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"Signora" wird sie von allen genannt, die Frau, die vor vielen Jahren mit ihrem Geliebten nach Sizilien ging. Nach Dublin zurückgekehrt, bietet sie Abendkurse in Italienisch an, die viel Zulauf finden. Die unterschiedlichsten Teilnehmer treffen zusammen - sie alle entdecken in Signoras Unterrichtsstunden, daß das Leben mehr für sie bereithält, als sie sich jemals hätten träumen lassen. Eine Reise nach Rom, die den krönenden Abschluß des Kurses bilden soll, wird für die Teilnehmer zur Schicksalsfahrt.
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Seitenzahl: 818
Maeve Binchy
Die irische Signora
Roman
Aus dem Englischen von Christa Prummer-Lehmair, Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß, Kollektiv Druck-Reif
Knaur e-books
Nach langen Jahren kehrt die Frau, die von allen nur Signora genannt wird, aus Italien in ihre Heimat Irland zurück. In der Mountainview-Schule in Dublin gibt sie von nun an Abendkurse in Italienisch und verändert damit nicht nur das Leben ihrer Schüler entscheidend, sondern auch ihr eigenes.
Die Sehnsucht nach dem Süden und der Zauber der Grünen Insel – eine unwiderstehliche Kombination von der irischen Bestsellerautorin!
Für meinen lieben, großzügigen Gordon,
grazie per tutto, und mit all meiner Liebe
Es hatte eine Zeit gegeben – damals, 1970 –, da hatte das Ausfüllen von Persönlichkeitstests zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehört.
Bei der Zeitungslektüre am Wochenende hatte Aidan gelegentlich einen gefunden, etwa »Sind Sie ein rücksichtsvoller Ehemann?« oder auch »Kennen Sie sich im Showgeschäft aus?«. Bei »Passen Sie gut zusammen?« und »Pflegen Sie Ihre Freundschaften?« schnitten sie mit ihren Antworten immer recht gut ab.
Doch das war lange her.
Wenn Nell oder Aidan Dunne heute einen solchen Test sahen, stürzten sie sich nicht mehr mit Feuereifer darauf, voller Neugier auf die erzielte Punktzahl. Es wäre zu schmerzlich, beispielsweise die Frage zu beantworten: »Wie oft schlafen Sie mit Ihrem Partner? a) Mehr als viermal pro Woche b) Durchschnittlich zweimal pro Woche c) Jeden Samstagabend d) Noch seltener«. Wer wollte schon zugeben, daß es wesentlich seltener war, und dann nachschlagen, wie die klugen Köpfe, die sich die Fragen ausgedacht hatten, dieses Geständnis interpretierten?
Heute blätterten sie beide weiter, wenn sie auf einen Test stießen, der der Frage nachging: »Passen Sie gut zu Ihrem Partner?« Dabei hatte es zwischen ihnen niemals einen Streit oder ein Zerwürfnis gegeben. Aidan war Nell noch nie untreu geworden, und er glaubte, daß auch sie nicht fremdgegangen war. War es überheblich, so etwas anzunehmen? Immerhin war sie eine attraktive Frau. Auch heute noch schauten ihr andere Männer auf der Straße bewundernd nach.
Bei vielen Männern, die aus allen Wolken fielen, wenn sie erfuhren, daß ihre Frau sie betrogen hatte, lag das schlicht an ihrer eigenen Selbstgefälligkeit und Unaufmerksamkeit; das war Aidan klar. Doch er gehörte nicht zu dieser Sorte. Er wußte, daß Nell kein Verhältnis hatte. Er kannte sie in- und auswendig und hätte es gemerkt, wenn da etwas gewesen wäre. Überhaupt, wo hätte sie denn jemanden kennenlernen sollen? Und selbst wenn, wo hätte sie sich mit ihm treffen können? Nein, das war ein absurder Gedanke.
Möglicherweise ging es allen anderen Leuten genauso wie ihnen. Vielleicht war das etwas, was zum Älterwerden gehörte, worüber aber nie geredet wurde. Wie etwa, daß man nach langen Spaziergängen Wadenschmerzen bekam oder mit den aktuellen Popsongs beim besten Willen nichts mehr anfangen konnte. Vielleicht lebte man sich einfach auseinander, auch wenn einem der Partner einstmals alles bedeutet hatte.
Es war durchaus vorstellbar, daß jeder Achtundvierzigjährige, der auf die Neunundvierzig zuging, dasselbe empfand. Überall auf der Welt gab es vermutlich Männer, die sich wünschten, daß ihre Frauen ihnen bei allem, was sie taten und sagten, Interesse und lebhafte Anteilnahme entgegenbrachten. Und damit war nicht nur Sex gemeint.
Wie lange war es her, daß Nell ihn nach seiner Arbeit, nach seinen beruflichen Hoffnungen und Träumen gefragt hatte? Früher hatte sie das ganze Lehrerkollegium und viele Schüler namentlich gekannt und sich mit Aidan über die großen Klassen, die verantwortungsvollen Posten, die Schulausflüge, die Theateraufführungen und seine Hilfsprojekte für die Dritte Welt unterhalten.
Doch jetzt war sie kaum noch auf dem laufenden. Als die neue Erziehungsministerin ernannt worden war, hatte Nell nur mit den Achseln gezuckt. »Schlechter als die letzte wird sie wohl auch nicht sein«, lautete ihr einziger Kommentar dazu. Vom Übergangsjahr wußte sie gerade so viel, daß sie es als blödsinnigen Luxus abtat. Da schenkte man den Jugendlichen ein ganzes Jahr, bloß damit sie über alles mögliche nachdenken, diskutieren und … sich selbst finden konnten, anstatt sich auf die Abschlußprüfungen vorzubereiten.
Aber Aidan machte ihr keinen Vorwurf daraus.
Wenn er heute jemandem etwas zu erklären versuchte, hörte es sich immer ziemlich langweilig an. Seine Stimme dröhnte ihm in den Ohren, und es klang irgendwie heruntergeleiert. Dann verdrehten seine Töchter die Augen und fragten sich, warum sie sich mit ihren einundzwanzig und neunzehn Jahren so etwas noch anhören mußten.
Dabei versuchte Aidan ja, ihnen nicht auf die Nerven zu gehen, denn er wußte um diese typische Eigenart der Lehrer: Weil sie es gewohnt waren, daß ihnen im Klassenzimmer alle aufmerksam zuhörten, gerieten sie leicht ins Schwafeln und beleuchteten jedes Thema von mehreren Seiten, bis sie sicher waren, daß alle sie verstanden hatten.
Und er gab sich große Mühe, am Leben seiner Frau und seiner Kinder Anteil zu nehmen.
Doch wenn Nell von dem Restaurant, wo sie als Kassiererin arbeitete, nach Hause kam, hatte sie nie etwas zu erzählen oder ein Problem zu besprechen. »Ach, Aidan, meine Güte, es ist, wie es in der Arbeit eben so ist. Ich sitze da, nehme Kredit- oder Scheckkarten oder Bargeld entgegen und gebe den Kunden das Wechselgeld und die Quittung. Danach fahre ich heim, und am Ende der Woche kriege ich meinen Lohn. So läuft das bei neunzig Prozent aller Berufstätigen ab. Bei uns gibt es keine Auseinandersetzungen, keine Dramen oder Machtkämpfe; wir sind einfach nur ganz normale Menschen.«
Mit diesen Worten hatte sie ihn nicht verletzen oder demütigen wollen, aber trotzdem waren sie für ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Denn das hieß ja wohl, daß er endlos über die Debatten und Konflikte im Lehrerzimmer schwadroniert haben mußte. Und die Zeiten, als Nell gespannt lauschte, was er Neues zu berichten hatte, ihn stets anspornte, ihm den Rücken stärkte und versicherte, daß seine Feinde auch die ihren seien – diese Zeiten waren offenbar schon lange vorbei. Sehnsüchtig dachte Aidan an die Kameradschaft, die Solidarität und den Gemeinschaftsgeist jener Jahre zurück.
Vielleicht kehrten sie wieder, wenn er zum Direktor der Schule befördert wurde.
Oder machte er sich damit nur falsche Hoffnungen? Möglicherweise interessierte seine Frau und seine beiden Töchter auch das nicht sonderlich. Zu Hause lief alles wie automatisch. Neulich hatte er dieses merkwürdige Gefühl gehabt, als wäre er schon vor einer ganzen Weile gestorben, und sie kämen alle wunderbar ohne ihn zurecht. Nell ging tagtäglich zur Arbeit ins Restaurant. Einmal pro Woche besuchte sie ihre Mutter; nein, Aidan brauche nicht mitzukommen, hatte Nell gesagt, es sei nur ein kleiner Familienplausch. Ihre Mutter wolle eben in regelmäßigen Abständen ihre Angehörigen um sich scharen, um zu erfahren, ob es ihnen gutgehe.
»Und geht es dir gut?« hatte Aidan besorgt gefragt.
»Du unterrichtest hier nicht Amateurphilosophie in der Mittelstufe«, hatte Nell entgegnet. »Mir geht es nicht schlechter als den meisten anderen Leuten, würde ich sagen. Können wir es nicht dabei belassen?«
Aber das konnte Aidan natürlich nicht. Er korrigierte sie, es heiße nicht »Amateurphilosophie«, sondern »Einführung in die Philosophie«, und werde auch nicht in der Mittelstufe, sondern im Übergangsjahr gelehrt. Den Blick, den ihm Nell daraufhin zugeworfen hatte, würde er sein Lebtag nicht vergessen. Sie hatte zu einer Erwiderung angesetzt, dann aber doch geschwiegen, und auf ihrem Gesicht lag so etwas wie distanziertes Bedauern. Sie schaute ihn an wie einen armseligen Landstreicher, der auf der Straße saß, der Mantel notdürftig mit einem Strick zusammengehalten, und den letzten Schluck Wein aus seiner Flasche austrank.
Mit seinen Töchtern erging es ihm nicht besser.
Grania arbeitete in einer Bank, erzählte aber nicht viel davon – zumindest nicht ihrem Vater. Manchmal bekam er zufällig mit, wie sie mit ihren Freunden darüber sprach, und dann klang sie viel lebhafter. Und mit Brigid war es dasselbe. Das Reisebüro ist ganz in Ordnung, Dad, zieh doch nicht dauernd darüber her. Wirklich, es ist ein prima Laden, ich bekomme zwei kostenlose Urlaubsreisen im Jahr, und wir haben lange Mittagspausen, weil wir nach einem Turnusplan arbeiten.
Grania hatte auch keine Lust auf eine Diskussion über das Bankensystem an sich oder ob es nicht unfair sei, den Kunden Kredite aufzuschwatzen, die sie nur mit Mühe zurückzahlen konnten. Sie habe die Regeln nicht gemacht, erklärte sie ihm, auf ihrem Schreibtisch stehe ein Ablagekorb mit den Eingängen, und die habe sie täglich zu bearbeiten. Weiter nichts, ganz einfach. Brigid wiederum hatte keine Meinung zu der Frage, ob die Touristikbranche nicht Wunschträume verkaufe, die sie gar nicht erfüllen könne. »Dad, niemand wird gezwungen, in Urlaub zu fahren. Wer es nicht will, kann es ja seinlassen.«
Aidan wünschte sich, er hätte besser aufgepaßt. Wann hatte es begonnen … dieses Sichauseinanderleben? Er konnte sich noch daran erinnern, wie die Mädchen sauber und frisch gebadet in ihren rosa Nachthemdchen dagesessen hatten, während er ihnen Geschichten erzählte und Nell mit glücklichem Lächeln zusah. Das war Jahre her. Aber auch danach hatte es noch schöne Zeiten gegeben. Zum Beispiel, als die Kinder für die Abschlußprüfungen gelernt und Aidan ihnen Arbeitsblätter erstellt hatte, damit sie sich möglichst effektiv vorbereiten konnten. Wie dankbar waren sie ihm damals dafür gewesen! Er wußte noch, wie sie gefeiert hatten, als Grania ihr Abschlußzeugnis und später die Stelle bei der Bank bekommen hatte. Jedesmal waren sie in ein nobles Hotel essen gegangen und hatten sich vom Kellner fotografieren lassen. Genauso hatten sie es auch bei Brigid gehalten, ein großes Essen und Erinnerungsfotos. Auf diesen Bildern sahen sie aus wie eine richtig glückliche Familie. War das alles nur Fassade gewesen?
In gewisser Weise wohl schon. Denn wie wäre es sonst möglich, daß er jetzt, nur wenige, schnell vergangene Jahre später, sich nicht mit seiner Frau und seinen beiden Kindern – den Menschen, die er mehr als alles andere auf der Welt liebte – zusammensetzen und ihnen von seiner Befürchtung erzählen konnte, vielleicht doch nicht zum Direktor ernannt zu werden?
Dabei hatte er soviel Zeit investiert, Überstunden gemacht, sich in allen schulischen Belangen engagiert. Trotzdem wußte er tief in seinem Innersten, daß man ihn übergehen würde.
Womöglich würde ein anderer, beinahe gleichaltriger Mann die Stelle bekommen: Tony O’Brien, einer, der nie länger geblieben war, um die Schulsportmannschaft bei einem Heimspiel anzufeuern, der sich nicht um die Reform des Lehrplans verdient gemacht und auch nicht an der Spendensammlung für das neue Bauvorhaben beteiligt hatte. Tony O’Brien rauchte unverhohlen in den Gängen der Schule, in der eigentlich Rauchverbot herrschte, und ging in einen Pub zum Mittagessen, das, wie er jedem erzählte, aus anderthalb Gläsern Bier und einem Käsesandwich bestand. Ein Junggeselle ohne jeglichen Familiensinn, den man oft mit einem Mädchen im Arm sah, das vielleicht halb so alt war wie er. Und trotzdem galt er als sehr aussichtsreicher Kandidat für das Direktorenamt.
In den letzten Jahren hatte Aidan sich über vieles gewundert, aber das war ihm nun wirklich unbegreiflich. Nach sämtlichen gängigen Kriterien konnte Tony O’Brien überhaupt nicht für diesen Posten in Frage kommen. Aidan fuhr sich mit der Hand durch das dünner werdende Haar. Tony O’Brien hatte natürlich dichtes, braunes Haar, das ihm in die Augen hing und bis auf den Kragen fiel. Aber die Welt konnte nicht so verdreht sein, daß man bei der Wahl eines Direktors so etwas in Betracht zog, oder doch?
Dichtes Haar gut, schütteres Haar schlecht … Aidan grinste vor sich hin. Solange er über seine schlimmsten paranoiden Ängste noch lachen konnte, würde sich sein Selbstmitleid in Grenzen halten lassen. Allerdings blieb ihm auch nichts anderes übrig, als im stillen vor sich hin zu lachen. Denn wen gab es, mit dem er zusammen hätte lachen können?
In einer der Sonntagszeitungen fand Aidan den Psychotest: »Leiden Sie unter nervöser Anspannung?« Wahrheitsgemäß trug er seine Antworten ein und erhielt mehr als 75 Punkte, was, wie er vermutete, ziemlich viel war. Daß sein Fall aber so knapp und vernichtend abgehandelt werden würde, hätte er dann doch nicht gedacht: Wenn Sie mehr als 70 Punkte haben, gehen Sie viel zu verbissen durchs Leben. Lassen Sie mal Dampf ab, sonst platzen Sie noch!
Sie hatten einander immer gesagt, diese Tests seien im Grunde nicht ernst zu nehmen – reine Seitenfüller. Damit hatten Aidan und Nell sich getröstet, wenn sie bei den Fragen schlechter abgeschnitten hatten als erwartet. Aber jetzt saß er ganz allein davor. Die Zeitungsleute müssen sich eben etwas einfallen lassen, womit sie eine halbe Seite füllen können, versuchte er sich einzureden, sonst gäbe es ja jede Menge weiße Stellen.
Trotzdem ärgerte sich Aidan über das Ergebnis. Zugegeben, er war ein bißchen nervös. Aber ging er »viel zu verbissen« durchs Leben? Kein Wunder, daß manche Leute Zweifel hatten, ob er als Schulleiter geeignet war.
Er hatte seine Antworten auf ein separates Blatt geschrieben, damit kein anderes Familienmitglied sie zu Gesicht bekam und das Bekenntnis seiner Ängste und Sorgen, die ihm den Schlaf raubten, las.
Neuerdings war der Sonntag für ihn der unangenehmste Tag der Woche. Früher, als sie noch eine richtige, eine glückliche Familie gewesen waren, hatten sie im Sommer Picknickausflüge gemacht und bei kühlerem Wetter wohltuende, anregende Spaziergänge. Aidan hatte sich immer damit gebrüstet, daß seine Familie nie so werden würde wie viele andere Dubliner, die nichts außer ihrer Wohngegend kannten.
Einmal hatten er und seine Familie am Sonntag einen Zug nach Süden genommen und waren auf den Bray Head gestiegen, von wo aus sie in die benachbarte Grafschaft Wicklow hinüberschauen konnten. An anderen Sonntagen waren sie nach Norden in die Küstenorte Rush, Lusk und Skerries gefahren, kleine Dörfer, jedes mit einem eigenen Charakter, die alle an der Straße nach Nordirland lagen. Sogar Tagesausflüge nach Belfast hatten sie unternommen, damit die Kinder nicht in völliger Unkenntnis über diesen anderen Landesteil aufwuchsen.
Selten war er so glücklich gewesen wie in jenen Tagen, an denen er gleichzeitig Lehrer und Vater, Fremdenführer und Unterhalter sein konnte. Daddy wußte auf alles eine Antwort: Wo der Bus nach Carrickfergus Castle abfuhr, wie man zum Ulster Folk Museum gelangte, wo man vor der Heimfahrt noch eine ordentliche Portion Pommes frites bekam.
Aidan erinnerte sich, daß im Zug einmal eine Frau zu Grania und Brigid gesagt hatte, sie könnten froh sein, einen Daddy zu haben, der ihnen soviel beibrachte. Andächtig hatten die beiden genickt, und Nell hatte Aidan zugeflüstert, die Frau habe es offenbar auf ihn abgesehen, aber das werde sie zu verhindern wissen. Da war Aidan sich sehr groß und wichtig vorgekommen.
Jetzt fühlte er sich sonntags zu Hause kaum beachtet.
Im Gegensatz zu vielen anderen Familien hatten sie nie viel vom traditionellen sonntäglichen Mittagessen gehalten, von Rinder- oder Lammbraten oder Huhn mit üppigen Kartoffel- und Gemüsebeilagen. Wegen ihrer vielen Ausflüge und Unternehmungen war der Sonntag bei ihnen nie nach einem festen Schema abgelaufen. Aber nun sehnte sich Aidan nach einer gewissen Regelmäßigkeit. Er besuchte die Messe, und manchmal begleitete ihn Nell, doch danach traf sie sich meist mit einer ihrer Schwestern oder Arbeitskolleginnen. Und da die Geschäfte inzwischen ja auch sonntags geöffnet hatten, konnte sie dort ebenfalls herumbummeln.
Die Mädchen gingen nie zum Gottesdienst. Es war sinnlos, sie dazu bewegen zu wollen. Als sie siebzehn waren, hatte Aidan es aufgegeben. Gewöhnlich blieben sie bis mittags im Bett liegen und machten sich dann belegte Brote. Den Rest des Tages schauten sie sich die Videoaufzeichnungen der vergangenen Woche an, lümmelten in ihren Morgenmänteln herum, wuschen sich die Haare und ihre Kleider, telefonierten mit Freunden oder luden sie zum Kaffee ein.
Sie benahmen sich, als würden sie in einer Wohngemeinschaft leben, wobei sie ihre Mutter wie eine liebenswerte, schrullige Vermieterin behandelten, über deren Launen man hinwegsehen mußte. Grania und Brigid zahlten nur einen geringen Betrag für Kost und Logis, und dann auch noch mit einer Miene, als würde man ihnen den letzten Penny abknöpfen. Und soweit Aidan wußte, steuerten sie sonst nichts zum Haushalt bei – nicht eine Dose Kekse, eine Packung Eiscreme oder eine Flasche Weichspüler bezahlten sie je aus ihrer eigenen Tasche. Aber wehe, es fehlte einmal etwas, dann beschwerten sie sich sofort.
Aidan fragte sich, wie Tony O’Brien seine Sonntage verbrachte.
Er wußte mit Sicherheit, daß Tony nicht zur Messe ging. Das hatte er nämlich seinen Schülern zu verstehen gegeben, als sie ihn gefragt hatten: »Sir, gehen Sie sonntags zum Gottesdienst?«
»Manchmal, wenn ich zu einem Zwiegespräch mit Gott aufgelegt bin«, hatte Tony O’Brien erwidert.
Aidan wußte es, denn seine Schüler und Schülerinnen hatten es ihm schadenfroh unter die Nase gerieben und als Argument gegen jene angeführt, die behaupteten, es sei eine Todsünde, nicht am Gottesdienst teilzunehmen.
Das hatte er ziemlich schlau angestellt; zu schlau für Aidans Geschmack. Tony leugnete nicht die Existenz Gottes, sondern stellte es so hin, als sei er mit Gott befreundet, und Freunde kommen eben nur zum Plaudern vorbei, wenn sie Lust dazu haben. Dadurch entstand der Eindruck, Tony O’Brien habe besonders gute Beziehungen zu Gott, während Aidan Dunne nicht zum engeren Freundeskreis des Allmächtigen gehörte, nur eine Randfigur, ein Mitläufer war. Dies war einer der vielen Punkte, die er so ärgerlich und ungerecht fand.
Vermutlich stand Tony O’Brien am Sonntag spät auf … er lebte in einem sogenannten »Stadthaus«, was im Grunde nichts anderes als eine Wohnung war: ein großes Zimmer und eine Küche im Erdgeschoß, im ersten Stock ein großes Schlafzimmer und das Badezimmer. Vor der Wohnungstür lag gleich die Straße. Und wenn er morgens das Haus verließ, sah man ihn oft in Begleitung junger Frauen.
In früheren Zeiten hätte das das Ende seiner Laufbahn bedeutet, ganz zu schweigen von Aussichten auf eine Beförderung. Noch in den sechziger Jahren war jeder Lehrer, der außereheliche Beziehungen unterhielt, sofort entlassen worden. Natürlich war das nicht richtig gewesen; gegen diese Regelung waren sie damals auch alle auf die Barrikaden gegangen. Aber daß ein Mann nie eine feste Bindung einging, die Frauen reihenweise in seinem Stadthaus vernaschte und trotzdem als künftiger Direktor in Betracht gezogen wurde, der doch ein Vorbild für die Schüler sein sollte … das war auch nicht richtig.
Was tat Tony O’Brien wohl gerade, an diesem verregneten Sonntag nachmittag um halb drei? Vielleicht war er bei einem der anderen Lehrer zum Mittagessen zu Gast. Aidan hatte ihn nie zu sich eingeladen, weil bei ihnen das Mittagessen ja buchstäblich ausfiel. Außerdem hätte Nell ihn zu Recht gefragt, warum sie sich mit diesem Kerl abgeben sollten, über den Aidan seit fünf Jahren nur schimpfte. Womöglich hatte Tony noch Damenbesuch vom letzten Abend da. Tony O’Brien sagte immer, er sei dem chinesischen Volk zu großer Dankbarkeit verpflichtet, weil nur drei Häuser weiter ein hervorragendes China-Restaurant mit Straßenverkauf sei – es gebe nichts Besseres als Huhn süßsauer, Sesamtoast, Garnelen in Chilisoße und dazu eine Flasche australischen Chardonnay und die Sonntagszeitung. Was für eine Vorstellung, daß ein Mann in seinem Alter, der schon Großvater hätte sein können, mit jungen Mädchen herumtändelte und sich am Sonntag sein Essen beim Chinesen holte!
Andererseits, warum nicht?
Aidan Dunne wollte nicht ungerecht sein. Er mußte zugeben, daß es jedem freistand, nach seiner eigenen Fasson selig zu werden. Und schließlich zerrte Tony O’Brien diese Frauen ja nicht an den Haaren in sein Haus. Es gab kein Gesetz, wonach man heiraten und zwei kühle, unnahbare Töchter aufziehen mußte, wie Aidan es getan hatte. Und immerhin mußte man diesem Mann zugute halten, daß er kein Heuchler war und sich offen zu seiner Lebensweise bekannte.
Aber es hatte sich einfach so vieles verändert. Irgend jemand hatte die Meßlatte, nach der Richtig und Falsch beurteilt wird, verrückt – ohne Aidan vorher nach seiner Meinung zu fragen.
Und wie würde Tony den restlichen Tag verbringen?
Er würde doch nicht nachmittags wieder mit seinem Mädchen ins Bett steigen, oder? Vielleicht machte er einen Spaziergang, oder das Mädchen ging nach Hause, und er hörte Musik. Er redete oft von seinen CDs. Als er 350 Pfund im Lotto gewonnen hatte, hatte er den Schreiner, der an dem Erweiterungsbau der Schule arbeitete, beauftragt, ihm ein Regal für fünfhundert CDs zu bauen, und ihm das Geld bar in die Hand gedrückt. Das hatte alle sehr beeindruckt. Doch Aidan war neidisch geworden. Woher nahm Tony das Geld für so viele CDs? Und die Zeit, sie sich anzuhören? Er kaufte sich ungefähr drei Stück pro Woche, das wußte Aidan mit Sicherheit. Später traf sich Tony vielleicht mit ein paar Freunden im Pub, oder er sah sich im Kino einen fremdsprachigen Film mit Untertiteln an, oder er ging in einen Jazzclub.
Vielleicht war es gerade sein Unternehmungsgeist, der Tony besonders interessant machte und mit dem er alle anderen übertrumpfte – jedenfalls Aidan. Was Aidan am Sonntag machte, interessierte keinen Menschen.
Wenn er gegen ein Uhr von der Kirche zurückkam und wissen wollte, ob jemand Lust auf Eier und Speck habe, schlug ihm ein Sturm der Entrüstung entgegen: »Gott bewahre!« riefen seine Töchter, oder: »Daddy, wie kannst du so etwas auch nur fragen? Schließ bitte die Küchentür, wenn du das wirklich essen willst.« Wenn Nell zu Hause war, schaute sie kurz von ihrem Roman auf und sagte: »Wieso?« Es klang niemals feindselig, nur verwundert, als wäre das der abwegigste Vorschlag, den sie je gehört hatte. Und gegen drei Uhr machte sich Nell dann meist allein ein Salatsandwich.
Wehmütig dachte Aidan an die Sonntagsessen bei seiner Mutter zurück, wo bei Tisch über die Ereignisse der ganzen letzten Woche geplaudert wurde und man nur mit einem sehr guten Grund fehlen durfte. Den Bruch mit dieser Tradition hatte er natürlich selbst herbeigeführt. Seine Kinder sollten aufgeweckte Menschen werden, die an ihrem einzigen freien Tag Entdeckungsreisen durch die Grafschaft Dublin und die benachbarten Grafschaften unternahmen. Wie hätte er damals ahnen können, daß er sich später einmal ausgeschlossen fühlen würde? Nun wanderte er ruhelos von der Küche, wo sich jeder sein eigenes Essen in der Mikrowelle zubereitete, ins Wohnzimmer, wo irgendeine Fernsehsendung lief, die ihn nicht interessierte, und zum Schlafzimmer, das ihn so schmerzlich daran erinnerte, wie lange er nicht mehr mit seiner Frau intim gewesen war.
Es gab natürlich noch das Eßzimmer – den Raum mit den schweren, dunklen Möbeln, der kaum je benutzt worden war, seit sie das Haus gekauft hatten. Selbst wenn sie Lust gehabt hätten, öfters Gäste einzuladen, wäre das Zimmer zu klein und zu eng dafür gewesen. In letzter Zeit hatte Nell ein- oder zweimal beiläufig erwähnt, Aidan solle sich hier doch ein Arbeitszimmer einrichten. Aber er hatte sich geweigert. Wenn er dieses Zimmer in ein Büro umwandelte, wie er bereits eines in der Schule hatte, würde er am Ende vielleicht seine Stellung als Familienvorstand verlieren, als Vater, als Ernährer … und als derjenige, dem dies einst mehr als alles andere auf der Welt bedeutet hatte.
Und wenn er sich hier allzu häuslich einrichtete, würde man ihm womöglich als nächstes antragen, in diesem Zimmer auch noch zu schlafen. Im Erdgeschoß gab es ja ebenfalls eine Toilette. Man konnte es durchaus so einrichten, daß die drei Frauen das obere Stockwerk für sich allein hatten.
Aber das durfte er niemals zulassen. Er mußte darum kämpfen, seine Stellung in der Familie zu behaupten, wie er auch darum kämpfen mußte, sich bei der Schulbehörde in Erinnerung zu bringen, bei den Leuten, die den nächsten Direktor des Mountainview College bestimmen würden.
Seine Mutter hatte nie verstanden, warum die Schule nicht nach einem Heiligen benannt war, wie es sonst bei Schulen üblich sei. Es war schwer, ihr klarzumachen, daß die Zeiten und die Verhältnisse sich geändert hatten. Aber immerhin, versicherte er ihr ein ums andere Mal, gehörten der Schulbehörde sowohl ein Priester wie auch eine Nonne an. Zwar träfen sie nicht sämtliche Entscheidungen, doch sie kümmerten sich um den religiösen Aspekt, der im irischen Erziehungswesen schon immer eine wichtige Rolle gespielt habe.
Naserümpfend hatte Aidans Mutter erwidert, nun sei es also so weit gekommen, daß Priester und Nonnen froh sein mußten, wenn sie der Schulleitung angehören durften, anstatt die Geschicke der Schule selbst nach dem göttlichen Willen zu lenken. Vergeblich hielt ihr Aidan entgegen, es fehle eben an Geistlichen; sogar in den sogenannten konfessionellen Oberschulen unterrichteten in den neunziger Jahren kaum noch Geistliche. Es gebe einfach zu wenige.
Bei einer dieser Diskussionen mit seiner Mutter war Nell dabeigewesen und hatte ihm danach geraten, sich seine Worte künftig zu sparen. »Sag ihr einfach, daß die Schule noch immer von den Kirchenleuten geleitet wird, Aidan. Damit machst du es ihr und dir selbst leichter. Und in gewisser Weise stimmt es ja auch. Sie machen den Leuten auch heute noch angst.« Diese Bemerkung aus Nells Mund hatte Aidan sehr geärgert. Es gab keinen Grund, warum Nell die Macht der katholischen Kirche fürchten müßte. Sie hatte die Messe besucht, solange es ihr gefallen hatte; zur Beichte ging sie schon lange nicht mehr, und die päpstlichen Verdikte gegen Empfängnisverhütung hatte sie seit jeher ignoriert. Warum tat sie nur so, als sei der katholische Glaube eine schwere Last für sie gewesen? Doch er wollte deshalb keinen Streit vom Zaun brechen. Wie so oft nahm er es gelassen hin. Nell hatte keine Zeit für seine Mutter; nicht, daß sie etwas gegen sie gehabt hätte, aber sie fand die alte Frau völlig uninteressant.
Von Zeit zu Zeit fragte seine Mutter, wann sie sie denn einmal zu sich zum Essen einladen würden. Darauf antwortete Aidan immer, im Moment gehe alles ein bißchen drunter und drüber, aber sobald es wieder ruhiger geworden sei …
Das sagte er jetzt seit über zwanzig Jahren, und inzwischen war es nur mehr eine ziemlich faule Ausrede. Aber Nell die Schuld dafür zu geben war nicht fair. Schließlich lud sie ihre eigene Mutter ja auch nicht ständig ein. Selbstverständlich erhielt Aidans Mutter immer eine Einladung, wenn sie in einem Hotelrestaurant etwas zu feiern hatten. Trotzdem war das etwas anderes. Und einen Anlaß zum Feiern hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Abgesehen natürlich von seinen Aussichten auf den Posten des Direktors.
»Wie war Ihr Wochenende?« erkundigte sich Tony O’Brien im Lehrerzimmer.
Erstaunt sah Aidan ihn an. Das hatte ihn schon lange niemand mehr gefragt. »Nun, recht ruhig«, antwortete er.
»Ach, haben Sie’s gut! Ich war gestern abend auf einer Party und habe mich noch immer nicht davon erholt. Aber in dreieinhalb Stunden ist ja schon Mittag, dann werde ich meinen Kater mit einem Bierchen kurieren«, stöhnte Tony.
»Erstaunlich … ich meine, Ihre Kondition.« Aidan hoffte, daß seine Stimme nicht allzu bitter und vorwurfsvoll klang.
»Das scheint nur so. Für solche Unternehmungen bin ich eigentlich schon viel zu alt, aber ich habe nicht wie Sie und all die anderen eine Frau und Kinder, die mir die einsamen Stunden versüßen könnten.« Tonys Lächeln war freundlich. Wenn man ihn und seine Lebensweise nicht kennt, dachte Aidan, könnte man ihm seine Wehmut tatsächlich glauben.
Gemeinsam marschierten sie den Gang des Mountainview College entlang, das – wenn Aidans Mutter das Sagen gehabt hät- te – nach dem heiligen Kevin benannt worden wäre, oder besser noch nach dem heiligen Antonius. Antonius war der Schutzpatron, den man anrufen mußte, wenn man etwas verlegt hatte, und das tat Aidans Mutter mit zunehmendem Alter immer öfter. Ein dutzendmal am Tag fand sie mit Hilfe des Heiligen ihre Brille wieder. Da war es doch das mindeste, daß man sich erkenntlich zeigte und die hiesige Schule nach ihm benannte. Aber wenn ihr Sohn erst einmal Direktor wurde … sie war jedenfalls zuversichtlich.
Die Kinder rannten an ihnen vorbei, manche riefen im Chor »guten Morgen«, andere schauten verstockt zur Seite. Aidan Dunne kannte sie alle, auch ihre Eltern. Und erinnerte sich sogar an viele ihrer älteren Geschwister. Tony O’Brien dagegen kannte fast keinen. Ungerechte Welt.
»Ich habe gestern abend jemanden getroffen, der Sie kennt«, meinte Tony O’Brien plötzlich.
»Auf einer Party? Kann ich mir kaum vorstellen«, erwiderte Aidan lächelnd.
»Doch. Ich habe einem Mädchen erzählt, daß ich hier unterrichte, und dann hat sie mich gefragt, ob ich Sie kenne.«
»Wie hieß sie denn?« Unwillkürlich war Aidan neugierig geworden.
»Sie hat mir ihren Namen nicht genannt. Ist aber ein nettes Mädchen.«
»Vielleicht eine ehemalige Schülerin?«
»Nein, sonst hätte sie mich ja auch gekannt.«
»Wirklich rätselhaft«, sagte Aidan und schaute Tony O’Brien nach, wie er ins Klassenzimmer zu seiner Oberstufe ging.
Unerklärlicherweise herrschte sofort absolute Stille im Klassenzimmer. Warum hatten sie nur solchen Respekt vor ihm? Aus Angst, beim Schwätzen oder Herumtoben erwischt zu werden? Herrgott, dabei konnte sich Tony doch nicht einmal ihre Namen merken! Er korrigierte ihre Arbeiten nur nachlässig, und schlechte Zeugnisnoten bereiteten ihm bestimmt keine schlaflosen Nächte. Alles in allem scherte er sich ziemlich wenig um seine Schüler. Trotzdem suchten sie seine Anerkennung, sogar die sechzehnjährigen Jungen und Mädchen. Aidan begriff das nicht.
Es hieß immer, Frauen würden angeblich Männer mögen, die sie hart anpacken. Mit Erleichterung dachte Aidan daran, daß Nell niemals Tony O’Brien über den Weg gelaufen war. Doch gleich darauf wurde ihm schmerzlich bewußt, daß Nell ihn in gewisser Weise auch so schon vor langer Zeit verlassen hatte.
Als Aidan Dunne zu seiner Mittelstufenklasse ging, stand er drei Minuten an der Tür, bis halbwegs Ruhe eingekehrt war.
Täuschte er sich oder war Mr. Walsh, der alte Direktor, hinter ihm auf dem Flur vorbeigegangen? Vielleicht war es ja nur Einbildung gewesen. Man fürchtete immer, der Direktor würde vorbeikommen, wenn die Klasse gerade besonders laut war. Das hatte Aidan buchstäblich jeder Lehrer aus seinem Bekanntenkreis bestätigt. Kein Grund zur Besorgnis, sagte sich Aidan. Der Direktor schätzte ihn viel zu sehr, um Anstoß daran zu nehmen, wenn seine Mittelstufenklasse mal ein bißchen unruhiger war als sonst. Schließlich war Aidan der verantwortungsbewußteste Lehrer des Mountainview College, das wußte jeder.
An ebendiesem Nachmittag bestellte Mr. Walsh ihn ins Direktorat. Der Mann wartete sehnsüchtig auf seine Pensionierung. Heute hielt er sich zum erstenmal nicht mit oberflächlichem Geplauder auf.
»Sie und ich sind in vielen Dingen einer Meinung, Aidan.«
»Das hoffe ich, Mr. Walsh.«
»Ja, wir betrachten die Dinge von derselben Warte aus. Aber das reicht nicht.«
»Entschuldigung, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, bekannte Aidan wahrheitsgemäß. War das ein philosophischer Disput? Oder eine Warnung? Ein Tadel?
»Wissen Sie, es liegt am System. An der Art und Weise, wie Entscheidungen zustande kommen. Der Direktor hat keine Stimme. Er sitzt nur da wie ein Statist, darauf läuft es letztlich hinaus.«
»Keine Stimme?« Aidan glaubte zu wissen, worauf der Direktor hinauswollte, aber er stellte sich dumm.
Das war die falsche Strategie gewesen, denn der Direktor wurde nun ärgerlich. »Mensch, kommen Sie, Sie wissen doch, wovon ich rede. Von der Stelle, Mann!«
»Hm, ja.« Aidan kam sich jetzt wie ein Idiot vor.
»Ich bin ein nicht stimmberechtigtes Mitglied der Schulbehörde. Ich habe nichts zu sagen. Anderenfalls hätten Sie ab September meinen Posten. Vorher würde ich Ihnen zwar noch ein paar Ratschläge geben, wie Sie mit diesen Bengeln in der Mittelstufe besser zurechtkommen. Trotzdem bin ich der Meinung, daß Sie der geeignete Mann sind, jemand, der bestimmte Werte hochhält und ein Gespür dafür hat, was für eine Schule das Richtige ist und was nicht.«
»Danke, Mr. Walsh, es freut mich, das zu hören.«
»Mann, lassen Sie mich erst mal ausreden, bevor Sie so etwas sagen … zur Dankbarkeit besteht nämlich kein Anlaß. Ich kann nichts für Sie tun, Aidan, überhaupt nichts, und das versuche ich Ihnen gerade begreiflich zu machen.« Der ältere Mann setzte eine Miene auf, als wäre Aidan ein begriffsstutziger Erstkläßler, der ihn zur Verzweiflung brachte.
Diesen Blick kenne ich von Nell, schoß es Aidan durch den Kopf, und dieser Gedanke betrübte ihn. Seit seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr, seit nunmehr sechsundzwanzig Jahren, unterrichtete er anderer Leute Kinder, und dennoch hatte er keine Ahnung, wie er sich gegenüber einem Mann verhalten sollte, der sich sichtlich bemühte, ihm zu helfen. Nun hatte er es lediglich geschafft, ihn zu verärgern.
Der Direktor musterte ihn eindringlich. Aidan schien es, als hätte Mr. Walsh seine Gedanken erraten. »Na, kommen Sie, reißen Sie sich zusammen. Machen Sie nicht so eine Trauermiene. Vielleicht täusche ich mich ja und sehe das alles ganz falsch. Ich gehe jetzt in Rente, und da wollte ich sozusagen meine Hände in Unschuld waschen, falls die Entscheidung nicht zu Ihren Gunsten ausfällt.« Offensichtlich bedauerte der Direktor jetzt, daß er überhaupt davon angefangen hatte.
»Aber nein, ich weiß das wirklich zu schätzen, ich meine, es ist sehr nett von Ihnen, mir zu sagen, wo Sie in dieser Angelegenheit stehen … ich meine …« Aidan verstummte.
»Hören Sie, es wäre doch kein Weltuntergang … wenn Sie nicht genommen werden.«
»Nein, sicher nicht.«
»Ich meine, Sie haben doch eine Familie, das macht vieles wett. Für Sie spielt sich das richtige Leben zu Hause ab, Sie sind nicht mit der Schule verheiratet, wie ich es so lange war.« Mr. Walsh war seit vielen Jahren verwitwet, und er hatte nur einen Sohn, der ihn selten besuchte.
»Da haben Sie vollkommen recht«, pflichtete ihm Aidan bei.
»Aber?« Der alte Mann wirkte gütig, aufgeschlossen.
Aidan sprach langsam. »Natürlich wäre es kein Weltuntergang, aber irgendwie habe ich gedacht … ich habe gehofft, es wäre vielleicht noch einmal ein neuer Anfang, es würde auch wieder frischen Wind in mein Privatleben bringen. Die zusätzliche Arbeit würde mich nicht abschrecken, das hat mich noch nie gestört. Ich mache ja jetzt schon jede Menge Überstunden. In gewisser Weise bin ich ein wenig wie Sie … Sie wissen schon, verheiratet mit der Schule.«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Mr. Walsh sanft.
»Ich habe immer alles gern gemacht. Ich mag meine Klassen, und besonders das Übergangsjahr – da kann man sie dazu bringen, ein bißchen aus sich herauszugehen, man lernt sie besser kennen und kann sie mehr zum Nachdenken anregen. Und ich mag sogar die Elternabende, vor denen allen anderen graut, aber ich kann mir jeden meiner Schüler merken und … Ich denke, daß mir alles an meiner Arbeit gefällt, außer diesen Machtspielchen, diesem Gerangel um Posten.« Abrupt hielt Aidan inne. Er befürchtete, seine Stimme könnte versagen. Und außerdem wurde ihm klar, daß er bei diesem Gerangel den kürzeren gezogen hatte.
Mr. Walsh schwieg.
Von draußen drangen Geräusche herein, die typischen Geräusche in einer Schule nachmittags um halb fünf. Von ferne hörte man das Gebimmel von Fahrradglocken, Türenschlagen, schreiende Kinder, die zu den verschiedenen Bussen liefen. Bald würden die Putzfrauen mit ihren Eimern und Mops zugange sein, und man würde das Brummen der Poliermaschine hören. Es waren vertraute Geräusche, die Aidan ein Gefühl der Sicherheit vermittelten. Und bis zu diesem Augenblick hatte er sich gute Chancen ausgerechnet, daß all das demnächst sein Reich sein würde.
»Sie werden also Tony O’Brien nehmen«, meinte er resigniert.
»Ja, es sieht so aus. Die Entscheidung wird zwar nicht vor nächster Woche fallen, aber sie haben ihn im Auge.«
»Ich frage mich nur, warum?« Aidan war so neidisch und verwirrt, daß ihm fast schwindlig wurde.
»Ach, fragen Sie mich was Leichteres, Aidan. Der Mann ist nicht mal praktizierender Katholik. Und seine Moral ist die eines Schürzenjägers. Ihm bedeutet diese Schule nichts, sie ist ihm gleichgültig, im Gegensatz zu uns. Trotzdem glaubt die Behörde, daß er der richtige Mann für die Probleme unserer Zeit ist. Harte Zeiten brauchen harte Männer.«
»Die dann auch mal einen Achtzehnjährigen krankenhausreif prügeln«, warf Aidan ein.
»Nun, es wird allgemein angenommen, daß der Junge Drogen verkaufen wollte. Und immerhin hat er sich seitdem nicht mehr in der Nähe der Schule blicken lassen.«
»Aber so kann man doch keine Schule leiten«, entgegnete Aidan.
»Sie würden es anders machen, und ich auch. Aber unsere Zeit ist vorbei.«
»Mit Verlaub, Mr. Walsh, Sie sind fünfundsechzig, aber ich bin erst achtundvierzig und zähle mich noch nicht zum alten Eisen.«
»Das müssen Sie ja auch nicht, Aidan. Wie schon gesagt, Sie haben eine reizende Frau und zwei Töchter, ein Leben außerhalb der Schule. Darauf sollten Sie bauen. Lassen Sie es nicht so weit kommen, daß Ihnen die Arbeit wichtiger wird als die Familie.«
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie sich solche Gedanken um mich machen. Ich möchte Ihnen dafür danken. Und das ist nicht nur so dahingesagt. Ich bin wirklich froh, daß Sie mich vorgewarnt haben. Sonst wäre ich ziemlich dumm dagestanden.« Und mit hocherhobenem Haupt verließ Aidan das Direktorat.
Als er nach Hause kam, sah er, daß Nell das schwarze Kleid und den gelben Schal angezogen hatte. Das war ihre Arbeitskleidung im Restaurant.
»Aber du arbeitest doch gar nicht am Montagabend«, rief er bestürzt.
»Sie haben mich gebeten auszuhelfen, und da dachte ich mir, warum nicht. Im Fernsehen läuft ja auch nichts«, erwiderte sie. Dann fiel ihr wahrscheinlich sein Gesichtsausdruck auf. »Im Kühlschrank ist ein schönes Steak«, meinte sie. »Und vom Samstag sind noch ein paar Kartoffeln da … brat dir eine Zwiebel dazu an, das schmeckt dir bestimmt.«
»Sicher«, antwortete er. Er hätte Nell sowieso nichts gesagt. Vielleicht war es besser, daß sie wegging. »Sind die Mädchen daheim?« fragte er.
»Grania hat das Badezimmer in Beschlag genommen. Anscheinend hat sie heute abend ein wichtiges Rendezvous.«
»Mit jemandem, den wir kennen?« Er wußte selbst nicht, warum er das gesagt hatte. Nell reagierte gereizt.
»Wieso sollte es jemand sein, den wir kennen?«
»Weißt du noch, als sie klein waren? Da haben wir alle ihre Freunde gekannt.«
»Ja, und weißt du noch, wie sie uns die ganze Nacht mit ihrem Geschrei wach gehalten haben? Ich muß jetzt los.«
»Tschüs, paß auf dich auf«, sagte er mit tonloser Stimme.
»Aidan, hast du etwas?«
»Würde es einen Unterschied machen, ob ich etwas habe oder nicht?«
»Was soll denn diese Antwort? Wozu frage ich dich überhaupt noch irgendwas, wenn ich so eine Antwort kriege?«
»Ich meine es ganz ernst. Würde es einen Unterschied machen?«
»Nicht, wenn du dich in Selbstmitleid ergehst. Wir sind alle etwas geschafft, Aidan, keiner von uns hat es leicht. Warum bildest du dir ein, du wärst der einzige, der Probleme hat?«
»Welche Probleme hast du denn? Darüber redest du nie mit mir.«
»Dafür ist jetzt bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt – drei Minuten bevor mein Bus geht!«
Und weg war sie.
Er machte sich eine Tasse Pulverkaffee und setzte sich an den Küchentisch. Da kam Brigid herein. Sie war dunkelhaarig und sommersprossig wie er, aber zum Glück nicht so stämmig. Ihre ältere Schwester hatte die blonden Haare und das gute Aussehen ihrer Mutter geerbt.
»Daddy, das ist gemein. Jetzt blockiert sie schon seit fast einer Stunde das Badezimmer. Sie ist um halb sechs heimgekommen und um sechs ins Bad gegangen. Und jetzt ist es kurz vor sieben. Daddy, sag ihr, sie soll rausgehen und mich reinlassen.«
»Nein«, entgegnete er ruhig.
»Nein? Was soll das heißen?« Brigid war verblüfft.
Was hätte er unter anderen Umständen gesagt? Irgend etwas Verbindliches, um den Frieden wiederherzustellen; etwa, daß sie doch auch das Badezimmer im Erdgeschoß benutzen könne. Aber heute hatte er nicht die Energie, den Vermittler zu spielen. Sollten die Mädchen doch streiten, solange sie wollten, er würde nicht eingreifen.
»Ihr seid beide erwachsen, regelt das unter euch«, erwiderte er. Dann zog er sich mit seinem Kaffee ins Eßzimmer zurück und schloß die Tür hinter sich.
Eine Zeitlang saß er reglos da und ließ den Blick umherschweifen. Dieses Zimmer schien all das zu verkörpern, was in seiner Familie nicht stimmte. An dieser großen schmucklosen Tafel versammelte man sich nie zu einem trauten Familienmahl. Und weder Freunde noch Verwandte saßen je in angeregtem Gespräch auf diesen dunklen Stühlen.
Wenn Grania und Brigid Besuch bekamen, brachten sie ihn in ihr Zimmer oder in die Küche, wo sie mit Nell plauderten und kicherten. Aidan blieb dann allein im Wohnzimmer und schaute sich irgendeine Fernsehsendung an, die ihn nicht interessierte. War es nicht doch besser, ein eigenes kleines Reich zu haben, in dem er seine Ruhe hatte?
In einem Antiquitätengeschäft hatte er einen wunderschönen Schreibtisch entdeckt – genaugenommen einen Sekretär mit einer herausklappbaren Schreibplatte, die förmlich zum Schreiben einlud. Und er wollte immer frische Blumen im Zimmer haben, weil ihn ihre Schönheit erfreute und es ihm auch nichts ausmachte, täglich das Wasser zu wechseln, was Nell immer so lästig fand.
Tagsüber herrschte hier ein angenehmes, etwas gedämpftes Licht, wie ihm erst jetzt auffiel. Vielleicht sollte er sich einen Sessel oder ein Sofa ans Fenster stellen und es mit schweren Vorhängen drapieren. Da konnte er dann sitzen und lesen und Freunde einladen. Oder wen auch immer. Denn von seiner Familie hatte er nichts mehr zu erwarten, das war ihm jetzt klargeworden. Damit mußte er sich abfinden, anstatt sich der falschen Hoffnung hinzugeben, daß sich doch noch etwas ändern würde.
An einer Wand würde er ein Bücherregal aufstellen, und seine Cassetten konnte er ebenfalls hier unterbringen, bis er sich einen CD-Spieler zugelegt hatte. Aber vielleicht würde er sich gar keinen CD-Spieler kaufen, denn nun mußte er ja nicht mehr mit Tony O’Brien konkurrieren. Die übrigen Wände würde er mit Bildern schmücken, mit Fresken aus Florenz oder diesen herrlichen Porträts von Leonardo da Vinci. In diesem Zimmer konnte er sich Arien anhören und Zeitschriftenartikel über die großen Opern lesen. Wenn schon Mr. Walsh der Meinung war, daß es für Aidan ein Leben außerhalb der Schule gebe, war es an der Zeit, endlich damit zu beginnen. Mit seinem alten Leben war es ein für allemal vorbei. Von nun an würde er nicht mehr mit der Schule verheiratet sein. Aidan saß da und wärmte sich die Hände an der Kaffeetasse. Dieses Zimmer brauchte eine anständige Heizung, doch darum konnte man sich später kümmern. Und zusätzliche Lampen waren nötig, denn das harte Deckenlicht warf zu wenig Schatten, es hatte nichts Anheimelndes.
Da klopfte es an der Tür. Seine blonde Tochter Grania trat ein, schick gekleidet für ihr Rendezvous. »Ist alles in Ordnung, Daddy?« fragte sie. »Brigid hat gemeint, du wärst irgendwie ein bißchen komisch. Du bist doch nicht krank, oder?«
»Nein, mir geht’s gut«, antwortete er. Aber seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Und wenn es für ihn schon so klang, dann erst recht für Grania. Also zwang er sich zu einem Lächeln. »Hast du heute abend etwas Schönes vor?« erkundigte er sich.
Grania stellte erleichtert fest, daß ihr Vater schon wieder fast der alte war. »Das weiß ich noch nicht, ich bin mit einem ganz tollen Mann verabredet. Aber davon erzähle ich dir lieber ein andermal.« Ihr Gesichtsausdruck war so sanft und freundlich wie schon lange nicht mehr.
»Warum nicht jetzt gleich?« schlug er vor.
Verlegen trat sie von einem Bein aufs andere. »Nein, das geht erst, wenn ich sicher bin, daß etwas daraus wird. Aber wenn es etwas zu erzählen gibt, wirst du es als erster erfahren.«
Aidan überkam eine unsägliche Traurigkeit. Dieses Mädchen, das er früher an der Hand gehalten hatte, das über seine Späße gelacht und geglaubt hatte, er sei allwissend … dieses Mädchen konnte es nun kaum erwarten, wegzukommen. »Das freut mich«, meinte er.
»Daddy, sitz doch nicht so einsam in diesem kalten Zimmer herum.«
Er wollte ihr sagen, daß es für ihn überall kalt und einsam war, aber statt dessen entgegnete er nur: »Ich wünsche dir einen schönen Abend.«
Dann ging er zurück ins Wohnzimmer und setzte sich vor den Fernseher.
»Was willst du dir anschauen?« wandte er sich an Brigid.
»Worauf hättest du denn Lust, Daddy?« fragte sie zurück.
Anscheinend hatte ihn dieser Schlag tiefer getroffen, als er gedacht hatte; die nackte Enttäuschung und der Kummer über diese Ungerechtigkeit standen ihm zweifellos ins Gesicht geschrieben, wenn jede seiner beiden Töchter …
Er musterte sein jüngeres Kind, das sommersprossige Gesicht mit den großen braunen Augen, das ihm so lieb und vertraut war, seit er sie als Baby im Kinderwagen geschoben hatte. Normalerweise verhielt sie sich ihm gegenüber immer etwas gereizt, doch an diesem Abend sah sie ihn an wie einen Patienten, der auf einer Bahre in einem Krankenhausflur liegt – mit jenem kurzzeitig aufflackernden Mitgefühl, das man für einen fremden Menschen empfindet, dem es gerade sehr schlecht geht.
Bis halb zwölf Uhr saßen sie beieinander und sahen sich Sendungen an, die keinem von ihnen gefielen. Doch beide taten es mit froher Miene, weil sie glaubten, dem anderen einen Gefallen zu tun.
Als Nell um ein Uhr heimkam, lag Aidan im Bett. Das Licht war ausgeschaltet, aber er war wach und hörte, wie draußen das Taxi vorfuhr. Wenn Nell Spätschicht hatte, bezahlte ihr der Chef das Taxi nach Hause.
Leise betrat sie das Zimmer. Aidan roch Zahnpasta und Talkumpuder. Also hatte Nell sich im Badezimmer gewaschen, anstatt das Waschbecken im Schlafzimmer zu benutzen, was ihn hätte stören können. Das Licht ihrer Nachttischlampe leuchtete auf das Buch hinab, das sie gerade las, und blendete ihn nicht, wenn er, wie so oft, wach lag und auf das Rascheln beim Umblättern hörte. Keine Unterhaltung zwischen ihnen konnte je so interessant sein wie die Taschenbücher, die Nell und ihre Freundinnen und Schwestern verschlangen. So blieb Aidan auch heute stumm.
Selbst in dieser Nacht, da ihm das Herz schwer wie Blei war und er seine Frau in die Arme nehmen wollte, da er sich an ihrer weichen, frisch duftenden Haut ausweinen und ihr von Tony O’Brien erzählen wollte. Von Tony O’Brien, der ihm nicht das Wasser reichen konnte und trotzdem zum Direktor befördert werden würde, weil er angeblich mehr »Führungsqualitäten« besaß, was immer damit gemeint sein mochte. Außerdem hätte Aidan seiner Frau gerne gesagt, wie sehr er es bedauerte, daß sie hinter einer Kasse sitzen und reichen Leuten zuschauen mußte, wie sie aßen, sich betranken und anschließend die Rechnung bezahlten … weil das immer noch interessanter war als alles andere, was ein Ehepaar mit zwei erwachsenen Töchtern an einem Montagabend unternehmen könnte. Doch er lag nur da und hörte von ferne den Stundenschlag der Rathausuhr.
Gegen zwei Uhr legte Nell mit einem leisen Seufzer ihr Buch auf den Nachttisch. Sie rollte sich auf ihrer Seite des Bettes zusammen und schien so weit entfernt von ihm, als läge sie im Zimmer nebenan. Als die Rathausglocke vier Uhr schlug, wurde Aidan bewußt, daß Grania nur noch drei Stunden Schlaf bekommen würde, ehe sie zur Arbeit mußte.
Aber darauf hatte er keinen Einfluß. Es war ausgemachte Sache, daß die Mädchen ihr eigenes Leben lebten und ihnen niemand hineinredete. Obwohl Aidan nicht ganz wohl dabei gewesen war, hatte er sich damit einverstanden erklärt, daß die Mädchen die Beratungsstelle für Familienplanung aufsuchten. Sie kamen heim, wann es ihnen paßte, und wenn sie wegblieben, riefen sie um acht Uhr während des Frühstücks an, um zu sagen, daß alles in Ordnung sei und sie bei einer Freundin übernachtet hätten. Das war eine höfliche Floskel, hinter der weiß der Himmel was stecken konnte. Allerdings behauptete Nell, oft sei es auch die reine Wahrheit, und lieber sollten Grania und Brigid bei einer Freundin übernachten, als sich von einem Betrunkenen heimfahren zu lassen oder in den frühen Morgenstunden vergeblich auf ein Taxi zu warten.
Trotzdem war Aidan erleichtert, als er hörte, wie die Haustür aufgesperrt wurde und flinke Schritte die Treppe heraufhuschten. In ihrem Alter konnte Grania auch einmal mit nur drei Stunden Schlaf auskommen. Und das waren immerhin drei Stunden mehr, als er haben würde.
Die verrücktesten Pläne gingen ihm durch den Kopf. Er könnte aus Protest beim Mountainview College kündigen. Bestimmt würde er auch an einer Privatschule unterkommen, die mit Intensivkursen speziell auf den Abschluß vorbereitete. Ihn als Lateinlehrer würden sie dort mit Kußhand nehmen. Es gab ja viele Berufe, für die man auch heute noch Lateinkenntnisse benötigte. Er konnte bei der Schulbehörde Einspruch erheben und seine Verdienste um die Schule aufzählen – seine vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten, um das gesellschaftliche Ansehen der Schule zu fördern; seine berufsorientierenden Veranstaltungen, in denen Referenten mit den Schülern diskutierten und ihnen praktische Tips für das Berufsleben gaben; sein Ökologieunterricht mit Anschauungsbeispielen aus dem Naturgarten.
Dabei konnte er zwischen den Zeilen durchblicken lassen, daß Tony O’Brien ein schädliches Element war. Allein die Tatsache, daß er auf dem Schulgelände gewaltsam gegen einen ehemaligen Schüler vorgegangen war, hatte eine verheerende Signalwirkung auf diejenigen, denen er eigentlich ein Beispiel sein sollte. Oder sollte Aidan einen anonymen Brief an verschiedene Mitglieder der Schulbehörde schicken, zum Beispiel an den sympathischen Priester mit dem offenen Gesicht und die ziemlich streng wirkende Nonne, die von Tony O’Briens lockeren Moralvorstellungen womöglich keine Ahnung hatten? Vielleicht sollte er mit ein paar Eltern eine Bürgerinitiative gründen? Es gab so viele Möglichkeiten.
Oder sollte er doch Mr. Walshs Worte beherzigen und sich ein Leben außerhalb der Schule aufbauen? Er konnte das Eßzimmer in ein letztes Bollwerk gegen die Enttäuschungen seines Lebens verwandeln. Aidans Kopf fühlte sich so schwer an, als hätte ihm jemand ein Bleigewicht um den Hals gehängt. Schließlich hatte er die ganze Nacht kein Auge zugetan.
Er verwandte viel Sorgfalt auf seine Rasur, denn er wollte nicht mit kleinen Heftpflastern im Gesicht in der Schule erscheinen. Währenddessen schaute er sich im Badezimmer um, als sähe er es zum erstenmal. Auf jedem freien Fleckchen Wand hingen Kunstdrucke von Venedig, Reproduktionen von Turner-Gemälden, die Aidan bei einem Besuch in der Tate Gallery gekauft hatte. Als die Kinder klein gewesen waren, hatten sie immer vom »Venedig-Zimmer« anstatt vom Badezimmer gesprochen. Heute sahen sie die Bilder wahrscheinlich gar nicht mehr; sie waren eins geworden mit der Tapete, die sie fast völlig verdeckten.
Während Aidan mit dem Finger über die Bilder strich, fragte er sich, ob er jemals wieder an diese Orte kommen würde. Als junger Mann war er zweimal dort gewesen. Auch die Flitterwochen hatten sie in Italien verbracht, wo er Nell sein Venedig, sein Rom, sein Florenz und sein Siena gezeigt hatte. Es war eine wundervolle Zeit gewesen, doch sie waren nie wieder hingefahren. Als die Mädchen noch klein gewesen waren, hatte es am Geld oder an der Zeit gefehlt, und später … tja … wer wäre dann noch mitgefahren? Und wenn er allein gereist wäre, hätte er damit ein Zeichen gesetzt. Trotzdem würde er künftig vielleicht einmal Zeichen setzen müssen, und er war doch noch nicht so abgestumpft, daß ihn die Schönheit Italiens nicht mehr reizen konnte, oder?
Irgendwann hatte es sich bei ihnen eingebürgert, daß beim Frühstück nicht viel gesprochen wurde. Und als Ritual funktionierte es reibungslos. Um acht Uhr war der Kaffee fertig, und zu den Nachrichten wurde das Radio eingeschaltet. Jeder bediente sich selbst. Eine farbenfrohe italienische Schale mit Pampelmusen prangte auf dem Tisch, der Brotkorb war frisch gefüllt, und der Toaster stand auf einem Tablett, auf dem der Trevi-Brunnen abgebildet war. Das hatte Nell ihm zum vierzigsten Geburtstag geschenkt. Um zwanzig nach acht verließen Aidan und die Mädchen das Haus, nachdem sie ihre Teller und Tassen in die Geschirrspülmaschine gestellt hatten, damit Nell weniger Arbeit hatte.
Seine Frau konnte sich nicht beklagen, fand Aidan. Was er ihr versprochen hatte, hatte er auch gehalten. Zwar wohnten sie nicht in einem eleganten Haus, aber es war mit Heizkörpern und Haushaltsgeräten ausgestattet, und er bezahlte dafür, daß dreimal jährlich die Fenster geputzt wurden, alle zwei Jahre der Teppich gereinigt und alle drei Jahre die Hausfassade gestrichen wurde.
Laß doch dieses alberne Spießerdenken, ermahnte sich Aidan, setzte ein Lächeln auf und bereitete sich auf seinen Aufbruch vor.
»Hattest du gestern einen schönen Abend, Grania?« fragte er.
»Ja, war schon okay.« Von der Atmosphäre vager Vertraulichkeit, die sich am Vorabend entwickelt hatte, war nichts mehr zu spüren. Grania verlor kein Wort darüber, ob ihr Bekannter es ernst meinte oder nicht.
»Gut«, nickte Aidan. »War im Restaurant viel Betrieb?« wandte er sich dann an Nell.
»War ganz in Ordnung für einen Montagabend, nichts Aufregendes«, antwortete sie freundlich. Aber es klang, als redete sie mit einem Fremden im Bus.
Aidan nahm seine Aktentasche und machte sich auf den Weg zur Schule. Zum Mountainview College, mit dem er verheiratet war … was für ein absurder Gedanke! An diesem Morgen hätte ihm die Schule gestohlen bleiben können.
Einen Moment lang blieb er am Tor des Schulhofs stehen. Hier hatte der unwürdige, brutale Kampf zwischen Tony O’Brien und diesem Jungen stattgefunden; danach hatte der Junge mehrere gebrochene Rippen gehabt, und die Platzwunden über dem Auge und an der Unterlippe hatten genäht werden müssen. Es war schmutzig im Hof, der Morgenwind wirbelte Unrat auf. Der Fahrradschuppen mußte gestrichen werden, die Räder waren nicht ordentlich abgestellt. Und die Bushaltestelle vor dem Tor war offen und ungeschützt. Wenn die Busgesellschaft nicht ein richtiges Wartehäuschen für die Kinder aufstellte, würde sich die Schulbehörde darum kümmern. Und wenn diese sich weigerte, würde eine Elterninitiative Spenden dafür sammeln. Derlei Dinge hatte sich Aidan Dunne vorgenommen, wenn er Direktor war. Aber jetzt würden sie nie mehr in die Tat umgesetzt werden.
Den Kindern, die ihn grüßten, nickte er mürrisch zu, anstatt sie wie sonst namentlich anzusprechen. Als er ins Lehrerzimmer kam, traf er dort lediglich Tony O’Brien an, der gerade eine Kopfschmerztablette in einem Glas Wasser auflöste.
»Ich werde allmählich zu alt für diese langen Nächte«, vertraute er Aidan an.
Aidan hätte ihn am liebsten gefragt, warum er sich dann darauf einließ, doch das wäre unklug gewesen. Er durfte keinen unbedachten Schritt machen, ja am besten unternahm er gar nichts, bis er sich einen Plan zurechtgelegt hatte. Also mußte er weiterhin den höflichen, wohlwollenden Kollegen spielen.
»Immer nur Arbeit ist doch auch nichts …«, fing er an.
Doch Tony O’Brien wollte keine Platitüden hören. »Ich finde, mit fünfundvierzig hat man eine Art Schallgrenze erreicht. Es ist immerhin die Hälfte von neunzig, das sagt alles. Auch wenn es nicht unbedingt jeder hören will.« Er leerte das Glas und leckte sich die Lippen.
»Hat es sich wenigstens gelohnt, ich meine, so lange aufzubleiben?«
»Wer weiß schon, ob es sich je lohnt, Aidan? Ich habe ein nettes junges Mädchen kennengelernt, aber was hat man schon davon, wenn man danach vor seiner Mittelstufenklasse stehen muß?« Tony O’Brien schüttelte sich wie ein Hund, der gerade aus dem Wasser kommt. Und dieser Kerl würde die nächsten zwanzig Jahre das Mountainview College leiten, während der arme alte Mr. Dunne hilflos dasitzen und es mit ansehen mußte. Tony O’Brien gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter. »Wie auch immer, ave atque vale, wie ihr Lateiner sagt. Ich muß los, es sind nur noch vier Stunden und drei Minuten, ehe ich mir ein heilsames Bierchen genehmigen kann.«
Daß Tony O’Brien die lateinische Redewendung für »Hallo und auf Wiedersehen« kannte, hätte Aidan nicht gedacht. Er selbst benutzte nie lateinische Ausdrücke im Lehrerzimmer, denn er wußte, daß viele seiner Kollegen diese Sprache nicht beherrschten, und wollte nicht als Angeber gelten. Aber das bewies nur, daß man seinen Feind nicht unterschätzen durfte.
Der Tag verging wie jeder andere, egal, ob man einen Kater hatte wie Tony O’Brien oder sich grämte wie Aidan Dunne, dann verging der nächste Tag und der übernächste. Noch immer hatte Aidan sich nicht auf eine bestimmte Vorgehensweise festgelegt. Er fand nie den geeigneten Moment, um zu Hause kundzutun, daß sich seine Hoffnungen auf den Posten des Direktors zerschlagen hatten. Tatsächlich hielt er es sogar für das Beste, gar nichts zu sagen, bis die Entscheidung gefallen war, so daß es aussah, als käme sie für alle überraschend.
Und den Plan, sich ein eigenes Zimmer einzurichten, hatte er nicht vergessen. Er verkaufte den Eßtisch und die Stühle und erstand den kleinen Sekretär. Während seine Frau in Quentin’s Restaurant arbeitete und seine Töchter ausgingen, saß er da und überlegte sich, wie es aussehen sollte. Stück für Stück trug er zusammen, um seinen Traum zu verwirklichen: Bilderrahmen aus einem Secondhand-Laden, ein großes, billiges Sofa, das genau in die Fensternische paßte, dazu einen niedrigen Tisch. Und demnächst würde er sich Überwürfe besorgen, in Gold oder Gelb, in irgendeiner sonnigen Farbe, und einen quadratischen Teppich in einem anderen Farbton, orange oder purpurrot, etwas Lebhaftes, Leuchtendes.
Die anderen zu Hause interessierten sich kaum für sein Vorhaben, also erzählte er nichts davon. Offensichtlich glaubten seine Frau und seine Töchter, das Ganze sei nur wieder eines seiner kleinen, harmlosen Steckenpferde – wie die Projekte im Übergangsjahr und sein langer Kampf um einen wenige Quadratmeter großen Naturgarten in der Schule.
»Schon was gehört wegen dem Direktorenposten in der Schule?« fragte Nell unerwartet eines Abends, als sie zu viert am Küchentisch saßen.
Es gab ihm einen Stich ins Herz, als er log: »Nicht das geringste. Aber nächste Woche wird darüber abgestimmt, soviel steht fest.« Er gab sich ruhig und gelassen.
»Du kriegst ihn bestimmt. Der alte Walsh hat doch einen Narren an dir gefressen«, meinte Nell.
»Nur hat Walsh leider kein Stimmrecht, also hilft mir das überhaupt nichts«, erwiderte Aidan mit einem kurzen, nervösen Lachen.
»Es ist aber doch sicher, daß du ihn bekommst, oder, Daddy?« hakte Brigid nach.
»Das kann man nie wissen. Von einem Direktor werden ganz andere Fähigkeiten verlangt. Ich bin eher besonnen und bedächtig, aber möglicherweise sind das nicht die Eigenschaften, auf die es heutzutage ankommt.« Aidan breitete die Arme aus, um auszudrücken, daß all dies nicht in seiner Macht lag, aber daß es ihm auch gleichgültig war.
»Aber wen sollten sie denn nehmen, wenn nicht dich?« erkundigte sich Grania.
»Wenn ich das wüßte, könnte ich die Tageshoroskope für die Zeitung schreiben. Vielleicht jemanden von außerhalb, vielleicht auch einen aus dem Kollegium, den wir nicht in Betracht gezogen haben …« Er klang gutmütig und um Objektivität bemüht. Es würde eben der oder die Beste die Stelle bekommen. Ganz einfach.
»Aber du glaubst doch nicht etwa, daß sie dich einfach links liegenlassen werden?« fragte Nell.
Etwas an ihrem Tonfall paßte ihm nicht. Ihre Stimme klang irgendwie ungläubig, als könnte sie es nicht fassen, daß er sich diese Chance womöglich entgehen ließ. Und der Ausdruck »links liegenlassen« wirkte so wegwerfend, so verletzend. Aber Nell war ja völlig ahnungslos. Woher sollte sie auch wissen, daß die Entscheidung bereits gefallen war?
Aidan setzte ein zuversichtliches Lächeln auf. »Mich links liegenlassen? Niemals!« rief er.
»So gefällst du mir schon besser, Daddy«, meinte Grania, ehe sie nach oben ins Badezimmer ging, um sich wieder ihrer Schönheitspflege zu widmen. Die hübschen Venedig-Bilder an den Wänden nahm sie bestimmt gar nicht mehr wahr, sie konzentrierte sich lediglich auf ihr Spiegelbild. Offenbar wollte sie für ihre wie auch immer gearteten Unternehmungen an diesem Abend möglichst hübsch sein.
Heute trafen sie sich zum sechstenmal. Inzwischen wußte Grania mit Sicherheit, daß er nicht verheiratet war. Das hatte sie mit ihren beharrlichen Fragen allmählich aus ihm herausbekommen. Bisher hatte er sie jeden Abend gebeten, doch noch auf einen Kaffee zu ihm mitzugehen. Und bisher hatte sie jedesmal abgelehnt. Doch heute abend vielleicht nicht mehr. Sie mochte ihn wirklich. Er war so gescheit und gebildet und viel interessanter als die Leute in ihrem Alter. Und er hatte auch nichts mit diesen angegrauten Möchtegern-Jugendlichen gemein, die so taten, als seien sie zwanzig Jahre jünger.
Es gab nur ein Problem: Tony arbeitete in Dads Schule. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie Tony gefragt, ob er einen Aidan Dunne kenne, hatte aber nicht erwähnt, daß er ihr Vater war. Sonst hätte Tony womöglich gemeint, sie wolle auf den Altersunterschied zwischen ihnen anspielen. Außerdem war der Name Dunne hier in der Gegend so häufig, daß Tony keinen Zusammenhang sehen würde. Sie würde Daddy erst davon erzählen, wenn die Beziehung enger geworden war – falls es dazu kam. Und wenn er wirklich der Mann fürs Leben war, würde sich alles übrige – wie die Tatsache, daß er und Daddy an derselben Schule unterrichteten – von selbst regeln. Grania schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse und überlegte, daß Tony sogar noch netter zu ihr sein würde, wenn ihr Vater Direktor war.
Tony saß in der Bar und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Eine dieser Gewohnheiten, die er einschränken mußte, wenn er Direktor war. Mit dem Rauchen in der Schule mußte Schluß sein. Und mittags durfte er wohl auch nicht mehr so tief ins Glas schauen; obwohl man ihn nicht ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, war es ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen. Doch das war auch schon alles. Kein allzu hoher Preis für einen guten Posten. Und nach seinem Privatleben fragte niemand. Mochte Irland auch noch immer erzkatholisch sein – man lebte schließlich in den neunziger Jahren.
Und durch einen glücklichen Zufall hatte er ausgerechnet jetzt ein Mädchen kennengelernt, das ihn wirklich faszinierte und mit dem er durchaus länger als nur ein paar Wochen zusammensein wollte. Ein intelligentes, lebhaftes Mädchen namens Grania, eine Bankangestellte. Sie war ziemlich auf Draht, aber überhaupt nicht spröde oder schwierig, sondern warmherzig und offen. So jemanden fand man nicht an jeder Straßenecke. Allerdings war sie erst einundzwanzig, was natürlich ein gewisses Problem darstellte. Nicht einmal halb so alt wie er, doch das würde ja nicht immer so bleiben. Wenn er sechzig war, würde sie fünfunddreißig sein, was, so betrachtet, bereits die Hälfte von siebzig war. Mit der Zeit würde sie immer mehr aufholen.
Sie hatte nicht in sein Stadthaus mitgehen wollen, aber sie hatte ganz freimütig darüber gesprochen. Es liege nicht daran, daß sie Angst vor Sex habe, sie sei ganz einfach noch nicht dazu bereit, mit ihm zu schlafen. Und wenn sie eine Beziehung haben wollten, müßten sie sich gegenseitig respektieren, keiner dürfe den anderen zu etwas zwingen. Damit war er einverstanden gewesen, es erschien ihm nur fair. Ja, diesmal schon. Normalerweise hätte er eine solche Antwort als Herausforderung empfunden, aber nicht bei Grania. Er war durchaus bereit abzuwarten. Und sie hatte ihm versichert, daß sie keine Spielchen mit ihm treiben würde.