei dieser Gelegenheit von Gott und Jesus erzählen kann. Schön wird das sein.
Man half ihnen auf Sitze, die an Stricken befestigt waren und in die Langboote hinuntergelassen wurden, um sie dann, begleitet von winkenden und lachenden Schwimmerinnen und weiteren Auslegerbooten an Land zu rudern, wo sich Eingeborene übermütig in die Brandung stürzten, um die Boote aus dem Wasser zu ziehen. Gleich darauf wurde den Passagieren von stämmigen Seeleuten aufs Trockene geholfen. Dort wartete bereits eine Schar Hawaiianer, die sie mit vielstimmigem »aloha« umringten und ihnen prächtige Blumengirlanden um den Hals hängten.
Emily meinte keine Luft mehr zu bekommen, derart heftig wurde sie bedrängt von den nur spärlich bekleideten Insulanern, die jetzt aber unvermittelt eine Gasse bildeten, durch die ein selbstgefälliger Mann schritt. Stämmig gebaut, trug er einen pflaumenfarbenen Cutaway, eine gestreifte Weste und eine breite Krawatte, die so aufwändig geschlungen war, dass sie ihm schier den Kopf nach hinten drückte. Sein Zylinder aus Biberfell sah aus, als hätte er schon bessere Zeiten erlebt. »Willkommen!«, rief er und schüttelte nacheinander jedem die Hand. »William Clarkson, Hafenmeister, zu Ihren Diensten. Willkommen auf den Sandwich-Inseln.«
Aus der Nähe fielen Emily sein unrasiertes Kinn und die blutunterlaufenen Augen auf. Dass er nach Rum roch, überraschte sie nicht. Die Neuankömmlinge stellten sich vor, und dann sagte Clarkson: »Kommen Sie mit, der Häuptling möchte Sie unbedingt kennenlernen. Die Eingeborenen haben seit langem auf diesen Tag gewartet!«
Isaac Stone jedoch, hoch aufgeschossen, schlaksig und barhäuptig, umklammerte sein Gebetbuch und rief: »Zuerst gilt es, Dank zu sagen!« Er kniete sich in den Sand und streckte die Hand aus, um Emily zu helfen, es ihm gleichzutun. Auch die Missionare knieten ohne zu zögern nieder, während die übrigen Passagiere, hungrig und erschöpft, wie sie waren, sich erst dazu überwinden mussten. Als alle knieten, rief Isaac zum blitzblauen Himmel empor: »Allmächtiger Gott, wir danken dir, dass du uns sicher und gesund an unser Ziel gebracht hast, auf dass wir hier unser Werk beginnen, Licht an diese dunklen Küsten zu bringen, Seelen zu deinem Ruhm zu gewinnen, und das Wort Jesu Christi denen zu verkünden, die bisher nur Böses vernommen haben. Wir überantworten uns deiner liebevollen und beschützenden Fürsorge. Amen.«
Dann stapften sie los, den Strand entlang, auf dem Fischernetze ausgebreitet waren und Kanus in der Sonne lagen, und weiter über die grasbewachsenen Dünen, von wo aus Emily eine Ansammlung von Hütten ausmachte, die, in unterschiedlicher Größe und Form, wiewohl alle aus Gras errichtet, fast so etwas wie eine kleine Stadt bildeten. Sie erinnerten sie an ein großes zotteliges Tier von der Art eines schlafenden Elefanten mit wolligem Fell, der jeden Augenblick aus seinem Schlummer aufwachen, sich erheben und mit Beinen gleich Baumstämmen weiterziehen konnte.
Als sie durch das Dorf gingen, drängten sich die Eingeborenen um sie und zupften an ihren Kleidern.
»Sie sind wie Kinder«, sagte Mr Clarkson. »Höchste Zeit, dass der weiße Mann kommt und ihnen zeigt, wo’s langgeht.«
Isaac sah ihn scharf an. »Wir sind nicht gekommen, um sie zu bevormunden, Mr Clarkson, sondern um sie von ihrer lasterhaften Lebensweise hin zu der unseren zu führen und sie zu unterrichten, damit sie selbst das Wort Gottes studieren können, wie das allen Menschen zusteht.«
Clarkson fuhr sich mit einem fleckigen Taschentuch übers Gesicht. Trotz des Passatwindes war es heiß und feucht. »Sie bezeichnen uns als haole, das heißt ohne Atem. Weil wir so blass sind. Ich vermute, sie können gar nicht glauben, dass wir wirklich Menschen sind. Ich muss Sie warnen, Mr Stone, diese Leute wissen nichts von einer Seele. Genauso wenig wie sie eine Vorstellung von Himmel und Hölle haben.«
»Dann ist es unsere Pflicht, sie aufzuklären, auf dass sie Erlösung finden durch die göttliche Gnade unseres Herrn.«
»Mr Clarkson«, wandte sich jetzt Emily an den Hafenmeister, »wenn sie weder an Himmel noch Hölle glauben, wohin meinen sie dann zu gehen, wenn sie sterben?«
»Ihr Geist geht in Tiere und Bäume. Sie verehren die Haifische, weil sie glauben, ihre Vorfahren hätten die Gestalt von Haifischen angenommen. Für alles auf diesen Inseln ist ein Geist zuständig.«
Die Mädchen und Frauen ließen von Emily nicht ab, zupften immer wieder an ihren Kleidern, kicherten. »Sie haben noch nie eine weiße Frau gesehen. Und was Sie da anhaben, ist völlig neu für sie.«
»Weil sie das nicht kennen«, gab Emily zurück.
»Bringen Sie uns zum König?«, wollte einer der anderen Passagiere wissen, ein Kaufmann aus Rhode Island, der vorhatte, in Honolulu einen Kurzwarenladen zu eröffnen.
»Kamehameha II. befindet sich zur Zeit mit seiner Frau, die zufällig auch seine Schwester ist, auf einer Rundreise über die Inseln. Diese Inseln sind noch nicht lange vereint und haben jahrhundertelang untereinander Kriege geführt. Deshalb muss der neue König gewissermaßen Farbe bekennen. Da er erst dreiundzwanzig ist, ist es wichtig für ihn, dass ihm die gleiche Loyalität entgegengebracht wird wie seinem Vater, Kamehameha I.«
»Seit wann leben Sie schon hier, Mr Clarkson?«
»Ich bin vor zehn Jahren hergekommen, als Händler für Schiffsbedarf, an Bord eines Entdeckerschiffs. Hab mich in die Gegend verliebt und beschlossen zu bleiben. Der alte Kamehameha hatte mit seinen tausend Kriegskanus und zehntausend Kriegern bereits alle Inseln erobert, und sogar ein Blinder konnte erkennen, dass diese nun befriedeten Inseln Leuten aus dem Westen jede Menge Chancen boten. Ein Weißer mit Unternehmergeist hat hier ein gutes Auskommen. Ich selbst treibe von den Schiffen, die hier Anker werfen, die Zollabgabe für den König ein, natürlich abzüglich der Gebühren für mich. Weiße mit einem Blick für die Zukunft erkennen allmählich die Bedeutung dieses Königreichs auf halbem Wege zwischen Amerika und China. Mein eigener Bruder hat sich in Honolulu niedergelassen und verkauft Lebensmittel und Trinkwasser an Walfänger und andere Handelsschiffe.«
Am Rande des Dorfes, dem Meer zu- und der Szenerie mit den dicht begrünten Bergen und Gipfeln und Tälern abgewandt, befand sich, aus im Boden verankerten Pfählen errichtet, ein großer, mit einem Strohdach gedeckter Pavillon. Unter diesem hölzernen Baldachin saß ein beeindruckendes Ensemble von Leuten, allem Anschein nach die Aristokratie der Inseln, denn als die Besucher näherkamen, blieben die vielen Eingeborenen, die sie begleitet hatten, zurück, so dass eine große Freifläche zwischen ihnen und der elitären Gesellschaft im Pavillon entstand.
Besagte Elite hockte mit überkreuzten Beinen auf Webmatten, die mit farbenfrohen Tüchern bedeckt waren. Die Männer trugen Kronen aus stacheligen grünen Blättern und aus Nüssen gefertigte Ketten; grüne Blattgirlanden zierten ihre nackten Oberkörper. Einige hatten ihre Haut mit Symbolen bemalt, geometrischen Mustern, die, wie Emily vermutete, ihren Rang auswiesen. Auch Frauen waren anwesend; um die Hüfte hatten sie ein Tuch geschlungen, das ihre Beine bedeckte, die Brüste jedoch frei ließ, und ihr Haar, ihr Hals, sowie Knöchel und Handgelenke waren mit Blumen geschmückt.
Sie gehörten der ali’i an, erklärte Clarkson, der höchsten Kaste im Gesellschaftsgefüge Hawaiis, »auf einer Stufe mit dem europäischen Hochadel und der Aristokratie.« Verständlich, dass sie mit unverhohlener Neugier die Besucher anstarrten, vor allem Emily und die drei anderen Damen aus Neuengland.
Laut Clarkson handelte es sich bei dem Trio in der Mitte um Häuptling Holokai, eine mit seiner Größe und seinem stattlichen Leibesumfang eindrucksvolle Erscheinung, dessen kurzgeschnittenes weißes Haar mit grünen Blättern bekränzt war. Um den dicken Hals trug er einen breiten Reif aus grünem Laub und schmalere um Handgelenke und Fesseln. Seinen nackten Brustkasten zierte eine Kette aus Haifischzähnen. Er trug einen Sarong aus braunem Tuch und hielt einen mit einer Blume gekrönten Stab in der Hand. Die an einer Schnur aufgefädelten gelben Federn um seine Mitte zeugten, wie Clarkson erklärte, von seinem hohen Amt. Holokais dunkles Gesicht glänzte in der Sonne wie Bronze. Seine Brauen waren buschig und sein Blick grimmig.
Clarkson zufolge galt Sohn Kekoa, der etwa Mitte dreißig und seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war, als kahuna kilo ’ouli, ein Erkenner von Charakteren, der von früher Jugend an darin geschult worden war, Menschen zu »lesen«. Pua, die Tochter, war eine Medizinfrau.
Man hieß die Besucher mit viel aloha willkommen, dann wandte sich der Häuptling an Isaac, und Clarkson fungierte als Dolmetscher. »Er möchte wissen, ob er, wenn er an Jesus glaubt, ebenfalls große Schiffe bekommt.«
Noch ehe Isaac antworten konnte, sagte Clarkson ergänzend: »Als die Eingeborenen vor vierzig Jahren zum ersten Mal Cooks Schiff und dessen Feuerkraft erlebten, dachten sie, die Götter der Weißen wären mächtiger als ihre eigenen. Sie glauben, dass sie, wenn sie Christen werden, alle Statussymbole der westlichen Kultur erhalten.«
»Jesus Christus!«, sagte Isaac mit seiner lauten Stimme. »Jesus Christus sagt Erlösung und Errettung zu und das ewige Leben. Nicht irdische Güter sind es, nach denen ihr streben sollt, sondern nach der Liebe und der Gnade Gottes.«
Nachdem Clarkson übersetzt hatte und der Häuptling daraufhin grinsend nickte, vermutete Isaac, dass seine Worte nicht sinngemäß wiedergegeben worden waren. Das würde er schnellstens richtigstellen!
Die Frau, die neben Holokai saß, sprach Emily gestenreich an. Clarkson sagte: »Pua bekleidet den höchsten Rang unter den ali’i. Sie ist nicht nur die Tochter des Häuptlings, sondern auch eine kahuna lapa’au – eine Heilerin. Puas Blutlinie reicht viele Generationen zurück. Sie kann ihre Abstammung bis zu den allerersten Wesen belegen und gehört deshalb zu den Angesehensten. Freunden Sie sich mit ihr an, dann haben Sie schon viel erreicht auf dem langen Weg, die Herzen dieser Wilden zu gewinnen.«
Zögernd stieg Emily die Stufen zum Podium hinauf. Pua war bildschön, etwa Anfang dreißig, dunkelhäutig, kräftig, mit weiblichen Formen und langem schwarzen Haar. Eine Girlande aus scharlachroten Blüten schmückte ihre nackten, vollen Brüste. Ihre Augen waren rund und dunkel, das untere Lid etwas ausgeprägter, offenbar ein typisches Kennzeichen der polynesischen Rasse. Ihr Lächeln glich einem Sonnenaufgang. Als sie Emily übers Gesicht strich, kam diese Geste einer zarten Berührung gleich. »Aloha«, sagte sie, wobei sie die zweite Silbe in die Länge zog, so dass sich das Wort fast melodisch anhörte. Sie streichelte Emilys Wangen, die Nase, die Stirn, berührte auch die breite Krempe ihrer Haube. Dann tätschelte sie ihr die Schultern, redete dabei in ihrer Sprache. Clarkson übersetzte: »Pua findet Sie sehr hübsch. Wie eine Blume. Sie sagt, sie möchte Sie zur Freundin haben. Sie sagt, sie möchte alles lernen, was Sie wissen.«
»Sagen Sie ihr, dass ich mich geehrt fühle.«
Sie kehrte zu Isaac zurück. Die Unterhaltung zog sich in die Länge, da Holokai jeden Besucher mit Fragen überschüttete, so dass Emily sich schließlich an den Arm ihres Ehemannes klammern musste, um sich noch auf den Beinen zu halten.
Zu guter Letzt richtete sich der Häuptling zu voller Größe auf und verkündete mit seiner kräftigen Stimme, die bis zu den Brechern am Strand drang, etwas, das Clarkson mit »Jetzt beginnt das Willkommensfest« übersetzte.
Den Gästen wurden unweit des Podiums Ehrenplätze mit sauberen Webmatten zum Sitzen zugewiesen, während die niedrigeren Adligen in einiger Entfernung von Häuptling Holokai Platz nahmen und die Bürgerlichen sich am Rande des auserlesenen Kreises niederließen.
Die Sonne neigte sich dem Ozean entgegen, als das Essen aufgetragen wurde. Erstaunt sah Emily mit an, wie die Eingeborenen aus einer Vertiefung im Boden ein gebratenes Wildschwein ans Tageslicht hievten. Begleitet vom Gesang eines Priesters, zerteilten die Männer andächtig den riesigen Braten, und Clarkson erklärte, dass jeder Handgriff eines Hawaiianers stets mit einem Segen einhergehe. Und dass die einheimischen Priester bei einem denkwürdigen Fest wie diesem nicht mit ihrem Gebetssingsang aufhören würden.
Außer dem Wildschwein waren auch Hühner und Hunde in der ausgehobenen Feuerstelle – imu genannt – gebraten worden, ferner Süßkartoffeln, Wasserbrotwurzeln und die Früchte des Brotbaums. In der Glut eines großen Kohlebetts färbten sich Meeräschen, Garnelen und Krebse dunkelrot. Zu trinken gab es Kokosmilch. Für Emily war es zwar ungewohnt, zum Essen auf dem Boden zu sitzen, aber im Grunde vergleichbar mit einem Picknick auf dem Lande. Nur dass jetzt Teller, Messer und Gabeln fehlten, weshalb das auf großen grünen Blättern servierte und in Scheiben geschnittene Fleisch mit den Fingern gegessen werden musste. Was hätte sie dafür gegeben, aus einer der vielen Kisten aus ihrem Gepäck ein paar Servietten auspacken zu können! Auch eine Tasse Tee hätte ihr gutgetan.
Aber dies hier gehörte zu dem großen Abenteuer, und deshalb nahm sie alles Fremdartige gern in Kauf.
»Nur zu Ihrer Information, Reverend«, wandte sich jetzt Clarkson an Isaac, »dies hier ist eine Zurschaustellung für Sie und Ihre Freunde.«
»Wie das?«
»Noch bis vor sechs Monaten galten hier ungemein strenge Vorschriften, kapu genannt, Verbote, unter denen sie jahrhundertelang lebten, die aber von einer mächtigen Königin, die damit aufräumen wollte, verworfen wurden. Eine Regel der kapu verbot Männern und Frauen, gemeinsam das Essen einzunehmen, weil Männer besseres Essen erhielten. Aber dieses Gesetz gilt nicht mehr, und Häuptling Holokai möchte unter Beweis stellen, wie aufgeklärt und westlich orientiert sein Volk ist.«
Kurzweiliges folgte, Trommeln wurden geschlagen, es wurde gesungen und ein Reigen getanzt, dessen unzüchtige Darbietung die Amerikaner schockierte. Die jungen Damen aus New Haven bemühten sich, nicht hinzuschauen, ihre Ehemänner hoben missbilligend die Augenbrauen. Mr Clarkson zufolge, der den Blick nicht von den barbusigen jungen Frauen wenden konnte, die in ihren kurzen Grasröckchen die Hüften kreisen ließen, nannte man diesen Tanz hula, der zu vielen Anlässen aufgeführt werde, etwa zur Unterhaltung, bei heiligen Ritualen oder »sonstigen Gelegenheiten«.
Auch Männer tanzten, muskulöse Erscheinungen, in Röcken aus langen grünen gezackten Blättern. Ihre Darbietung ließ jedoch eher an ein Exerzieren von Kriegern denken: Sie stampften im Takt mit den Füßen auf den Boden, schlugen sich an die Brust und stießen vielstimmige Schreie aus. Wahrscheinlich wollte man damit einen Feind das Fürchten lehren; ihr Auftritt konnte einem auch wirklich Angst einjagen.
Emily zog ein Taschentuch aus dem langen Ärmel ihres Kleides und betupfte sich Wangen und Stirn. Wie heiß es war, wie dampfig! Sie hielt es kaum noch aus, weiterhin auf dem Boden zu sitzen, der Klang der Trommeln dröhnte in ihren Ohren, jeder Zoll ihres Körpers war erschöpft von der Reise.
Jetzt erhob sich Häuptling Holokai und ergriff erneut das Wort.
»Man wird Sie nun zu Ihrem neuen Haus begleiten«, sagte Clarkson und erhob sich ächzend.
»Gott sei Dank«, seufzte Emily und ließ sich von ihm aufhelfen. »Nach der Enge auf dem Schiff sehne ich mich danach, mich für eine Weile zurückziehen zu können.«
»Man hat Ihnen und Ihrem Gatten ein hübsches Haus hingestellt«, fuhr Clarkson fort, als sie den erlauchten Persönlichkeiten folgten. Ihnen wiederum schlossen sich die vielen anderen Insulaner an, so dass sich eine veritable Prozession formierte, die feierlich einen Pfad entlang schritt, auf ein freies Gelände zu, von dem aus man in einiger Entfernung beobachten konnte, wie sich aus Bergeshöhe ein Wasserfall in einen glitzernden Fluss ergoss, der ins Meer mündete. Hier gab es keine Hütten von Eingeborenen mehr, dafür am Strand Bretterbuden, die, so Emilys Vermutung, den Seeleuten, die sich hier niedergelassen hatten, als Unterkunft dienten.
Sie gelangten zu einer malerischen Lagune, an deren Rand, von reich belaubten Bäumen beschattet, sich ein Stück Wiese ausbreitete. Und mittendrin stand …
Eine weitere Grashütte.
Auf einem Fundament aus Stein erhob sich ein Rahmenwerk aus miteinander verbundenen Pfählen, deren Zwischenräume, wie deutlich zu sehen war, mit dicken Ballen getrockneten Grases ausgestopft waren. Das Dach war steil und mit Stroh gedeckt. An der Vorderseite gab es eine Türöffnung, darüber eine Holzstange, von der ein ebensolches gemustertes Stück Stoff hing, wie es sich die Hawaiianer um die Taille schlangen. Anstelle von Fenstern hatte man aus jeder Wand ein Viereck herausgeschnitten.
Emily und Isaac traten ein. Zwischen den hölzernen Sparren war die Unterseite des hohen Grasdachs zu erkennen. Eine Unterteilung in einzelne Zimmer gab es nicht. Isaac schritt Länge und Breite des Raums ab und stellte fest, dass er vierzig Fuß lang und zwanzig Fuß breit war. Für ihn ein Palast!
Emily dagegen war entsetzt, fing sich aber schnell wieder und sagte sich, dass sich hier für sie etwas ganz Neues auftat. Und dass eine Frau aus Neuengland sich ganz bestimmt den Lebensbedingungen der Eingeborenen anpassen konnte. Sie konnte es sogar kaum erwarten, ihren ersten Brief nach Hause zu schreiben: »Liebste Mutter, Du wirst es nicht glauben, aber Mr Stone und ich wohnen in einem Haus, das ganz aus Gras besteht! Wir leben unter den gleichen Bedingungen wie die Eingeborenen, und das ist eine Herausforderung, der ich mich nur zu gern stelle.«
»Der Brief«, sagte Clarkson, »mit dem der Vorstand Ihrer Mission König Kamehameha informierte, dass Sie die Absicht hätten, hierher zu kommen, traf vor zwei Wochen mit einem Walfänger aus Boston hier ein. Daraufhin beauftragte der König einen speziellen Priester, einen besonders glückverheißenden Platz für Ihre Wohnstätte ausfindig zu machen. Der Priester sprach Gebete und rief die Götter an und veranstaltete allen möglichen Hokuspokus, um den geeigneten Platz zu bestimmen. Dann trieb Häuptling Holokai seine Männer zur Arbeit an, ob sie wollten oder nicht. Freiwillig tut hier niemand was. Was aber der Häuptling sagt, ist Gesetz. Wenn man nicht gehorcht, wird man streng bestraft, manchmal sogar hingerichtet. Die Bauarbeiten wurden begleitet von Gebeten, Gesängen, dem Rasseln heiliger Gegenstände, über jedes Grasbüschel wurde geweihtes Wasser gesprengt. Höchstwahrscheinlich wurde dem Fundament eine Nabelschnur beigegeben, als Glücksbringer sozusagen. Sie erwarten von Ihnen, dass Sie ihren Einsatz zu würdigen wissen.«
Ein Bediensteter des Häuptlings, ein in ein Tuch gehüllter drahtiger alter Mann mit Gebinden aus grünen Blättern, trat vor und erging sich in einem für Emily und Isaac bestimmten Sprechgesang und wedelte dann mit den Blättern Richtung Hütte. Als er fertig war, deutete Holokai grinsend ins Innere, und was er sagte, übersetzte Clarkson: »Um böse Geister zu bannen, ermahnt Sie der Häuptling, stets entlang der Wände Ihres Hauses zu urinieren. Und er hofft, dass das Ergebnis der heutigen Nacht die Geburt Ihres ersten Kindes sein wird.«
Die Sonne war in den Pazifik getaucht, als die Stones sich von ihren Mitreisenden verabschiedeten und ihnen alles Gute in ihrer neuen Heimat hier auf Hawaii und O’ahu wünschten. Auch der Häuptling und sein Gefolge sowie Clarkson und alle Übrigen zogen von dannen, und Reverend und Mrs Stone waren endlich allein.
Emily war zum Umfallen erschöpft. Sie sehnte sich nach einem Bad und einem dicken Federbett. Das Bad jedoch war, wie sich herausstellte, ein Kübel Wasser, den jemand vorsorglich in die Hütte gestellt hatte, und das Bett am hinteren Ende der Hütte war ein Berg Webmatten.
Ihr Gepäck hatten Männer von der Besatzung der Triton ins Innere geschafft. Als Emily sich im Dunkeln für die Nacht mit dem Wenigen, das ihr zur Verfügung stand, fertig machte, sagte Isaac, er würde gern das Anwesen näher in Augenschein nehmen, solange es noch einigermaßen hell war.
In einem der Koffer fand Emily eine sorgfältig umwickelte Öllampe und den Feuerstein, um sie anzuzünden. Unter Zuhilfenahme des Lampenlichts fand sie auch die Nachtgewänder für sich und ihren Mann, die sie auf der Triton nicht hatten anlegen können. Ihr Herz pochte erregt, als sie sich entkleidete, wusch, ihr langes Haar kämmte und sich das Musselinhemd überzog. Heute fand ihre Hochzeitsnacht statt.
Da sie nicht wusste, womit sie sich sonst noch hätte beschäftigen können, versuchte sie, es sich auf dem Lager aus Webmatten bequem zu machen, und wartete dann geduldig im Dunkeln. Eine leise Bö wehte den Duft von exotischen Blumen durchs Fenster. Die Luft war schwül, verheißungsvoll. Emily hätte am liebsten ihr Nachthemd abgestreift und die Nachtluft auf ihrer Haut gespürt. Sie schloss die Augen und dankte Gott, dass ihr Bett nicht länger dem Auf und Ab eines schlingernden Schiffs ausgesetzt war. Sie war drauf und dran einzuschlummern, als Isaac sich dem Bett näherte.
Er trug ein langes Nachthemd und eine Schlafmütze. »Mrs Stone«, sagte er feierlich, »ich habe eine unangenehme Pflicht zu erfüllen. Verzeih mir, aber sie ist längst überfällig. Mit Rücksicht auf deinen Zustand der Keuschheit werde ich den Vollzug so rasch wie möglich vornehmen.«
Er löschte die Öllampe, kniete sich aufs Bett, streifte im Dunkeln ihr Nachtgewand hoch, betastete sie ungeschickt, hob dann sein Nachthemd und legte sich auf sie. Ihre Mutter hatte gesagt, dass es weh tun würde, und das tat es auch. Isaac vergrub sein Gesicht an ihrem Hals, und sie schlang die Arme um ihn, als er in kurzen Abständen immer wieder in sie eindrang. Sie versuchte, eine bequemere Stellung einzunehmen, was er nicht zu bemerken schien. Sie wollte etwas sagen, ihn bitten, ihr ein wenig Luft zu verschaffen, als er unversehens ausrief: »Gelobt sei Gott!« und auf ihr zusammensackte.
So blieb er eine Weile keuchend liegen, dann rollte er sich zur Seite und sagte: »In den nächsten sieben Tagen werde ich dich nicht belästigen. Gute Nacht.«
Bald darauf vernahm sie sein Schnarchen, während sie zu den dunklen Dachsparren emporschaute.
Emily war dabei, Wasser aus dem Fluss zu schöpfen, der die Lagune speiste, als sie, vom Wind zugetragen, Gelächter hörte. Sie wandte den Blick zur Bucht und erblickte dort junge Insulanerinnen, die sich in den Wellen vergnügten. Nackt. Wie sie bereits wusste, verbrachten die Hawaiianer die Hälfte ihres Lebens im Wasser.
Was ihr in den letzten sieben Tagen vor allem klargeworden war, war der Grund, weshalb der Vorstand der Mission darauf bestanden hatte, ausschließlich Ehepaare als Missionare nach Hawaii zu entsenden. Die Handvoll weißer Männer, die hier lebte, hatte sich ohne kirchlichen Segen mit Insulanerinnen eingelassen – Mr Clarkson brüstete sich, sogar drei Ehefrauen zu haben! Isaac versuchte zwar immer wieder, sie darauf hinzuweisen, dass sie in Sünde lebten und ihre Seelen der Verdammnis anheimfallen würden, aber das scherte sie nicht. Auch Emily war fasziniert von den hübschen Frauen auf dieser Insel – nur dass diese Frauen weder Anstand noch Schamgefühl zu besitzen schienen und sich bereitwillig hingaben. Selbst der standhafteste männliche Christ würde unter solchen Umständen einer Versuchung kaum widerstehen. Deshalb ausschließlich Ehepaare.
Sie beobachtete, wie Isaac beim Bau des Versammlungshauses mit Hand anlegte. Morgen sollte dort der erste Gottesdienst abgehalten werden. Und das bedeutete auch, dass er heute Abend abermals seinen ehelichen Pflichten nachkommen würde.
Er arbeitete unermüdlich. Durch sein eigenes Beispiel veranschaulichte er den Eingeborenen den Wert ehrlicher Arbeit. Und die Eingeborenen waren beeindruckt von seiner Energie und seinem Fleiß. Er glich darin Emilys Vater, einem strengen, gottesfürchtigen Mann. Auf die Frage der Insulaner, wie Gott eigentlich aussehe, hatte Isaac erwidert, der Allmächtige sei körperlos, er sei Geist. Selbst da hatte sich Emily das Bild des eigenen Vaters aufgedrängt – einem kaltherzigen Mann, der fest überzeugt war, dass ein Vater sich seinen Kindern gegenüber nicht zärtlich geben dürfe, da sie dann bald keinen Respekt mehr vor ihm hätten.
Wenn sie es recht bedachte, war Isaac aus dem gleichen Holz geschnitzt. Selbst in der Nacht, da er seinen ehelichen Pflichten nachgekommen war, hatte er sie weder geküsst noch gestreichelt, und nach Vollzug des Beischlafs hatte er sich auf die Seite gerollt und war eingeschlafen. Und trotz der Versicherung ihrer Mutter, dass »die Liebe sich erst mit der Zeit einstellt«, hatte Emily niemals ein Zeichen der Zuneigung zwischen ihren Eltern wahrgenommen. Da es tagsüber nur selten vorkam, dass Isaac sie – eher zufällig – berührte, empfand sie es umso schmerzlicher, wenn sie beobachtete, wie liebevoll die Hawaiianer miteinander umgingen. Aufgewachsen in einem Zuhause, wo Liebe ausschließlich dem Allmächtigen vorbehalten war, fand sie sich jetzt in einer Welt wieder, in der der Gruß »aloha« auch das Wort für Liebe war, in der Familien gemeinsam in kleinen Unterkünften schliefen und man sich zum Zeichen der Zuneigung Blumen und Naschwerk schenkte.
Sie ging wieder in die Hütte, weiter darum bemüht, sie wohnlich einzurichten, angefangen bei den Vorhängen aus einheimischen Stoffen, die aus der Rinde des Maulbeerstrauchs hergestellt waren, als sich ein Schatten an der offenen Tür abzeichnete. »Aloha«, sagte Emily, ohne sich umzudrehen. Sie hatte sich damit abgefunden, dass die Eingeborenen ihr in ihrer grenzenlosen Neugier nachspionierten.
»Aloha auch Ihnen«, erwiderte eine Bassstimme.
Sie fuhr herum, sah in der Tür einen Fremden stehen.
Er trug eng anliegende weiße Kniehosen, die in schwarzen Stiefeln mit hohem Schaft steckten. Sein mit zwei Reihen Messingknöpfen besetztes dunkelblaues Jackett war auf Taille geschnitten, bedeckte aber auch noch die Oberschenkel. Eine weiße Weste war über ein weißes Musselinhemd geknöpft, und die Enden seiner elegant gebundenen Krawatte fielen gleichmäßig lang auf seine breite Brust. Als er seine Kopfbedeckung abnahm – eine dunkelblaue, spitz zulaufende flache Schirmmütze mit goldenen Tressen, wie sie Kapitäne eines Schiffs zu tragen pflegten –, kam kurzes, welliges braunes Haar zum Vorschein. Vor zwanzig Jahren, sinnierte Emily, hätte er eine weiß gepuderte Perücke getragen und einen verwegenen Dreispitz. Seine markanten Gesichtszüge zeugten von einem Leben auf See.
Unglaublich gut sah er aus, und bei seinem Lächeln schnürte sich auf unerklärliche Weise Emilys Kehle zusammen.
Sein Lächeln erstarb, als er sie näher in Augenschein nahm. »Gott steh mir bei«, sagte er verblüfft. »Als der alte Clarkie etwas von einer weißen Frau auf der Insel erwähnte, der Ehefrau eines Predigers, habe ich mir etwas völlig anderes vorgestellt. Älter, abgearbeitet, matronenhaft, möglicherweise mit einer Schar Kinder im Schlepptau. Aber doch nicht eine Schönheit, die in einen Ballsaal gehört!«
»Der Hafenmeister hätte erwähnen sollen, dass es vier von uns gibt«, berichtigte sie ihn und wurde sich gleichzeitig ihres lässigen Aufzugs bewusst. »Außer mir ist da noch die Frau eines Predigers in Waimea, und zwei weitere leben in Kona.«
»Ich wette, Sie sind die attraktivste.«
»Und ebenfalls verheiratet«, sagte sie spitz.
Jetzt grinste er übers ganze Gesicht. »Das hat Clarkie schon gesagt. Mit einem Prediger.« Er streckte eine Hand aus. »MacKenzie Farrow, zu Ihren Diensten.«
Er trat nicht über die Türschwelle. Immerhin bewies er Manieren. Irgendetwas wirkte dennoch ungehörig. »Sollen wir nicht lieber nach draußen gehen, Mr Farrow?«
Er trat zur Seite, und unwillkürlich fühlte sich Emily erleichtert, statt in der dunklen Hütte im Freien zu sein. »Emily Stone«, sagte sie und drückte die kräftige und schwielige Hand des Fremden, der sie nicht aus den Augen ließ. »Ich würde Ihnen gern eine Tasse Tee anbieten, Mr Farrow. Als man uns sagte, die Eingeborenen hätten ein Haus für uns, habe ich mir etwas Wohnlicheres vorgestellt. Stattdessen keine Möbel, kein Herd.«
»Hawaiianer suchen nur zum Schlafen ihre Hütten auf. Ansonsten halten sie sich im Freien auf.«
»Dort drüben, das ist mein Mann.« Sie deutete über die Grünfläche. »Er arbeitet mit an unserem Versammlungshaus. Als Nächstes wird ein Schulhaus gebaut.«
Farrow spähte hinüber zu der Baustelle – fünf hohe, kräftige Stämme waren in den Boden getrieben worden, und auf dem Strohdach hockten Eingeborene und dichteten es mit dicken Grasbüscheln ab. Isaac hatte das Versammlungshaus als offenen Pavillon geplant, um den Insulanern zu zeigen, dass alle willkommen seien und weder Wände noch Türen zwischen ihnen und Gott stünden. Morgen hofften er und Emily jeden Zoll des mit Matten ausgelegten Bodens von denen besetzt zu sehen, die danach lechzten, das Evangelium zu hören.
In diesem Augenblick sah Isaac von seiner Zimmermannsarbeit auf. Als er den Besucher vor seinem Haus erblickte, kam er freudestrahlend näher. »Willkommen, Fremder«, dröhnte er. »Isaac Stone, zu Ihren Diensten. Wie ich sehe, haben Sie meine Frau bereits kennengelernt!«
Sie schüttelten einander die Hand, und Farrow erklärte, dass er, obwohl er eben erst mit seinem Klipper, der Kestrel, angelegt habe und gleich wieder weg müsse, um das Entladen der Waren zu überwachen, als Allererstes unbedingt die neuen Amerikaner in Hilo habe aufsuchen wollen.
»Dann müssen Sie eben heute Abend wiederkommen!«, tönte Isaac. »Und mit uns essen!«
Nach einem fragenden Blick auf Emily setzte Kapitän Farrow seine Seemannsmütze wieder auf und verabschiedete sich mit dem Versprechen, bei Sonnenuntergang zurück zu sein.
»Wie schade, dass Sie den großen König, der diese Inseln geeint hat, nicht kennengelernt haben«, sagte Kapitän Farrow zu seinen Gastgebern. »Als Kamehameha im vergangenen Jahr starb, wurde sein Leichnam entsprechend der althergebrachten Sitte hunakele – was so viel bedeutet wie an einen geheimen Ort bringen – der Obhut vertrauenswürdiger Freunde übergeben. Das mana, das heißt die Macht, die einem Menschen innewohnt, wird als heilig angesehen; dementsprechend wurde dafür Sorge getragen, dass sich niemand Kamehamehas mana aneignen kann und seine letzte Ruhestätte für immer unbekannt bleibt.«
Sie speisten in der Hütte, im Schein von drei Öllampen und Kerzen, die Emily aus New Haven mitgebracht hatte. Sie konnten die Stimmen der Eingeborenen hören, die in ihrem Dorf kochten und aßen und lachten und sich im Schein von tiki-Fackeln im Freien vergnügten. Emily hatte die mitgebrachten drei Koffer zu Sitzgelegenheiten umfunktioniert, auf denen man reichlich unbequem saß, während als »Tisch« eine lederne Hutschachtel diente, die, mit einem Tuch bedeckt, in der Mitte der kleinen Runde stand.
Da sie zudem versucht hatte, ihre und Isaacs Wintergarderobe zu Polstern zusammenzuballen, saßen die beiden Männer recht unbequem, rutschten hin und her, überkreuzten und streckten abwechselnd die Beine. Immerhin ohne zu klagen. Schon weil sie genau wussten, wie viel Mühe sie sich gegeben hatte, damit sie sich wohlfühlten.
Abgesehen davon hatte Emily ihren Mann gebeten, den Teil der Hütte, der ihnen als Schlafplatz diente, mit einem an einem Dachsparren befestigten Tuch abzutrennen. Es geziemte sich einfach nicht, diesem Fremden, ihrem ersten Gast, einen freien Blick auf ihr Ehebett zu gewähren.
Häuptling Holokai hatte zwei Sklavinnen geschickt, die Emily zur Hand gehen sollten. Als standhafte Abolitionisten, die beide die Bewegung der Antisklaverei in der Heimat unterstützten, hatte Emily jedoch darauf bestanden, den beiden Frauen einen Lohn zu zahlen. Der gering genug war, mit Sklaverei jedoch nichts zu tun hatte. Die beiden Mädchen kochten im Freien und servierten das Essen auf Porzellantellern aus New Haven, die sie zunächst ungläubig angestarrt hatten, ehe sie den gebratenen Fisch und die gerösteten Yamswurzeln darauf arrangiert hatten. Kapitän Farrow und seine Gastgeber balancierten die Teller auf ihren Knien; immerhin hatte jeder von ihnen eine saubere Serviette auf dem Schoß. Sie aßen mit Messer und Gabel und tranken aus Zinnbechern frisches Wasser aus dem nahen Fluss.
Man musste sich eben so gut wie möglich behelfen, auch wenn alle fanden, dass es angenehmer war als an Bord eines schaukelnden Schiffs zu speisen.
»Wo sind Sie eigentlich zu Hause, Kapitän?«, fragte Isaac, der zur Feier des Tages seinen schwarzen Cutaway übergezogen hatte, der normalerweise dem Sonntag vorbehalten war.
»Ich stamme aus Savannah, Georgia, Reverend Stone«, erwiderte Farrow mit seiner raumfüllenden tiefen Stimme. Als von Natur aus gebieterisch empfand Emily sie, während die von Isaac dazu neigte, schrill zu werden. »Mein Vater besitzt eine Baumwollplantage, aber mich zog es in die große weite Welt. Ich war das jüngste von sieben Kindern und wollte keinesfalls Farmer werden. Zwischen meinem Vater und mir kam es deswegen zum Streit, und die Folge davon war, dass ich weglief. Ich fing als Schiffsjunge an, wurde dann Deckarbeiter. Ein Handelskapitän merkte, dass ich das Zeug zu mehr besaß. Er nahm mich unter seine Fittiche und brachte mir alles bei, was ich wissen musste und was mir schließlich zu meinem Kapitänspatent verhalf. Auf den Atlantik beschränken wollte ich mich jedoch nicht – es zog mich zu entlegeneren Horizonten. Als mir ein kanadischer Pelzjäger von neuen Handelswegen berichtete, die sich auftaten und durch die ein Mann zu Reichtum gelangen könne, sofern er offen für Unbekanntes und risikofreudig sei, fuhr ich in den Westen, schloss einen Vertrag mit einer kleinen Firma, die sich bereit erklärte, mir einen Teil des Gewinns abzutreten, sofern ich auch die Risiken auf mich nähme. Der Handel mit Seide und Fellen zwischen Amerika und China ist lukrativ, und schon bald war ich in der Lage, mir ein eigenes Schiff zuzulegen, die Kestrel, und mich selbständig zu machen.«
»Sie haben bestimmt Heimweh, Kapitän«, meinte Emily.
Sie zuckte zusammen, als er sie ansah und sagte: »Ich denke kaum an zu Hause … Aber jetzt, Mrs Stone, da Sie mich daran erinnern …« Er riss sich zusammen und streute mit übertriebener Geste Salz aus einer kleinen Schale auf dem »Tisch« über seine Süßkartoffeln. »Ich nehme an, Reverend Stone, Sie sind hier, um die Eingeborenen zum Christentum zu bekehren?«
»Unsere vorrangige Aufgabe, Kapitän, ist, die Eingeborenen im Lesen und Schreiben zu unterrichten. Sie werden von manchen Schiffsführern, die im Hafen Trinkwasser und Proviant fassen wollen, übers Ohr gehauen. Häuptling Holokai hat mir einen so genannten Vertrag zwischen ihm und einem Walfänger gezeigt, demzufolge er sich nicht nur zur Lieferung einer bestimmten Menge Getreide, Schweinen und Hühnern verpflichtet hat, sondern auch zur Bereitstellung von starken Männern als Ergänzung der Besatzung auf dem Walfänger. Es dürfte Ihnen ja bekannt sein, dass die Seeleute von Walfängern sich häufig genug auf Nimmerwiedersehen absetzen. Im Gegenzug sollte Häuptling Holokai Anteilseigner des Walfängers werden und einen Teil der Gewinne erhalten, auszuzahlen in Münzen, mit denen er westliche Güter kaufen könnte. Der gesamte Vertrag war in einem unsäglichen Kauderwelsch abgefasst. Im Klartext besagt er, dass der Häuptling wertvolle Vorräte und Arbeitskräfte gegen nichts eintauscht. Und wenn er dann merkt, dass er betrogen worden ist und vom Kapitän des Walfängers keinen Penny erhält, hat er, so er seinen Fall dem König vorträgt, keinerlei rechtlichen Anspruch auf Entschädigung.«
Farrow nickte. »Bedauerlicherweise gibt es solche Halunken, die Vorteile daraus schlagen, dass die Häuptlinge auf diesen Inseln des Lesens und Schreibens nicht mächtig sind.«
»Ich und meine Brüder haben fest vor, diesem Frevel ein Ende zu bereiten. Hawaiianer sind mit Respekt und als gleichwertig zu behandeln.«
»Sie sind der erste Westler, von dem ich etwas Derartiges vernehme«, sagte Farrow.
»Johannes Calvin predigt, dass vor Gott alle gleich sind, ungeachtet ihrer Hautfarbe. Ich und meine Brüder werden dafür sorgen, dass alle Menschen diese grundlegende Wahrheit verinnerlichen – Eingeborene wie Weiße.« Isaac nahm einen Schluck Tee und sah über den Rand der Tasse seinen Gast an. »Ich darf doch annehmen, Kapitän Farrow, dass Sie nicht zu diesem Lumpenpack gehören?«
»Ich bin wie Sie, Reverend Stone, ein Christ und halte nichts davon, meine Mitmenschen zu betrügen. Ein hehres Ziel fürwahr, die Eingeborenen auszubilden.«
Auf Emily, die den beiden so unterschiedlichen Männern lauschte, wirkte Isaac, so wie er sprach und wie er sich verhielt, älter als der bestimmt acht oder neun Jahre ältere Farrow.
»Sobald sie Englisch lesen und schreiben können, werden sie lernen, in ihrer eigenen Sprache zu lesen und zu schreiben. Dazu müssen wir ein Alphabet entwickeln, denn Grundlagen für eine schriftliche Kommunikation gibt es auf Hawaii nicht.«
»Na dann viel Glück«, sagte Farrow. »Die Sprache hier besteht aus lediglich zwölf Buchstaben, dafür aber aus jeder Menge Lauten, die man schriftlich nicht wiedergeben kann.«
»Dann verwenden wir eben andere Symbole.«
»Kapitän Farrow«, warf Emily ein, »was mich wundert, ist Folgendes: Worauf ist Häuptling Holokai erpicht, dass er bereit ist, einen so hohen Preis dafür zu zahlen?«
»Handschuhe!«, entfuhr es Isaac, noch ehe Farrow antworten konnte. »Und Stiefel! Fernrohre! Kerzenständer aus Zinn! Zylinder und Spazierstöcke! Taschenuhren! Seit vierzig Jahren kommen sie an Bord europäischer und amerikanischer Schiffe und sehen Waren, die sie noch nie gesehen haben. Und jetzt wollen sie die ebenfalls.«
»Aber was fangen die Häuptlinge mit derlei Dingen an?«, fragte sie.
»Mrs Stone«, entgegnete Farrow, »was wissen Sie von der Geschichte dieser Menschen?«
»Eigentlich nichts.«
Isaac räusperte sich, um etwas zu sagen, aber der Kapitän kam ihm zuvor. »Reverend Stone, wenn Sie gestatten … Niemand weiß genau, wann die ersten Menschen auf diese Inseln kamen, aber die mündliche Überlieferung der Hawaiianer verweist auf viele Generationen über vielleicht mehr als tausend Jahre hinweg. Und in den letzten vier Jahrzehnten haben gelehrte und wissbegierige Männer, die hierherkamen, um das Geheimnis dieser Inseln zu ergründen, so manches entdeckt. Dann hat man die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit den mündlich überlieferten Traditionen in einen Topf geworfen und ist zu der Erkenntnis gelangt, dass nichts auf diesen Inseln, die eigentlich nur aus den Gipfeln tief im Ozean fußender Vulkane bestehen, immer schon vorhanden war.«
Emily war von seinen Worten so gebannt, dass sie völlig vergaß zu essen. Die Atmosphäre in der Hütte war angenehm, das Licht der Lampen warf einen sanften Schein auf die gut geschnittenen Züge des Kapitäns, ließ sein gewelltes Haar kastanienbraun glänzen. Obwohl er ein Handelsschiff befehligte, das Pelze aus Alaska und Sandelholz aus Hawaii nach China transportierte und Seide, Gewürze und Jade zurückbrachte, ging etwas Verwegenes von ihm aus. Mit seinem gepflegten Äußeren und seiner Beredsamkeit wirkte Kapitän Farrow wie das Prachtexemplar eines zivilisierten Seefahrers, auch wenn Emily unwillkürlich einen Bogen zu gefährlichen Piraten und Freibeutern schlug, zu Männern, die ständig ihr Leben riskierten und dem Tod ins Gesicht lachten.
Ob er wohl verheiratet war?
»Vor etwa tausend Jahren oder sogar noch länger«, sprach Farrow weiter, »brachen braunhäutige Insulaner in Auslegerkanus mit doppelter Hülle von ihrer Heimat im Südpazifik auf, um auf der Suche nach einem neuen Zuhause einen feindlichen und unbekannten Ozean zu bezwingen. Wie es heißt, ließen sie sich auf ihrem Tausende von Meilen langen Weg ausschließlich von den Sternen und den Seevögeln leiten, ohne Kenntnis von anderen Kontinenten und Rassen zu besitzen. Sie hatten ihre Ehefrauen dabei, ihre Kinder, Schweine, Hunde und Hühner sowie Abbilder ihrer Götter, Setzlinge und Samen von ihren heimischen Pflanzen. Wie viele Monate sie paddelten und segelten, ist nicht bekannt, auch nicht, wie viele im Verlauf der Reise umkamen. Auch wer sie waren, wie sie hießen und vor allem warum sie ihre Heimatinseln verließen, ist nicht überliefert.
Irgendwann machten sie jedenfalls am Horizont eine Inselkette aus – wie sich herausstellte, die entlegensten Inseln überhaupt –, und dort landeten sie mit ihren von der Reise ramponierten Kanus an unberührten Stränden, rammten die geweihten Banner ihrer Götter in den Sand und nannten ihr neues Zuhause Havaiki.
Es heißt, dass die Inseln unbewohnbar waren«, fuhr Farrow fort, seine braunen Augen auf die atemlos lauschende Emily gerichtet. »Es gab weder Früchte noch essbare Pflanzen, lediglich Fisch und ein paar Vogelarten, die nur mit viel Geschick zu fangen waren. Es gab weder Palmen noch Bambus, um Unterkünfte daraus zu errichten. Es gab keine bunten Blumen, die das Auge erfreuten, keine Orchideen, keinen Hibiskus. Dennoch siedelten sich die Neuankömmlinge hier an. Gott sei Dank hatten sie das Nötigste zum Überleben mitgebracht: Sie pflanzten Kokospalmen und Bambus, Maulbeerbüsche, deren Rinde sie zu Stoff verarbeiteten; sie bauten Süßkartoffeln an, Bananen, Mangos und Ananas. Aus mitgebrachtem Samen zogen sie Blumen und verwandelten nach und nach die feindlichen Vulkangipfel in ein Paradies.«
Eine kühle Brise wehte durch die Grashütte, ließ die Vorhänge sich bauschen. Farrows Blick glitt von Emilys Gesicht zu ihrem Nacken, wohin sich ein paar Löckchen aus ihrer weißen Spitzenhaube gestohlen hatten, und weiter zu ihrem Hals und der Vertiefung am Kehlkopf, die an diesem Abend kein Stehkragen bedeckte. Emily spürte, wie die Augen des Kapitäns über jeden Zoll ihres Gesichts, ihres Haars und ihres Halses strichen.
»Die neuen Siedler«, nahm Farrow den Faden wieder auf, »setzten eine Art König ein, der mit seinem Adel, den ali’i, über das übrige Volk herrschte. Sie verabschiedeten Gesetze, die kapu, die bei Missachtung die Todesstrafe nach sich ziehen konnten. Sie fürchteten ihre Götter und brachten Menschenopfer dar. Aber sie lebten in einem Land, das sie mit viel Sonne verwöhnte, mit ausreichend Regen und Nahrung und sanften Passatwinden, und wenn sie gerade mal keine Wasserbrotwurzeln ernteten oder in der Lagune Fische fingen, veranstalteten sie Feste und tanzten oder vergnügten sich mit langen Holzbrettern beim Wellenreiten.
Weil es in diesem Paradies keine Giftschlangen gab, keine Moskitos, keine fiebrigen Erkrankungen, keine Seuchen, keine Raubtiere oder Raubvögel – die neuen Siedler stießen lediglich auf zwei Arten von Säugetieren, auf die Mönchsrobbe und eine Art Fledermaus –, pflanzten sie sich schnell fort und dehnten ihr Königreich beträchtlich aus. Ohne Veränderungen bewahrten sie sich tausend Jahre lang oder mehr ihre Kultur, hielten sich streng an die kapu-Gesetze und beteten zu Pele, der Göttin der Vulkane, schon weil es auf den Inseln regelmäßig bebte und Lava ausströmte. Sie haben das von ihnen gegründete Havaiki nie wieder verlassen, sind nie ausgezogen, um Neues zu erforschen, eine weitere neue Heimat zu suchen. Sie waren zufrieden.«
Farrow lächelte, und Emily atmete durch.
»Ein durchaus interessantes Stück Geschichte«, sagte Isaac lauter als nötig. »Danke für die Nachhilfestunde.«
»Dabei war das noch gar nicht das Interessante«, sagte Kapitän Farrow und stellte seinen Teller auf dem mattenbedeckten Boden ab, um sich mit der Serviette den Mund abzutupfen. »Das Interessante daran ist, dass die Insulaner keine Ahnung hatten, dass es auch andere Völker gab und Kulturen, die sich weiterentwickelten – andere Völker, die darauf aus waren, die Welt zu erforschen und sich auszubreiten –, Spanier, Franzosen, Engländer, Deutsche und Amerikaner. Bis zu dem Tag, da diese Weißen mit riesigen Schiffen und geblähten Segeln über diese isolierten und ›unentdeckten‹ Inseln stolperten, Anker warfen und in Langbooten an den Strand ruderten.
Es ist erst zweiundvierzig Jahre her, dass ein englischer Kapitän namens James Cook für sich in Anspruch nahm, eine wilde und nackte Rasse in einem irdischen Paradies entdeckt zu haben.«
Kapitän Farrow wandte sich an Emily. »Damit, Mrs Stone, kommen wir auf Ihre Frage von vorhin zurück, warum Häuptling Holokai bereit ist, einen so hohen Preis für etwas zu bezahlen, das er eigentlich gar nicht braucht. Stellen Sie sich ein Volk vor, das weder das Rad kennt noch Pfeil und Bogen, ein Volk, das nichts an Metall besitzt und keine Edelsteine, das weder Raubtiere noch Lasttiere je gesehen hat, das Stoff aus Rinde fertigt und Schmuck aus Blumen, Federn und Muscheln – ein Volk, das nichts von Keramik oder Glas, Baumwolle oder Wolle weiß, das keine Ahnung hat, wie Wein schmeckt oder Käse oder Rindfleisch, das über kein Alphabet verfügt, keine Bücher oder irgendetwas Schriftliches und für das Uhren und Teetassen und Füllfederhalter, gestärkte Kragen und Geigen Fremdwörter sind. Und auf einmal tauchen bei diesen primitiven und unbedarften Menschen Männer mit weißer Haut und Messingknöpfen und mit Schwertern und Gewehren bewaffnet auf und berichten von einer Welt, die so groß ist und so dicht bevölkert und so voller Wunder, dass diese weißen Männer eigentlich nur Götter sein können! Man kann es den Insulanern wahrlich nicht verdenken, dass sie wie jene Männer sein wollten.«
Er schwieg. Durch die Fenster und die offene Tür konnte man die beiden Dienstmädchen miteinander plaudern und scherzen hören. Das abgeschwächte Brausen des nahen Wasserfalls. Das heitere Miteinander aus dem Dorf. Das Bellen der Hunde. Das Kreischen der Kinder.
Tief in Gedanken versunken, saß der Prediger auf seinem Koffer-Stuhl, grübelte mit gekräuselten Lippen über etwas nach, das er nicht in den Griff zu bekommen schien, während seine Frau von dem hypnotischen Blick eines aufregenden Fremden wie gelähmt war.
Bis Isaac das, was ihm in den Sinn gekommen war, zum Ausdruck bringen konnte. »Kapitän Farrow«, sagte er, »wie ich feststelle, scheint es den Eingeborenen ein Bedürfnis zu sein, etwas über Jesus zu erfahren. Man hatte uns gesagt, dass es schwer sein würde, diese Menschen dem Herrn zuzuführen, und dass wir, ehe wir ihnen vom Allmächtigen berichten, erst einmal den Beweis antreten müssten, dass ihre Götter nicht existieren. Bislang jedoch bin ich nicht auf Widerstand gestoßen.«
Farrow richtete sich auf und drückte die Schultern durch – das Sitzen auf dem Koffer wurde ihm offensichtlich zur Qual – und sagte dann: »Weil sich etwas sehr Merkwürdiges zugetragen hat, Reverend. Etwas Unvorhergesehenes und durchaus Bahnbrechendes. Mit Kapitän Cooks Bericht über diese Inseln öffnete sich für weitere Weiße der Weg hierher. Seit vierzig Jahren sind die Eingeborenen jetzt dem Einfluss des Westens ausgesetzt. Und obwohl sie bemüht waren, ihre alten Traditionen aufrechtzuerhalten, hat sich der Einfluss des Westens als zu stark erwiesen. Vor sechs Monaten – Sie und Ihre Mitreisenden waren da bereits hierher unterwegs – befand Königin Ka’ahumanu, die Stiefmutter des neuen Königs und Mitregentin, dass mit dem althergebrachten kapu-System Schluss sein müsse. Und zum Entsetzen aller nahm sie anlässlich eines Festes bei den Männern Platz und aß mit ihnen. Prinz Liholiho, ihr Stiefsohn, der seinen Namen in Kamehameha II. abänderte, gab ihrem Drängen nach und erklärte das kapu-System für nicht länger gültig.«
»So einfach ist es, Gesetze, die seit Hunderten von Jahren gültig waren, abzuschaffen?«, staunte Emily.
Farrow lächelte. »Aus einem ganz einfachen Grund. Unter kapu hieß es, dass bei einem Verstoß gegen die Vorschriften die Götter die Betreffenden bestrafen würden. Und die Insulaner glaubten es. Dann aber erlebten sie, wie der weiße Mann ständig gegen kapu verstieß, die göttliche Bestrafung jedoch ausblieb. Das sah Königin Ka’ahumanu als Beweis an, dass die alten Götter keine Macht mehr besaßen. Sie befahl ihrem Volk, seine Götterbilder zu zerstören. Sie sehen also, Reverend, dass sich Ihre Tätigkeit hier als eine vielleicht weniger große Herausforderung erweisen könnte als gedacht. Die Eingeborenen sind gleichsam leere Gefäße, die darauf warten, mit einem neuen Glauben gefüllt zu werden.«
Während seine Gastgeber noch über diese unerwartete Eröffnung nachdachten, zog Kapitän Farrow eine Taschenuhr aus seiner Westentasche und warf einen Blick darauf. »Ich glaube, es wird Zeit, mich von Ihnen zu verabschieden«, sagte er dann.
Er stand auf und griff nach seiner Mütze. »Mrs Stone, mir fehlen schier die Worte, um mich gebührend für Ihre liebenswürdige Gastfreundschaft zu bedanken.«
»Sie müssen wiederkommen«, gab Emily zurück.
»Die Kestrel legt leider morgen früh ab. Nach China. Eine Reise von mehreren Monaten.«
Die Stones begleiteten ihn hinaus in die milde, von süßem Duft erfüllte Nacht. Ein elfenbeinfarbener Mond stand neben Tausenden von Sternen am Himmel. Dort, wo das von der hawaiischen Krone gepachtete Missionarsanwesen der Stones endete, begann das Dorf, das sich weiträumig erstreckte und von tiki-Fackeln erhellt war. Munteres Miteinander und Essensgerüche wehten zu ihnen herüber.
»Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Gastfreundschaft«, sagte Kapitän Farrow und setzte sich seinen Seemannshut auf.
Als er sich von Emily verabschiedete, streckte er die Hand aus. Aber anstatt die von Emily zu schütteln, hielt er sie fest und legte seine Linke wie beschützend darüber. Der warme, sanfte Druck löste etwas in der jungen Frau aus, was sie nicht verstand. Ihr war, als hätte der Kapitän ihren gesamten Körper in die Arme geschlossen.
Dabei war es doch nur eine kleine Geste.
Wie sie erleichtert feststellte, hatte Isaac nichts davon mitbekommen. »Gute Reise!«, dröhnte er. »Möge der Allmächtige Ihre Segel mit Seinem göttlichen Atem füllen und Sie sicher über die Meere geleiten!«
Über der Hilo-Bucht erhob sich ein gezackter Felssporn, der sich vor langer Zeit aus einem Lavastrom gebildet hatte: Glühendheißes Schmelzgestein war wie ein roter Fluss aus einer seit Ewigkeiten schlafenden vulkanischen Felsöffnung geflossen, war dann erkaltet, neue Lava war geflossen und erkaltet, immer wieder, Schicht auf Schicht, bis diese Klippe aus schwarzem Gestein hoch genug war, um einer jungen Frau aus New Haven als Aussichtspunkt zu dienen, von dem aus sie die vor Anker liegenden Schiffe sehen und beobachten konnte, wie eines dieser Schiffe, die Kestrel, auftakelte, wie sich die Segel blähten, wie sich der robuste Klipper in den Wind drehte, langsam über das von der Sonne beleuchtete Wasser glitt und Kapitän MacKenzie Farrow in exotische Regionen entführte.
Die Gefühle, die sich in ihrem Herzen regten, vermochte Emily nicht zu deuten. Sie wusste nur, dass das Schiff, je kleiner es wurde und je weiter es ihren Blicken entschwand, einen Teil von ihr mitnahm, und dieser Teil von ihr würde erst wieder zurückkehren, wenn Kapitän Farrow zurückkehrte.
»Musst du wirklich fort, Isaac? Wir sind doch kaum vier Monate hier.«
»Viele weitere Seelen warten auf Erlösung, Emily«, sagte er, während er zielstrebig seine Tasche packte. »Ich darf nicht an einem Ort verweilen. Um seine Netze auszuwerfen, schickt der Herr seine Jünger hinaus in die Welt.«
Emily presste die Hände aneinander. Sie hatte nicht erwartet, dass sie hier allein zurückbleiben müsste. Als er ihr erst gestern eröffnet hatte, dass er beabsichtige, die Dörfer an der nördlichen Küste zu besuchen, war sie derart erschrocken, dass sie weder hatte essen noch Schlaf finden können. Und jetzt war sie ein Nervenbündel.
Wo war ihre Abenteuerlust abgeblieben? Sie musste sich eingestehen, dass sie Angst hatte, mit den Einheimischen allein zu sein, auch wenn sie sich nicht erklären konnte, warum. Vielleicht weil sie … so anders waren? Gewiss, sie waren freundlich und entgegenkommend und schienen ständig zu lächeln. Aber als Mr Alcott zur Gemeinde von Emilys Kirche von einer Insel gesprochen hatte, auf der unzählige Seelen der Verdammnis preisgegeben seien, hatte er vergessen zu erwähnen, dass es mehr Hindernisse gebe als das Problem mit der Religion. Hier genossen Kinder unbegrenzte Freiheiten, Zucht und Ordnung waren unbekannt. Wie konnte man so etwas von ihnen auch erwarten, wenn selbst die Erwachsenen nichts davon hielten? Die Erwachsenen, die ihr Leben nach Lust und Laune gestalteten? War die Brandung hoch, ließ jeder die Arbeit ruhen, nahm sein langes Brett und warf sich in die Wellen. Nicht anders verhielt es sich mit dem Unterricht. In den ersten Tagen drängten sich in dem neuen Pavillon, den Isaac gebaut hatte, Erwachsene wie Kinder, um bei Emily das Alphabet zu erlernen, pünktlich und versessen auf Schiefertafeln und Kreide. Emily war überglücklich gewesen. Aber dann konnte es vorkommen, dass niemand auftauchte und sie durchs Dorf gehen musste, um die widerspenstigen Kinder zusammenzutrommeln.
Es kam noch hinzu, dass sie so einiges, was der verhasste Mr Clarkson geäußert hatte, nicht vergessen konnte. Als er einmal zum Tee vorbeikam, hatte er Isaac und ihr erzählt, dass diese Leute noch vor vierzig Jahren Menschenopfer dargebracht hätten. Und selbst wenn Häuptling Holokai Isaac versichert habe, dass sie nicht länger diesem abscheulichen Ritual huldigten, dürfte es ihnen doch weiterhin im Blut liegen. Was wäre, wenn nur Isaacs Anwesenheit sie im Zaum hielt, sie aber sobald er Hilo verlassen hätte …
»Ich habe von zügelloser Unzucht auf der Insel gehört«, sagte Isaac, als er seine Tasche verschnürte. »Der Begriff der ehelichen Treue ist ihnen völlig fremd. Sie wechseln von einem Partner zum nächsten, je nach Lust und Laune. Und die, die verheiratet sind, vollziehen den Geschlechtsverkehr im Beisein ihrer Kinder. Die gesamte Familie schläft in einem Raum. Eine Unsitte, mit der ich aufzuräumen gedenke.«