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»Auf jeder Seite zeigt uns Lane Fox, warum wir die Antike so lieben.« Die Welt Ein großartiges Panorama antiker Geschichte, so fulminant erzählt wie ein historischer Roman. Auf den Spuren des antikenbegeisterten römischen Kaisers Hadrian, der um 120 n. Chr. begann, sein gesamtes Imperium von Schottland bis Ägypten zu bereisen, lässt Robin Lane Fox die Antike lebendig werden,von den homerischen Epen über die Erfindung der Demokratie und den stürmischen Aufstieg des Alexanderreichs bis zur römischen Kaiserzeit und den Anfängen des Christentums. Die Fülle der historischen Ereignisse von 1000 Jahren ordnet der Autor entlang dreier Leitthemen: Freiheit, Gerechtigkeit und Luxus - Themen, die schon in der Antike und bis zum heutigen Tag die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft bestimmen. »Mit dem Feuer einer durch Geschmack und Humor gezügelten Passion für die Antike: Robin Lane Fox erzählt eine hinreißende Geschichte der Klassischen Welt von Homer bis Hadrian.« Frankfurter Allgemeine Zeitung »Robin Lane Fox hat ein opulentes Epos der griechisch-römischen Geschichte verfasst. Er kann brillant schreiben.« Süddeutsche Zeitung
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Seitenzahl: 1296
ROBIN LANE FOX
DIE KLASSISCHE WELT
EINE WELTGESCHICHTE VON HOMER BIS HADRIAN
Aus dem Englischen von Ute Spengler
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»The Classical World. An Epic History of Greece and Rome«
im Verlag Penguin Books, London
© Robin Lane Fox, 2005, 2006
Für die deutsche Ausgabe
© 2010, 2024 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und
Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten
Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg
unter Verwendung einer Abbildung von akg images/Erich Lessing
Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98835-2
E-Book ISBN 978-3-608-12349-4
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Martha
Тóσσα παθούση
Nur Laertes fand er im schöngeordneten Fruchthain
um ein Bäumchen die Erde auflockern. Ein schmutziger Leibrock
deckt’ ihn, geflickt und grob, und seine Schenkel umhüllten
gegen die ritzenden Dornen geflickte Stiefel von Stierhaut
und Handschuhe die Hände der Disteln wegen, den Scheitel
eine Kappe von Ziegenfell. So traurte sein Vater.
Als er ihn jetzo erblickte, der herrliche Dulder Odysseus,
wie er vom Alter entkräftet und tief in der Seele betrübt war,
sah er ihm weinend zu im Schatten des ragenden Birnbaums.
Odysseus sieht seinen Vater wieder:
Homer, Odyssee 24,226–234 (Übers. J.H. Voß)
Dieses prächtige Grab aus trefflich gemeißeltem Marmor
schließt den Leib eines Toten in sich, eines großen Heroen,
des Zenodot. Seine Seele fuhr aufwärts zum Himmel, wo Orpheus
und wo Platon die heilge, gottbergende Wohnstatt gefunden.
Denn er ist Ritter des Kaisers gewesen voll tapferem Mute,
ruhmreich, redegewandt und göttlich. In seinen Gesprächen
war er des Sokrates Bild im Kreise ausonischer Männer.
Sterbend als rüstiger Greis, hinterließ er den Kindern ein reiches,
glückliches Erbteil zu eigen und unermesslichen Kummer
seinen Freunden erlauchten Geblüts, der Stadt und den Bürgern.
Anthologia Graeca 7,363,
vielleicht von Kaiser Hadrian selbst verfasst
(Übers. H. Beckby)
Vorwort
Hadrian und die klassische Welt
Teil IDie archaische griechische Welt
1 Die Epik Homers
2 Die griechischen Niederlassungen
3 Aristokraten
4 Die unsterblichen Götter
5 Tyrannen und Gesetzgeber
6 Sparta
7 Die Ostgriechen
8 Auf dem Weg zur Demokratie
9 Die Perserkriege
10 Die Westgriechen
Teil IIDie Welt der griechischen Klassik
11 Eroberung und imperiale Macht
12 Griechische Kultur im Wandel
13 Perikles und Athen
14 Der Peloponnesische Krieg
15 Sokrates
16 Kämpfe für Freiheit und Recht
17 Frauen und Kinder
18 Philipp von Makedonien
19 Die zwei Philosophen
20 Die Athener im 4. Jahrhundert
Teil IIIHellenistische Welten
21 Alexander der Grosse
22 Die Thronfolge
23 Das Leben in den großen Städten
24 Steuern und technische Neuerungen
25 Die neue Welt
26 Rom greift aus
27 Der Frieden der Götter
28 Befreiung im Süden
29 Hannibal und Rom
30 Diplomatie und Dominanz
Teil IVDie römische Republik
31 Luxus und Libertinage
32 Turbulenzen daheim und jenseits der Grenzen
33 Die Triumphe des Pompeius
34 Die Welt Ciceros
35 Der Aufstieg Julius Caesars
36 Das Gespenst des Bürgerkriegs
37 Die verhängnisvolle Dictatur
38 Die verratene Freiheit
Teil VVon der Republik zum Kaiserreich
39 Antonius und Kleopatra
40 Wie einer zum Kaiser wird
41 Moral und Gesellschaft
42 Sport und andere Spektakel
43 Die römische Armee
44 Das neue Zeitalter
Teil VIEine imperiale Welt
45 Die julisch-claudische Dynastie
46 Die Herrschaft über die Provinzen
47 Das Kaiserreich und die Folgen
48 Das Christentum und die Herrschaft Roms
49 Ein Vierkaiserjahr
50 Die neue Dynastie
51 Die letzten Tage von Pompeji
52 Ein Aufsteiger bei der Arbeit
53 Ein Heide und Christen
54 Regimewechsel daheim und an den Grenzen
55 Die Darstellung der Vergangenheit
Hadrian: Ein Blick zurück
Anhang
Anmerkungen
Auswahlbibliographie
Verzeichnis der Karten
Register
Über die Geschichte von etwa neun Jahrhunderten zu berichten ist eine anspruchsvolle Aufgabe, zumal angesichts des verstreuten und verschiedenartigen Quellenmaterials. Doch der Anspruch hatte seinen Reiz. Fachkenntnisse setze ich nicht voraus, hoffe aber, dass meine Darstellung die Aufmerksamkeit der Leser wecken und fesseln kann. Ich würde mir wünschen, dass sie diesen Kosmos der Antike mit dem Eindruck verlassen, dass darin bei größter Vielfalt dennoch Zusammenhänge zu erkennen sind und dass sie sich angeregt fühlen, den einen oder anderen Teil, besonders dort, wo ich straffen musste, auf eigenen Wegen weiterzuverfolgen.
Ich habe mich nicht an die konventionelle thematische Darstellungsweise gehalten, die nach Fragestellungen gliedert und in einem einzigen Kapitel tausend Jahre »Männerwelt und Frauenwelt« oder »Wege zum täglichen Brot« abhandelt. Aus theoretischen Überlegungen habe ich eine narrative Grundstruktur gewählt. Ich glaube, dass sich, wenn wechselnde Machtbeziehungen durch Ereignisse einschneidend verändert werden, meist auch die Bedeutung und der Zusammenhang solcher Themen ändern und dass diese Veränderungen bei einer schlichten thematischen Darstellung unter den Tisch fallen. Mein Ansatz wird auch in Bereichen der modernen medizinischen Theorie (Evidenz-basierte Medizin), der Sozialwissenschaften (Theorie der Pfadabhängigkeit) und der Literaturwissenschaft (Diskursanalyse) verfolgt. Ich verdanke ihn allerdings eher der beschwerlichen alten Methode des Historikers, die Zeugnisse zu befragen, sie im Sinn des Mitgeteilten (nicht gegen den Strich) zu lesen, um das Gesagte noch genauer zum Sprechen zu bringen, und beständig Wendepunkte und wichtige Entscheidungen im Blick zu behalten, deren Folgen durch ihren Kontext zwar mitbestimmt, nicht aber vorherbestimmt wurden.
Ich hatte schwierige Entscheidungen zu treffen und mich gerade dort, wo ich meine, Spezialist zu sein, mit kürzeren Ausführungen zu bescheiden. Ein Teil von mir schaut noch immer zu Homer zurück, ein anderer zu den noch immer grünenden Obstgärten nahe Lefkadia in Makedonien, wo mein Grabgewölbe, bemalt mit meinen drei mächtigen Pferden, reich gefüllten Rosen, baktrischen Tänzerinnen und, wie es scheint, mythischen Frauengestalten, darauf wartet, dass die bewährten Ephoren des Griechischen Archäologischen Dienstes im Jahr 2056 darangehen, es zu entdecken.
Ich habe eine Schlüsselepoche, die Jahre 60–9 v.Chr., in der Erzählung nicht nur deshalb etwas ausführlicher behandelt, weil sie für die Rolle meines fiktiven Lesers, des Kaisers Hadrian, so bedeutungsvoll waren. Sie sind auch für mein postmakedonisches Auge voller Dramatik und zu Beginn außerdem mit den Briefen Ciceros verknüpft, dieser unerschöpflichen Quelle für alle Historiker der Alten Welt.
Für fachkundige Hilfe bei den Illustrationen bin ich Fiona Greenland zu großem Dank verpflichtet. Der Schutzumschlag war die Wahl des Verlags, im Übrigen stammen die Beschreibungen der Illustrationen von mir. Sehr dankbar bin ich auch Stuart Proffitt für seine Kommentare zum ersten Teil, die mich zwangen, den Text noch einmal vorzunehmen, sowie Elizabeth Stratford für kompetentes Lektorieren und Korrigieren. Vor allem aber geht mein Dank an zwei ehemalige Schüler, die das Manuskript in elektronische Daten verwandelten – zunächst Luke Streatfeild und dann besonders Tamsin Cox, dessen Können und Geduld für dieses Buch die wesentliche Unterstützung waren.
Folgendes wurde [beschlossen] ... vom Rat und Volk der Bürger von Thyatira: diesen Erlass auf eine steinerne Stele zu schreiben und sie auf der (Athener) Akropolis aufzustellen, so dass für alle Griechen ersichtlich [sein] könne, wieviel Thyatira vom größten aller bisherigen Könige erhalten hat ... er (Hadrian) begünstigte die Gemeinschaft aller Griechen, als er, ein Geschenk für alle und jeden, einen Rat aus allen unter ihnen in die glanzvollste Stadt Athen, die Wohltäterin, zusammenrief ... und als die [Römer] auf seinen Vorschlag [diesem] verehrungswürdigen Panhellenion [durch Erlass] des Senats und auch als Einzelne zustimmten, [gab] er den Tribus und den Städten einen Anteil an diesem höchst ehrenwerten Rat ...
Inschrift eines Erlasses, Hadrians Panhellenion betreffend, gefunden in Athen (um 119/20 n.Chr.)
Die Antike, oder das klassische Altertum, wie wir die Welt der alten Griechen und Römer auch nennen, liegt etwa 40 Menschenalter zurück. Aber mit ihrem Menschenbild, in dem auch wir uns erkennen, fordert sie uns bis heute zur Auseinandersetzung heraus. Antiken Ursprungs ist das Wort klassisch selbst. Es geht zurück auf das lateinische classicus, die Bezeichnung für die Rekruten der »ersten Klasse«, die schwere Infanterie des römischen Heeres. Das Klassische ist also »erste Klasse« – wenn auch nicht mehr schwer gerüstet –, es ist erstklassig. Wohl ließen sich Griechen und Römer immer wieder von zahlreichen Nachbarkulturen befruchten – so von der persischen, phönikischen, ägyptischen und jüdischen –, und ihre Geschichte war zeitweise mit der Geschichte dieser Völker verknüpft. Aber als erstklassig gelten in ihrer Welt wie der unseren zu Recht die Kunst, Literatur und Philosophie, die Denkweise und die Politik, die ihnen selbst eigen war.
In der langen Geschichte dieser antiken Welt wurden im Laufe der Zeit zwei Epochen und Orte als die eigentlich klassischen wahrgenommen: Athen im 5. und 4.Jahrhundert v.Chr. und Rom in der Zeit vom 1. vorchristlichen Jahrhundert bis ins Jahr 14 n.Chr. – die Welt Julius Caesars und später die Herrschaft des Augustus, des ersten römischen Kaisers, eine Einschätzung, die schon in der Antike selbst üblich war. Bereits zur Zeit Alexanders des Großen herrschte die auch für uns maßgebliche Überzeugung, dass die Werke bestimmter Dramatiker des 5.Jahrhunderts v.Chr. »Klassiker« sind. Im Hellenismus, der Zeit von etwa 330 bis 30 v.Chr., favorisierten Künstler und Architekten einen den klassischen Künsten des 5.Jahrhunderts nachempfundenen, »klassizistischen« Stil. Dann präsentierte sich Ende des 1.Jahrhunderts v.Chr. Rom als Zentrum klassizistischer Kunst und Kultur, und das klassische Griechenland, mit dem Akzent auf Athen, wurde in Abgrenzung gegen orientalische Stilexzesse zum Musterbeispiel guten Geschmacks erhoben.
Meine Geschichte der klassischen Welt beginnt mit einem Klassiker der vorklassischen Zeit, dem epischen Dichter Homer, der schon für die Alten, nicht anders als für alle Leser der heutigen Welt, eine Klasse für sich darstellt. Seine großen Gesänge sind die erste schriftlich überlieferte Literatur in griechischer Sprache. Von der Epoche Homers um 730 v.Chr. ausgehend, verfolge ich die Entwicklung des klassischen Griechenland und seiner prägenden Werte und Vorstellungen im 5. und 4.Jahrhundert v.Chr. bis zum Ende dieser Ära 400 Jahre nach der (wahrscheinlichen) Lebenszeit Homers und richte den Blick dann auf Rom und auf die Herausbildung einer klassischen Zeit römischer Provenienz in den Jahren um 50 v.Chr. bis 14 n.Chr. – von Julius Caesar bis zu Augustus. Den Abschluss meiner historischen Darstellung bildet die Regierung Hadrians, des römischen Kaisers der Jahre 117 bis 138 n.Chr. Kurz darauf bezeugen die schriftlich überlieferten Gespräche Frontos, des Tutors der Kinder von Hadrians Nachfolger, die erste Verwendung des Begriffs Klassiker zur Bezeichnung der besten Autoren.1
Warum aber die Entscheidung, den Schlusspunkt gerade mit Hadrian zu setzen? Zum einen, weil die klassische Literatur, so wie sie mit Homer begann, mit der Regierungszeit Hadrians zu Ende geht: Ihr letzter weithin anerkannter Vertreter im lateinischen Sprachraum ist der Satiriker Juvenal. Allerdings ist diese Begründung nicht ganz ohne Willkür und einem Kanon verpflichtet, den anzuerkennen all denen schwerfallen wird, die auch spätere Autoren in ihre Lektüre einbeziehen und den Schriftstellern des 4. und 5.Jahrhunderts n.Chr. unvoreingenommen gegenüberstehen. Stichhaltiger ist das Argument, dass Hadrian selbst unbestreitbar Vorlieben klassischer Prägung erkennen ließ – in seinen Plänen für die Stadt Athen und in vielen Gebäuden, die unter seiner Schirmherrschaft entstanden, aber auch in Eigenheiten seines persönlichen Stils. Sein Blick zurück in eine klassische Welt war nichts weniger als selbstbewusst, obwohl zu seinen Lebzeiten die sogenannte römische Welt bereits befriedet war und eine gewaltige Ausdehnung erreicht hatte. Hadrian kann aber auch deshalb als bemerkenswert gelten, weil er sich als einziger Kaiser ein Bild dieser Welt aus erster Hand verschaffte, eine Erfahrung, die wir nur allzu gern mit ihm teilen würden. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des 2. nachchristlichen Jahrhunderts unternahm er mehrere ausgedehnte »Bildungsreisen« durch ein Imperium, das sich von Britannien bis ans Rote Meer erstreckte. Er weilte in Athen, dem klassischen Mittelpunkt dieses Reichs; er reiste zu Schiff und zu Pferde, ein geübter Reiter Mitte vierzig, der mit Vergnügen die lokalen Gelegenheiten zum Jagen nutzte. Er zog weit in die Ferne, in Länder unter Roms Herrschaft, in die kein Athener der klassischen Zeit jemals den Fuß gesetzt hatte. Seine Reiserouten können wir ungewöhnlich gut verfolgen, denn uns liegen die Münzen vor, die eigens zum Gedenken an seine Reisen geprägt wurden. Sogar in Gegenden außerhalb der klassischen Welt sind sie lebensvolle Zeugen der Bewunderung, die Hadrian und seine Zeitgenossen der klassischen Vergangenheit entgegenbrachten.2
Diese Münzen zeigen eine Personifikation jeder Provinz in Hadrians Römischem Reich, gleichgültig, ob sie bis in die alten klassischen Zeiten zurückgingen oder nicht. So ist das nichtklassische Germanien als barbrüstige Kriegerin dargestellt, während eine damenhafte liegende Figur das ebenfalls nichtklassische Spanien verkörpert, einen großen Olivenzweig in der Hand, Symbol für Spaniens exzellentes Olivenöl, neben sich ein Exemplar der notorisch fruchtbaren spanischen Kaninchen. Der größte Teil Iberiens und ganz Germanien waren den Griechen der ältesten klassischen Zeit unbekannt, aber der elegante »klassizistische« Stil ihrer prächtigen Darstellung auf den Münzen verbindet diese Regionen mit dem ästhetischen Empfinden des Hellenismus. Der Formsinn Hadrians und der Künstler aus dem Kreis der »Hadrianischen Schule«, die diese Bilder entwarfen, bildete sich vor dem Hintergrund einer klassischen Welt, wie man sie damals vor Augen hatte – auf der Grundlage der 400 oder 500 Jahre zurückliegenden klassischen griechischen Kunst. Deren Beispiele konnten die Römer nach Belieben bewundern, weil ihre Vorfahren sie als Kriegsbeute in ihre eigenen Häuser und Städte verbracht hatten.
Seine großen Reisen nach Griechenland oder Ägypten, an die Westküste Asiens, nach Sizilien und Libyen ermöglichten Hadrian einen umfassenden Überblick über die klassische Welt. Er machte an vielen großartigen Stätten aus ihrer Vergangenheit Station, doch sein besonderes Augenmerk galt Athen. Athen betrachtete er als freie Stadt und machte ihr spektakuläre Schenkungen, darunter eine grandiose Bibliothek mit hundert Säulen aus seltenem Marmor. Er ließ den Bau des riesigen Zeus-Tempels der Stadt vollenden, mit dem man 600 Jahre zuvor begonnen hatte, ohne ihn je abzuschließen. Auf Hadrian dürfte auch der Anstoß zur Gründung einer panhellenischen Versammlung zurückgehen, ein Unternehmen, mit dem er sogar den Athener Staatsmann Perikles übertraf.3 Vertreter aus der gesamten griechischen Welt sollten in Athen zusammenkommen und alle vier Jahre ein großes Festspiel der Kunst und des Sports veranstalten. Auch die Athener der Vergangenheit hatten mit panhellenischen Projekten gepunktet, dieses allerdings sollte sich durch unvergleichliche Größe auszeichnen.
Wer die Vergangenheit idealisiert, neigt häufig dazu, sie misszuverstehen: Restauration tötet durch Goodwill. Zweifellos teilte Hadrian die traditionellen Vorlieben der hellenischen Aristokraten und Könige vergangener Zeiten. Wie sie liebte er die Jagd; er liebte sein Pferd, den tapferen Borysthenes, das er bei dessen Tod im südlichen Gallien mit Versen ehrte;4 vor allem aber liebte er den jungen Antinoos – ein augenfälliges Beispiel der »griechischen« Liebe. Nach Antinoos’ frühem Tod ließ Hadrian zu seinen Ehren in Ägypten eine neue Stadt bauen und den Toten selbst im ganzen Reich als Gott verehren. So viel hatte nicht einmal Alexander der Große für seinen Lebensgefährten Hephaistion getan. Ebenso wie des Kaisers charakteristischer Bart haben diese Facetten von Hadrians Leben ihren Ursprung in der vorausgehenden griechischen Kultur. Er selbst allerdings konnte kein klassischer Grieche sein, weil sich in seiner Welt seit dem Athen der großen Klassiker – von der Zeit des präklassischen Homer ganz zu schweigen – allzu viel verändert hatte.
Die hörbarste Veränderung war die Verbreitung der Sprache. Ein knappes Jahrtausend zuvor, in den Jugendjahren Homers, war das Griechische nur eine gesprochene Sprache ohne Alphabet und verbreitet nur bei den Bewohnern Griechenlands und in der Ägäis. Auch das Lateinische war zunächst eine gesprochene Sprache gewesen, gebräuchlich einzig in einem kleinen Teil Italiens, dem Gebiet von Latium im Umkreis von Rom. Hadrian aber beherrschte beide Sprachen, mündlich und schriftlich, obwohl er väterlicher- wie mütterlicherseits aus Südspanien stammte und die Güter seines Vaters, von Athen und Latium weit entfernt, nördlich des heutigen Sevilla lagen. Fast 300 Jahre vor seiner Geburt hatten sich Hadrians Vorväter, belohnt für die Dienste in der römischen Armee, als lateinischsprachige Italiker in Spanien niedergelassen. Als Abkömmling lateinisch sprechender Vorfahren kann Hadrian im kulturellen Sinn nicht als Iberier gelten. Er war in Rom aufgewachsen und bevorzugte lateinische Prosa im archaischen Stil. Wie andere gebildete Römer sprach er außerdem Griechisch und wurde wegen seiner ausgeprägten Leidenschaft für die griechische Literatur sogar leicht verächtlich der »kleine Grieche« genannt. Keineswegs ein Provinzler, war Hadrian im Gegenteil der lebende Beweis für die gemeinsame Kultur im Geist des Hellenismus, in dem die Schicht der Gebildeten des Kaiserreichs sich jetzt zusammenfand. Ihre Wurzeln hatte diese Kultur in den klassischen Herkunftsgebieten des Griechischen und Lateinischen, wirksam war sie jedoch weit über deren Grenzen hinaus. Anders als Homer konnte Hadrian auf seinen Reisen durch Syrien oder Ägypten Griechisch sprechen, und mit Latein kam er bis ins ferne Britannien.
Die Welt, die sich seiner am Geist der Klassik geschulten Betrachtung darbot, hatte andere Dimensionen als die Welt des Homer. Auf attischem Territorium lebten während der Blütezeit Athens vielleicht 300000 Bewohner, die Sklaven eingeschlossen. Das Römische Reich dagegen zählte zu Lebzeiten Hadrians eine Population von schätzungsweise 60 Millionen Menschen, ein Völkergemisch, das sich von Schottland bis zur Iberischen Halbinsel und von dort bis nach Armenien ausbreitete. Kein zweites Weltreich vorher oder nachher hat ein Territorium von vergleichbarer Ausdehnung umfasst, und doch war die Gesamtbevölkerung nicht größer als im modernen Großbritannien. Sie konzentrierte sich in bestimmten Landstrichen, vielleicht 8 Millionen in Ägypten,5 wo der Nil und die Getreideernte diese Dichte erlaubten, und mindestens eine Million Menschen in der Mega-Stadt Rom, die ebenfalls aus Ägyptens Ernten und dessen Getreideexport Nahrung und Unterhalt bezog. Außerhalb dieser beiden Agglomerationen waren weite Gebiete in Hadrians Reich nach unseren Maßstäben sehr dünn besiedelt. Und dennoch wurden in jeder Provinz Abteilungen der römischen Armee zur Friedenssicherung benötigt. Auf seinen Reisen suchte der Kaiser mit Vorliebe Städte auf, aber zu seinem Herrschaftsgebiet gehörten auch weite Regionen, die nur Dörfer und keine Stadt nach klassischem Muster umfassten. Wo nötig, befahl er den Bau langer Wälle, um den Völkern jenseits des Reichs Grenzen zu setzen, ein höchst unklassisches Projekt. Der berühmteste ist der Hadrianswall im Norden Englands, der von Wallsend bei Newcastle bis ins westliche Browness verläuft. Die massive Barriere war drei Meter dick und vier Meter hoch, zum Teil mit Stein verkleidet, mit Kastellen im Abstand von rund anderthalb Kilometern, zwei Wachttürmen und einem drei Meter tiefen und neun Meter breiten Graben auf der Nordseite. Es gab noch weitere, heute aber weniger berühmte »Hadrianswälle«. In Nordafrika, jenseits des Aurès-Massivs im heutigen Ostalgerien förderte Hadrian den Bau von Wallanlagen mit Gräben, die entlang einer Grenze von etwa 240 Kilometern der Überwachung von Kontakten mit den Nomadenvölkern der Wüste dienen sollten. In Nordwesteuropa, im oberen Germanien, sah er in aller Klarheit die Gefahr: Hier »trennte er ... die Barbaren vom Reichsgebiet durch ein System von großen Pfählen, die nach Art eines mauerähnlichen Geheges tief eingerammt und miteinander verbunden wurden«.6
Große Regionen einzuzäunen war in der klassischen Welt unbekannt. In der Blütezeit Athens oder gar der Epoche Homers hatte es nie einen einzigen Herrscher wie Hadrian, einen Kaiser, gegeben noch ein stehendes Heer wie das römische mit einer Kampfstärke von rund 500000 Soldaten. In seiner klassischen Epoche um 50 v.Chr. hatte auch Rom weder einen Kaiser noch ein stehendes Heer gekannt. Hadrian war der Erbe von historischen Umbrüchen, die der römischen Geschichte eine andere Richtung gaben. Er brachte der klassischen griechischen und römischen Vergangenheit Respekt entgegen und suchte, wohin er auch reiste, ihre imponierende Hinterlassenschaft auf – zu fragen bleibt, ob er auch ihren Kontext verstand, die Welt, deren Teil sie einst war, ihre Entwicklung sowie die historischen Umstände, die zu seiner eigenen Rolle als Imperator geführt hatten.
Hadrian war zweifellos ein Liebhaber und Erkunder von Kuriositäten.7 Auf seinen Reisen erklomm er den Vulkan Ätna auf Sizilien und andere markante Berge; er befragte die alten Orakel der Götter, und er besuchte die touristischen Weltwunder im lange schon untergegangenen alten Ägypten. Als Tourist war er überdies ein Sammler und Nachahmer dessen, was er sah. Zurück in Italien, ließ er sich in der Nähe von Tivoli einen immensen, weitläufigen Villenkomplex errichten, der sich betont an große kulturelle Denkmäler der griechischen Vergangenheit anlehnte. Hadrians Villa war ein ausgedehnter Themenpark mit Bauwerken, die an Alexandria und das klassische Athen erinnerten.8
In diese Villa zog er sich nach dem Tod des geliebten Antinoos zurück, um seine Autobiographie zu schreiben. Von ihrem Text ist fast nichts erhalten, aber man kann vermuten, dass sie den innigen Tribut an den Geliebten mit der Präsentation eines weltmännischen Selbstbildes zu verbinden wusste. Hadrian war interessiert an Philosophie, und es ist möglich, dass er sich nach Art Epikurs über die Furcht vor dem Tod hinwegtröstete.9 Auszuschließen ist aber, dass er die historischen Veränderungen analysierte, die an allem erkennbar wurden, was er auf seinen Reisen sah, von Homer bis zum klassischen Athen, vom großen Alexandria des großen Alexander bis zur einstigen Pracht Karthagos, das er neu Hadrianopolis nannte. Hadrian erkor den ersten Kaiser, Augustus, zu seinem Rollenmodell, scheint sich aber nie gefragt zu haben, wie es dazu kommen konnte, dass Rom nach mehr als vier Jahrhunderten hoch gepriesener Freiheit unter die Ein-Mann-Herrschaft des Augustus geriet.
In diesem Buch habe ich mir vorgenommen, diese Fragen für Hadrian und für die vielen anderen zu beantworten, die auf seine Art durch die antike Welt reisen, antike Stätten aufsuchen und sich einig sind, dass es ein »klassisches Zeitalter« gab –, selbst im Wettbewerb der weltweit wachsenden Anzahl von Kulturen. Es konzentriert sich auf eine Auswahl historischer Höhepunkte und hat wenig über Themen zu sagen, die auch Hadrian kaum beschäftigten: die Reihe der Diadochenreiche nach Alexander dem Großen und namentlich die Jahre der römischen Republik in der Zeit zwischen der Zerstörung Karthagos durch die Römer im Jahr 146 v.Chr. und den Reformen des Dictators Sulla von 81/80 v.Chr. Im Brennpunkt stehen dagegen als klassische Akzente einer Vergangenheit, der Hadrian nahestand, das Athen des Perikles und des Sokrates sowie Rom unter Caesar und Augustus.
Die Historiker in Hadrians eigenem Imperium waren sich der Veränderungen, die seit jener Ära stattgefunden hatten, wohl bewusst. Einige von ihnen versuchten sie zu erklären, und ihre Antworten beschränken sich nicht auf militärische Siege und Angehörige der römischen Kaiserfamilien. Zur Geschichte der klassischen Antike gehören Erfindung und Entwicklung der Geschichtsschreibung selbst. Heute versuchen die Historiker dem Verständnis dieses Wandels mit komplexen Theorien beizukommen – mit Ökonomie und Soziologie, Geographie und Ökologie, Klassen- und Gender-Theorie, mit der Kraft der Symbole oder mit demographischen Modellen für Bevölkerungen und ihre Alterskohorten. In der Antike waren diese modernen Theorien nicht ausdrücklich oder vielleicht gar nicht existent. Die Geschichtsschreiber hatten bevorzugte Themen eigener Wahl, von denen besonders drei im Blickpunkt ihres Interesses standen: Freiheit, Gerechtigkeit und Luxus. Unsere modernen Theorien können die alten Erklärungsmuster vertiefen, ohne sie jedoch ganz zu ersetzen. Und obwohl die drei Themen nicht ausreichen, um den historischen Wandel zu erklären, habe ich sie hervorgehoben, weil sie die Gedanken der damaligen Akteure beschäftigten und die Einstellung mitbestimmten, aus der man die Ereignisse in den Blick nahm.
Jedes von ihnen ist ein flexibler Begriff mit variablem Umfang. Zur Freiheit gehört für uns, wählen zu können, und sie bedeutet heute für viele Menschen Autonomie oder die Möglichkeit zu unabhängiger Entscheidung. Das Wort Autonomie ist eine Erfindung der alten Griechen, stand für sie aber eindeutig im politischen Kontext: Es bezeichnete ursprünglich die Selbstverwaltung eines Gemeinwesens, die Garantie eines gewissen Maßes an Freiheit gegenüber einer fremden Macht, die stark genug war, diese Freiheit zu verletzen. Mit Bezug auf ein Individuum wird es nachweislich zum ersten Mal auf eine Frau angewendet, auf Antigone im Drama des Sophokles.10 Auch Freiheit bedeutete einen politischen Wert, erhielt jedoch schärfere Konturen durch ihren Gegenpol – die Sklaverei. Beginnend mit der Zeit Homers erhielt Freiheit für die Gemeinwesen ihren Wert angesichts von Feinden, durch die andernfalls Versklavung drohte. Innerhalb eines Gemeinwesens stand Freiheit dann für den Wert politischer Strukturen: Alternativen wurden als »Sklaverei« angeprangert. Freiheit war in erster Linie der kostbare Status des Individuums, der dieses vom Sklaven abgrenzte, der dazu da ist, gekauft und verkauft zu werden. Doch worin bestand die Freiheit des Individuums über ihre Definition als Nichtsklaverei hinaus? Gehörte dazu die Redefreiheit oder die Freiheit, die selbstgewählten Götter zu verehren? War es die Freiheit, sein Leben nach eigenem Gutdünken zu gestalten, oder nur der Schutz vor Einmischung? Wann ging Freiheit in üble Zügellosigkeit über? Zu Zeiten Hadrians, der von griechischen Untertanen als Befreier und als Gott verehrt wurde, waren alle diese Fragen bereits diskutiert worden.
Nicht weniger umstritten war der Begriff Gerechtigkeit. Sie wurde von Herrschern, so auch von Hadrian beansprucht, und schon im Zeitalter Homers sprach man idealisierend von gerechten Gemeinwesen. War sie eine Tugend der Götter, oder galt die harte Wahrheit, dass nicht Gerechtigkeit ihren Umgang mit Sterblichen bestimmte? Die Philosophen hatten sich die Frage nach der Gerechtigkeit seit langem gestellt. Hieß gerecht zu sein, »jedem das Seine« zu geben oder zu bekommen, was man verdiente, vielleicht aufgrund seines Verhaltens in einem früheren Leben? War Gleichheit gerecht, und wenn, welche Art von Gleichheit? »Dasselbe für alle und jeden« oder eine »proportionale Gleichheit«, je nach Wohlstand oder sozialer Klasse?11 Welches System garantierte Gleichheit – ein System von Gesetzen, die von Geschworenengerichten aus zufällig ausgewählten Bürgern angewandt wurden, oder Gesetze, die von einem einzigen Richter, einem Statthalter vielleicht oder vom Kaiser selbst angewandt und geschaffen wurden? Hadrian verwandte einen guten Teil seiner Energie darauf, Eingaben zu beurteilen und zu beantworten; das ist die Tätigkeit, bei deren Ausübung er uns am deutlichsten vor Augen steht. Seine Antworten an Städte und Untertanen seines Reichs sind dort erhalten, wo die Empfänger sie in Stein gemeißelt festhielten.12 Andere Entscheidungen sind in lateinische Sammlungen von Rechtsgutachten eingegangen. Es gibt sogar eine Sondersammlung von Gutachten Hadrians, seinen Antworten an Bittsteller, die als Unterrichtsübungen für Übersetzungen ins Griechische erhalten blieben.13 In der klassischen Ära Griechenlands hat kein Perikles oder Demosthenes je Bittschriften beantwortet oder rechtskräftige Erwiderungen formuliert.
Wie Gerechtigkeit und Freiheit war auch Luxus ein sehr dehnbarer Begriff. Wo genau beginnt Luxus? Folgt man der Romanautorin Edith Wharton, ist Luxus der Erwerb von Dingen, die nicht notwendig sind – aber wo endet »Notwendigkeit«? Die Modeschöpferin Coco Chanel bewertete den Luxus positiver; sein Gegenteil, pflegte sie zu sagen, sei nicht Armut, sondern Geschmacklosigkeit, und sie befand: »Luxus ist nicht protzig.« Der Begriff lädt fraglos dazu ein, mit zweierlei Maß zu messen. Von Homers bis zu Hadrians Zeiten wurden immer wieder Gesetze erlassen, die Luxus begrenzen sollten, und die Denker betrachteten ihn als verweichlichend oder korrupt oder gar als sozial subversiv.
Doch trotz der Attacken durch die Kritik vervielfachte sich die Palette des Luxus Hand in Hand mit der Nachfrage auch weiterhin. Zum Thema Luxus kann man eine Geschichte des kulturellen Wandels schreiben, ergänzt durch die archäologische Forschung, die uns Beweise für dessen Umfang präsentiert, angefangen mit Stücken blauen Lapislazulis, Importe der vorhomerischen Welt, die sämtlich aus dem Nordosten Afghanistans stammen, bis zu Rubinen im Vorderen Orient, die in der Zeit nach Alexander importiert und, wie Analysen zeigen, ursprünglich im damals unbekannten Burma gewonnen wurden.
In den Tagen des klassisch inspirierten Hadrian waren die politischen Freiheiten der klassischen Welt vergangener Tage geschrumpft. Die Rechtsprechung hatte, mit unseren Augen betrachtet, in hohem Maß an Fairness eingebüßt, während der Luxus, ob für Mahl oder Mobiliar, ins Kraut schoß. Wie konnte es zu diesen Veränderungen kommen? Und wie hängen sie zusammen, wenn ein Bezug sich denn ausmachen lässt? Der Hintergrund, vor dem diese Veränderungen sich abspielten, war ein ausgeprägt politischer. Im Lauf der Generationen hatte das Verhältnis von Macht und politischen Rechten Umbrüche erlebt, deren Ausmaß diese Epoche von den Jahrhunderten des Königtums oder der Oligarchie in den folgenden Jahrhunderten wesentlich unterscheidet. Wird diese Epoche thematisch untersucht, in Kapiteln über Sexualität oder Armeen oder die Stadtstaaten, reduziert man sie auf eine falsche, statische Einheitlichkeit, und »Kultur« wird aus ihrem prägenden Kontext, den umkämpften, sich verändernden Machtbeziehungen, herausgelöst.
Meine historische Darstellung folgt also den Strängen einer Geschichte, in der die drei Hauptthemen wechselnden Widerhall fanden. Manchmal ist es eine Darstellung weittragender Entscheidungen, getroffen von (männlichen) Individuen, immer aber im Kontext Tausender individueller Lebensgeschichten. Von diesen Einzelnen jenseits der »großen Erzählungen« sind uns einige bekannt, weil Mitteilungen über sie auf dauerhaftem Material schriftlich festgehalten wurden: über siegreiche Athleten oder anhängliche Besitzer namentlich genannter Rennpferde; über die Dame in der Heimatstadt Alexanders des Großen, die einen Fluch über ihren erhofften Liebhaber und die bevorzugte Thetima niederschreiben ließ (»niemanden soll er heiraten als mich«); oder über den betrübten Eigentümer eines Schweinchens, das den langen Weg auf der Straße nach Thessalonike neben seinem Wagen hergetrottet war, nur um in Edessa an einer Kreuzung überfahren und getötet zu werden.14 Unzählige dieser Individuen tauchen jedes Jahr in neuen Untersuchungen griechischer und lateinischer Inschriften auf, deren fragmentarischer Zustand den Wissenschaftlern höchste Könnerschaft abverlangt, doch ihre Inhalte erschließen uns die ganze Vielfalt der antiken Welt. Von Homer bis Hadrian – unser Wissen über die Antike kennt keinen Stillstand, und die folgenden Seiten sind ein Versuch, ihren Wegen so zu folgen, wie es Hadrian, der große Weltreisende, niemals tat.
Die archaische griechische Welt
Im griechischen Mutterland – … – war die archaische Zeit gekennzeichnet durch eine sehr große Ungesichertheit des einzelnen. Die kleinen überbevölkerten Staaten fingen gerade an, sich von dem Elend und der Verarmung zu befreien, welche die Dorische Wanderung hinterlassen hatte, als neue Unruhen entstanden. Ganze Bevölkerungsschichten wurden durch die Wirtschaftskrise des siebten Jahrhunderts ruiniert. Im sechsten Jahrhundert folgten große politische Konflikte, bei denen die Wirtschaftskrise in die Methoden eines mörderischen Klassenkampfes umgesetzt wurde. … Genausowenig ist es Zufall, dass in dieser Zeit das Unheil, welches den Reichen und Mächtigen droht, ein äußerst beliebtes Thema der Dichter wird …
E.R. Dodds, Die Griechen und das Irrationale,
1970, 31 (engl. Original 1951)
Die enge persönliche Bindung unter den Oberschichten dieser Zeit wirkte als mächtige Triebkraft für die rapide Geschwindigkeit des damaligen Wandels; in intellektueller Hinsicht, so scheint es, scheuten die oberen Stände vor kaum einer Neuerung zurück. Mit bemerkenswerter geistiger Aufgeschlossenheit und Vorurteilslosigkeit förderten sie die kulturelle Erweiterung, die den Errungenschaften der klassischen Zeit und mehr oder minder auch der späteren westlichen Zivilisation und Kultur die Grundlage bot. Aberglauben und Magie aus den primitiven »Dunklen Jahrhunderten« erhielten sich in großem Umfang bis in historische Zeiten … Wie am Beispiel der Epen zu sehen ist, wurde diese Vergangenheit in ihren grundlegenden Aspekten nicht verabschiedet, doch Schriftsteller, Künstler und Denker fühlten sich frei, ihren Horizont zu erkunden und zu erweitern. Die unmittelbare Ursache dafür war zweifellos die dominante Rolle des Adels in der Lebenswelt.
Chester G. Starr, The Economic and Social Growth of Early Greece,
800–500 BC, 1977, 144
So sprach er und erregte ihm die Lust nach der Klage um den Vater,
Und er fasste seine Hand und stieß sanft den Alten von sich.
Und die beiden dachten: der eine an Hektor, den männermordenden,
Und weinte häufig, zusammengekauert vor den Füßen des Achilleus,
Aber Achilleus weinte um seinen Vater, und ein andermal wieder
Um Patroklos …
Homer, Ilias 24,507–512 (Übers. W. Schadewaldt)
Als Hadrian durch Griechenland reiste, machte er im Jahr 125 Halt in Delphi, dem berühmtesten Orakel des Landes, und richtete an Apollon, den des Orakels, die schwierigste Frage: »Wo wurde Homer geboren und wer waren seine Eltern?« Die alten Griechen selbst pflegten zu sagen: »Beginnen wir bei Homer«, und gute Gründe sprechen dafür, auch eine Geschichte der klassischen Antike mit ihm beginnen zu lassen.
Homer gehört weder in die »Morgendämmerung« der von Griechen besiedelten Welt noch an den Anfang der griechischen Sprache. Für uns ist er ein Anfang, weil in den beiden großen Epen, der Ilias und der Odyssee, die ersten langen Texte in griechischer Sprache erhalten geblieben sind. Aus dem 8.Jahrhundert v.Chr., nach Ansicht der meisten Wissenschaftler die Lebenszeit Homers, liegt uns der erste Beweis für den Gebrauch des griechischen Alphabets vor, des praktischen Schriftsystems, in dem seine epischen Dichtungen überliefert wurden. Der bisher früheste Beleg stammt aus den 770er Jahren v.Chr., und mit kleinen Veränderungen wird dieses Alphabet noch heute benutzt, um neugriechisch zu schreiben. Auch vor Homer waren Griechenland und die Ägäis nicht arm an historischen Ereignissen, aber in den vorausgegangenen vier Jahrhunderten war nichts schriftlich festgehalten worden außer ansatzweise in Zypern. Die Archäologie ist unsere einzige Quelle für diese Epoche, ein »dunkles« Zeitalter – für uns, doch nicht »dunkel« für die Menschen, die damals lebten. Die Archäologen haben zwar unser Wissen über diese Zeit erheblich ausgeweitet, aber die auf dem Alphabet beruhende Schriftlichkeit eröffnet den Historikern ein neues Spektrum von Quellenmaterial.
Nun waren Homers epische Gesänge allerdings keine Geschichtsschreibung, und sie beziehen sich auch nicht auf seine eigene Zeit. Ihr Thema sind mythische Heroen und deren Taten im und nach dem Trojanischen Krieg, den Homer die Griechen in Asien führen lässt. Eine große Stadt Troja (Ilion) hatte es nachweislich gegeben und vielleicht auch einen Krieg dieser Art, aber Homers Heldenfiguren Hektor, Achill und Odysseus sind eine Erfindung des Dichters. Für den Historiker ist der Wert dieser großen Epen ein ganz anderer: Sie verraten die Kenntnis einer realen Welt, eines Sprungbretts für die Imagination der größeren epischen Welt der griechischen Sage, und sie dokumentieren Werte, die vorausgesetzt, aber auch ausdrücklich erklärt werden. Sie geben Anlass zum Nachdenken über die Wertvorstellungen der ersten griechischen Zuhörer, wo und wer immer sie gewesen sein mögen, führen aber auch weiter zum Wertbewusstsein und zur Sinnesart der späteren Völker in der sich entwickelnden Welt der Klassik. Denn die beiden Homerischen Epen, Ilias und Odyssee, blieben die anerkannt überragenden Meisterwerke, deren Bewunderung die Jahrhunderte überdauerte – beginnend zu Lebzeiten des Verfassers, setzte sie sich ununterbrochen fort bis in die Epoche Hadrians und die Endzeit der Antike. Die Geschichten der Ilias über den Trojanischen Krieg, den Zorn des Achilles, seine Liebe zu Patroklos – die nicht unzweideutig als sexuelle Beziehung dargestellt wird – und den Tod Hektors zählen noch immer zu den berühmtesten Mythen der Welt, und was uns die Odyssee von der Heimfahrt des Odysseus, von Penelope, den Zyklopen, der Zauberin Kirke und den Sirenen erzählt, gehört für viele von uns zu den bleibenden Erinnerungen aus jungen Jahren. Höhepunkt der Ilias ist der ergreifende Augenblick des geteilten Leides um den Verlust eines geliebten Menschen in der Begegnung des Achilles mit dem greisen Priamos, dessen Sohn er getötet hat. Die Odyssee wiederum bietet in der Figur des Odysseus, den es zurück in die Heimat verlangt, die erste bekannte Darstellung des Heimwehs. Auch dort begegnet der Leser gegen Ende des Epos der erschütternden Schwäche des Alters, wenn der heimkehrende Odysseus seinen Vater erblickt, wie er beharrlich an seinen Obstbäumen arbeitet und nicht glauben will, dass sein Sohn noch lebt.
Die Epen schildern eine Welt der Helden, die nicht so sind »wie sterbliche Menschen in unseren Tagen«. Anders als die Griechen zu Homers Lebzeiten tragen diese Helden fabulöse Rüstungen, bewegen sich in der Gesellschaft von Göttern in menschlicher Gestalt, benutzen Waffen aus Bronze – nicht aus Eisen wie die Zeitgenossen Homers – und begeben sich auf Streitwagen in die Schlacht, um dann zu Fuß zu kämpfen. In den von Homer beschriebenen Städten findet sich neben einem Palast ein Tempel, obwohl diese Bauwerke in der Welt des Dichters und seiner Zuhörer gar nicht nebeneinander vorkamen. Für Homer und sein Publikum war diese epische Welt im Wesentlichen sicher nicht die ihre, sondern eine Spur erhabener. Und dennoch scheinen ihre Sitten und Gebräuche, auch ihr sozialer Rahmen besonders in der Odyssee allzu kohärent, um nur der vagen Erfindung eines einzelnen Dichters zu entspringen. Dass dem Text Realität zugrunde liegt, hat sich bei einem Vergleich dieser epischen Welt mit jüngeren Gesellschaften ohne schriftliche Überlieferung bestätigt, ob nun im vorislamischen Arabien oder in der Stammesgesellschaft Nuristans in Nordostafghanistan. Es gibt eine Verwandtschaft der Lebensgewohnheiten, aber globale Vergleiche dieser Art sind schwer zu überprüfen, und überzeugendere Argumente für den Wirklichkeitsgehalt der Epen liefert ein Vergleich bestimmter Aspekte des Textes mit sozialen Strukturen der Griechen nach Homer. Stoff für solche Vergleiche ist reichlich vorhanden, vom Brauch, Geschenke zu geben, der noch in Herodots Geschichtsschreibung (um 430 v.Chr.) eine bedeutende Rolle spielt, bis zu Grundmustern von Gebet und Opferriten, die sich im Lauf der Geschichte des kultischen Brauchtums der Griechen unverändert erhielten, oder den Werten und Idealen, wie sie für die attische Tragödie des 5.Jahrhunderts formstiftend waren. Homer zu lesen heißt also nicht nur, sich mitreißen zu lassen von Pathos und Eloquenz, Ironie und adliger Haltung, sondern auch, in eine soziale und ethische Welt einzutauchen, die noch griechischen Persönlichkeiten von Rang, die auf ihn folgten, vertraut war – dem Dichter Sophokles wie auch Alexander dem Großen, einem begeisterten Verehrer Homers. Im klassischen Athen des späten 5.Jahrhunderts v.Chr. hielt der reiche und politisch konservative General Nikias seinen Sohn dazu an, die Homerischen Epen auswendig zu lernen. Ohne Zweifel war dieser in seiner sozialen Schicht nicht der Einzige, der sich solchen Übungen unterzog: Die den Heroen eigene noble Verachtung der Massen konnte ihre Wirkung auf diese jungen Männer nicht verfehlen.
Homer also blieb in der Welt der Antike über seinen Tod hinaus von Bedeutung. Kaiser Hadrian allerdings wird nachgesagt, er habe ihm einen obskuren gelehrten Poeten, Antimachos (um 400 v.Chr.), vorgezogen, der über Homers Leben geschrieben hatte. Der Auftakt des Buches mit Homer gibt uns Gelegenheit, Hadrians abwegige literarische Vorliebe zu korrigieren; seine Frage nach der Herkunft Homers können wir dagegen nicht beantworten.
Auch wenn der Gott in Delphi die Antwort kannte, seine Priester gaben sie ganz offenbar nicht preis. Städte in der gesamten griechischen Welt erhoben den Anspruch, Geburtsort des Dichters zu sein, doch über sein Leben ist uns nichts bekannt. Die Ilias und die Odyssee sind in einem artifiziellen, poetischen Dialekt verfasst, der ihrem komplexen Metrum, dem Hexameter, entgegenkommt. Ihre Wurzeln hat diese epische Sprache in den als Ostgriechisch (Ionisch) bekannten Dialekten. Ein Dichter aber hätte sie allerorts lernen können, sie war ein professionelles Hilfsmittel für Verfasser von Versen im Hexameter, keine Spielart gesprochener griechischer Umgangssprache. Aufschlussreicher ist die Tatsache, dass Anklänge an den täglichen Sprachgebrauch, wie sie sich in der Ilias finden, manchmal Verweise auf spezifische Orte oder Vergleiche in der ostgriechischen Welt Kleinasiens enthalten. Solche Vergleiche mussten den Zuhörern bekannt sein. Vielleicht haben der Dichter und sein ursprüngliches Publikum tatsächlich dort (in der heutigen Türkei) oder auf einer benachbarten Insel gelebt. Einige Forscher verbinden Homer mit der Insel Chios, weil ein Stück ihrer Küste in der Ilias zutreffend beschrieben ist, andere mit dem gegenüber von Chios auf dem Festland gelegenen Smyrna (heute Izmir).
Nicht weniger umstritten ist die Lebenszeit Homers. Jahrhunderte später, als die Griechen versuchten, sie zu bestimmen, legten sie Eckwerte fest, die nach unserer Zählung den Jahren um 1200 und 800 v.Chr. entsprächen – eine viel zu frühe Datierung, doch anders als ihre griechischen Vertreter wissen wir inzwischen, dass die Homerischen Epen auf noch weit ältere Orte und Paläste verweisen, deren Geschichte bis in die Zeit vor 1200 v.Chr. zurückreicht. Sie schildern das Troja ältester Zeiten, sie erwähnen ganz bestimmte Orte auf der Insel Kreta und spielen auf ein Königtum in Mykene oder Argos in Griechenland an, den Sitz des Agamemnon. Die Ilias enthält einen langen, detaillierten Katalog der griechischen Städte, die Truppen nach Troja entsandten. Er beginnt mit der Gegend um Theben in Mittelgriechenland und umfasst einige Ortsbezeichnungen, die in der klassischen Welt unbekannt waren. Archäologen haben auf Kreta und in Mykene die Überreste großer Paläste entdeckt, so auch in Troja, wo jüngste Ausgrabungen zeigen, dass die Anlage größer war als bisher vermutet. Kürzlich wurden in Theben auch Hunderte Schrifttafeln gefunden. Die Palastanlagen auf Kreta stammen aus der Zeit einer minoischen Kultur um 2000 – 1200 v.Chr., die griechischen dagegen aus der mykenischen Epoche der Paläste (um 1450 – 1200 v.Chr.). Es könnte sich sogar zeigen, dass nicht Mykene, sondern Theben ihr Zentrum war.1 In dieser mykenischen Epoche war das Griechische als Umgangssprache recht verbreitet, und geschrieben wurde es in einer Silbenschrift von Schreibern, die in den Palästen arbeiteten. Damals unternahmen die Griechen auch Reisen nach Kleinasien, nicht jedoch, soweit wir wissen, im Rahmen einer größeren Militärexpedition. Dank der Archäologie haben wir jetzt Kenntnis von einer uns lange Zeit verlorenen glanzvollen Kultur, die Homer jedoch im Einzelnen nicht vertraut war. Der Schiffskatalog der Ilias ist die einzige Ausnahme. In jedem Fall konnte Homer sich nur auf mündliche Berichte stützen, und diese hatten nach 500 Jahren keine Fakten aus der sozialen Realität bewahrt. Einige wenige Details zu mykenischen Orten und Gegenständen waren in poetischen Floskeln enthalten, die er von seinen schreibunkundigen Vorgängern übernommen hatte.
Prägend für die Entstehung seiner zentralen Heldensagen waren vermutlich die Jahre um 1050 – 850 v.Chr., als die Schrift verlorengegangen war und noch kein neues griechisches Alphabet existierte. Die soziale Welt seiner Epen basiert dagegen auf einer Epoche, die seiner Lebenszeit (ca. 800 – 750 v.Chr.) weniger weit vorausliegt: Sie unterscheidet sich grundlegend von den Verhältnissen, die der archäologische Befund und die Zeugnisse der Schreiber aus den alten mykenischen Palästen nahelegen.
In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion schwanken die Ansätze für Homers Lebenszeit zwischen etwa 800 v.Chr. und 670 v.Chr. Die meisten, darunter der Verfasser, votieren für etwa 750–730 v.Chr., sicher aber für die Zeit vor dem Dichter Hesiod (tätig 710–700 v.Chr.). Immerhin besteht so gut wie Gewissheit darüber, dass die Odyssee der Ilias folgte, deren Handlung sie voraussetzt. Unklar ist, ob es nur einen Homer gab oder zwei, einen für jedes der beiden Epen. Der Text, den wir heute lesen, ist wahrscheinlich bearbeitet und stellenweise ergänzt worden, auf jeden Fall aber ist er das Werk einer Dichterpersönlichkeit von monumentalem Format. Angesichts der großen Kohärenz der Haupthandlung beider Epen verbietet sich die Annahme, sie könnten sich als eine Art Volkshomer im Schneeballeffekt über Jahrhunderte hinweg entwickelt haben. Professionelle Rezitatoren oder Rhapsoden haben die Epen zwar noch in archaischer Zeit vorgetragen, geschaffen haben sie diese in ihrer Gesamtheit aber sicherlich nicht. Meines Erachtens haben diese Rhapsoden anders als Homer, alles, was sie deklamierten, auswendig gelernt und hatten ein Manuskript vor sich, das aus der Zeit des eigentlichen Dichters stammte. Ich bezweifle, dass Homer seine Gesänge selbst niederschrieb. Er war, wie ich glaube, ein echter rhapsodischer Poet und Erbe anderer Dichter vor ihm, die des Schreibens unkundig waren wie er. Aber er war der erste wirklich »epische« Dichter, der Erste, der seine sehr langen Lieder an einem einzigen Leitthema ausrichtete. Seine Vorgänger wie auch die weniger bedeutenden Nachfolger reihten eine Episode an die andere ohne Homers Gabe, eine umfassende Einheit zu schaffen. Vielleicht kennen wir sogar die Handlung einer derartigen mündlichen Dichtung vor Homer, in welcher der Held Memnon aus dem geheimnisvollen Äthiopien eine zentrale Rolle spielt. Wenn dieser auch Thema der ursprünglichen Fassung gewesen sein sollte, dann stände im Mittelpunkt des frühesten bekannten Epos der Griechen ein dunkelhäutiger Held.
Im 8.Jahrhundert begann sich die neue Erfindung, die Buchstabenschrift, in der griechischen Welt zu verbreiten. Nicht in der Absicht erfunden, Homers große Epen aufzuzeichnen, wurde sie aber – möglicherweise von seinen Nachfolgern und zu seinen Lebzeiten – dazu benutzt, jene zu bewahren. Sie waren so gut, dass sich von einer Textfassung zukünftiger Profit erwarten ließ. Trifft das zu, wäre vieles von dem, was erhalten ist, die diktierte Fassung des Dichters selbst. Die Epen sind lang (15689 Verse die Ilias, 12110 die Odyssee), doch dürften sie diese Länge wohl nicht nur in den Stunden des Diktats erreicht haben, das sie für die Nachwelt erhalten sollte. Da ein Vortrag der beiden Epen zwei bis drei Tage in Anspruch nahm, eigneten sie sich außerdem nicht für Bankette. Vieles spricht dafür, dass sie zunächst für Festspiele gedichtet wurden. Von späteren griechischen Festspielen weiß man, dass noch zu Hadrians Zeit mehrere Tage für poetische Wettkämpfe reserviert waren.2 In ihrer überlieferten Form sind die Epen nicht an eine bestimmte Gönnerfamilie oder an einen einzelnen Stadtstaat gerichtet. Dieser allgemeine, panhellenische Aspekt wäre sehr gut mit großen Festspielen zu vereinbaren: Vielleicht überließ man einem Homer, der als sicherer Gewinner bekannt war, an einem solchen Festival die Bühne ohne konkurrierende Kollegen.
Schon in den beiden homerischen Epen, den ersten großen poetischen Werken der griechischen Literatur, geht es um Luxus, Freiheit und Gerechtigkeit. Der Dichter benutzt weder das spätere Wort für Luxus (tryphē) noch einen Begriff, der eine kritische Wertung enthielte. Vielmehr schildert er Luxuspaläste aus Gold, Silber und Bronze als Schmuck einer erhabenen epischen Welt. Er erzählt von wundervollen Silberarbeiten aus der Levante, von Sklavinnen, die mit Geschick Elfenbein bearbeiten, von Halsketten aus Bernsteinperlen, Stoffen und Dutzenden prächtiger Roben, einem Fundus kostbarer Güter. Die Schätze in den Kleidertruhen der Aristokraten sind zerfallen, doch einige dieser Luxuswaren, wenn auch nicht die Phantasiepaläste, lassen sich in unsere wachsende archäologische Dokumentation einordnen, insbesondere unter die Objekte, die im Kontext des 9. und 8.Jahrhunderts v.Chr. gefunden wurden. Homers Helden und Könige sind nicht von einem korrumpierenden Luxus angekränkelt; sie liefern sich unvergessliche, tödliche Kämpfe und sind wie Odysseus fähig, praktische, alltägliche Handarbeit zu verrichten. Die Luxusgegenstände um sie herum sind staunenerregende Einzelstücke. Homer und seine Zuhörer scheinen ihre Tage nicht im Schoße des Luxus zu verbringen, ihn aber in einer verweichlichten königlichen Welt als selbstverständlich zu betrachten.
Einzelne Luxusgüter sind für die weiblichen Figuren der Epen sehr attraktiv. Als besonders verlockend erscheinen die Bernsteinketten. Wenn Frauen als Gefangene verkauft werden, können auch sie zum Luxus ausarten und so viel kosten wie 20 Ochsen. Im Allgemeinen aber werden die Frauen in den Epen mit einer Ritterlichkeit dargestellt, die nichts mit dem unwirschen Blick auf die Frau gemein hat, wie er die Kleinbauern bei dem nur wenige Jahrzehnte jüngeren Dichter Hesiod kennzeichnet. In der Odyssee geben Penelope und Odysseus als wiedervereintes Paar ihrer Liebe deutlich Ausdruck, und Odysseus’ Vater Laertes leidet unter dem frühen Tod seiner Frau. Es trifft also keineswegs zu, dass den Griechen die Liebe zwischen Ehegatten unbekannt gewesen sei oder dass in der griechischen Welt nur die Liebe unter Männern als »romantische Liebe« gegolten habe. Die Homerische Epik zollt der Gattenliebe in der guten Ehe einen berührenden Tribut. Auch Hesiod erkennt den Wert einer guten Ehefrau an, so selten sie ist, doch er, und nicht Homer, beschreibt die als erste erschaffene Frau, Pandora, als ungewollte Quelle der Nöte und Krankheiten, von denen alle Sterblichen seither betroffen sind.
Auch Freiheit ist für die Figuren Homers ein entscheidender Wert. An einer Stelle, in einem pathetisch-weihevollen Augenblick, spricht Hektor von einer Zukunft, von einer Feier der Freiheit: Der »Mischkrug der Freiheit«, ohne Zweifel mit gewässertem Wein gefüllt, wird aufgestellt, und Troja wird »frei« sein, seine Feinde besiegt. Im Gegensatz dazu gibt es den »Tag der Sklaverei«, der den Mann seiner Kraft und Macht weitgehend beraubt.3 Freiheit ist deshalb Freiheit von ...: von Feinden, die eine Gemeinschaft morden und versklaven, und von der Sklaverei, dem Zustand absoluter Unterworfenheit, in dem die Menschen wie Gegenstände gekauft und verkauft werden. Auch in Hesiods Lehrgedichten gelten die Sklaven als Teil der Lebensweise des griechischen Bauern, und sie werden mit einer Vielzahl griechischer Wörter beschrieben. Eine Epoche vor dem klassischen Zeitalter, in der Sklaverei, der Besitz menschlicher Wesen, nicht existierte, gab es unseres Wissens nicht.
Die Helden, die häufig selbst Könige waren, können sich gelegentlich über einen Monarchen oder Anführer beklagen, doch vom Königtum frei zu sein wünschen sie nicht. Die persönliche Freiheit, im eigenen Kreis nach Belieben zu schalten, ist ihnen selbstverständlich. Aristokraten können vielleicht vom Feind versklavt und verkauft werden, aber die Vorstellung, in der eigenen Gemeinschaft vom Willen eines Standesgenossen versklavt zu werden, beunruhigt sie nicht. Ebenso wenig liegt ihnen daran, jedem Mitglied dieser Gemeinschaft die Redefreiheit zu garantieren oder dieselbe Freiheit gar Menschen außerhalb der eigenen Klasse zuzugestehen. Eine Stimmabgabe im öffentlichen Rat gibt es in der Welt des Epos nicht, Versammlungen von Rechts wegen finden nicht statt, ob ein König oder ein Adliger eine solche einberufen will oder nicht. Wenn Odysseus in der Ilias die griechische Armee zusammenruft, spricht er verbindlich und voller Respekt zu den Königen und »Männern von Ansehen«. Als er auf einen Mann aus dem Volk trifft, der bezeichnenderweise »laut schreit«, gibt er ihm einen Stoß mit seinem Kommandostab und weist ihn mit Nachdruck an, sich zu setzen und auf die Männer von Rang zu hören. Und als der dreiste Thersites es wagt, den König Agamemnon zu beleidigen und zu kritisieren, versetzt ihm Odysseus einen Schlag mit seinem Zepter und bringt diesem häßlichen, verwachsenen und unheldischen »freien Redner« eine Prellung bei. Die umstehenden Soldaten »lachten vergnügt über ihn«, zeigen sich aber auch »bekümmert« – was sie »bekümmert«, ist die Freimütigkeit des hässlichen Mannes und der Wirrwarr, nicht etwa die Behandlung, die er erfahren hat.4 Die Epen zeigen die unumstrittene Dominanz einer Heldenaristokratie. Sie entstanden nicht als Reaktion auf eine reale Welt, in der diese Dominanz in Frage gestellt worden wäre.
Dennoch ist in ihrer Welt auch die Gerechtigkeit ein Wert, wie am Beispiel der fernen »Abioi« gezeigt wird, einem »gerechten« Volk im Norden Trojas, auf das der Gott Zeus, des Trojanischen Krieges müde, seinen Blick lenkt. Die Entführung der schönen Helena, Frau des Menelaos, durch den Trojaner Paris ist als Verletzung der Gastfreundschafte ungerecht und wird von den Göttern schließlich bestraft. In der Odyssee sprechen sich die Götter ausdrücklich für Gerechtigkeit und gegen ein verwerfliches Handeln der Menschen aus, und in der Ilias heißt es von Zeus, er habe heftige Herbststürme zur Erde gesandt, um Menschen zu bestrafen, »die mit Gewalt auf dem Markt schiefe Rechtsweisungen geben / und das Recht austreiben«.5 Nur einmal werden wir Zeugen einer Gerichtsverhandlung unter Menschen, und wie immer man den Vorgang deutet, er weist auf andere Möglichkeiten hin als den autokratischen Willen eines Heros. Im 18. Buch der Ilias führt uns Homer die wunderbaren Szenen vor Augen, die der Handwerker-Gott Hephaistos auf den Schild für Achilles ziseliert. Eines der Segmente zeigt zwei Kontrahenten im Disput über die »Entschädigung« für einen Toten. Das Volk treibt sie mit Beifallsrufen an und muss von Herolden zurückgehalten werden. Auf Sitzen von poliertem Stein sitzen die Ältesten und greifen in den Prozess ein. »In ihrer Mitte aber lagen zwei Pfunde Goldes / Um sie dem zu geben, der unter ihnen das Recht am geradesten spräche.«6
Die Einzelheiten dieser Szene einer Rechtsprechung bleiben mysteriös, und ihre Bedeutung ist deshalb umstritten. Geht es in der Auseinandersetzung der Kontrahenten darum, ob für die Tötung eines Mannes ein Preis bezahlt wurde oder nicht? Sie wünschen, heißt es, den Spruch eines »kenntnisreichen Mannes«; aber was haben dann die Ältesten in dieser Verhandlung zu suchen? Homer schildert die Ältesten offenbar als »Träger der Zepter von Herolden«: Sind es die Ältesten, die dann vortreten und »einer nach dem anderen« ihr Urteil abgeben? Wer aber ist in diesem Fall der »kenntnisreiche Mann«? Die Zuschauer aus dem Volk scheinen beiden Seiten zuzujubeln – sind vielleicht sie die Gruppe, die durch ihre Rufe entscheiden wird, welcher Älteste der »Kenntnisreiche« ist und den besten Richtspruch abgegeben hat? Die Kontrahenten hätten dann die Meinung desjenigen Redners zu akzeptieren, dem das Volk den Vorzug gab. Und dieser wiederum würde die »zwei Pfunde Goldes« entgegennehmen, die im Zentrum des Ratsplatzes zur Schau gestellt sind.
Ein König ist in dieser Szene nicht zu sehen; man könnte sie also lesen wie eine Erfindung Homers nach dem Modell seiner eigenen nichtmonarchischen Gegenwart. Ein Mord war ein aufsehenerregendes Ereignis und für die Allgemeinheit von offensichtlicher Bedeutung. Die Anwesenheit der Bevölkerung und ihre lautstarke Teilnahme sind in dieser ältesten uns erhaltenen Szene griechischer Rechtsprechung verbürgt. Homers Zuhörern waren die Einzelheiten sicherlich klar, doch zu den Errungenschaften der nächsten drei Jahrhunderte gehörte es, diesen Prozess der Wahrheitsfindung dem geschriebenen Recht zu unterstellen und vor eine Jury aus Vertretern des einfachen Volkes zu bringen. Die »zwei Pfunde Goldes« wurden denn auch, wie sich im Folgenden zeigen wird, in Athen und vielen anderen griechischen Städten aus dem Mittelpunkt des Verfahrens entfernt, ebenso wie – theoretisch zumindest – aus den Gerichtsprozessen in Rom.
Unter diesen Bedingungen legten die, welche blieben (auf Thera/Santorin), und die, welche fortsegelten, um die Kolonie zu gründen (in Libyen), einen Schwur auf eine Vereinbarung ab, und sie riefen den Fluch auf jene herab, die sich nicht daran halten würden … Sie formten Bilder aus Wachs und verbrannten sie und sprachen diesen Fluch aus, als alle versammelt waren, Männer, Frauen, Knaben und Mädchen: »Wer diesen Eid nicht hält und ihn bricht, der soll dahinschmelzen und sich auflösen wie diese Bilder, er selbst, seine Nachkommen und sein Besitz. Doch die, welche den Schwur halten, die nach Libyen segeln und die auf Thera bleiben, werden Gutes in Fülle haben, sie und auch ihre Nachkommen.«
Eid der Siedler von Kyrene, um 630 v.Chr.
(nach einer Inschrift von etwa 350 v.Chr.)
Bei Homer ist die soziale Umwelt der Helden in ihren griechischen Stammländern der Palast. Auf griechischem Boden sind zu Lebzeiten Homers, wenn wir sie nach ca. 760 v.Chr. ansetzen, keine Paläste zu finden. Die letzten Bauwerke von solch epischer Pracht waren die Paläste der weit zurückliegenden mykenischen Kultur, die um 1180 v.Chr. ein abruptes Ende gefunden hatte.
Allerdings gibt es Hinweise auf einen weiteren sozialen Kontext, besonders in der Odyssee: die sogenannte polis, den Stadtstaat oder Bürgerstaat. Wie und wann genau die Polis entstand, ist noch immer äußerst umstritten, denn bis auf die vorliegenden archäologischen Zeugnisse fehlt uns jedes Quellenmaterial. Von einigen Wissenschaftlern wird sie heute als direkte Fortsetzung der befestigten mykenischen Herrenburgen betrachtet, in deren Umkreis sich Überlebende sammelten und einen neuen Typus sozialer Gemeinschaft ausbildeten. Andere sehen darin einen späteren Neubeginn, Teil einer umfassenderen Zunahme der Bevölkerung, des Wohlstands und der Ordnung im 9.Jahrhundert v.Chr. Eine dritte Gruppe setzt die Gründung der ersten poleis noch später an, in eine neue Phase überseeischer Kolonisation: Konfrontiert mit der Notwendigkeit eines Neubeginns, erfanden diese Siedler eine neue Form sozialer Lebensordnung, eben den Stadtstaat, der in den 730er Jahren v.Chr. auf Sizilien seinen Anfang nahm.
Auch die Definition des Begriffs ist unscharf und schwankt zwischen »Niederlassung« und »Gemeinwesen«, mit zahlreichen griechischen Belegen für beide Varianten des Wortgebrauchs. Im eigentlichen Sinn ist die Polis nach meiner Überzeugung ein Bürgerstaat. Der Leiter der jüngsten dahingehend spezialisierten Forschergruppe definiert sie als »kleines, hochinstitutionalisiertes und selbstverwaltetes Gemeinwesen von Bürgern, die mit Frau und Kind in einem städtischen Zentrum samt Hinterland lebten. Zu diesem Verband gehörten zwei weitere Gruppen, freie Nichtgriechen, oft Metöken genannt, und Sklaven ...«1 Diese Definition erinnert zu Recht daran, dass eine Polis keine Stadt war – sie konnte einerseits sehr klein sein, und andererseits war die Bevölkerung über ein ländliches Gebiet verteilt, das oft zahlreiche Siedlungen einschloss – auf dem Gebiet der Athener befanden sich um 500 v.Chr. etwa 140 Siedlungen. Sie legt außerdem den Akzent auf das Volk, die Bürger, und nicht auf das Territorium. Eine Polis konnte in diesem Sinne sogar auch außerhalb ihres Stadtgebietes Bestand haben. Im 4.Jahrhundert v.Chr. waren die Bewohner von Samos etwa 40 Jahre lang von ihrer Heimatinsel verbannt, verstanden sich aber immer noch als »die Samier« – die Männer jedenfalls. Die Frauen lebten zwar in der Polis, und ihre Abkunft von städtischen Familien hatte oft Gewicht, aber sie waren keine Vollbürger mit allen politischen Rechten.
Wenn wir die Polis betont als Verband betrachten, können wir den Wandel der politischen Rechte ihrer männlichen Bewohner verfolgen: Ein Stadtbürger hatte im 9.Jahrhundert v.Chr. zweifellos nicht die gleichen Rechte, deren sich viele Bewohner der Polis im klassischen 5.Jahrhundert v.Chr. erfreuten. In diesem Wandel spielen die Themen Freiheit und Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Im Wesentlichen war die Polis ein Verband von Kriegern, Männern, die die Stadt verteidigen mussten. Aber auch hier kam es zu Veränderungen, was die Häufigkeit und Art des Kampfeinsatzes des Einzelnen betraf: Die Männer der Polis waren nicht ausschließlich Krieger – und oft auch nicht besonders kriegerisch –, doch für die meisten von ihnen war die Wahrscheinlichkeit groß, um des Wohles ihrer Polis willen ein- oder zweimal im Leben in die Schlacht ziehen zu müssen. Für den unterschiedlichen Stil ihrer Kriegsführung war zeitweise auch Luxus von Bedeutung.
Gegründet wurden poleis, soweit ich sehe, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Teilen Griechenlands, entstanden aber sind sie zweifellos vor den 730er Jahren v.Chr., und ihre Entwicklung dürfte um ca. 900 v.Chr. eingesetzt haben. 1000 Jahre später, zur Zeit Hadrians, lebten in den Stadtstaaten vom Typ polis schätzungsweise 30 Millionen Menschen, etwa die Hälfte der für das Römische Reich angenommenen Bevölkerungszahl. Charakteristisch blieb die Verbindung einer Stadt als Schwerpunkt mit einem ländlichen Gebiet und Dörfern; dabei konnten die politischen Rechte dieser einzelnen Elemente zeit- und ortsabhängig variieren. Hätte Hadrian je gezählt, wäre er wohl auf etwa 1500 poleis gekommen, von denen ungefähr die Hälfte auf dem Boden des heutigen Griechenland und Zypern sowie an der Westküste Kleinasiens, der heutigen Türkei, lag. Bei diesen rund 750 handelte es sich zumeist um Stadtstaaten aus den Anfängen der klassischen Periode Griechenlands, bei den übrigen um Gründungen in Regionen von der Iberischen Halbinsel bis weit in den Osten nach Nordwestindien, hier auf Weisung Alexanders des Großen.
Während des 9. und 8.Jahrhunderts v.Chr. stieg die Zahl der Siedlungen auf den zunehmend als poleis identifizierbaren Territorien erheblich an. Es war ein Prozess lokaler Besiedlung, keine weitausgreifende Migration. Nach etwa 750 v.Chr. begannen dann einige dieser Polis-Zentren kleinere Gruppen ihrer Bürger als Siedler in weitere poleis jenseits des Meeres zu schicken. Kolonisierung außerhalb des Festlandes war ein Begleitmoment der griechischen Zivilisation. Zu Hadrians Zeiten lebten ebenso wie heute mehr Griechen außerhalb des armen, kleinräumigen Inselreichs als in seinen Grenzen. Auch in der Zeit der mykenischen Paläste waren bereits Griechen nach Sizilien, Süditalien, Ägypten und an die kleinasiatische Küste aufgebrochen und hatten sogar an der Stelle des alten Milet eine Siedlung gegründet.2 Später, um 1170 v.Chr., waren Auswanderer aus den zerfallenden Palaststaaten nach Osten gezogen und hatten sich vor allem auf Zypern niedergelassen. Zwischen etwa 1100 und 950 hatten darauf weitere Griechen von der Ostküste des Mutterlands aus das Ägäische Meer überquert, unterwegs auf einigen Inseln Halt gemacht und waren dann an der kleinasiatischen Westküste sesshaft geworden. Aus den Heimstätten dieser Ostgriechen gingen später weltberühmte Stadtstaaten wie Ephesos oder Milet hervor. Archäologische Ausgrabungen haben ergeben, dass einer dieser Orte, Smyrna, wohl schon um 800 v.Chr. mit Mauern befestigt war und alle Merkmale einer Polis aufwies.
Die griechische Welt hatte sich also schon vor Homers Zeit in ihrer Ausdehnung bedeutend verändert. Im 8.Jahrhundert v.Chr. gab es kein Land, das Griechenland hieß, geschweige denn eines in den heutigen Grenzen dieses Staates. Bei Homer bezieht sich der moderne Name Griechenlands, Hellas, nur auf die Region Thessalien. Doch es gab eine gemeinsame, vielerorts gesprochene griechische Sprache mit nur wenigen Dialekten – die wichtigsten waren der äolische, der ionische und der dorische. Die Verständigung zwischen den Sprechern der verschiedenen Dialekte stellte keine größere Schwierigkeit dar. Jede griechische Polis fußte außerdem auf gleichartigen Gruppierungen, den Phylen, was wir irreführend als »Stämme« übersetzen. Auch hier ist die Einheitlichkeit auffälliger als die Vielfalt: Drei einzelne Phylen gab es in den dorischen Gemeinwesen, vier in den ionischen. Als die Griechen seit etwa 1100 v.Chr. emigrierten und sich an der kleinasiatischen Küste niederließen, blieb ihr Dialekt erstaunlicherweise der dominierende ihrer früheren Siedlungsgebiete im Mutterland; auch die Identität der Phylen blieb erhalten. Moderne Wissenschaftler stellen in der ethnischen Unübersichtlichkeit unserer Zeit gern die Frage, ob es so etwas wie eine »griechische Identität« gab und wenn ja, wann. In der dunklen Frühzeit vor Homer verehrten alle Griechen dieselben Götter und Göttinnen und sprachen eine weitgehend gemeinsame Sprache. Auf unsere Frage: »Bist du Grieche?«, gestellt in einer Zeit der Auflösung nationaler Konturen, hätten sie vielleicht mit einem Zögern reagiert, weil sie sich die Frage in dieser begrifflichen Eindeutigkeit vermutlich nie gestellt hatten. Grundsätzlich aber wäre die Antwort ein Ja gewesen, denn man war sich kultureller Bindeglieder wie Sprache und Religion bewusst. Schon im weit zurückliegenden mykenischen Zeitalter schrieb man in den Königreichen des Ostens über »Ahhijawa« von jenseits der Meere, zweifellos mit Bezug auf die Achäer einer griechischen Welt.3 In Homers Epik sind sie bereits »Pan-Achäer«; das Griechentum ist also keine späte, post-homerische Erfindung.