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«Ein Wunder. Und kein geringes.» (Die Welt) Nach fast fünfzig Ehejahren hat Enid Lambert nur ein Ziel: ihre Familie zu einem letzten Weihnachtsfest um sich zu scharen. Alles könnte so schön sein, gemütlich, harmonisch. Doch Parkinson hat ihren Mann Alfred immer fester im Griff, und die drei erwachsenen Kinder durchleben eigene tragikomische Malaisen. Gary steckt in einer Ehekrise. Chip versucht sich als Autor. Und Denise ist zwar eine Meisterköchin, hat aber in der Liebe kein Glück. Jonathan Franzen ist ein großartiger Roman gelungen: Familien- und Gesellschaftsgeschichte in einem. «Eine Sensation.» (Der Spiegel) «Jonathan Franzen ist das größte Sprachtalent, das die amerikanische Literatur seit John Updike hervorgebracht hat.» (Literaturen) «Man möchte Jonathan Franzen genial nennen.» (Süddeutsche Zeitung) «Man geht mit jenem eigentümlichen Gefühl aus der Lektüre hervor, das nur große Literatur wecken kann: Man fühlt sich beschenkt und bereichert.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
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Seitenzahl: 1026
Jonathan Franzen
Die Korrekturen
Roman
Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell
Für David Means und Genève Patterson
DER IRRSINN einer herbstlichen Prärie-Kaltfront, näher kommend. Es war deutlich zu spüren: Etwas Furchtbares würde geschehen. Die Sonne tief am Himmel, ein winziges Licht, ein erkaltender Stern. Windstoß auf Windstoß der Unordnung. Die Bäume rastlos, die Temperaturen fallend, die ganze nördliche Religion der Dinge aufs Ende gerichtet. Keine Kinder in den Gärten. Länger werdende Schatten auf gelblichem Zoysia-Gras. Aus Roteichen, Nadeleichen, weißen Sumpfeichen regnete es Eicheln auf Häuser ohne Hypothek. Sturmfenster zitterten in den leeren Schlafzimmern. Dazu das Summen und Hicksen eines Kleidertrockners, das näselnde Gezänk eines Laubsaugers, das Reiferwerden heimischer Äpfel in einer Papiertüte, der Geruch des Benzins, das Alfred Lambert, nach dem Streichen des kleinen Korbsofas am Morgen, zum Reinigen des Pinsels benutzt hatte.
Drei Uhr am Nachmittag war eine Zeit der Gefahr in den gerontokratischen Vororten von St.Jude. Alfred hatte seit dem Mittagessen in seinem großen blauen Sessel geschlafen und war gerade aufgewacht. Nun lag sein Nickerchen hinter ihm, und die nächsten Lokalnachrichten kamen erst um fünf. Zwei leere Stunden waren eine Nebenhöhle, in der Infektionen keimten. Er rappelte sich hoch und stand neben der Tischtennisplatte, vergebens horchend, ob Enid sich oben regte.
Überall im Haus läutete eine Alarmglocke, die außer Alfred und Enid niemand hörte. Es war die Alarmglocke der Angst. Sie klang wie eine jener schweren schmiedeeisernen Schüsseln mit elektrischem Klöppel, die Schulkinder bei Feueralarmübungen nach draußen treiben. Mittlerweile läutete sie seit so vielen Stunden, dass die Lamberts die Botschaft «Glocke läutet» schon gar nicht mehr hörten – so, wie man bei jedem Geräusch, wenn es nur lange genug anhält, schließlich sämtliche Bestandteile einzeln wahrnimmt (und bei jedem Wort, wenn man es nur lange genug anstarrt, nichts als eine Reihe toter Buchstaben sieht), hörten sie bloß noch einen Klöppel, der wie rasend auf einen Metallkörper hieb, hörten keinen reinen Ton, sondern ein grobkörniges Nacheinander von Schlägen, über dem sich ein Bogen klagender Obertöne wölbte; sie läutete seit so vielen Tagen, dass sich der Klang für gewöhnlich im Hintergrund verlor, nur manchmal nicht, in den frühen Morgenstunden, wenn sie im Wechsel, mal der eine, mal der andere, schweißgebadet erwachten und erkannten, dass eine Glocke in ihren Köpfen läutete, solange sie zurückdenken konnten; sie läutete seit so vielen Monaten, dass das Geräusch zu einer Art Metageräusch geworden war, dessen An- und Abschwellen nichts mehr mit dem Rhythmus von Schallwellen zu tun hatte, sondern allein mit dem viel, viel langsamer zu- und abnehmenden Bewusstsein dieses Geräuschs, einem Bewusstsein, das immer dann besonders geschärft war, wenn das Wetter selbst von Angst gepeinigt schien. Dann hatten Enid und Alfred – sie auf Knien vor den geöffneten Schubladen im Esszimmer, er unten im Keller, den katastrophalen Zustand der Tischtennisplatte inspizierend – jeder für sich das Gefühl, sie müssten vor Angst zerspringen.
Der Angst etwa, die von den Rabattmarken kam, dort in der Schublade neben den Kerzen in Designer-Herbstfarben. Die Marken wurden von einem Gummiband zusammengehalten, und Enid hatte gerade entdeckt, dass die Fristen (vom Hersteller oft schwungvoll mit Rot umrandet) schon vor Monaten, wenn nicht gar Jahren abgelaufen waren: dass diese hundert und so viel Rabattmarken, deren Gesamtwert mehr als sechzig Dollar betrug (im Chiltsville-Supermarkt, wo sie den Markenwert verdoppelten, theoretisch sogar 120Dollar), samt und sonders nutzlos geworden waren. Tilex, sechzig Cent Rabatt. Excedrin PM, einen Dollar Rabatt. Und die Fristen bezogen sich nicht auf die jüngere Vergangenheit: Sie waren historisch. Die Alarmglocke läutete seit Jahren.
Sie schob die Marken wieder zwischen die Kerzen und schloss die Schublade. Was sie suchte, war ein Brief, der einige Tage zuvor als Einschreiben gebracht worden war. Alfred hatte den Postboten an die Tür klopfen hören und so laut «Enid! Enid!» gerufen, dass er gar nicht mitbekam, wie sie «Ich gehe schon, Al!» antwortete. Weiter ihren Namen rufend, war er immer näher gekommen, aber da der Absender des Briefs die Axon Corporation, 24East Industrial Serpentine, Schwenksville, PA, war und es gewisse Aspekte der wirtschaftlichen Lage des Axon-Unternehmens gab, über die Enid Bescheid wusste, Alfred hingegen, wie sie inständig hoffte, nicht, hatte sie den Brief rasch irgendwo, und zwar nicht mehr als fünf Meter von der Haustür entfernt, versteckt. Dann war Alfred aus dem Keller aufgetaucht, hatte mit der Lautstärke eines Bulldozers «Da ist jemand an der Tür!» gebrüllt, und sie hatte, fast schreiend, geantwortet: «Der Postbote! Der Postbote!», woraufhin er den Kopf schüttelte, weil das Ganze so verworren war.
Enid war sicher, dass sie selber einen klareren Kopf bekommen würde, wenn sie sich nicht alle fünf Minuten fragen müsste, was Alfred im Schilde führte. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn einfach nicht dazu bringen, sich für das Leben zu interessieren. Wenn sie ihn ermunterte, sich doch wieder einmal seinem Labor zuzuwenden, sah er sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Wenn sie ihn fragte, ob es nicht irgendetwas im Garten zu tun gebe, sagte er, die Beine täten ihm weh. Wenn sie ihn darauf aufmerksam machte, dass die Männer ihrer Freundinnen allesamt Hobbys hatten (Dave Schumpert seine Glasmalerei, Kirby Root seine raffinierten Chalets als Nistkästen für Rotfinken, Chuck Meisner die stündliche Überprüfung seines Aktiendepots), tat er so, als wolle sie ihn von einer wichtigen Arbeit abhalten, und worin bestand die? Darin, die Gartenmöbel zu streichen? Mit dem Korbsofa war er nun schon seit dem Labor Day beschäftigt. Das letzte Mal, als er die Gartenmöbel gestrichen hatte, war er, wenn sie sich recht erinnerte, nach zwei Stunden mit dem Sofa fertig gewesen. Jetzt verschwand er Morgen für Morgen in seiner Werkstatt, und als sie sich nach einem Monat einmal zu ihm hineingewagt hatte, um nachzusehen, wie es voranging, hatte sie entdeckt, dass er über die Beine des Sofas nicht hinausgekommen war.
Es schien, als wollte er lieber allein sein. Er sagte, der Pinsel sei ihm zwischendurch eingetrocknet, deshalb dauere es so lange. Er sagte, Korbmöbel abschmirgeln sei wie eine Blaubeere schälen. Er sagte, es gebe hier unten Grillen. Da verspürte sie leichte Atemnot, aber vielleicht war es auch nur der Geruch des Benzins oder die Feuchtigkeit in der Werkstatt, die wie Urin roch (und doch unmöglich Urin sein konnte). Sie flüchtete die Treppe hinauf, um den Brief von Axon zu suchen.
Sechs Tage die Woche kamen mehrere Pfund Post durch den Schlitz in der Haustür, und da sich im Erdgeschoss nichts Nebensächliches anhäufen durfte – der Eindruck, den diese Wohnräume hervorrufen sollten, war ja gerade, dass niemand hier wohnte–, hatte Enid eine taktische Aufgabe von beträchtlicher Schwierigkeit zu bewältigen. Sie selbst hätte sich niemals als Guerillera bezeichnet, doch genau das war sie: eine Guerillera. Tagsüber verbrachte sie Material von Depot zu Depot, der regierenden Macht oft nur einen winzigen Schritt voraus. Abends dann, im Licht einer hübschen, doch zu schwachen Wandlampe und an einem viel zu kleinen Tisch, der in der Frühstücksnische stand, führte sie alle möglichen Manöver durch: beglich Rechnungen, prüfte Kontoauszüge, versuchte, die Jahresabrechnung der Krankenversicherung zu entziffern und sich einen Reim auf die dritte, in drohendem Ton gehaltene Mahnung eines medizinischen Labors zu machen, das die unverzügliche Begleichung von ausstehenden $0,22 einforderte, während der ausgewiesene Kontostand von $0,00 eindeutig besagte, dass sie nicht das Geringste schuldig geblieben war, und sich im Übrigen auch nirgends eine Adresse fand, an die man den Scheck hätte senden können. Schon möglich, dass die erste und zweite Mahnung irgendwo vergraben waren, aber angesichts der widrigen Bedingungen, unter denen Enid ihren Feldzug unternahm, hatte sie kaum mehr als eine schemenhafte Vorstellung davon, wo sich die anderen Mahnungen an einem bestimmten Abend befanden. Vielleicht in dem Schrank, der im Familienzimmer stand, das war denkbar, aber dann schaute sich die regierende Macht in Person Alfreds dort gerade eine Nachrichtensendung an und ließ den Fernseher in einer Lautstärke laufen, die dröhnend genug war, ihn wach zu halten, ja hatte zudem alle Lichter eingeschaltet, und es war nicht gänzlich auszuschließen, dass beim Öffnen der Schranktür, einem Wasserfall gleich, diverse Kataloge und House Beautiful-Hefteund Merrill-Lynch-Rechenschaftsberichte herausgeschossen und -gerutscht kämen und Alfreds Zorn entfachen würden. Ebenso wenig war auszuschließen, dass die Mahnungen gar nicht dort waren, immerhin führte die regierende Macht willkürliche Razzien ihrer Depots durch und drohte, «den ganzen Krempel wegzuwerfen», falls Enid dort nicht endlich einmal aufräumte. Aber da Enid zu sehr damit beschäftigt war, besagte Razzien zu hintertreiben, um je richtig zum Aufräumen zu kommen, ging infolge erzwungener Standortwechsel und Deportationen jeglicher Anschein von Ordnung verloren, auch das allerletzte bisschen, und so konnte es passieren, dass irgendeine Nordstrom-Einkaufstüte mit halb abgerissenem Plastikgriff, die vorübergehend hinter einem Staubwedel verstaut gewesen war, das ganze vielgestaltige Elend einer Flüchtlingsexistenz enthielt: vereinzelte Good Housekeeping-Ausgaben, Schwarzweißschnappschüsse von Enid aus den vierziger Jahren, an welken Salat erinnernde Rezepte auf stark säurehaltigem, braunstichigem Papier, die Telefon- und Gasrechnungen des laufenden Monats, eine detaillierte erste Mahnung des medizinischen Labors, in der alle Selbstzahler angewiesen wurden, künftige Buchungen von unter 50Cent zu ignorieren, ein Gratisfoto von ihrer Kreuzfahrt– Enid und Alfred mit Blumenkränzen auf dem Kopf, aus hohlen Kokosnüssen irgendein Getränk schlürfend – sowie die letzten noch vorhandenen Kopien der Geburtsurkunden von zweien ihrer Kinder.
Enids scheinbarer Feind war Alfred, doch zur Guerillera machte sie das Haus. Es nahm sie beide in die Pflicht. Die Einrichtung war von der Art, die kein Durcheinander duldete. Stühle und Tische von Ethan Allen. Blümchengeschirr und Kristall hinter gläsernen Schranktüren. Unvermeidliche Ficusbäume, unvermeidliche Norfolkkiefern. Hefte von Architectural Digest, auf der Glasplatte des Wohnzimmertischs aufgefächert. Touristischer Krimskrams: Porzellan aus China, eine Wiener Spieluhr, die Enid aus Pflichtgefühl und Erbarmen von Zeit zu Zeit aufzog und öffnete. Sie spielte «Strangers in the Night».
Unglücklicherweise fehlte Enid das nötige Temperament und Alfred das neurologische Rüstzeug, um ein solches Haus zu führen. Das wütende Geschrei, in das Alfred ausbrach, sooft er Hinweise auf Guerilla-Aktionen entdeckte – eine bei helllichtem Tag auf der Kellertreppe überraschte Nordstrom-Tüte zum Beispiel, die ihn beinahe zu Fall gebracht hätte–, war das Geschrei einer Regierung, die regierungsunfähig geworden war. Neuerdings hatte er eine Vorliebe dafür entwickelt, seine Rechenmaschine Kolonnen sinnloser achtstelliger Zahlen ausspucken zu lassen. Nachdem er den größten Teil eines Nachmittags damit zugebracht hatte, fünfmal hintereinander die Sozialversicherungsbeiträge der Putzfrau auszurechnen, wobei er vier verschiedene Ergebnisse ermittelt und sich schließlich für die einzige Zahl ($635,78) entschieden hatte, die am Ende zweimal dastand (das richtige Ergebnis lautete $70,00), hatte sich Enid ihrerseits zu einer nächtlichen Razzia in seinem Aktenschrank entschlossen und sämtliche dort deponierten Steuerunterlagen beschlagnahmt, was die Wirtschaftlichkeit des Haushalts durchaus hätte steigern können, wären die Unterlagen nicht zusammen mit einigen irreführend alten Good Housekeeping-Heften, die die einschlägigeren Dokumente unter sich begruben, in einer Nordstrom-Tüte gelandet, eine strategische Schlappe, die zur Folge hatte, dass die Putzfrau die Formulare selber ausfüllte, Enid nur noch die Schecks ausstellte und Alfred den Kopf schüttelte, weil das Ganze so verworren war.
Es ist das Schicksal der meisten Tischtennisplatten in privaten Kellerräumen, dass sie am Ende für andere, hoffnungslosere Spiele herhalten müssen. Seit seiner Pensionierung beanspruchte Alfred das östliche Ende der Platte für Bankangelegenheiten und Korrespondenz. Am westlichen Ende stand der tragbare Farbfernseher, denn ursprünglich hatte Alfred vorgehabt, sich hier unten, in seinem großen blauen Sessel sitzend, die täglichen Lokalnachrichten anzuschauen, aber mittlerweile verschwand der Apparat fast völlig zwischen Stapeln von Good Housekeeping-Heften, Weihnachtsplätzchendosen und barocken, doch stümperhaft gemachten Kerzenhaltern, die Enid aus purem Zeitmangel noch immer nicht zum Trödel gebracht hatte. Die Tischtennisplatte war das einzige Feld, auf dem der Bürgerkrieg in aller Offenheit tobte. Am östlichen Ende wurde Alfreds Rechenmaschine aus dem Hinterhalt von Topflappen mit Blumendruck, Souvenir-Untersetzern vom Epcot Center und einem Kirschentkerner angegriffen, den Enid seit dreißig Jahren besaß und nie benutzte, während Alfred am westlichen Ende aus keinem für Enid auch nur entfernt begreiflichen Grund einen aus Kiefernzapfen und farbig besprühten Hasel- und Paranüssen geklebten Kranz in seine Einzelteile zerlegte.
Östlich der Tischtennisplatte befand sich die Werkstatt, die Alfreds metallurgisches Labor beherbergte. Sie war inzwischen zur Heimstatt einer Kolonie stummer, staubfarbener Grillen geworden, die sich, sobald man sie aufschreckte, wie eine Hand voll fallen gelassener Murmeln über den ganzen Raum verteilten, wobei manche kreuz und quer durcheinander schossen, andere wiederum, beschwert vom Gewicht ihres üppigen Protoplasmas, ins Schwanken kamen und zu Boden stürzten. Sie zerplatzten allzu leicht, und zum Aufwischen war mehr als ein Kleenex nötig. Enid und Alfred waren mit zahllosen Unbilden geschlagen, die sie für außergewöhnlich, übergroß, ja für beschämend hielten, und die Grillen gehörten dazu.
Der graue Staub böser Flüche und die Spinnweben der Zauberei bildeten eine dicke Schicht auf dem alten elektrischen Lichtbogenofen, den Gefäßen mit exotischem Rhodium, finsterem Kadmium und kräftigem Wismut, den handbedruckten, von Dämpfen, die aus einer Glasstöpselflasche voll aqua regia entwichen, braun gewordenen Etiketten und dem Notizblock mit kleinen Karos, dessen jüngster Eintrag in Alfreds Handschrift fünfzehn Jahre zurücklag, also aus der Zeit stammte, bevor allenthalben der Verrat begonnen hatte. Ein so alltägliches und freundliches Ding wie ein Bleistift befand sich noch immer an jener Stelle der Werkbank, an der Alfred es in einem anderen Jahrzehnt zufällig abgelegt hatte; die vielen Jahre, die seither vergangen waren, erfüllten ihn nun mit einer Art Feindseligkeit. Asbesthandschuhe hingen an einem Nagel zwischen den Urkunden zweier US-amerikanischer Patente, deren Rahmen durch die Feuchtigkeit verzogen und gesprungen waren. Auf der Abdeckhaube des Binokularmikroskops lagen große Stücke abgeplatzter Farbe. Die einzigen staubfreien Gegenstände im Raum waren das Korbsofa, eine Büchse Rost-Oleum mit ein paar Pinseln darin sowie mehrere Yuban-Kaffeedosen, die sich, wie Enid trotz immer stärkerer Geruchsindizien zu glauben beschlossen hatte, gewiss nicht mit dem Urin ihres Mannes füllten, denn was um alles in der Welt sollte ihn, dem keine zehn Schritt entfernt ein hübsches kleines Badezimmer zur Verfügung stand, dazu bringen, in eine Yuban-Dose zu pinkeln?
Westlich der Tischtennisplatte stand Alfreds großer blauer Sessel. Der Sessel wirkte, überpolstert, wie er war, ein wenig gouverneurshaft. Er war aus Leder, roch aber wie der Innenraum eines Honda der Luxusklasse. Wie etwas Modernes und Medizinisches und Undurchlässiges, von dem man den Geruch des Todes mit einem feuchten Tuch mühelos abwischen konnte, bevor der Nächste Platz nahm, um darin zu sterben.
Der Sessel war die einzige größere Anschaffung, die Alfred jemals ohne Enids Einverständnis gemacht hatte. Als er nach China fuhr, um mit chinesischen Eisenbahningenieuren zu verhandeln, hatte Enid ihn begleitet, und sie hatten gemeinsam eine Teppichfabrik besucht, um sich einen Teppich für ihr Familienzimmer zu kaufen. Nicht gewohnt, Geld für sich selber auszugeben, wählten sie einen der billigsten Teppiche, mit einem schlichten blauen Muster aus dem Buch der Wandlungen auf gleichmäßig beigem Hintergrund. Einige Jahre später, kurz nachdem er bei der Midland Pacific Railroad aufgehört hatte, beschloss Alfred, den alten, nach Kuh riechenden schwarzen Lederarmstuhl, in dem er fernsah und zu Mittag schlief, durch einen neuen zu ersetzen. Er wollte etwas Bequemes, natürlich, doch da er sein Leben lang für andere gesorgt hatte, brauchte er mehr als das: Er brauchte ein Denkmal für sein Bedürfnis nach Bequemlichkeit. Also machte er sich allein auf den Weg in ein teures Möbelgeschäft und wählte einen Sessel fürs Leben. Einen Ingenieurssessel. Einen Sessel, der so wuchtig war, dass selbst ein wuchtiger Mann sich darin verlor; einen Sessel, der starker Beanspruchung standhalten würde. Und da das blaue Leder so ungefähr zum Blau des chinesischen Teppichs passte, blieb Enid nichts anderes übrig, als die Aufstellung des Sessels im Familienzimmer hinzunehmen.
Bald jedoch begannen Alfreds Hände, entkoffeinierten Kaffee auf den beigen Flächen des Teppichs zu verschütten, und herumtobende Enkelkinder hinterließen Beeren- und Buntstiftspuren, und Enid beschlich das Gefühl, dass der Teppich ein Fehler gewesen war. Ihr schien, dass sie in ihrem lebenslangen Bemühen, Geld zu sparen, etliche solcher Fehler gemacht hatte. Irgendwann meinte sie sogar, es wäre besser gewesen, sie hätten überhaupt keinen Teppich gekauft. Schließlich, als Alfreds Mittagsschläfchen tiefer und einer Verzauberung immer ähnlicher wurden, fasste sie sich ein Herz. Von ihrer Mutter hatte sie vor Jahren eine kleine Summe geerbt. Zum Kapital waren Zinsen gekommen, manche Aktien hatten sich ziemlich vorteilhaft entwickelt, und jetzt verfügte sie über ein eigenes Einkommen. Sie überlegte, wie sich das Familienzimmer neu gestalten ließe, und entschied sich für Grün- und Gelbtöne. Sie bestellte Stoffe. Ein Tapezierer kam, und Alfred, der seinen Mittagsschlaf vorübergehend im Esszimmer hielt, sprang auf, als hätte er schlecht geträumt.
«Dekorierst du schon wieder alles um?»
«Es ist mein eigenes Geld», sagte Enid. «Und jetzt geb ich es aus.»
«Und was ist mit dem Geld, das ich verdient habe? Was ist mit der Arbeit, die ich geleistet habe?»
Früher hatte dieses Argument stets gewirkt – es war, sozusagen, die verfassungsmäßige Grundlage für die Rechtfertigung seiner Tyrannei gewesen–, jetzt aber zog es nicht mehr. «Der Teppich ist fast zehn Jahre alt, und die Kaffeeflecken kriegen wir nie wieder raus», entgegnete Enid.
Alfred wies auf den blauen Sessel, der unter dem Plastiküberwurf des Tapezierers aussah wie etwas, das im Kipplader zu einem Kraftwerk transportiert werden sollte. Er zitterte, ungläubig, fassungslos, dass Enid diesen vernichtenden Einwand gegen ihre Anschauungen, jene eine Sache, die so überwältigend offensichtlich gegen ihre Pläne sprach, einfach vergessen haben sollte. Es war, als wäre die ganze Unfreiheit, in der er seine sieben Lebensjahrzehnte verbracht hatte, in jenem sechs Jahre alten, im Grunde jedoch brandneuen Sessel verkörpert. Er grinste, und sein Gesicht glühte, so grässlich, so unentrinnbar vollkommen war seine Logik.
«Und was passiert mit dem Sessel?», fragte er. «Was passiert mit dem Sessel?»
Enid schaute den Sessel an. Ihr Gesichtsausdruck war gequält, mehr nicht. «Ich habe den Sessel noch nie gemocht.»
Das war vermutlich das Schlimmste, was sie Alfred sagen konnte. Der Sessel war der einzige Hinweis, den er je auf seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft gegeben hatte. Enids Worte erfüllten ihn mit solcher Traurigkeit – er empfand so viel Mitleid, so viel Solidarität mit dem Sessel, so viel verblüfften Kummer über Enids Verrat–, dass er die Folie abzog, in die Arme des Sessels sank und einschlief.
(Daran konnte man Orte der Verzauberung erkennen: an Menschen, die auf diese Weise einschliefen.)
Als feststand, dass beides verschwinden musste, der Teppich ebenso wie Alfreds Sessel, wurden sie den Teppich ohne Mühe los. Enid hatte in der kostenlosen Lokalzeitung inseriert, und schon ging ihr eine nervöse, vogelhafte Frau ins Netz, die immer noch Fehler machte und ihre schlampig zusammengerollten Fünfziger aus der Handtasche hervorholte, sie mit zittrigen Fingern auseinander pulte und glatt strich.
Aber der Sessel? Der Sessel war ein Denkmal und ein Symbol und durfte nicht von Alfred getrennt werden. Man konnte ihn nur umstellen, und darum landete er im Keller, und Alfred folgte ihm. So kam es, dass im Haus der Lamberts, wie in St.Jude, wie im ganzen Land, das Leben unterirdisch gelebt wurde.
Enid hörte, wie Alfred oben Schubladen auf- und zumachte. Immer wenn sie ihre Kinder besuchen wollten, wurde er unruhig. Ihre Kinder zu besuchen, das war offenbar das Einzige, was ihm noch am Herzen lag.
Vor den schlierenlos sauberen Fenstern des Esszimmers herrschte das Chaos. Der rasende Wind, die verneinenden Schatten. Enid hatte überall nach dem Brief der Axon Corporation gesucht, aber sie konnte ihn nicht finden.
Alfred stand im Elternschlafzimmer und fragte sich, warum die Schubladen seiner Kommode offen waren, wer sie geöffnet hatte, ob er selbst es gewesen war. Er konnte nicht anders, als Enid die Schuld an seiner Verwirrung zu geben. Daran, dass sie ihr durch bloße Zeugenschaft zur Existenz verhalf. Daran, dass sie selber existierte, als eine Person, die diese Schubladen womöglich geöffnet hatte.
«Al? Was machst du da?»
Er drehte sich zur Tür um, in der sie aufgetaucht war. Dann begann er einen Satz: «Ich habe–», doch wenn er überrumpelt wurde, war jeder Satz ein Abenteuer im Wald, und sobald er die Lichtung, an der er den Wald betreten hatte, nicht mehr sah, bemerkte er, dass die Brotkrumen, die er zu seiner Orientierung hatte fallen lassen, von Vögeln aufgepickt worden waren, leisen, flinken, pfeilgeschwinden Dingern, die er in der Dunkelheit nicht recht ausmachen konnte, obwohl sie ihn in ihrem Hunger so zahlreich umschwärmten, dass es schien, als wären sie die Dunkelheit, als wäre die Dunkelheit nicht gleichförmig, keine Abwesenheit von Licht, sondern etwas Wimmelndes, Korpuskelhaftes, und in der Tat hatte er als emsiger Teenager in McKay’s Treasury of English Verse für «dämmrig» das Wort «crepuscular» gefunden, woraufhin die Korpuskeln der Biologie, die Blutkörperchen nämlich, für immer in sein Verständnis dieses Wortes eingeflossen waren, sodass er sein gesamtes Erwachsenenleben hindurch die Dämmerung als Korpuskularität wahrgenommen hatte, vergleichbar der Körnigkeit eines hoch empfindlichen Films, wie man ihn benutzte, wenn man bei schummriger Innenbeleuchtung fotografieren wollte, vergleichbar auch einer Art düsteren Verfalls; daher die Panik eines Mannes, den man, verraten und verkauft, tief im Wald allein gelassen hatte, wo die Dunkelheit eine Dunkelheit von Staren war, die den Sonnenuntergang verfinsterten, oder von schwarzen Ameisen, die ein totes Opossum stürmten, eine Dunkelheit, die nicht einfach nur da war, sondern die Wegmarkierungen, die er vernünftigerweise ausgelegt hatte, um sich nicht zu verlaufen, regelrecht verschlang; in der Sekunde jedoch, da er begriff, dass er die Orientierung verloren hatte, wurde die Zeit wunderbar langsam, und er entdeckte bis dahin nie geahnte Ewigkeiten im Abstand zwischen einem Wort und dem nächsten oder, besser gesagt: Er war gefangen in den Lücken zwischen den Wörtern und konnte bloß dastehen und zusehen, wie die Zeit ohne ihn weitereilte, wobei der gedankenlose, jungenhafte Teil von ihm blindlings durch den Wald davonstürzte, bis er außer Sichtweite war, während er, gefangen, der erwachsene Al, mit sonderbar unpersönlicher Spannung abwartete, ob der von panischem Schrecken erfüllte kleine Junge, auch wenn er nun nicht mehr wusste, wo er war oder an welcher Stelle er den Wald dieses Satzes betreten hatte, es vielleicht trotzdem schaffen würde, auf die Lichtung zu stolpern, auf der Enid, ohne irgendwelche Wälder wahrzunehmen, auf ihn wartete – «meinen Koffer gepackt», hörte er sich sagen. Das klang richtig. Possessivpronomen, Substantiv, Verb. Vor ihm stand ein Koffer, eine wichtige Bestätigung. Er hatte nichts verraten.
Aber Enid hatte schon wieder etwas gesagt. Der Ohrenarzt hatte behauptet, er sei leicht schwerhörig. Alfred runzelte die Stirn, weil er sie nicht verstanden hatte.
«Heute ist Donnerstag», sagte sie, lauter. «Wir fahren doch erst Samstag.»
«Samstag!», echote er.
Da schimpfte sie mit ihm, und für eine Weile zogen sich die Vögel der Dämmerung zurück, aber draußen hatte der Wind die Sonne ausgeblasen, und es wurde sehr kalt.
UNSICHER KAMEN SIE den langen Gang herunter, Enid ihre lädierte Hüfte schonend, Alfred mit schlackerigen Handgelenken durch die Luft paddelnd, während seine Füße schlecht kontrolliert auf den Flughafenteppich klatschten, beide mit Nordic-Pleasurelines-Taschen über der Schulter und ganz auf den Boden konzentriert, um die gefährliche Strecke jeweils drei Schritt im Voraus auszumessen. Für jeden, dem auffiel, wie sie die Augen von den dunkelhaarigen, vorbeihastenden New Yorkern abwandten, für jeden, der einen Blick auf Alfreds Strohhut warf, einen Hut so hoch wie Iowa-Mais am herbstlichen Labor Day, oder auf den gelben Wollstoff der Hose, die sich über Enids schiefe Hüfte spannte, war offensichtlich, dass sie aus dem Mittelwesten stammten und Angst hatten. Für Chip Lambert jedoch, der hinter der Sicherheitsschranke auf sie wartete, waren sie Killer.
Chip hatte die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt und hob eine Hand, um an dem schmiedeeisernen Niet in seinem Ohr zu ziehen. Er hatte Sorge, dass er sich den Niet aus dem Ohrläppchen reißen könnte – dass selbst der größte Schmerz, den die Nerven in seinem Ohr erzeugen konnten, geringer wäre als der, den er jetzt brauchte, um Haltung zu bewahren. Von seinem Platz bei den Metalldetektoren aus beobachtete er, wie ein himmelblauhaariges Mädchen seine Eltern auf dem Gang überholte, ein himmelblauhaariges Mädchen im College-Alter: eine äußerst begehrenswerte Fremde mit gepiercten Lippen und Brauen. Wenn er nur eine Sekunde lang mit diesem Mädchen Sex haben könnte, dann, das wurde ihm schlagartig klar, wäre er imstande, seinen Eltern selbstbewusst gegenüberzutreten, und wenn er im Minutentakt weiter mit ihr Sex haben könnte, solange seine Eltern in der Stadt waren, dann wäre er sogar in der Lage, ihren gesamten Besuch zu überstehen. Chip war ein großer, durchtrainierter Mann mit Krähenfüßen und spärlichem, buttergelbem Haar; falls das Mädchen ihn bemerkt hatte, mochte sie gedacht haben, dass er für das Leder, das er trug, ein bisschen zu alt war. Als sie an ihm vorbeieilte, zog er heftiger an seinem Niet, um den Schmerz darüber, dass sie für immer aus seinem Leben verschwand, zu lindern und seine Aufmerksamkeit auf seinen Vater zu lenken, dessen Gesicht aufleuchtete, als er unter so vielen Fremden einen Sohn entdeckte. Blitzartig vorschnellend wie ein in tiefem Wasser zappelnder Mann, stürzte sich Alfred auf Chip und packte dessen Hand samt Gelenk, als wären sie ein Seil, das man ihm zugeworfen hatte. «Na!», sagte er. «Na!»
Hinter ihm tauchte hinkend Enid auf. «Chip», rief sie, «was hast du mit deinen Ohren gemacht!»
«Dad, Mom», murmelte Chip durch die Zähne, in der Hoffnung, dass das himmelblauhaarige Mädchen schon außer Hörweite war. «Schön, euch zu sehen.»
Er hatte Zeit für einen subversiven Gedanken über die Nordic-Pleasurelines-Taschen seiner Eltern – entweder die Mitarbeiter von Nordic Pleasurelines verschickten solche Taschen an jeden, der eine Kreuzfahrt bei ihnen buchte, als zynisches Mittel einer wohlfeil wandelnden Reklame, als praktisches Mittel der Kennzeichnung von Kreuzfahrtteilnehmern, damit sie in den Häfen leichter zu handhaben waren, oder als günstiges Mittel zur Bildung von Teamgeist, oder aber Enid und Alfred hatten die Taschen von einer früheren Nordic-Pleasurelines-Kreuzfahrt extra aufbewahrt und aus einem irregeleiteten Gefühl der Loyalität beschlossen, sie bei ihrer bevorstehenden Kreuzfahrt abermals zu tragen; so oder so war Chip entsetzt, wie bereitwillig seine Eltern sich zu Vektoren der Firmenwerbung machten–, bevor er die Taschen selber schulterte und es auf sich nahm, den LaGuardia Airport und New York City und sein Leben und seine Kleidung und seinen Körper mit den enttäuschten Augen seiner Eltern zu betrachten.
Als wäre er zum ersten Mal hier, bemerkte er das schmutzige Linoleum, die Fahrer, die wie Attentäter aussahen und Schilder mit fremder Leute Namen hochhielten, das Gewirr von Kabeln, die aus einem Loch in der Decke baumelten. Deutlich hörte er das Wort motherfucker. Jenseits der großen Fenster auf der Gepäckebene schoben zwei Männer aus Bangladesch ein fahruntüchtiges Taxi durch Regen und wütendes Gehupe.
«Wir müssen um vier am Pier sein», sagte Enid zu Chip. «Und ich glaube, Dad hat gehofft, mal deinen Schreibtisch beim Wall Street Journal zu sehen.» Sie hob die Stimme. «Al? Al?»
Obwohl im Nacken inzwischen gebeugt, war Alfred immer noch eine imposante Erscheinung. Sein Haar war weiß und dicht und glänzend wie das Fell eines Eisbären, und die kräftigen langen Muskeln seiner Schultern, an die Chip sich nur allzu gut erinnerte, so oft, wie er sie hatte spielen sehen, wenn Alfred ein Kind, meistens ihn selber, versohlte, füllten den grauen Tweed seines Sportsakkos ganz und gar aus.
«Al, hast du nicht gesagt, du würdest gern sehen, wo Chip arbeitet?», rief Enid.
Alfred schüttelte den Kopf. «Keine Zeit.»
Das kreisende Kofferkarussell beförderte nichts.
«Hast du deine Tablette genommen?», fragte Enid.
«Ja», sagte Alfred. Er schloss die Augen und wiederholte langsam: «Ich habe meine Tablette genommen. Ich habe meine Tablette genommen. Ich habe meine Tablette genommen.»
«Doktor Hedgpeth hat ihm nämlich was Neues verschrieben», erklärte Enid Chip, der ziemlich sicher war, dass sein Vater in Wahrheit keinerlei Interesse geäußert hatte, sein Büro zu sehen. Und da Chip nichts mit dem Wall Street Journal zu schaffen hatte – das Blatt, für das er unbezahlte Beiträge schrieb, hieß Warren Street Journal: Monatsschrift der Transgressiven Künste; außerdem war er erst kürzlich mit der Arbeit an einem Drehbuch fertig geworden und hatte einen Teilzeitjob als Korrektor bei der Anwaltskanzlei Bragg Knuter & Speigh, seit er vor fast zwei Jahren seine Stelle als Assistenzprofessor im Fachbereich Text-Artefakte am D— College in Connecticut verloren hatte, Resultat eines Vergehens, das mit einer jungen Studentin zu tun hatte und gerade noch so eben keinen juristischen Tatbestand erfüllte, im Übrigen jedoch, obwohl seine Eltern nie davon erfuhren, die Parade seiner Großtaten unterbrach, mit denen seine Mutter zu Hause in St.Jude prahlen konnte; er hatte seinen Eltern erzählt, er habe aufgehört zu lehren, um eine Karriere als Schriftsteller zu verfolgen, und als seine Mutter vor kurzem unbedingt Einzelheiten hören wollte, hatte er das Warren Street Journal erwähnt, dessen Namen sie falsch verstand und sofort an ihre Freundinnen Esther Root und Bea Meisner und Mary Beth Schumpert ausposaunte, und obwohl Chip bei seinen monatlichen Anrufen zu Hause zahlreiche Gelegenheiten gehabt hätte, sie aufzuklären, hatte er das Missverständnis im Gegenteil noch genährt; und spätestens hier wurden die Dinge einigermaßen komplex, nicht nur weil man das Wall Street Journal in St.Jude kaufen konnte und seine Mutter nie davon gesprochen hatte, dass sie seine Beiträge gesucht und nicht gefunden habe (ein Teil von ihr mithin sehr genau wusste, dass er nicht für diese Zeitung schrieb), sondern auch weil der Autor von Artikeln wie «Kreativer Ehebruch» und «Schmutzigen Motels zu Ehren» daran mitwirkte, in seiner Mutter ebenjene Art von Illusion am Leben zu erhalten, die das Warren Street Journal zerstören wollte, und er mit seinen neununddreißig Jahren seinen Eltern die Schuld daran gab, was aus ihm geworden war – aus all diesen Gründen also war er froh, als seine Mutter das Thema fallen ließ.
«Sein Zittern ist viel besser geworden», fügte Enid für Alfred unhörbar hinzu. «Die einzige Nebenwirkung könnte sein, dass er Halluzinationen bekommt.»
«Das ist eine ganz ordentliche Nebenwirkung», sagte Chip.
«Doktor Hedgpeth sagt, was er hat, ist ein ganz leichter Fall und mit Medikamenten fast völlig in den Griff zu kriegen.»
Alfred behielt die Gepäckband-Höhle im Auge, während bleiche Reisende einen Platz am Karussell zu ergattern versuchten. Ein Gewirr aus Schrittmustern war auf dem Linoleum entstanden, grau von den Schadstoffen, die der Regen heruntergespült hatte. Das Licht hatte die Farbe von Reiseübelkeit. «New York City!», sagte Alfred.
Enid schaute missbilligend auf Chips Hose. «Die ist doch nicht etwa aus Leder, oder?»
«Doch.»
«Und wie wäschst du die?»
«Sie ist aus Leder. Sie ist wie eine zweite Haut.»
«Spätestens um vier müssen wir am Pier sein», sagte Enid.
Das Karussell hustete und spuckte ein paar Koffer aus.
«Chip, hilf mir mal», sagte sein Vater.
Kurz darauf wankte Chip mit allen vier Reisetaschen seiner Eltern hinaus in den vom Wind zerzausten Regen. Alfred schlurfte vorneweg, mit den ruckartigen Bewegungen eines Mannes, der, einmal in Schwung gekommen, wusste, dass es nicht gut wäre, wenn er anhalten und von neuem losgehen müsste. Enid hinkte hinterher, auf den Schmerz in ihrer Hüfte bedacht. Sie hatte zugenommen, war vielleicht auch ein wenig geschrumpft, seit Chip sie das letzte Mal gesehen hatte. Hübsch war sie immer gewesen, doch für Chip war sie so sehr eine Persönlichkeit und so wenig irgendetwas anderes, dass er, selbst wenn er ihr genau ins Gesicht starrte, keine Ahnung hatte, wie sie wirklich aussah.
«Was ist das – Schmiedeeisen?», fragte Alfred, während die Taxischlange vorwärts kroch.
«Ja», sagte Chip und griff sich ans Ohr.
«Sieht aus wie ein alter 50-mm-Niet.»
«Ja.»
«Was macht man damit – falzen? Hämmern?»
«Er ist gehämmert», sagte Chip.
Alfred zuckte zusammen und sog, leise pfeifend, Luft ein.
«Wir machen eine ‹Luxus-Herbstfarben-Kreuzfahrt›», sagte Enid, als sie in einem Taxi saßen und durch Queens rasten. «Erst geht es rauf nach Quebec, und dann können wir uns den ganzen Weg zurück am herrlichen Farbenspiel des Laubs erfreuen. Dad hat unsere letzte Kreuzfahrt so genossen. Nicht wahr, Al? Fandst du die Kreuzfahrt nicht herrlich?»
Die Backsteinpalisaden am Ufer des East River bezogen vom Regen wütende Prügel. Chip hätte sich einen sonnigen Tag gewünscht, eine klare Sicht auf Sehenswürdigkeiten und blaues Wasser, Ausblicke, die nichts zu verbergen hatten. An diesem Morgen waren die einzigen Farben, die man durch die Scheiben sah, die verschmierten Rottöne der Bremslichter.
«Dies ist eine der großen Städte der Welt», sagte Alfred erregt.
«Wie geht’s dir denn so, Dad», raffte Chip sich auf zu fragen.
«Bisschen besser, und ich wär im Himmel, bisschen schlechter, und ich wär in der Hölle.»
«Wir freuen uns über deine neue Stelle», sagte Enid.
«Eine der großen Zeitungen des Landes», sagte Alfred. «Das Wall Street Journal.»
«Aber findet ihr nicht auch, dass es hier nach Fisch riecht?»
«Wir sind ziemlich nah am Meer», sagte Chip.
«Nein, das bist du.» Enid lehnte sich hinüber und vergrub ihr Gesicht in Chips Lederärmel. «Deine Jacke riecht enorm nach Fisch.»
Er machte sich von ihr los. «Mutter. Bitte.»
Chips Problem war, dass er sein Selbstvertrauen verloren hatte. Vorbei die Zeiten, da er sich ein épater les bourgeois erlauben konnte. Abgesehen von seiner Wohnung in Manhattan und seiner hübschen Freundin Julia Vrais hatte er so gut wie nichts mehr vorzuweisen, was ihn davon zu überzeugen vermocht hätte, dass er ein funktionierender Erwachsener männlichen Geschlechts war – keine Erfolge wie sein Bruder Gary, der Banker und Vater von drei Kindern war, oder wie seine Schwester Denise, die mit zweiunddreißig Jahren ein blendend gehendes neues Spitzenrestaurant in Philadelphia führte. Chip wollte eigentlich sein Drehbuch längst verkauft haben, aber der Entwurf war erst am Dienstag nach Mitternacht fertig geworden, und danach hatte er drei Vierzehnstundenschichten bei Bragg Knuter & Speigh einlegen müssen, um das Geld für seine Augustmiete aufzubringen und den Eigentümer des Apartments, in dem er wohnte, im Hinblick auf seine September- und Oktobermiete in Sicherheit zu wiegen, und dann musste er für ein Mittagessen einkaufen und seine Wohnung sauber machen und schließlich, irgendwann vor Anbruch des heutigen Tages, eine lang aufgesparte Xanax schlucken. Fast eine Woche war vergangen, ohne dass er Julia gesehen oder mit ihr gesprochen hatte. Auf die vielen fahrigen Nachrichten, die er in den letzten achtundvierzig Stunden auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, auf seine Bitten, am Samstag um zwölf zum Mittagessen mit ihm, seinen Eltern und Denise in seine Wohnung zu kommen und seinen Eltern gegenüber nach Möglichkeit nicht zu erwähnen, dass sie mit jemand anderem verheiratet war, hatte Julia mit totalem Telefon- und E-Mail-Schweigen geantwortet, woraus vermutlich auch ein selbstbewussterer Mann als Chip beunruhigende Schlüsse gezogen hätte.
Es regnete so stark in Manhattan, dass Wasser an den Fassaden herunterströmte und über den Abflussrosten der Rinnsteine aufschäumte. Vor seinem Wohnhaus an der East Ninth Street nahm Chip Geld von Enid entgegen, reichte es durchs Schiebefenster nach vorn, und obwohl der turbantragende Fahrer sich bedankte, merkte er sofort, dass das Trinkgeld zu klein ausgefallen war. Er zog zwei Dollarscheine aus seinem Portemonnaie und ließ sie dicht neben der Schulter des Taxifahrers hin und her baumeln.
«Das genügt, das genügt», quiekte Enid und griff nach Chips Handgelenk. «Er hat doch schon danke gesagt.»
Aber das Geld war weg. Alfred versuchte die Tür zu öffnen, indem er an der Fensterkurbel zog. «Der hier ist es, Dad», sagte Chip, beugte sich vor und ließ die Tür aufschnappen.
«Wie viel war das?», fragte Enid, als sie unter der Markise vor Chips Haus auf dem Gehweg standen und der Fahrer das Gepäck aus dem Kofferraum wuchtete.
«Ungefähr fünfzehn Prozent», sagte Chip.
«Wohl eher zwanzig, denk ich.»
«Klar, los doch, streiten wir uns darüber.»
«Zwanzig Prozent ist zu viel, Chip», meldete sich Alfred mit dröhnender Stimme zu Wort. «Das ist nicht angemessen.»
«Schönen Tag auch noch», wünschte der Taxifahrer ohne erkennbare Ironie.
«Ein Trinkgeld gibt man für Service und Benehmen», sagte Enid. «Wenn Service und Benehmen besonders gut sind, würde ich vielleicht fünfzehn Prozent geben. Aber wenn man automatisch –»
«Ich habe mein Leben lang Depressionen gehabt», sagte Alfred oder schien es zu sagen.
«Wie bitte?», sagte Chip.
«Die Jahre der Depression haben mich verändert. Sie haben den Wert eines Dollars verändert.»
«Sprechen wir jetzt von einer Wirtschaftsdepression oder was?»
«Und wenn der Service wirklich mal besonders gut oder schlecht ist», fuhr Enid fort, «hat man keine Möglichkeit mehr, es durch Geld zum Ausdruck zu bringen.»
«Ein Dollar ist immer noch eine Menge Geld», sagte Alfred.
«Fünfzehn Prozent, wenn der Service exzeptionell ist, wirklich exzeptionell.»
«Ich frage mich, warum wir ausgerechnet darüber reden müssen», sagte Chip zu seiner Mutter. «Warum darüber und nicht über irgendwas anderes.»
«Wir würden beide wahnsinnig gern sehen», erwiderte Enid, «wo du arbeitest.»
Chips Portier Zoroaster eilte herbei, um den Lamberts mit dem Gepäck zu helfen und sie in den störrischen Aufzug des Gebäudes zu verfrachten. Enid sagte: «Neulich in der Bank habe ich deinen alten Freund Dean Driblett getroffen. Jedes Mal wenn ich ihn treffe, erkundigt er sich nach dir. Er war ganz beeindruckt von deinem neuen Posten bei der Zeitung.»
«Dean Driblett war ein Klassenkamerad von mir, kein Freund», sagte Chip.
«Er und seine Frau haben gerade ihr viertes Kind bekommen. Ich habe dir doch erzählt, dass sie sich draußen in Paradise Valley dieses riesenhafte Haus gebaut haben, oder? Hattest du nicht acht Schlafzimmer gezählt, Al?»
Alfred schaute sie lange und ohne zu blinzeln an. Chip lehnte sich gegen den Schalter zum Türenschließen.
«Dad und ich waren im Juni zu ihrer Einzugsparty eingeladen. Es war sagenhaft. Sie hatten eine Cateringfirma beauftragt, und es gab Pyramiden von Shrimps. Echte Shrimps, in Pyramiden! So etwas hab ich noch nie gesehen.»
«Pyramiden von Shrimps», sagte Chip. Die Fahrstuhltür hatte sich endlich geschlossen.
«Also, jedenfalls ist es ein phantastisches Haus», sagte Enid. «Es hat mindestens sechs Schlafzimmer, und weißt du, es sieht so aus, als würden sie die alle noch voll kriegen. Dean ist irrsinnig erfolgreich. Er hat eine Rasenpflegefirma gegründet, als er gemerkt hat, dass das Beerdigungsgeschäft nichts für ihn ist, du weißt ja, sein Stiefvater ist Dale Driblett, die Driblett Chapel, und jetzt hängen seine Reklameschilder überall, und außerdem hat er noch eine Gesundheitspflege-Organisation gegründet. Ich hab’s in der Zeitung gelesen, es ist die am schnellsten expandierende in St.Jude, sie heißt DeeDeeCare, genau wie seine Rasenpflegefirma, und auch für die gibt’s jetzt überall Reklameschilder. Ein richtiger Unternehmer, würde ich sagen.»
«La-a-a-ah-mer Fahrstuhl», sagte Alfred.
«Ist ein Vorkriegsgebäude», erklärte Chip mit gepresster Stimme. «Ein sehr begehrtes Haus.»
«Aber weißt du, was er seiner Mutter zum Geburtstag schenkt? Es soll eine Überraschung sein, hat er mir gesagt, aber dir kann ich es ja ruhig schon erzählen. Er fährt mit ihr für acht Tage nach Paris. Zwei Erste-Klasse-Tickets, acht Nächte im Ritz! Das ist typisch Dean, er hat ja so viel Familiensinn. Aber kannst du dir das vorstellen, so ein Geburtstagsgeschenk? Al, meintest du nicht, das Haus allein hat wahrscheinlich eine Million Dollar gekostet? Al?»
«Das Haus ist groß, aber nicht solide gebaut», sagte Alfred plötzlich mit Nachdruck. «Die Wände sind wie aus Papier.»
«Alle Neubauten sind so», sagte Enid.
«Du hast mich gefragt, ob mich das Haus beeindruckt hat. Ich fand es protzig. Ich fand auch die Shrimps protzig. Armselig war das.»
«Vielleicht waren sie ja tiefgekühlt», sagte Enid.
«Die Menschen sind mit so was leicht zu beeindrucken», sagte Alfred. «Reden dann monatelang von den Shrimpspyramiden. Du hörst es ja selbst», wandte er sich an Chip wie an einen neutralen Beobachter, «deine Mutter redet heute noch davon.»
Einen Augenblick lang kam Chip sein Vater vor wie ein liebenswerter alter Fremder; doch er wusste genau, unter der Oberfläche war Alfred einer, der brüllen und gnadenlos streng sein konnte. Als Chip seine Eltern das letzte Mal in St.Jude besucht hatte, vier Jahre war das her, hatte er seine damalige Freundin Ruthie dabeigehabt, eine wasserstoffblonde junge Marxistin aus dem Norden Englands, die, nachdem sie schon Enids Gefühle auf vielerlei Weise verletzt hatte (sie steckte sich im Haus eine Zigarette an, lachte schallend über Enids Lieblingsaquarell vom Buckingham Palace, erschien ohne BH zum Abendessen und probierte nicht einen einzigen Bissen von dem «Salat» aus Wassernüssen, Erbsen und Cheddarwürfeln in dicker Mayonnaise-Sauce, den Enid zu besonderen Anlässen immer zubereitete), auch Alfred so lange reizte und stichelte, bis er herausplatzte, «die Schwarzen» würden noch der Ruin dieses Landes sein, «die Schwarzen» seien unfähig, mit Weißen zusammenzuleben, sie erwarteten, dass die Regierung für sie sorge, sie wüssten überhaupt nicht, was harte Arbeit sei, ihnen mangele es vor allem an Disziplin, es werde noch mit einem Gemetzel auf den Straßen enden, ja, einem Gemetzel auf den Straßen, und es kümmere ihn einen Dreck, was Ruthie von ihm halte, sie sei schließlich Gast in seinem Haus und in seinem Land, und sie habe kein Recht, Dinge zu kritisieren, von denen sie nichts verstehe, woraufhin Chip, der Ruthie vorher gewarnt hatte, dass seine Eltern die spießigsten Menschen von ganz Amerika seien, sie anlächelte, als wolle er sagen: Siehst du? Genau wie angekündigt. Als Ruthie ihn keine drei Wochen später abservierte, hielt sie ihm vor, er gleiche seinem Vater mehr, als ihm offenbar bewusst sei.
«Al», sagte Enid, als der Fahrstuhl mit einem Ruck zum Stehen kam, «du musst zugeben, dass es eine sehr, sehr nette Party war und sehr nett von Dean, uns einzuladen.»
Alfred, schien es, hatte sie gar nicht gehört.
Vor Chips Wohnung lehnte ein durchsichtiger Plastikregenschirm, den Chip erleichtert wiedererkannte: Er gehörte Julia Vrais. Gerade bugsierte er das elterliche Gepäck aus dem Fahrstuhl, da flog seine Wohnungstür auf, und heraus trat Julia. «Oh. Oh!», sagte sie, als wäre sie aus dem Konzept gebracht. «Du bist schon da!»
Auf Chips Uhr war es 11:35.Julia trug einen formlosen lavendelfarbenen Regenmantel und hatte eine Dream Works-Einkaufstüte in der Hand. Ihr Haar, lang und von der Farbe dunkler Schokolade, war vom Regen und der feuchten Luft dicht und voll. Wie jemand, der freundlich mit großen Tieren spricht, sagte sie «Hi» zu Alfred und noch einmal extra «Hi» zu Enid. Die Lamberts bellten Julia ihre Namen zu, streckten ihr die Hände entgegen und drängten sie so in die Wohnung zurück, wo Enid sie mit Fragen zu bombardieren begann, Fragen, aus denen Chip, der mit dem Gepäck hinterherkam, alle möglichen Subtexte und versteckten Erwartungen heraushörte.
«Wohnen Sie in der Stadt?», fragte Enid. (Sie leben doch nicht etwa mit unserem Sohn in wilder Ehe, oder?) «Und Sie arbeiten auch in der Stadt?» (Stehen Sie in Lohn und Brot? Sie kommen doch wohl nicht aus einer dieser sonderbaren, snobistischen, vermögenden Ostküstenfamilien?) «Sind Sie hier aufgewachsen?» (Oder stammen Sie vielleicht aus einem Staat jenseits der Appalachen, wo die Menschen warmherzig, erdverbunden und selten Juden sind?) «Ach, und lebt Ihre Familie noch in Ohio?» (Haben Ihre Eltern etwa den moralisch bedenklichen modernen Schritt getan, sich scheiden zu lassen?) «Haben Sie Brüder oder Schwestern?» (Sind Sie ein verwöhntes Einzelkind oder eine Katholikin mit zahllosen Geschwistern?)
Kaum hatte Julia diese erste Prüfung bestanden, wandte Enid ihr Augenmerk der Wohnung zu. In einer Krise seines Selbstvertrauens hatte Chip erst kürzlich versucht, sie vorzeigbar zu machen. Er hatte Fleckenentferner gekauft und den großen Samenfleck von der roten Chaiselongue beseitigt, hatte die Wand aus Weinkorken eingerissen, mit denen er im Tempo eines halben Dutzends Merlot und Pinot Grigio pro Woche die Nische über seinem Kamin vermauert hatte, und zuletzt die Nahaufnahmen männlicher und weiblicher Genitalien, die Zierde seiner Kunstsammlung, von der Badezimmerwand abgenommen und durch drei Urkunden ersetzt, die Enid vor langer Zeit unbedingt für ihn hatte rahmen lassen müssen.
Bevor er an diesem Morgen zum Flughafen aufgebrochen war, hatte er aus Sorge, zu viel von sich preisgegeben zu haben, seine Selbstdarstellung ein wenig korrigiert, indem er sich ganz in Leder kleidete.
«So groß ungefähr ist Dean Dribletts Badezimmer», sagte Enid. «Meinst du nicht auch, Al?»
Alfred drehte seine zuckenden Hände um und musterte ihre Rücken.
«Ein dermaßen riesenhaftes Badezimmer hatte ich vorher noch nie gesehen.»
«Enid, du hast keinen Takt», sagte Alfred.
Chip hätte auffallen können, dass auch das eine taktlose Bemerkung war, implizierte sie doch, dass sein Vater die Kritik an der Wohnung teilte und Enid nur rügte, weil sie sie äußerte. Aber Chip war unfähig, sich auf etwas anderes als den Föhn zu konzentrieren, der aus Julias Dream Works-Tüte hervorlugte. Es war der Föhn, den sie in seinem Badezimmer aufbewahrte. Ja, sie schien in der Tat im Begriff, die Wohnung zu verlassen.
«Dean und Trish haben einen Whirlpool, eine Dusche und eine Badewanne, alles separat», fuhr Enid fort. «Und zwei Waschbecken, eins für ihn, eins für sie.»
«Tut mir Leid, Chip», sagte Julia.
Er hob eine Hand, um sie aufzuhalten. «Sobald Denise hier ist, essen wir», kündigte er seinen Eltern an. «Ein ganz einfaches Mittagessen. Macht es euch schon mal bequem.»
«War nett, Sie beide kennen zu lernen», rief Julia Enid und Alfred zu. Dann sagte sie, leiser, zu Chip: «Denise ist gleich da. Du wirst schon zurechtkommen.»
Sie öffnete die Tür.
«Mom, Dad», sagte Chip, «nur eine Sekunde.»
Er folgte Julia, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
«Das ist ganz schlechtes Timing», sagte er. «Ganz, ganz schlecht.»
Julia schüttelte sich die Haare von den Schläfen. «Ich bin froh, dass ich zum ersten Mal in einer Beziehung das tue, was für mich gut ist.»
«Na prima. Das ist ein großer Schritt nach vorn.» Chip gab sich Mühe zu lächeln. «Aber was ist mit dem Drehbuch? Liest Eden es?»
«Ich denke, irgendwann dieses Wochenende vielleicht.»
«Und du?»
«Ich hab’s gelesen, mhm.» Julia schaute weg. «Größtenteils.»
«Meine Idee war», sagte Chip, «dass da gleich zu Beginn ein ‹Berg› ist, über den der Zuschauer erst mal rüber muss. Etwas Störendes an den Anfang setzen: Das ist ein klassisches Verfahren der Moderne. Gegen Ende wird’s dann noch richtig spannend.»
Julia drehte sich ohne eine Antwort zum Fahrstuhl um.
«Hast du das Ende schon gelesen?»
«Ach, Chip», sagte sie unglücklich, «dein Drehbuch beginnt mit einem sechs Seiten langen Vortrag über Phallusängste im Drama der Tudorzeit!»
Das war ihm bewusst. Seit Wochen war er fast jede Nacht vor Tau und Tag aufgewacht, der Magen in Aufruhr, die Zähne aufeinander gepresst, und hatte mit der albtraumhaften Gewissheit gerungen, dass ein längerer akademischer Monolog über das Drama der Tudorzeit im ersten Akt eines kommerziellen Drehbuchs nichts zu suchen hatte. Oft brauchte er Stunden – musste erst aufstehen, umherlaufen, Merlot oder Pinot Grigio trinken–, bis er seine Überzeugung, dass ein theorielastiger Anfangsmonolog nicht nur kein Fehler, sondern das größte Plus des Drehbuchs war, zurückgewonnen hatte; doch jetzt genügte ein einziger Blick in Julias Gesicht, und er wusste: Er hatte sich getäuscht.
In aufrichtiger Zustimmung zu ihrer Kritik nickte er, öffnete die Wohnungstür und rief: «Eine Sekunde, Mom, Dad. Nur eine Sekunde.» Doch kaum hatte er die Tür erneut zugezogen, fielen ihm die alten Argumente wieder ein. «Aber weißt du», sagte er, «die ganze Geschichte ist in diesem Monolog vorgezeichnet. In komprimierter Form enthält er alle Themen: Geschlecht, Macht, Identität, Wahrhaftigkeit, und der springende Punkt ist… warte. Warte doch. Julia?»
Mit verlegen gesenktem Kopf, so, als habe sie irgendwie gehofft, er würde ihr Fortgehen nicht bemerken, wandte sich Julia vom Fahrstuhl ab und sah ihn an.
«Der springende Punkt ist doch», sagte er, «dass das Mädchen in der ersten Reihe des Seminarraums sitzt und sich den Vortrag anhört. Das ist ein essenzielles Bild. Die Tatsache, dass er den Diskurs bestimmt–»
«Und es ist ziemlich gruselig», sagte Julia, «wie du ständig von ihren Brüsten redest.»
Auch das traf zu. Dass es zutraf, kam Chip allerdings unfair, ja grausam vor, weil er ohne den Reiz, sich die Brüste seiner jungen Hauptdarstellerin auszumalen, überhaupt nicht den Mumm gehabt hätte, das Drehbuch zu schreiben. «Wahrscheinlich hast du Recht», sagte er. «Obwohl ein Teil der Körperlichkeit auch Absicht ist. Das ist ja die Ironie, verstehst du, dass sie sich von seinem Verstand angezogen fühlt und er sich von ihren–»
«Aber für eine Frau», sagte Julia halsstarrig, «ist das beim Lesen ’n bisschen wie im Supermarkt vor der Geflügelvitrine. Brust, Brust, Brust, Schenkel, Bein.»
«Ich kann ja ein paar von diesen Stellen streichen», sagte Chip leise. «Ich kann auch den Eingangsvortrag kürzen. Aber ich möchte, dass da ein ‹Berg› ist–»
«Jaja, über den der Zuschauer erst rüber muss. Klasse Idee.»
«Bitte komm rein und iss mit uns. Bitte. Julia?»
Die Fahrstuhltür hatte sich auf Julias Knopfdruck hin geöffnet.
«Ich finde es für eine gewisse Person ein ganz klein wenig beleidigend.»
«Aber das bist doch nicht du. Es basiert nicht mal auf dir.»
«Ach so, toll. Es sind die Brüste einer anderen.»
«Herrje. Bitte. Eine Sekunde.» Chip drehte sich zu seiner Wohnungstür um, öffnete sie und erschrak, als er diesmal Auge in Auge seinem Vater gegenüberstand. Alfreds große Hände zitterten heftig.
«Dad, hallo, nur noch eine Minute.»
«Chip», sagte Alfred, «bitte sie zu bleiben! Sag ihr, wir möchten, dass sie bleibt!»
Chip nickte und machte dem alten Mann die Tür vor der Nase zu, in den wenigen Sekunden aber, in denen er abgelenkt gewesen war, hatte der Fahrstuhl Julia verschluckt. Chip drückte auf den Knopf, um ihn wieder nach oben zu rufen, und als das nichts nützte, riss er die Feuerschutztür auf und rannte die gewundene Lieferantentreppe hinunter. Nach einer Reihe brillanter Vorlesungen, in denen er das uneingeschränkte Verfolgen des Lustprinzips als Strategie zum Sturz der Bürokratie des Rationalismus gefeiert hat, wird BILL QUAINTENCE, ein gut aussehender junger Professor im Fachbereich Text-Artefakte, von seiner schönen Studentin MONA, die ihn anhimmelt, verführt. Ihre wild-erotische Affäre hat allerdings kaum begonnen, als Bills von ihm getrennt lebende Ehefrau HILLAIRE ihnen auf die Schliche kommt. In einer spannungsgeladenen Auseinandersetzung, die das Aufeinanderprallen der Therapeutischen und der Transgressiven Weltsicht symbolisiert, ringen Bill und Hillaire um die Seele der jungen Mona, die auf zerknitterten Laken nackt zwischen ihnen liegt. Hillaire gelingt es, Mona mit ihrer kryptisch-repressiven Rhetorik zu verführen, woraufhin Mona Bill öffentlich anprangert. Bill verliert seinen Job, entdeckt jedoch bald darauf E-Mail-Dokumente, die beweisen, dass Hillaire Mona Geld zugesteckt hat, um seine Karriere zu zerstören. Auf dem Weg zu seinem Anwalt, dem er eine Diskette mit dem belastenden Beweismaterial geben will, wird sein Wagen von der Straße abgedrängt und stürzt in den tosenden Fluss D—; die Diskette treibt aus dem gesunkenen Auto heraus und wird von den endlosen, unbezähmbaren Strömungen ins tosende, erotisch-chaotische Meer getragen. Der Unfall wird als Selbstmord eingestuft, und in der letzten Szene des Films wird Hillaire als Bills Nachfolgerin in die Fakultät aufgenommen und hält vor einer Gruppe von Studenten, zu der auch ihre diabolische lesbische Geliebte Mona gehört, eine Vorlesung über die Übel des uneingeschränkten Lustprinzips: So weit das eine Seite füllende Exposé, das Chip mithilfe einiger Handbücher, die er sich gekauft hatte, zustande gebracht und eines Wintermorgens an eine in Manhattan ansässige Filmproduzentin gefaxt hatte, die Eden Procuro hieß. Fünf Minuten später hatte sein Telefon geklingelt, und die kühle, ausdruckslose Stimme einer jungen Frau sagte: «Einen Moment bitte, Eden Procuro möchte Sie sprechen», die kurz darauf selbst in den Hörer schrie: «Das ist zauberhaft, zauberhaft, zauberhaft, zauberhaft, zauberhaft!» Inzwischen waren jedoch anderthalb Jahre vergangen. Inzwischen war aus dem eine Seite füllenden Exposé ein 124Seiten starkes Drehbuch mit dem Titel «Akademische Würden» geworden, und Julia Vrais, die schokoladenbraunhaarige Frau, der jene kühle, ausdruckslose Persönliche-Assistentinnen-Stimme gehörte, lief ihm gerade davon, und alles, was er zu sehen oder woran er zu denken vermochte, während er die Treppen hinunterstürmte, um sie aufzuhalten – wobei er die Füße seitwärts setzte, damit er immer drei oder gar vier Stufen auf einmal nehmen konnte, und bei jeder Landung die Treppenhausspindel packte, um mit einem Ruck seine Flugrichtung umzukehren–, war ein unseliges Stichwort in seiner nahezu photographisch genauen geistigen Konkordanz der besagten 124Seiten:
3: schwellende Lippen, volle, runde Brüste, schmale Hüften und
3: über dem Kaschmirpullover, der sich eng an ihre Brüste schmiegt
4: hingerissen vor, während ihre vollkommenen jugendlichen Brüste begierig
8: (schaut auf ihre Brüste)
9: (schaut auf ihre Brüste)
9: (seine Augen magisch angezogen von ihren vollkommenen Brüsten)
11: (schaut auf ihre Brüste)
12: (im Geist ihre vollkommenen Brüste liebkosend)
13: (schaut auf ihre Brüste)
15: (schaut wieder und wieder auf ihre vollkommenen jugendlichen Brüste)
23: (Umklammerung, und ihre vollkommenen Brüste drängten sich an sein
24: dass der hemmende BH ihre subversiven Brüste freigeben würde.)
28: mit rosafarbener Zunge eine schweißglänzende Brust zu liebkosen.)
29: phallisch aufragende Warze ihrer schweißnassen Brust
29: ich mag deine Brüste.
30: absolut überwältigt von deinen honigsüßen, schweren Brüsten.
33: (HILLAIREs Brüste, zwei Gestapo-Pistolenkugeln gleich, können
36: ein Blick, so spitz, als wolle er ihr damit in die Brüste stechen und ihnen die Luft ablassen
44: arkadischen Brüste mit strengem puritanischem Frottee und
45: kauernd, verlegen, das Handtuch an ihre Brüste gepresst.)
76: ihre unschuldigen Brüste jetzt eingehüllt in militaristisches
83: ich vermisse deinen Körper, ich vermisse deine vollkommenen Brüste, ich
117: während die Scheinwerfer unter Wasser wie zwei milchweiße Brüste verblassen
Und vermutlich gab es noch mehr solcher Stellen! Mehr, als ihm in Erinnerung waren! Und die beiden einzigen Leser, die jetzt zählten, waren Frauen! Chip kam es so vor, als verlasse Julia ihn, weil in «Akademische Würden» zu oft von Brüsten die Rede war und der Anfang etwas Zähflüssiges hatte, ja als bestehe, wenn er diese wenigen offenkundigen Mängel korrigieren könnte, und zwar sowohl in Julias Exemplar des Drehbuchs als auch, noch wichtiger, in jenem anderen, das er mit Laserdrucker auf elfenbeinfarbenem, gehämmertem 120-Gramm-Papier eigens für Eden Procuro erstellt hatte, als bestehe dann also nicht nur Hoffnung für seine Finanzlage, sondern auch für seine Chancen, jemals wieder Julias (Julias!) unschuldige, milchweiße Brüste freilegen und liebkosen zu dürfen. Was zu dieser Stunde des Tages, wie an fast jedem anderen späten Vormittag der vergangenen Monate, eine der letzten Tätigkeiten auf Erden war, von denen er sich immer noch mit einer gewissen Berechtigung Trost für all sein Versagen versprach.
Als er aus dem Treppenhaus in die Halle trat, wartete der Fahrstuhl dort bereits darauf, seinen nächsten Benutzer zu quälen. Durch die offene Eingangstür sah Chip ein Taxi das «Frei»-Zeichen ausschalten und davonfahren. Zoroaster wischte von draußen hereingewehtes Wasser vom Schachbrettmarmor des Hallenfußbodens. «Auf Wiedersehen, Mister Chip!», spöttelte er, keineswegs zum ersten Mal, als Chip hinausrannte.
Große Regentropfen, die auf den Gehweg klatschten, ließen einen frischen, kühlen Nebel aufsteigen. Durch den Perlenvorhang aus Wasser, das von der Markise herunterlief, sah Chip Julias Taxi vor einer gelben Ampel abbremsen. Direkt gegenüber hatte ein zweites Taxi angehalten, um einen Fahrgast aussteigen zu lassen, und Chip überlegte kurz, ob er diesen Wagen nehmen und den Fahrer bitten sollte, Julia zu folgen. Die Idee war verlockend; es gab jedoch Hindernisse.
Eines davon war, dass er sich damit wohl des schlimmsten jener Vergehen schuldig machen würde, für die ihn die Rechtsabteilung des D— Colleges einst in einem scharfen, moralisierenden Juristenbrief zu verklagen oder gerichtlich zu verfolgen gedroht hatte. Unter anderem waren ihm damals Betrug, Vertragsbruch, Entführung, Sexuelle Nötigung, Ausschank alkoholischer Getränke an eine Studentin unterhalb des gesetzlichen Mindestalters sowie Besitz und Verkauf einer verbotenen Substanz zur Last gelegt worden. Doch letztlich war es der Vorwurf der Belästigung – der «obszönen», «aufdringlichen» und «ausfälligen» Telefonanrufe sowie des bewussten Übergriffs auf die Privatsphäre einer jungen Frau–, der Chip wirklich Angst eingejagt hatte und das noch immer tat.
Ein unmittelbareres Hindernis war, dass er nur vier Dollar in seiner Brieftasche hatte, weniger als zehn Dollar auf seinem Girokonto, keinen nennenswerten Kredit auf irgendeiner seiner Karten und nicht die geringste Aussicht auf weitere Korrekturaufträge bis Montagnachmittag. Wenn er bedachte, wie sich Julia bei ihrer letzten Begegnung vor sechs Tagen ausdrücklich beschwert hatte, dass er «immer nur» zu Hause bleiben und Spaghetti essen und sie «immer nur» küssen und mit ihr ins Bett gehen wolle (sie hatte gesagt, sie habe manchmal das Gefühl, für ihn sei Sex eine Art Medizin, und wenn er nicht einfach losgehe und sich mit Crack oder Heroin selber verarzte, liege das wahrscheinlich bloß daran, dass Sex nichts koste und er ein so fürchterlicher Geizkragen geworden sei; sie hatte gesagt, jetzt, da sie selbst ein verschreibungspflichtiges Medikament schlucke, komme es ihr manchmal so vor, als tue sie das für sie beide zusammen, was sie doppelt unfair finde, weil sie das Medikament nicht nur von ihrem Geld bezahle, sondern auch noch in Kauf nehme, dass es ihre Lust auf Sex ein wenig mindere; sie hatte gesagt, wenn Chip bestimmen könnte, würden sie wahrscheinlich nicht mal mehr ins Kino gehen, sondern sich das ganze Wochenende bei heruntergelassenen Jalousien im Bett wälzen und danach Spaghetti aufwärmen), ja wenn er all dies bedachte, fürchtete er, dass der Mindestpreis für jedes weitere Gespräch mit ihr ein überteuertes Mittagessen – auf Mesquiteholz gegrilltes Herbstgemüse und eine Flasche Sancerre – wäre, das zu bezahlen er nun einmal keine Möglichkeit sah.
Und so stand er da und tat gar nichts, während die Ampel auf Grün sprang und Julias Taxi seinem Blickfeld entschwand. Der Regen peitschte das Pflaster mit weißen, verseucht aussehenden Tropfen. Aus dem Taxi auf der anderen Straßenseite war eine langbeinige Frau in engen Jeans und fabelhaften schwarzen Stiefeln gestiegen.
Dass diese Frau Chips kleine Schwester Denise war – d.h. die einzige attraktive junge Frau auf diesem Planeten, die mit den Augen zu verschlingen oder in Gedanken zu beschlafen er weder berechtigt noch geneigt war–, schien der langen Reihe von Gemeinheiten an diesem Morgen bloß eine weitere hinzuzufügen.
Denise hatte einen schwarzen Schirm, eine Spitztüte Blumen und ein mit Bindfaden verschnürtes Kuchenpaket bei sich. Sie stakste um die Pfützen und Stromschnellen auf dem Asphalt herum und stellte sich zu Chip unter die Markise.
«Hör zu», sagte Chip, ohne sie anzuschauen, mit nervösem Grienen. «Du musst mir einen Riesengefallen tun. Bitte halt hier die Stellung, während ich zu Eden fahre und mir mein Drehbuch wiederhole. Ich muss da unbedingt noch schnell ein paar Korrekturen anbringen.»
Als wäre er ein Caddie oder Diener, gab Denise ihm ihren Schirm, um sich Wasser und Dreck von den Säumen ihrer Jeans zu wischen. Denise hatte das dunkle Haar und die blasse Haut ihrer Mutter, vom Vater hingegen den einschüchternden Gestus moralischer Autorität. Sie war es, die Chip quasi befohlen hatte, seine Eltern zu fragen, ob sie nicht in New York Station machen und mit ihnen zu Mittag essen wollten. Wie die Weltbank, die einem lateinamerikanischen Schuldnerstaat die Bedingungen diktiert, so hatte sie geklungen, denn unglückseligerweise schuldete Chip ihr Geld. Er schuldete ihr, was beim Zusammenzählen von zehntausend und fünftausendfünfhundert und viertausend und tausend Dollar auch immer herauskam.
«Weißt du», erklärte er, «Eden will das Drehbuch irgendwann heute Nachmittag lesen, und finanziell gesehen ist es natürlich entscheidend, dass wir–»
«Du kannst jetzt nicht weg», sagte Denise.
«Es dauert nur eine Stunde», sagte Chip, «höchstens anderthalb.»
«Ist Julia hier?»
«Nein, sie ist wieder gegangen. Sie hat kurz hallo gesagt und ist dann gegangen.»
«Habt ihr etwa Schluss gemacht?»
«Ich weiß nicht. Sie nimmt neuerdings irgend so ein Medikament, und ich bin nicht mal sicher–»
«Moment mal. Moment. Willst du jetzt zu Eden, oder willst du hinter Julia her?»
Chip berührte den Niet in seinem linken Ohr. «Neunzig Prozent zu Eden.»
«Ach, Chip.»
«Nein, hör zu», sagte er, «sie spricht von ‹Gesundheit›, als hätte das Wort eine absolute, zeitlose Bedeutung oder so.»
«Meinst du jetzt Julia?»
«Seit drei Monaten schluckt sie irgendwelche Pillen, die sie unglaublich abstumpfen lassen, und diese Abgestumpftheit nennt sie dann geistige Gesundheit! Genauso gut könnte man Blindheit als Hellsicht definieren: ‹Jetzt, da ich blind bin, sehe ich, dass es nichts zu sehen gibt.›»
Denise seufzte und ließ ihren Blumenstrauß auf den Boden hängen. «Und was soll das heißen? Willst du hinter ihr herfahren und ihr die Medizin wegnehmen?»
«Es soll heißen, dass das Gesamtsystem unserer Kultur fehlerhaft ist», sagte Chip. «Es soll heißen, dass die Bürokratie sich das Recht anmaßt, bestimmte Geisteszustände als ‹krank› zu definieren. Mangelnde Lust, Geld auszugeben, wird so zu einem Krankheitssymptom, das eine teure medikamentöse Behandlung erfordert, die ihrerseits die Libido zerstört, mit anderen Worten: die Lust auf das einzige Vergnügen im Leben, das es umsonst gibt, sodass die betreffende Person für kompensatorische Vergnügungen noch mehr Geld ausgeben muss. So betrachtet ist geistige ‹Gesundheit› geradezu definiert als die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme an der Konsumgesellschaft. Indem du dich in die Medizin einkaufst, kaufst du dich ins Kaufen ein. Und es soll heißen, dass ich persönlich gerade dabei bin, den Kampf mit einer kommerzialisierten, medizinisierten, totalitaristischen Moderne zu verlieren.»
Denise schloss ein Auge und öffnete das andere ganz weit. Ihr offenes Auge glich beinahe schwarzem, auf weißem Porzellan perlendem Balsamico-Essig. «Wenn ich einräume, dass dies durchaus interessante Themen sind», sagte sie, «hörst du dann auf, darüber zu reden, und kommst mit rauf?»
Chip schüttelte den Kopf. «Im Kühlschrank ist pochierter Lachs. Und Crème fraîche mit Sauerampfer. Und ein Salat aus grünen Bohnen und Haselnüssen. Den Wein, das Baguette und die Butter wirst du schon finden. Es ist gute frische Butter aus Vermont.»
«Hast du mal dran gedacht, dass Dad krank ist?»
«Es dauert bloß eine Stunde. Höchstens anderthalb.»
«Ich habe dich gefragt, ob du mal dran gedacht hast, dass Dad krank ist.»