4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €
Die junge Pip Tyler weiß nicht, wer ihr Vater ist. Das ist keineswegs ihr einziges Problem: Sie hat Studienschulden, ihr Bürojob in Oakland ist eine Sackgasse, sie liebt einen verheirateten Mann, und ihre Mutter erdrückt sie mit Liebe und Geheimniskrämerei. Pip weiß weder, wo und wann sie geboren wurde, noch kennt sie den wirklichen Namen und Geburtstag ihrer Mutter. Als ihr eines Tages eine Deutsche beim «Sunlight Project» des Whistleblowers Andreas Wolf ein Praktikum anbietet, hofft sie, dass der ihr mit seinem Internet-Journalismus bei der Vatersuche helfen kann. Sie stellt ihre Mutter vor die Wahl: Entweder sie lüftet das Geheimnis ihrer Herkunft, oder Pip macht sich auf nach Bolivien, wo Andreas Wolf im Schutz einer paradiesischen Bergwelt sein Enthüllungswerk vollbringt. Und wenig später bricht sie auf. «Unschuld», eine tiefschwarze Komödie über jugendlichen Idealismus, maßlose Treue und den Kampf zwischen den Geschlechtern, handelt von Schuld in den unterschiedlichsten Facetten: Andreas Wolf, in Ostberlin als Sohn eines hochrangigen DDR-Politfunktionärs geboren, hat aus Liebe zu einer Frau vor Jahren ein Verbrechen begangen; ein Amerikaner, dem er in den Wirren des Berliner Mauerfalls begegnet, hat den Kinderwunsch seiner Frau nicht erfüllt und sie dann verlassen; dessen neue Lebensgefährtin kann ihrem Ehemann, der im Rollstuhl sitzt, nicht den Rücken kehren und pflegt ihn weiter … In diesem fulminanten amerikanisch-deutschen Gesellschaftsroman eines der größten, sprachmächtigsten Autoren unserer Zeit überschlagen sich die Ereignisse. Und bannen den Leser bis zum Schluss.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1093
Jonathan Franzen
Unschuld
Roman
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld
Ihr Verlagsname
Die junge Pip Tyler weiß nicht, wer ihr Vater ist. Das ist keineswegs ihr einziges Problem: Sie hat Studienschulden, ihr Bürojob in Oakland ist eine Sackgasse, sie liebt einen verheirateten Mann, und ihre Mutter erdrückt sie mit Liebe und Geheimniskrämerei. Pip weiß weder, wo und wann sie geboren wurde, noch kennt sie den wirklichen Namen und Geburtstag ihrer Mutter. Als ihr eines Tages eine Deutsche beim «Sunlight Project» des Whistleblowers Andreas Wolf ein Praktikum anbietet, hofft sie, dass der ihr mit seinem Internet-Journalismus bei der Vatersuche helfen kann. Sie stellt ihre Mutter vor die Wahl: Entweder sie lüftet das Geheimnis ihrer Herkunft, oder Pip macht sich auf nach Bolivien, wo Andreas Wolf im Schutz einer paradiesischen Bergwelt sein Enthüllungswerk vollbringt. Und wenig später bricht sie auf.
Für Elisabeth Robinson
… die stets das Böse will und stets das Gute schafft
«Ach, Miezchen, ich bin ja so froh, deine Stimme zu hören», sagte die Mutter der jungen Frau am Telefon. «Mein Körper enttäuscht mich schon wieder. Manchmal glaube ich, mein Leben ist nichts als eine lange Abfolge körperlicher Enttäuschungen.»
«Geht das nicht jedem so?», sagte Pip, die junge Frau. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Mutter von Renewable Solutions aus während der Mittagspause anzurufen. Das verschaffte ihr eine gewisse Entlastung von dem Gefühl, für ihre Arbeit nicht geeignet zu sein, eine Arbeit zu haben, für die niemand geeignet war, oder ein Mensch zu sein, der für gar keine Arbeit geeignet war, und nach zwanzig Minuten konnte sie dann ehrlicherweise sagen, nun müsse sie aber weiterarbeiten.
«Mein linkes Augenlid hängt», erklärte ihre Mutter. «Als würde es von einem Gewicht runtergezogen, wie von einem winzigen Angelblei oder so was.»
«Auch jetzt?»
«Immer mal wieder. Ich frage mich, ob das eine Bell’sche Lähmung sein könnte.»
«Was eine Bell’sche Lähmung auch sein mag, du hast mit Sicherheit keine.»
«Wenn du nicht einmal weißt, was das ist, Miezchen, wie kannst du dir da so sicher sein?»
«Keine Ahnung – weil du auch nicht die Basedow’sche Krankheit hattest? Oder eine Hyperthyreose? Oder ein Melanom?»
Nicht dass es Pip angenehm gewesen wäre, sich über ihre Mutter lustig zu machen. Aber ihr Umgang miteinander war grundsätzlich von Moralischem Risiko getrübt, eine nützliche Wendung, die sie am College in Volkswirtschaft gelernt hatte. Sie war wie eine Bank, die im Wirtschaftssystem ihrer Mutter zu groß war, um pleitezugehen, wie eine Angestellte, die als so unverzichtbar galt, dass sie wegen schlechter Einstellung nicht gefeuert werden konnte. Auch einige ihrer Freundinnen in Oakland hatten problematische Eltern, aber die kriegten es noch immer hin, täglich mit ihnen zu sprechen, ohne dass es übermäßig seltsam wurde, weil selbst die problematischsten unter ihnen mehr Ressourcen als nur einen einzelnen Nachkömmling hatten. Was ihre Mutter betraf, gab es nur Pip.
«Also, ich glaube nicht, dass ich heute zur Arbeit kann», sagte ihre Mutter. «Das Einzige, was diese Arbeit überlebbar macht, ist mein spirituelles Streben, und wenn an meinem Lid ein unsichtbares Angelblei zieht, kann ich das mit dem Streben nicht in Einklang bringen.»
«Mom, du kannst dich nicht schon wieder krankmelden. Es ist ja noch nicht mal Juli. Was soll denn erst sein, wenn du eine richtige Grippe oder so was hast?»
«Die Leute fragen sich sowieso schon alle, warum diese Alte da, der das halbe Gesicht auf die Schulter hängt, ihnen die Lebensmittel eintütet. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich um deine Box beneide. Um das Unsichtbarsein.»
«Wir wollen die Box jetzt aber nicht verklären», sagte Pip.
«Das ist das Schreckliche am Körper. Er ist so sichtbar, so sichtbar.»
Pips Mutter war zwar chronisch depressiv, aber nicht verrückt. Sie hatte es geschafft, ihren Arbeitsplatz an der Kasse des New-Leaf-Gemeinschaftsbioladens in Felton über zehn Jahre zu behalten, und sobald Pip aus ihrer eigenen Denkweise in die ihrer Mutter schlüpfte, konnte sie das, was diese sagte, bestens nachvollziehen. Die einzige Dekoration auf den grauen Raumteilern ihrer Großraumbox war ein Autoaufkleber: WENIGSTENS DER KRIEG GEGEN DIE UMWELT LÄUFT GUT. Die Boxen ihrer Kolleginnen waren mit Fotos und Ausschnitten bepflastert, Pip dagegen wusste um den Reiz der Unsichtbarkeit. Zudem erwartete sie jeden Monat, gefeuert zu werden, warum sich also häuslich einrichten.
«Hast du dir schon überlegt, wie du deinen Nicht-Geburtstag nicht-feiern möchtest?», fragte sie ihre Mutter.
«Ganz ehrlich, am liebsten würde ich den ganzen Tag mit der Decke über dem Kopf im Bett bleiben. Ich brauche keinen Nicht-Geburtstag, der mich daran erinnert, dass ich älter werde. Das erledigt auch schon das hängende Lid sehr gut.»
«Weißt du was? Ich backe dir einen Kuchen und komme zu dir, dann essen wir ihn zusammen. Du klingst irgendwie depressiver als sonst.»
«Wenn ich dich um mich habe, bin ich nicht depressiv.»
«Ha, zu schade, dass es mich nicht in Pillenform gibt. Kämst du mit Stevia im Kuchen zurecht?»
«Weiß ich nicht. Stevia macht immer komische Sachen mit meiner Mundchemie. Nach meiner Erfahrung lässt sich eine Geschmacksknospe nicht täuschen.»
«Zucker hat aber auch einen Nachgeschmack», sagte Pip, obwohl sie wusste, dass Argumentieren vergebens war.
«Zucker hat einen säuerlichen Nachgeschmack, mit dem die Geschmacksknospe kein Problem hat, weil sie so angelegt ist, dass sie Säure meldet, ohne sich länger damit aufzuhalten. Da muss die Geschmacksknospe nicht fünf Stunden damit zubringen, Fremdheit, Fremdheit! zu registrieren. Und genau das ist mir das eine Mal passiert, als ich ein Steviagetränk getrunken habe.»
«Aber ich sage dir: Der säuerliche Nachgeschmack bleibt.»
«Wenn eine Geschmacksknospe noch fünf Stunden, nachdem man ein gesüßtes Getränk getrunken hat, Fremdheit meldet, ist etwas alles andere als in Ordnung. Weißt du, dass die gesamte Gehirnchemie für den Rest des Lebens verändert ist, wenn man auch nur ein einziges Mal Crystal Meth raucht? Ich finde, genau so schmeckt Stevia.»
«Ich sitze hier nicht und paffe ein Meth-Pfeifchen, falls du das damit sagen willst.»
«Ich sage nur, dass ich keinen Kuchen brauche.»
«Nein, ich mache einen anderen Kuchen. Entschuldige, dass ich einen vorgeschlagen habe, der Gift für dich ist.»
«Ich habe nicht gesagt, dass er Gift ist. Es ist einfach nur so, dass Stevia etwas Komisches –»
«Mit deiner Mundchemie macht, ja.»
«Miezchen, ich esse jeden Kuchen, den du mitbringst, von raffiniertem Zucker sterbe ich nicht, ich wollte dich nicht verletzen. Liebling, bitte.»
Kein Telefonat war komplett, bevor sie einander nicht unglücklich gemacht hatten. Das Problem, wie Pip es sah – der Kern des Handicaps, mit dem sie lebte, die mutmaßliche Ursache ihrer Unfähigkeit, bei irgendetwas effektiv zu sein –, bestand darin, dass sie ihre Mutter liebte. Mit ihr litt, sie bedauerte, den Klang ihrer Stimme mochte, sich auf eine gewisse verstörende, nichtsexuelle Weise von ihrem Körper angezogen fühlte, sich sogar um ihre Mundchemie sorgte, ihr mehr Glück wünschte, sie nur ungern verletzte, sie liebenswert fand. Das war der massive Granitblock im Zentrum ihres Lebens, der Ursprung allen zornigen Sarkasmus, den sie nicht nur gegen ihre Mutter, sondern auch, in letzter Zeit immer unsinniger, gegen weniger Geeignetes richtete. Wenn Pip zornig wurde, dann eigentlich nicht auf ihre Mutter, sondern auf den Granitblock.
Sie war acht oder neun gewesen, als ihr die Frage in den Sinn kam, warum ihr Geburtstag der einzige war, der in der kleinen Hütte gefeiert wurde, zwischen den Mammutbäumen außerhalb von Felton. Darauf hatte ihre Mutter geantwortet, sie selbst habe gar keinen Geburtstag, der einzige, der ihr wichtig sei, sei Pips. Doch Pip hatte ihr so lange in den Ohren gelegen, bis sie einwilligte, die Sommersonnenwende mit einem Kuchen zu feiern, was sie dann Nicht-Geburtstag nannten. Das hatte die Frage nach dem Alter der Mutter aufgeworfen, und anstatt es preiszugeben, hatte sie mit einem Lächeln, das zur Formulierung eines Koan gepasst hätte, lediglich gesagt: «Ich bin alt genug, um deine Mutter zu sein.»
«Schon, aber wie alt bist du wirklich?»
«Sieh dir meine Hände an», hatte ihre Mutter gesagt. «Mit etwas Übung kannst du lernen, das Alter einer Frau an ihren Händen zu erkennen.»
Und so hatte Pip sich – zum ersten Mal, wie ihr schien – die Hände ihrer Mutter angesehen. Die Haut auf dem Rücken war nicht rosa und opak wie ihre. Es war, als arbeiteten sich die Knochen und Adern an die Oberfläche, als wäre die Haut Wasser, das zurückwich, um Konturen auf dem Grund eines Hafens bloßzulegen. Zwar hatte sie dichte und sehr lange Haare, doch enthielten sie auch trocken wirkende graue Strähnen, und die Haut an ihrem Halsansatz glich einem Pfirsich, der seit einem Tag überreif war. In jener Nacht hatte Pip wach gelegen, voller Angst, ihre Mutter könnte bald sterben. Das war ihre erste Vorahnung vom Granitblock gewesen.
Seitdem wünschte sie sich sehnlichst, dass ihre Mutter einen Mann in ihrem Leben hätte oder eben irgendeinen weiteren Menschen, der sie liebte. Zu den potenziellen Kandidaten hatte im Lauf der Jahre ihre Nachbarin Linda gehört, die ebenfalls alleinerziehende Mutter war und ebenfalls Sanskrit lernte, der New-Leaf-Metzger Ernie, ebenfalls Veganer, die Kinderärztin Vanessa Tong, die derart in Pips Mutter verschossen gewesen war, dass sie den Versuch unternommen hatte, sie fürs Vogelbeobachten zu begeistern, sowie der rauschebärtige Handwerker Sonny, für den kein Reparaturauftrag zu klein war, um nicht Anlass für einen Vortrag über alte Pueblo-Lebensformen zu geben. All diese gutherzigen Bewohner des San Lorenzo Valley hatten in Pips Mutter das erkannt, was auch Pip als junger Teenager voller Stolz gesehen hatte: eine irgendwie nicht fassbare Größe. Man brauchte nicht zu schreiben, um Dichter zu sein, man brauchte keine Dinge zu erschaffen, um Künstler zu sein. Das spirituelle Streben ihrer Mutter war an sich schon eine Art Kunst – eine Kunst der Unsichtbarkeit. Bevor Pip zwölf wurde, gab es in ihrer Hütte keinen Fernseher und keinen Computer; die wichtigste Nachrichtenquelle ihrer Mutter war der Santa Cruz Sentinel, eine Zeitung, die ihr Tag für Tag die kleine Freude bereitete, über die Welt entsetzt zu sein. Das an sich war im Valley nicht weiter ungewöhnlich. Dumm war nur, dass Pips Mutter selbst einen schüchternen Glauben an ihre Größe ausstrahlte oder wenigstens so auftrat, als hätte sie einst Größe besessen, damals in einer Vor-Pip-Vergangenheit, über die zu sprechen sie sich kategorisch weigerte. Sie war weniger gekränkt als vielmehr peinlich berührt, dass ihre Nachbarin Linda ihren Frösche fangenden, durch den Mund atmenden Sohn Damian mit ihrer einzigartigen, perfekten Pip vergleichen konnte. Sie stellte sich vor, dass der Metzger dauerhaft erschüttert wäre, wenn sie ihm sagte, ihrer Meinung nach rieche er nach Fleisch, sogar nach dem Duschen; sie machte sich das Leben schwer damit, Vanessa Tongs Einladungen auszuweichen, statt einfach zuzugeben, dass sie sich vor Vögeln fürchtete; und jedes Mal, wenn Sonnys höhergelegter Pick-up in die Auffahrt rollte, schickte sie Pip an die Tür und flüchtete hinten hinaus in den Mammutwald. Den Luxus, unfassbar wählerisch zu sein, verdankte sie Pip. Immer wieder stellte sie klar: Pip sei der einzige Mensch, der ihren Ansprüchen genüge, der einzige, den sie liebe.
Das alles wurde natürlich, als Pip in die Pubertät kam, zu einem Quell quälender Peinlichkeit. Außerdem war sie da schon zu sehr damit beschäftigt, ihre Mutter zu hassen und abzustrafen, um den Schaden ermessen zu können, den deren Weltfremdheit ihren eigenen Zukunftschancen zufügte. Es gab niemanden, der ihr sagte, dass es, wenn sie in der Welt mal Gutes tun wollte, vielleicht keine so gute Idee war, nach dem Collegeabschluss mit Studienschulden von 130000 Dollar dazustehen. Niemand hatte ihr gesagt, dass die Zahl, auf die sie beim Vorstellungsgespräch mit Igor, dem Leiter des Direktmarketings bei Renewable Solutions, achten sollte, nicht die «dreißig- oder vierzigtausend Dollar» an Provision war, die er ihr schon in ihrem allerersten Jahr in Aussicht stellte, sondern die 21000 Dollar Grundgehalt, die er ihr anbot – oder dass ein so beredsamer Verkäufer wie Igor möglicherweise auch darin geschickt war, arglosen Einundzwanzigjährigen einen Scheißjob anzudrehen.
«Noch was zum Wochenende», sagte Pip mit fester Stimme. «Ich muss dich warnen, dass ich über etwas reden möchte, worüber du nicht gern sprichst.»
Ihre Mutter ließ ein leises Lachen vernehmen, das gewinnend sein, das Schutzlosigkeit signalisieren sollte. «Es gibt nur eines, worüber ich nicht gern mit dir reden möchte.»
«Tja, und genau darüber möchte ich mit dir reden. Sei also gewarnt.»
Ihre Mutter sagte nichts dazu. In Felton würde inzwischen der Nebel weggebrannt sein, der Nebel, den ihre Mutter täglich nur mit Bedauern schwinden sah, weil er eine strahlende Welt enthüllte, in die sie lieber nicht gehören wollte. Sie praktizierte ihr Streben am besten in der Geborgenheit des grauen Vormittags. Nun würde überall Sonnenlicht sein, wegen der Filtration durch die winzigen Mammutbaumnadeln grünlich und vergoldet, Sommerwärme würde sich durch die verhängten Fenster der Schlafveranda stehlen, auf das Bett, das Pip als nach Privatsphäre lechzender Teenager für sich requiriert hatte, bis sie ans College ging und ihre auf eine Liege im großen Zimmer verbannte Mutter es wieder in Besitz nahm. Wahrscheinlich saß sie gerade darauf und praktizierte ihr Streben. Wenn ja, würde sie erst wieder etwas sagen, wenn sie angesprochen wurde; sie würde ganz ins Atmen versunken sein.
«Es ist nichts Persönliches», sagte Pip. «Ich ziehe nicht weg. Aber ich brauche Geld, und du hast keins, und ich habe keins, und ich weiß nur einen Ort, wo ich wahrscheinlich welches bekomme. Es gibt bloß einen Menschen, der mir, und sei es theoretisch, etwas schuldet. Also werden wir darüber reden.»
«Miezchen», sagte ihre Mutter traurig, «du weißt doch, dass ich das nicht mache. Es tut mir leid, dass du Geld brauchst, aber es geht hier nicht darum, ob ich etwas möchte oder nicht. Es geht darum, ob ich es kann oder nicht kann. Und ich kann es nicht, also müssen wir uns für dich etwas anderes überlegen.»
Pip runzelte die Stirn. Immer mal wieder hatte sie das Bedürfnis, sich in der umstandsbedingten Zwangsjacke, in der sie sich zwei Jahre zuvor wiedergefunden hatte, zu strecken, um herauszufinden, ob sie in den Ärmeln jetzt vielleicht ein wenig nachgab. Und jedes Mal saß sie genauso stramm wie eh und je. Noch immer war Pip mit 130000 Dollar verschuldet, noch immer war sie der einzige Trost ihrer Mutter. Es war schon bemerkenswert, wie augenblicklich und total sie, kaum dass ihre vier Jahre Collegefreiheit vorüber waren, in der Falle saß; es hätte sie depressiv werden lassen, hätte sie sich denn eine Depression leisten können.
«Okay, dann lege ich jetzt auf», sagte sie ins Telefon. «Mach du dich mal für die Arbeit fertig. Dein Auge plagt dich wahrscheinlich nur, weil du nicht genug schläfst. Das passiert mir auch manchmal, wenn ich nicht schlafe.»
«Tatsächlich?», sagte ihre Mutter begierig. «Du hast das auch?»
Obwohl Pip wusste, dass es das Telefonat verlängern und das Gespräch womöglich auf genetisch vererbbare Krankheiten ausdehnen würde, was ganz sicher ausgiebiges Schwindeln ihrerseits erforderlich machte, fand sie, dass es für ihre Mutter besser war, über Schlafstörungen nachzudenken als über die Bell’sche Lähmung, und sei es nur, weil es – wie Pip ihr schon seit Jahren vergebens darlegte – Medikamente gab, die sie gegen ihre Schlafstörungen nehmen konnte. Das Ergebnis aber war, dass sie, als Igor um 13.22 Uhr den Kopf in ihre Box steckte, noch immer telefonierte.
«Mom, entschuldige, ich muss jetzt aber, Wiedersehen», sagte sie und legte auf.
Igor fixierte sie. Er war ein blonder Russe mit Bart, der zum Drüberstreichen einlud, und unverschämt gutem Aussehen, und für Pip war der einzig denkbare Grund, warum er sie noch nicht gefeuert hatte, der, dass er sich gern vorstellte, wie er sie flachlegte, und dennoch war sie überzeugt davon, dass sie, sollte es je dazu kommen, in null Komma nichts gedemütigt wäre, weil er nicht nur gut aussah, sondern auch ziemlich gut bezahlt wurde, wohingegen sie eine Frau mit nichts als Problemen war. Sie war überzeugt davon, dass auch er das wusste.
«Es tut mir leid», sagte sie zu ihm. «Tut mir leid, dass ich sieben Minuten überzogen habe. Meine Mom hatte ein medizinisches Problem.» Sie dachte darüber nach. «Nein, das nehme ich zurück, es tut mir nicht leid. Wie stehen die Chancen, dass ich innerhalb von sieben Minuten eine positive Resonanz bekomme?»
«Habe ich so streng ausgesehen?», sagte Igor, mit den Wimpern klimpernd.
«Warum steckst du dann sonst den Kopf rein? Warum starrst du mich an?»
«Ich dachte, vielleicht möchtest du ein Ratequiz spielen.»
«Ich glaube nicht.»
«Du versuchst, mit höchstens zwanzig Fragen herauszufinden, was ich von dir will, und ich beschränke meine Antworten auf ein unverfängliches Ja oder Nein. Damit das klar ist: nur Jas, nur Neins.»
«Willst du eine Anzeige wegen sexueller Belästigung?»
Igor lachte, von sich begeistert. «Das gibt ein Nein! Nur noch neunzehn Fragen.»
«Das mit der Anzeige meine ich ernst. Ich habe eine Juristenfreundin, die sagt, es reicht schon, wenn man eine gewisse Atmosphäre schafft.»
«Das ist keine Frage.»
«Wie kann ich dir klarmachen, wie wenig lustig das für mich ist?»
«Bitte nur Ja-nein-Fragen.»
«Herrgott. Hau endlich ab.»
«Möchtest du vielleicht lieber über deine Mai-Performance sprechen?»
«Hau ab! Ich muss jetzt telefonieren.»
Als Igor weg war, holte sie ihre Anrufliste auf den Bildschirm, betrachtete sie voller Abscheu und minimierte das Fenster sofort wieder. Innerhalb der zweiundzwanzig Monate, die sie nun für Renewable Solutions arbeitete, hatte sie es in immerhin vier Monaten geschafft, auf der Weißwandtafel, wo ihre «Kontaktpunkte» und die ihrer Kollegen aufgelistet waren, nur Vorletzte zu sein, nicht Letzte. Vielleicht war es kein Zufall, dass vier von zweiundzwanzig in etwa der Häufigkeit entsprach, mit der sie, wenn sie in den Spiegel schaute, eine hübsche Frau sah und nicht eine, die, wäre es eine andere gewesen, als hübsch durchgegangen wäre, aber da ja sie es war, eben doch nicht als hübsch durchgehen konnte. Sie hatte eindeutig einige der körperlichen Problemzonen ihrer Mutter mitbekommen, doch wenigstens hatte sie zur Selbstbestätigung die unumstößlichen Beweise ihrer Erfahrungen mit Jungen. Viele fühlten sich zwar von ihr angezogen, aber nur wenige fanden am Ende nicht, das sei ein Irrtum gewesen. Igor versuchte nun schon seit zwei Jahren, daraus schlau zu werden. Er musterte sie ständig, wie sie sich selbst im Spiegel musterte: «Gestern hat sie ganz gut ausgesehen, und doch …»
Irgendwoher, noch aus der Collegezeit, hatte Pip die Vorstellung – ihr Verstand war wie ein elektrisch aufgeladener Luftballon, der wahllos vorbeiwehende Vorstellungen anzog –, dass der Gipfel der Zivilisiertheit darin bestand, den Sonntagvormittag mit der Lektüre der gedruckten Sonntagsausgabe der New York Times in einem Café zu verbringen. Das war zu ihrem wöchentlichen Ritual geworden, und tatsächlich fühlte sie sich an ihren Sonntagvormittagen, wo auch immer sie diese Vorstellung herhatte, am zivilisiertesten. Egal, wie lange sie am Vorabend aus gewesen war und wie viel sie getrunken hatte – um acht Uhr morgens kaufte sie die Times, ging damit zu Peet’s Coffee, bestellte ein Scone und einen doppelten Cappuccino, setzte sich an ihren Lieblingstisch in der Ecke und vergaß sich ein paar selige Stunden lang.
Im vorigen Winter war ihr dort ein hübscher, schmaler junger Typ aufgefallen, der dasselbe Sonntagsritual pflegte. Binnen weniger Wochen überlegte sie, statt die Zeitung zu lesen, wie sie als Lesende wohl auf ihn wirkte und ob sie aufblicken und ihn beim Hersehen erwischen sollte, bis schließlich klar war, dass sie sich entweder ein neues Café suchen oder ihn ansprechen musste. Als ihre Blicke sich das nächste Mal trafen, versuchte sie sich an einem einladenden Kopfschwenk, der sich so knirschend und bemüht anfühlte, dass sie schockiert darüber war, wie prompt er funktionierte. Der Typ kam sofort her und schlug verwegen vor, sie könnten sich doch, da sie ja ohnehin jede Woche zur selben Zeit da seien, eine Zeitung teilen und einen Baum retten.
«Aber wenn wir beide denselben Teil lesen wollen?», sagte Pip mit einer gewissen Feindseligkeit.
«Du warst vor mir hier», sagte er, «also dürftest du entscheiden.» Dann klagte er noch darüber, dass seine Eltern in College Station, Texas, die verschwenderische Angewohnheit hätten, die Sonntags-Times doppelt zu kaufen, um Streitereien wegen der Teile zu vermeiden.
Wie ein Hund, der bloß seinen Namen und fünf einfache Wörter der Menschensprache kennt, hörte Pip nur, dass er aus einer normalen Familie mit zwei Elternteilen kam, die einen Haufen Geld hatte. «Aber das ist die einzige Zeit, die ich in der Woche ganz für mich allein habe», sagte sie.
«Entschuldige», sagte er und wich zurück. «Es hat bloß so ausgesehen, als wolltest du etwas sagen.»
Pip wusste nicht, wie sie sich Männern ihres Alters gegenüber, die Interesse an ihr zeigten, anders als feindselig verhalten sollte. Das lag auch daran, dass der einzige Mensch auf der Welt, dem sie vertraute, ihre Mutter war. Aus ihren Erlebnissen an der Highschool und am College hatte sie gelernt, dass es, je netter einer war, umso schmerzhafter für sie beide würde, wenn er herausfand, wie viel verkorkster sie war, als ihre Nettigkeit ihn hatte glauben lassen. Noch nicht gelernt hatte sie, wie sie es anstellen sollte, nicht zu wollen, dass einer nett zu ihr war. Die Nicht-Netten hatten ein besonderes Talent dafür, das zu spüren und auszunutzen. Deshalb war weder den Netten noch den Nicht-Netten zu trauen, und zudem war sie nicht sehr gut darin, die beiden Sorten auseinanderzuhalten, bevor sie mit ihnen im Bett gewesen war.
«Vielleicht können wir ja ein andermal einen Kaffee trinken», sagte sie zu ihm. «Wenn’s nicht gerade Sonntagvormittag ist.»
«Klar», sagte er unsicher.
«Denn da wir ja jetzt miteinander gesprochen haben, müssen wir uns auch nicht mehr ständig ansehen. Wir können einfach unsere jeweilige Zeitung lesen, so wie deine Eltern.»
«Ich heiße übrigens Jason.»
«Ich bin Pip. Und da wir jetzt wissen, wie wir heißen, müssen wir uns erst recht nicht mehr ansehen. Ich kann denken, ach, das ist ja bloß Jason, und du, ach, das ist ja bloß Pip.»
Er lachte. Wie sich herausstellte, hatte er in Stanford Mathematik studiert und lebte nun den Traum aller Mathestudenten, der beinhaltete, dass er bei einer Stiftung arbeitete, die in Amerika die Rechenkenntnisse förderte, und zugleich ein Lehrbuch verfasste, das, so seine Hoffnung, den Statistikunterricht revolutionieren würde. Nach zwei Treffen mochte sie ihn hinreichend, um zu finden, dass sie jetzt doch mal mit ihm schlafen sollte, bevor einer von ihnen sich verletzt fühlte. Wartete sie zu lange, würde Jason herausbekommen, dass sie ein Chaos aus Schulden und Verpflichtungen war, und die Flucht ergreifen. Oder sie müsste ihm sagen, dass ihre tiefere Zuneigung einem älteren Mann galt, der nicht nur nichts von Geld hielt – von US-Währung, von deren bloßem Besitz –, sondern auch noch verheiratet war.
Um nicht völlig unmitteilsam zu sein, erzählte sie Jason deshalb von der ehrenamtlichen «Arbeit» für nukleare Abrüstung, der sie nach Feierabend nachging – ein Gebiet, über das er offenbar so viel mehr wusste als sie, obwohl es doch ihre «Arbeit» war, dass sie leicht feindselig wurde. Zum Glück redete er gern, begeisterte sich für Philip K. Dick, für Breaking Bad, für Seeotter und Pumas, für Mathematik im Alltag und insbesondere für seine geometrische Methode der Statistikpädagogik, die er so gut erklärte, dass sie sie fast verstand. Bei ihrem dritten Treffen in einem Asia-Imbiss, wo sie sich gezwungen sah, so zu tun, als wäre sie nicht hungrig, weil sie ihren letzten Gehaltsscheck von Renewable Solutions noch nicht eingelöst hatte, stand sie am Scheideweg: entweder die Freundschaft aufs Spiel setzen oder sich in die Ungefährlichkeit von zwanglosem Sex zurückziehen.
Vor dem Lokal, es war leicht nebelig, machte sie sich in der sonntagabendlichen Stille der Telegraph Avenue an Jason heran, der begierig darauf einging. Sie spürte ihren Bauch knurren, als sie ihn gegen seinen drückte; sie hoffte, dass er es nicht hörte.
«Möchtest du zu dir?», murmelte sie ihm ins Ohr.
Jason sagte nein, leider sei eine Schwester zu Besuch.
Bei dem Wort Schwester zog Pips Herz sich vor Feindseligkeit zusammen. Da sie selbst keine Geschwister hatte, konnte sie nicht umhin, sich über die Ansprüche und die potenzielle Unterstützungsbereitschaft der Geschwister anderer Leute zu ärgern, über deren Kleinfamiliennormalität, deren ererbten Reichtum an Nähe.
«Wir können auch zu mir», sagte sie etwas verstimmt. Und während sie und Jason Hand in Hand die Telegraph Avenue entlanggingen, war sie so damit beschäftigt, sich über Jasons Schwester zu ärgern, weil die sie aus seinem Schlafzimmer (und infolgedessen auch aus seinem Herzen, obwohl sie nicht sonderlich auf einen Platz darin erpicht war) vertrieben hatte, ja war sie so bedrückt von ihrer Lage, dass sie schon vor ihrer Haustür standen, als ihr einfiel, dass sie ja gar nicht zu ihr konnten.
«Oh», sagte sie. «Oh. Könntest du noch einen Moment hier warten? Ich muss noch was erledigen.»
«Äh, klar», sagte Jason.
Sie gab ihm einen dankbaren Kuss, worauf sie zehn Minuten lang vor der Tür knutschten und fummelten und Pip sich in das Vergnügen versenkte, von einem sauberen und hochkompetenten jungen Mann berührt zu werden, bis ein deutlich vernehmbares Knurren aus ihrem Bauch sie wieder herausriss.
«Einen Moment, ja?», sagte sie.
«Hast du Hunger?»
«Nein! Das heißt, vielleicht plötzlich doch, ein bisschen. Aber beim Asiaten hatte ich noch keinen.»
Behutsam steckte sie den Schlüssel ins Schloss und ging hinein. Im Wohnzimmer schaute sich ihr schizophrener Mitbewohner Dreyfuss mit ihrem behinderten Mitbewohner Ramón in einem Fernseher vom Sperrmüll – den Digital-Analog-Wandler hatte ein dritter Mitbewohner, Stephen, derjenige, in den sie mehr oder weniger verliebt war, von einem Straßenhöker erworben – ein Basketballspiel an. Dreyfuss’ Leib, aufgebläht von den Medikamenten, die er bis dahin brav eingenommen hatte, füllte einen niedrigen Sessel vom Sperrmüll vollständig aus.
«Pip, Pip», rief Ramón, «Pip, was machst du denn jetzt, du hast doch gesagt, du hilfst mir vielleicht mit meim Worschatz, hilfst du mir jetzt damit?»
Pip legte einen Finger an die Lippen, worauf Ramón sich die Hände auf den Mund klatschte.
«Genau», sagte Dreyfuss leise. «Es soll nämlich keiner wissen, dass sie da ist. Und warum ist das wohl so? Weil die deutschen Spione in der Küche sind, könnte das sein? Natürlich gebrauche ich das Wort ‹Spione› im weiteren Sinn, obwohl vielleicht nicht ganz unpassend, wenn man bedenkt, dass die Arbeitsgruppe Nukleare Abrüstung in Oakland ungefähr fünfunddreißig Mitglieder umfasst, von denen Pip und Stephen keinesfalls die unentbehrlichsten sind, und dennoch ist das Haus, das die Deutschen vor nunmehr fast einer Woche mit ihrer allzu typisch deutschen Ernsthaftigkeit und Neugier zu beehren beschlossen haben, unseres. Ein merkwürdiges Faktum, das einer Betrachtung wert ist.»
«Dreyfuss», zischte Pip und trat näher zu ihm, um nicht die Stimme erheben zu müssen.
Dreyfuss verschränkte seelenruhig die fetten Finger über dem Bauch und wandte sich nun an Ramón, der nicht müde wurde, ihm zuzuhören. «Könnte es sein, dass Pip einem Gespräch mit den deutschen Spionen aus dem Weg gehen will? Vielleicht speziell heute Abend? Wo sie doch einen jungen Herrn mitgebracht hat, mit dem sie gerade rund eine Viertelstunde vor der Haustür oskuliert hat?»
«Der Spion bist du», flüsterte Pip wütend. «Ich hasse deine Spioniererei.»
«Sie hasst es, wenn ich Dinge beobachte, die keinem intelligenten Menschen entgehen können», erklärte Dreyfuss Ramón. «Etwas zu beobachten, was vor aller Augen stattfindet, ist nicht spionieren, Ramón. Und vielleicht machen ja auch die Deutschen nicht mehr als das. Was allerdings einen Spion ausmacht, ist ein Motiv, und da, Pip» – er wandte sich ihr zu –, «da würde ich dir raten, dich einmal zu fragen, was diese neugierigen, ernsten Deutschen in unserem Haus verloren haben.»
«Du hast doch nicht etwa deine Medikamente abgesetzt?», flüsterte Pip.
«Oskulieren, Ramón. Ein schönes neues Wort für dich.»
«Was heißtn das?»
«Nun, es heißt knutschen. Die Münder aufeinanderpressen. ‹Küsse mit der Wurzel reißen aus den Lippen›.»
«Pip, hilfst du mir jetzt mit meim Worschatz?»
«Ich glaube, mein Freund, heute Abend hat sie andere Pläne.»
«Süßer, nein, nicht jetzt», flüsterte Pip Ramón zu, und dann, an Dreyfuss gewandt: «Die Deutschen sind hier, weil wir sie zu uns eingeladen haben, in das freie Zimmer. Aber du hast recht, du darfst ihnen nicht sagen, dass ich da bin.»
«Was meinst du, Ramón?», sagte Dreyfuss. «Sollen wir ihr helfen? Bei deinem Wortschatz hilft sie dir nicht.»
«Ach, Herrgott. Hilf du ihm doch. Du bist doch der mit dem Riesenwortschatz.»
Dreyfuss drehte sich wieder zu Pip um und betrachtete sie unverwandt, die Augen nur Intellekt, null Emotion. Es war, als unterdrückten die Pillen sein Leiden gerade mal ausreichend, um ihn davon abzuhalten, Leute auf der Straße mit einem Breitschwert abzuschlachten, aber nicht ausreichend genug, um es aus seinen Blicken zu verbannen. Stephen hatte Pip versichert, Dreyfuss sehe jeden genau gleich an, sie aber beharrte darauf, dass, sollte er je seine Pillen absetzen, sie diejenige wäre, die er mit dem Breitschwert oder was auch immer verfolgen, ja dass er die Wirrnis auf der Welt, die Verschwörung gegen ihn allein mit ihr in Verbindung bringen würde; und mehr noch, sie glaubte, er sähe in ihrer Falschheit etwas Wahres.
«Diese Deutschen und ihre Spioniererei sind mir zuwider», sagte Dreyfuss zu ihr. «Wenn sie ein Haus betreten, ist ihr erster Gedanke, wie sie es übernehmen können.»
«Das sind Friedensaktivisten, Dreyfuss. Die wollen nicht mehr die Welteroberer sein wie noch vor siebzig Jahren.»
«Ich möchte, dass ihr sie wegschickt, du und Stephen.»
«Ist gut! Machen wir! Später. Morgen.»
«Wir mögen die Deutschen nicht, was, Ramón?»
«Wir mögen es, wenn wir bloß zu fünft sind, wie Famillje», sagte Ramón.
«Na ja … nicht wie eine Familie. Nicht so ganz. Nein. Hier hat doch jeder seine eigene Familie, nicht wahr, Pip?»
Wieder sah Dreyfuss ihr in die Augen, bedeutungsvoll, wissend, ohne menschliche Wärme – oder vielleicht einfach ohne jede Spur von Begehren? Vielleicht sah sie ja jeder Mann so herzlos an, wenn Sex vollkommen aus dem Spiel war? Sie ging zu Ramón und legte ihm die Hände auf die fetten, hängenden Schultern. «Ramón, Süßer, heute Abend habe ich keine Zeit», sagte sie. «Aber morgen bin ich den ganzen Abend zu Hause, okay?»
«Okay», sagte er in tiefstem Vertrauen.
Sie lief zurück zur Haustür und ließ Jason herein, der sich auf die gekrümmten Finger blies. Als sie am Wohnzimmer vorbeigingen, klatschte Ramón sich erneut die Hände auf den Mund, womit er seine Geheimhaltungszusage zum Ausdruck brachte, während Dreyfuss unerschütterlich Basketball schaute. Für Jason gab es so viel zu sehen in dem Haus, für Pip aber so wenig, was sie ihn sehen lassen wollte, und Dreyfuss und Ramón rochen beide streng, Dreyfuss nach Hefe, Ramón nach Urin, was sie gewohnt war, Besucher aber nicht. Rasch, auf Zehenspitzen, lief sie die Treppe hinauf und hoffte, Jason würde es kapieren und sich ebenfalls beeilen und leise sein. Durch eine geschlossene Tür im ersten Stock drangen die vertrauten Kadenzen von Stephen und seiner Frau, die einander Vorhaltungen machten.
In ihrem kleinen Zimmer im zweiten Stock führte sie Jason zu ihrer Matratze, ohne Licht zu machen, weil er nicht sehen sollte, wie arm sie war. Sie war furchtbar arm, aber ihr Bettzeug war sauber; sie war reich an Sauberkeit. Als sie ein Jahr zuvor in das Zimmer gezogen war, hatte sie mit Hilfe eines desinfizierenden Reinigungssprays jeden Zoll Fußboden und Fenstersims geschrubbt, und als Mäuse aufgetaucht waren, hatte sie von Stephen gesagt bekommen, dass man, um sie fernzuhalten, jeden nur denkbaren Durchschlupf mit Stahlwolle verstopfen müsse, und dann hatte sie den Fußboden noch einmal geschrubbt. Nun aber, als sie Jason das T-Shirt über die knochigen Schultern gezogen und, nachdem sie sich selbst hatte ausziehen lassen, mit diversen lustvollen Präliminarien begonnen hatte, nur um sich daran zu erinnern, dass ihre einzigen Kondome in dem Kulturbeutel waren, den sie vorm Gehen in dem Bad im Erdgeschoss hatte stehen lassen, weil die Deutschen ihr eigentliches Bad besetzt hielten, wurde ihre Sauberkeit zu einem weiteren Handicap. Sie drückte Jason flüchtig die Lippen auf seine sauber beschnittene Erektion, murmelte: «Entschuldige, bin gleich wieder da», und griff sich einen Bademantel, an dem sie so lange herumnestelte und -knotete, bis ihr mitten auf der letzten Treppe einfiel, dass sie Jason gar nicht erklärt hatte, wohin sie ging.
«Mist», sagte sie und blieb auf der Treppe stehen. Nichts an Jason hatte auf ungezügelte Promiskuität hingedeutet, sie besaß noch ein gültiges Rezept für die Pille danach, und in dem Moment hatte sie zudem das Gefühl, Sex sei das Einzige in ihrem Leben, worin sie einigermaßen effektiv war – trotzdem musste sie versuchen, ihren Körper sauber zu halten. Selbstmitleid breitete sich in ihr aus, die Überzeugung, dass Sex für niemanden außer ihr logistisch so unschön, ein schmackhafter Fisch mit derart vielen kleinen Gräten war. Hinter ihr, hinter der Tür zum ehelichen Schlafzimmer, erhob Stephens Frau die Stimme zum Thema moralische Eitelkeit.
«Ich nehme gern moralische Eitelkeit in Kauf», unterbrach Stephen sie, «wenn die Alternative ist, sich auf einen göttlichen Plan einzulassen, durch den vier Milliarden Menschen verarmen.»
«Und genau das ist moralische Eitelkeit!», trumpfte seine Frau auf.
Stephens Stimme löste in Pip eine Sehnsucht aus, die tiefer war als alles, was sie für Jason empfand, und sie folgerte rasch, dass sie sich nicht moralischer Eitelkeit schuldig gemacht hatte, sondern eher ein Fall von geringer moralischer Selbstachtung war, weil der Mann, den sie eigentlich wollte, nicht der war, mit dem sie jetzt gleich zu vögeln beabsichtigte. Auf Zehenspitzen ging sie ins Erdgeschoss und vorbei an den aufgetürmten Baustoffen vom Sperrmüll im Flur. In der Küche redete die Deutsche, Annagret, auf Deutsch. Pip sauste ins Bad, stopfte einen Dreierstreifen Kondome in die Bademanteltasche, spähte wieder zur Tür hinaus und zog rasch den Kopf zurück: Annagret stand in der Küchentür.
Annagret war eine dunkeläugige Schönheit und hatte eine angenehme Stimme, was Pips Vorurteile über die Hässlichkeit des Deutschen und die blauen Augen derer, die es sprachen, widerlegte. Sie und ihr Freund Martin urlaubten in diversen amerikanischen Slums, vorgeblich, um den Bekanntheitsgrad ihrer internationalen Organisation für die Rechte der Hausbesetzer zu steigern und Kontakte mit der amerikanischen Antiatombewegung zu knüpfen, hauptsächlich aber, so schien es, um vor optimistischen Ghetto-Wandgemälden Fotos voneinander zu machen. Am Dienstag hatte Stephens Frau beim abendlichen Gemeinschaftsessen, an dem Pip zwangsläufig teilnehmen musste, weil sie mit dem Kochen dran war, mit Annagret einen Streit über das Atomwaffenprogramm Israels vom Zaun gebrochen. Stephens Frau gehörte zu den Frauen, die anderen ihre Schönheit anlasteten (dass sie Pip nichts anlastete, sondern ihr vielmehr mit Mütterlichkeit begegnete, bestätigte Pip in ihrer nicht allzu großartigen Selbsteinschätzung ihres Aussehens), und Annagrets keinerlei Mühe erfordernde Schönheit, von ihrer wüsten Frisur und den mehrfach gepiercten Augenbrauen weniger beschädigt als betont, hatte Stephens Frau derart in Rage gebracht, dass sie sich in eklatanten Unwahrheiten über Israel erging. Da das israelische Atomwaffenprogramm zufällig das Abrüstungsthema war, mit dem Pip sich gut auskannte – unlängst hatte sie für die Arbeitsgruppe ein Referat darüber angefertigt –, und da sie außerdem zutiefst eifersüchtig auf Stephens Frau war, ließ sie eine eloquente fünfminütige Zusammenfassung der Beweise für das atomare Potenzial Israels vom Stapel.
Kurioserweise hatte das Annagret fasziniert. Sie hatte sich «super beeindruckt» von Pip gezeigt und sie von den anderen weg ins Wohnzimmer gelotst, wo sie sich aufs Sofa setzten und ein langes Frauengespräch führten. Annagrets Aufmerksamkeiten hatten etwas Unwiderstehliches, und als sie dann auch noch von dem berühmten Internet-Outlaw Andreas Wolf erzählte, den sie, wie sich herausstellte, persönlich kannte, und die Bemerkung fallenließ, Pip sei genau der Typus junger Mensch, den sie beim Sunlight Project bräuchten, und auf Pip einredete, sie solle doch ihren schrecklichen Ausbeuterjob sausenlassen und sich um eines der bezahlten Praktika bewerben, die das Sunlight Project neuerdings anbiete, und noch hinzufügte, sehr wahrscheinlich müsse sie, um eine dieser Stellen zu bekommen, lediglich einen formalen «Fragebogen» einreichen, den sie, Annagret, ihr noch geben könne, bevor sie weiterreise, hatte Pip sich derart geschmeichelt gefühlt – derart gewollt –, dass sie versprochen hatte, den Fragebogen auszufüllen. Vier Stunden lang hatte sie billigen Wein getrunken.
Am folgenden Morgen, wieder nüchtern, bereute sie ihr Versprechen. Aufgrund diverser europäischer und amerikanischer Haftbefehle wegen Hacking- und Spionageverdachts residierten Andreas Wolf und sein Projekt gegenwärtig in Südamerika, und es lag auf der Hand, dass Pip ihre Mutter auf keinen Fall allein lassen und nach Südamerika ziehen würde. Außerdem war sie, obwohl er für manche ihrer Freundinnen ein Held war und sein Credo, Geheimhaltung sei Unterdrückung und Transparenz Freiheit, sie durchaus ein wenig neugierig machte, politisch nicht sonderlich engagiert; meistens schwamm sie einfach im Fahrwasser von Stephen mit, ja versuchte sich am Engagiertsein genauso unbeständig wie an ihrer körperlichen Fitness. Auch kamen ihr das Sunlight Project und die Inbrunst, mit der Annagret davon gesprochen hatte, potenziell sektenhaft vor. Darüber hinaus war sie, was sich ihrer Überzeugung nach beim Ausfüllen des Fragebogens sofort erweisen würde, nicht annähernd so klug und informiert, wie ihre fünfminütige Rede über Israel sie hatte erscheinen lassen. Deshalb war sie den Deutschen aus dem Weg gegangen, bis sie an diesem Morgen, als sie das Haus verließ, um mit Jason die Sonntags-Times zu teilen, eine Nachricht von Annagret vorgefunden hatte, die so verletzt klang, dass sie ihrerseits Annagret eine Nachricht vor die Tür gelegt hatte, in der sie ihr versprach, am Abend mit ihr zu reden.
Jetzt, während ihr Magen weiter Leere registrierte, wartete sie auf eine Veränderung in dem Strom gesprochenen Deutschs, die darauf hindeutete, dass Annagret nicht mehr in der Küchentür stand. Wie ein Hund, der auf Menschensprache horcht, war sie sich zweimal ziemlich sicher, in dem Redestrom ihren Namen gehört zu haben. Hätte sie klar denken können, dann wäre sie in die Küche marschiert, hätte erklärt, sie habe einen Mann zu Besuch, weshalb sie den Fragebogen jetzt nicht ausfüllen könne, und wäre dann nach oben gegangen. Doch sie war am Verhungern, und Sex wurde mehr und mehr zu einer eher abstrakten Pflicht.
Endlich hörte sie Schritte, das Scharren eines Küchenstuhls. Sie rannte aus dem Bad, blieb aber mit dem Saum des Bademantels an etwas hängen. Einem Nagel in einem Stück Sperrmüllholz. Während sie herabfallenden Brettern aus dem Weg tanzte, erscholl im Flur hinter ihr Annagrets Stimme.
«Pip? Pip, ich suche dich seit drei Tagen!»
Als Pip sich umdrehte, kam Annagret auch schon auf sie zu.
«Hallo, ja, entschuldige», sagte sie, während sie die Bretter hastig wieder aufschichtete. «Ich kann gerade nicht. Ich muss … Ginge es nicht morgen?»
«Nein», sagte Annagret und lächelte, «komm jetzt. Komm, wie du’s versprochen hast.»
«Hm.» Pip konnte nicht gut Prioritäten setzen. In der Küche, wo die Deutschen waren, gab es Cornflakes und Milch. Vielleicht wäre es ja gar nicht so schlimm, wenn sie noch etwas aß, bevor sie wieder zu Jason hinaufging? Würde sie nicht effektiver, aufgeschlossener und energiegeladener sein, wenn sie vorher noch ein paar Cornflakes essen könnte? «Ich lauf nur noch mal ganz kurz nach oben», sagte sie. «Ganz kurz, ja? Bin gleich wieder da, versprochen.»
«Nein, komm jetzt. Na komm schon. Es dauert nur ein paar Minuten, zehn Minuten. Das macht Spaß, wirst sehen, wir müssen doch bloß die Fragen durchgehen. Komm. Wir warten schon den ganzen Abend auf dich. Du kommst jetzt und machst das, ja?»
Die schöne Annagret winkte sie zu sich. Pip verstand nun, was Dreyfuss über die Deutschen sagte, und trotzdem war es auch eine gewisse Erleichterung, von jemandem Anweisungen zu bekommen. Außerdem war sie jetzt schon so lange unten, dass es unerfreulich gewesen wäre, hochzugehen und Jason um weitere Geduld zu bitten; ohnehin war ihr Leben derart voller Unerfreulichem, dass sie inzwischen die Strategie verfolgte, es so lange wie möglich hinauszuschieben, selbst wenn es dadurch wahrscheinlich noch unerfreulicher werden würde.
«Liebe Pip», sagte Annagret und strich ihr übers Haar, als sie dann am Küchentisch saß, eine große Schale Cornflakes löffelte und nicht unbedingt in der Stimmung war, an den Haaren berührt zu werden. «Danke, dass du das für mich machst.»
«Bringen wir’s einfach schnell hinter uns, okay?»
«Ja, wirst sehen. Wir müssen doch nur die Fragen durchgehen. Du erinnerst mich so sehr daran, wie ich selbst in deinem Alter war, als ich ein Ziel im Leben brauchte.»
In Pips Ohren klang das gar nicht gut. «Okay», sagte sie. «Entschuldige die Frage, aber ist das Sunlight Project eine Sekte?»
«Eine Sekte?» Martin, der am Tischende saß, Stoppeln im Gesicht und um den Hals ein Palästinensertuch, lachte. «Vielleicht gibt’s einen Personenkult, das schon.»
«Ist doch Quatsch, du», sagte Annagret ein wenig hitzig auf Deutsch. «Also wirklich.»
«Wie bitte?», sagte Pip.
«Ich habe ihm gesagt, dass das Quatsch ist. Das Projekt ist das Gegenteil von einer Sekte. Es geht darin um Ehrlichkeit, Wahrheit, Transparenz, Freiheit. Regierungen mit einem Personenkult, die hassen es ja gerade.»
«Andreas Wolf ist sehr charismatisch.» Wieder lachte Martin. «Das könnte fast in einem Sprachübungsheft stehen. Wie man das Wort ‹charismatisch› in einem Satz gebraucht. ‹Andreas Wolf ist sehr charismatisch.› Dann ergibt der Satz sofort einen Sinn, man weiß gleich, was das Wort bedeutet. Der ist die Definition des Wortes selbst.»
Anscheinend stichelte Martin, und Annagret gefiel das nicht; Pip spürte oder glaubte zu spüren, dass Annagret irgendwann einmal mit Andreas Wolf geschlafen hatte. Sie war mindestens zehn Jahre älter als Pip, vielleicht fünfzehn. Aus einer halb durchsichtigen Plastikmappe, die irgendwie europäisch wirkte, zog sie ein paar Blätter, die etwas länger und schmaler waren als amerikanische.
«Dann bist du also so etwas wie eine Anwerberin?», fragte Pip. «Du hast den Fragebogen immer dabei?»
«Ja, ich bin dazu autorisiert», sagte Annagret. «Oder vielmehr nicht, wir lehnen Autorität ja ab. Ich bin eine von denen, die das für die Organisation machen.»
«Bist du deshalb in den Staaten? Ist das eine Anwerbetour?»
«Annagret ist ein Multitasker», sagte Martin, und sein Lächeln war irgendwie bewundernd und stichelnd zugleich.
Annagret forderte ihn auf, er solle sie und Pip in Ruhe lassen, worauf er Richtung Wohnzimmer abzog, anscheinend noch immer in heiterer Ahnungslosigkeit darüber, dass Dreyfuss ihn nicht gern um sich hatte. Pip ergriff die Gelegenheit, die Schale ein zweites Mal mit Cornflakes zu füllen; wenigstens konnte sie jetzt in das Ernährungskästchen einen Haken machen.
«Abgesehen von seiner Eifersucht haben Martin und ich eine gute Beziehung», erklärte Annagret.
«Eifersucht worauf?», sagte Pip mit vollem Mund. «Andreas Wolf?»
Annagret schüttelte den Kopf. «Ich stand Andreas lange sehr nahe, aber das war Jahre bevor ich Martin kennenlernte.»
«Dann warst du da noch richtig jung.»
«Martin ist auf meine Freundinnen eifersüchtig. Nichts ist für einen deutschen Mann, selbst einen guten, bedrohlicher als Frauen, die hinter seinem Rücken eng miteinander befreundet sind. Das nimmt ihn ziemlich mit, als würde etwas mit der Welt, wie sie sein sollte, nicht stimmen. Als würden wir seine Geheimnisse rauskriegen und ihm seine Macht nehmen oder ihn nicht mehr brauchen. Kennst du das Problem auch?»
«Leider bin ich diejenige, die eifersüchtig ist.»
«Tja, und deshalb ist Martin auch aufs Internet eifersüchtig, weil ich mit meinen Freundinnen in erster Linie darüber kommuniziere. Ich habe viele Freundinnen, die ich noch nie gesehen habe – echte Freundinnen. Über E-Mails, soziale Netzwerke, Foren. Ich weiß, dass Martin manchmal Pornos guckt, wir haben keine Geheimnisse voreinander, und wenn er es nicht täte, wäre er wahrscheinlich der einzige deutsche Mann, der keine guckt – ich glaube, die Internet-Pornographie ist für deutsche Männer entwickelt worden, weil sie gern allein sind, alles kontrollieren wollen und Machtphantasien haben. Aber er sagt, er guckt sie bloß, weil ich so viele Internet-Freundinnen habe.»
«Was ja vielleicht eine Art Porno für Frauen ist», sagte Pip.
«Nein. Das denkst du nur, weil du jung bist und Freundschaften vielleicht nicht so brauchst.»
«Überlegst du also manchmal, dich stattdessen bloß mit Frauen einzulassen?»
«Momentan ist es in Deutschland mit Männern und Frauen ziemlich schlimm», sagte Annagret, was irgendwie einem Nein gleichkam.
«Wahrscheinlich wollte ich einfach nur sagen, dass das Internet Bedürfnisse gut aus der Distanz befriedigen kann. Männliche wie weibliche.»
«Aber das Bedürfnis von Frauen nach Freundschaft wird im Internet tatsächlich befriedigt, das ist keine Phantasie. Und weil Andreas die Macht des Internets kennt und außerdem versteht, was es für Frauen bedeuten kann, ist Martin auch auf ihn eifersüchtig – deshalb, nicht weil ich Andreas früher mal sehr nahegestanden habe.»
«Gut. Aber wenn Andreas der charismatische Wortführer ist, dann ist er doch derjenige, der die Macht hat, was für mich so klingt, als wäre er deiner Meinung nach genau wie alle anderen Männer auch.»
Annagret schüttelte den Kopf. «Das Phantastische an Andreas ist, dass er weiß: Das Internet ist das größte Wahrheitsaggregat überhaupt. Und was sagt uns das? Dass sich in der Gesellschaft in Wahrheit alles um Frauen dreht, nicht um Männer. Die Männer sehen sich Bilder von Frauen an, und die Frauen kommunizieren mit anderen Frauen.»
«Ich finde, du vergisst dabei Schwulensex und Tiervideos», sagte Pip. «Aber vielleicht können wir jetzt den Fragebogen ausfüllen? Oben wartet ein Mann auf mich, weshalb ich auch nur einen Bademantel trage, falls du dich schon gewundert hast.»
«Jetzt im Moment? Oben?» Annagret war bestürzt.
«Ich dachte, es wären bloß ein paar kurze Fragen.»
«Kann der denn nicht an einem anderen Abend wiederkommen?»
«Das möchte ich eigentlich nach Möglichkeit vermeiden.»
«Dann geh hoch und sag ihm, du brauchst bloß ein paar Minuten, zehn Minuten, mit einer Freundin. Dann musst zur Abwechslung mal nicht du die Eifersüchtige sein.»
Dabei zwinkerte Annagret ihr zu, was für Pip, die nicht gut zwinkern konnte, eine echte Leistung darstellte, weil Zwinkern das Gegenteil von Sarkasmus war.
«Leg lieber mal los, solange ich noch da bin», sagte sie.
Annagret versicherte ihr, bei dem Fragebogen gebe es keine richtigen oder falschen Antworten, was Pip für unmöglich hielt, denn wozu die Mühe, wenn es gar keine falschen Antworten gab? Doch Annagrets Schönheit wirkte beruhigend. Während sie ihr am Tisch gegenübersaß, hatte Pip das Gefühl, sie bewerbe sich darum, Annagret zu sein.
«Was von dem Folgenden ist die beste übermenschliche Fähigkeit?», las Annagret vor. «Fliegen, Unsichtbarkeit, Gedanken lesen oder für jeden außer einem selbst die Zeit anhalten.»
«Gedanken lesen», sagte Pip.
«Das ist eine gute Antwort, obwohl es ja keine richtigen Antworten gibt.»
Annagrets Lächeln war warm genug, dass man darin baden konnte. Pip trauerte noch ihrer Zeit auf dem College nach, wo sie bei Tests immer so effektiv gewesen war.
«Bitte erkläre deine Wahl», las Annagret weiter.
«Weil ich Leuten nicht vertraue», sagte Pip. «Sogar meine Mom, der ich vertraue, erzählt mir manche Dinge nicht, richtig wichtige Dinge, und es wäre schön, wenn ich es rausfinden könnte, ohne dass sie es mir sagen muss. Dann würde ich wissen, was ich wissen muss, aber ihr ginge es trotzdem gut. Außerdem kann ich auch bei allen anderen, buchstäblich allen, nie sicher sein, was sie über mich denken, und ich bin offenbar nicht besonders gut darin, es zu erraten. Deshalb wäre es schön, einfach mal einen kurzen Blick in ihre Köpfe werfen zu können, so zwei Sekunden lang, um zu sehen, dass alles okay ist – bloß um sicher zu sein, dass sie nichts Schreckliches über mich denken, wovon ich keine Ahnung habe –, und dann könnte ich ihnen vertrauen. Ich würde es nicht missbrauchen oder so was. Es ist einfach hart, Leuten nie zu trauen. Das macht es mir so schwer, herauszufinden, was sie von mir wollen. Es ist so anstrengend.»
«Oh, Pip, eigentlich brauchen wir den Rest gar nicht mehr zu machen. Was du da sagst, ist phantastisch.»
«Wirklich?» Pip lächelte traurig. «Siehst du, sogar hier frage ich mich, warum du das sagst. Vielleicht willst du mich ja nur dazu bringen, den Fragebogen weiter auszufüllen. Überhaupt frage ich mich, warum es dir so wichtig ist, dass ich ihn ausfülle.»
«Du kannst mir vertrauen. Ich bin bloß so beeindruckt von dir.»
«Siehst du, das leuchtet mir eben nicht ein, weil ich eigentlich gar nicht sehr beeindruckend bin. Ich weiß nicht besonders viel über Atomwaffen, sondern zufällig nur etwas über Israel. Ich vertraue dir kein bisschen. Ich vertraue dir nicht. Ich vertraue niemandem.» Pip bekam einen roten Kopf. «Ich sollte jetzt wirklich mal raufgehen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich meinen Freund da oben hocken lasse.»
Das hätte das Stichwort für Annagret sein sollen, sie gehen zu lassen oder sich wenigstens dafür zu entschuldigen, dass sie sie festgehalten hatte, aber Annagret (war das etwas Deutsches?) war offenbar nicht sehr geübt darin, Stichworte zu verstehen. «Wir müssen doch bloß die Fragen durchgehen», sagte sie. «Es ist nur ein Formblatt, aber wir müssen die Fragen durchgehen.» Sie tätschelte Pip die Hand und streichelte sie dann. «Wir beeilen uns.»
Pip fragte sich, warum Annagret sie immerzu berührte.
«Deine Freunde verschwinden. Sie antworten nicht mehr auf Nachrichten per SMS, Facebook oder Telefon. Du sprichst mit ihren Arbeitgebern, die sagen, sie seien nicht zur Arbeit gekommen. Du sprichst mit ihren Eltern, die sagen, sie seien sehr besorgt. Du gehst zur Polizei, wo man dir mitteilt, sie hätten Nachforschungen angestellt, aber deinen Freunden gehe es gut und sie lebten jetzt in anderen Städten. Nach einer Weile sind alle deine Freunde weg. Was machst du? Wartest du ab, bis du selbst verschwindest, sodass du herausfindest, was mit deinen Freunden passiert ist? Stellst du eigene Nachforschungen an? Läufst du weg?»
«Nur meine Freunde verschwinden?», sagte Pip. «Die Straßen sind weiter voller Leute meines Alters, die nicht meine Freunde sind?»
«Ja.»
«Ganz ehrlich, wenn mir das passieren würde, würde ich zu einer Psychiaterin gehen.»
«Aber dann spricht auch die Psychiaterin mit der Polizei und stellt fest, dass alles, was du gesagt hast, stimmt.»
«Na, dann hätte ich aber wenigstens eine Freundin – die Psychiaterin.»
«Aber dann verschwindet auch die Psychiaterin.»
«Das ist doch ein total paranoides Szenario. Das könnte auch von Dreyfuss stammen.»
«Wartest du ab, machst du Nachforschungen, oder läufst du weg?»
«Oder ich bringe mich um. Wie wäre das denn?»
«Es gibt keine falschen Antworten.»
«Wahrscheinlich würde ich zu meiner Mom ziehen. Ich würde sie nicht aus den Augen lassen. Und wenn sie irgendwie trotzdem verschwinden würde, würde ich mich wahrscheinlich umbringen, weil dann klar wäre, dass es anderen nicht gut bekommt, mit mir in Verbindung zu stehen.»
Wieder lächelte Annagret. «Hervorragend.»
«Was?»
«Du machst das sehr, sehr gut, Pip.» Sie langte über den Tisch und legte Pip die Hände, ihre heißen Hände, auf die Wangen.
«Dass ich mich umbringe, ist die richtige Antwort?»
Annagret zog die Hände zurück. «Es gibt keine falschen Antworten.»
«Das macht es irgendwie schwieriger, sich wegen etwas, das man gut gemacht hat, toll zu fühlen.»
«Was von dem Folgenden hast du schon einmal ohne Erlaubnis gemacht? Den E-Mail-Account eines anderen hacken, Sachen auf dem Smartphone eines anderen lesen, den Computer eines anderen durchsuchen, das Tagebuch eines anderen lesen, private Papiere eines anderen durchwühlen, bei einem vertraulichen Gespräch mithören, wenn einen das Handy eines anderen zufällig angewählt hat, sich Informationen über jemanden unter einem Vorwand erschleichen, mit dem Ohr an einer Wand oder Tür ein Gespräch belauschen und dergleichen.»
Pip runzelte die Stirn. «Darf ich eine Frage überspringen?»
«Du kannst mir vertrauen.» Wieder berührte Annagret ihre Hand. «Es ist besser, du antwortest.»
Pip zögerte und bekannte dann: «Ich habe jeden Fetzen Papier durchsucht, den meine Mutter besitzt. Hätte sie ein Tagebuch, dann hätte ich es gelesen, aber sie hat keines. Hätte sie einen E-Mail-Account, dann hätte ich den gehackt. Ich habe im Netz jede erdenkliche Datenbank durchsucht. Das fühlt sich nicht so toll an, aber sie will mir nicht sagen, wer mein Vater ist, sie will mir nicht sagen, wo ich geboren wurde, nicht einmal ihren wirklichen Namen will sie mir sagen. Sie sagt, das tue sie zu meinem Schutz, aber ich glaube, die Gefahr existiert nur in ihrem Kopf.»
«Solche Dinge musst du aber wissen», sagte Annagret ernst.
«Ja.»
«Du hast ein Recht, sie zu erfahren.»
«Ja.»
«Ist dir klar, dass dir das Sunlight Project helfen kann, sie herauszufinden?»
Pips Herz begann zu rasen, teils, weil ihr das noch gar nicht in den Sinn gekommen war und ihr diese Aussicht Angst machte, hauptsächlich aber, weil sie spürte, dass jetzt eine echte Verführung einsetzte, eine Verführung, zu der Annagrets Berührungen lediglich ein Vorspiel gewesen waren. Sie zog die Hand zurück und schlang nervös die Arme um sich.
«Ich dachte, das Projekt befasst sich bloß mit Unternehmensgeheimnissen und nationaler Sicherheit.»
«Ja, natürlich. Aber das Projekt hat viele Quellen.»
«Dann könnte ich da also, ich meine, einfach hinschreiben und um diese Informationen bitten?»
Annagret schüttelte den Kopf. «Das ist doch keine Detektei.»
«Aber falls ich da hinfahre und ein Praktikum mache.»
«Ja, natürlich.»
«Na, das ist interessant.»
«Da lohnt es sich, mal drüber nachzudenken, ja?»
«Ja-ah», sagte Pip.
«Du bist auf einer Auslandsreise», las Annagret vor, «und eines Nachts kommt die Polizei in dein Hotelzimmer und verhaftet dich als Spionin, obwohl du gar nicht spioniert hast. Man bringt dich auf die Wache. Man sagt, dass du einen einzigen Anruf machen darfst, den sie auf beiden Seiten abhören. Man teilt dir mit, dass derjenige, den du anrufst, ebenfalls unter Spionageverdacht gerät. Wen rufst du an?»
«Stephen», sagte Pip.
In Annagrets Gesicht flackerte kurz Enttäuschung auf. «Stephen? Den Stephen hier?»
«Ja, warum nicht?»
«Entschuldige, aber ich dachte, du würdest deine Mutter nennen. Bis jetzt hast du sie in jeder Antwort erwähnt. Sie ist doch der einzige Mensch, dem du vertraust.»
«Aber das ist bloß ein unterschwelliges Vertrauen», sagte Pip. «Sie würde vor Sorge verrückt werden, und sie hat keine Ahnung, wie es zugeht auf der Welt, also wüsste sie auch nicht, wen sie anrufen müsste, um mir zu helfen. Stephen wüsste das genau.»
«Auf mich wirkt er ein bisschen schwach.»
«Was?»
«Er wirkt schwach. Er ist mit dieser zornigen, kontrollsüchtigen Frau verheiratet.»
«Ja, ich weiß, seine Ehe ist bedauerlich – glaub mir, das weiß ich.»
«Du hast ja Gefühle für ihn!», sagte Annagret bestürzt.
«Ja, na und?»
«Also, das hast du mir nicht gesagt. Wir haben einander alles gesagt, da auf dem Sofa, aber das hast du weggelassen.»
«Du hast mir auch nicht gesagt, dass du mit Andreas Wolf geschlafen hast!»
«Andreas ist eine öffentliche Person. Da muss ich aufpassen. Außerdem ist es schon viele Jahre her.»
«Du redest über ihn, als würdest du es auf der Stelle wieder tun.»
«Pip, bitte», sagte Annagret und ergriff ihre Hände. «Streiten wir uns nicht. Ich wusste nicht, dass du etwas für Stephen empfindest. Es tut mir leid.»
Doch die Wunde, die ihr das Wort schwach zugefügt hatte, schmerzte Pip jetzt nicht weniger, sondern noch mehr, und entgeistert machte sie sich klar, wie viel Persönliches sie einer Frau, die sich ihrer Schönheit derart sicher war, dass sie sich das Gesicht mit Metall vollstecken und die Haare (so sah es jedenfalls aus) mit der Heckenschere zerschnippeln konnte, schon anvertraut hatte. Pip, die für eine solche Selbstsicherheit keine Gründe hatte, zog die Hände zurück, stand auf und ließ die Cornflakesschale geräuschvoll in die Spüle fallen. «Ich geh jetzt rauf –»
«Nein, wir haben noch sechs Fragen –»
«Weil ich ganz offensichtlich nicht nach Südamerika fahre und weil ich dir kein bisschen vertraue, nicht das winzigste bisschen. Du und dein onanierender Freund, geht doch nach L.A., besetzt dort ein Haus und gebt euren Fragebogen einer, die auf einen Stärkeren als Stephen steht. Ich möchte euch nicht mehr in unserem Haus haben, und die anderen wollen es auch nicht. Würdest du mich auch nur ansatzweise respektieren, dann hättest du bemerkt, dass ich jetzt auch gar nicht hier sein will.»
«Pip, bitte, warte, es tut mir sehr, sehr leid.» Annagret schien wirklich bekümmert. «Wir müssen auch gar keine Fragen mehr –»
«Ich dachte, das ist ein Formblatt, das wir ausfüllen müssten. Müssten, müssten. Gott, bin ich blöd.»
«Nein, du bist ausgesprochen klug. Ich finde dich phantastisch. Ich finde nur, dass dein Leben sich vielleicht zu sehr um Männer dreht, ein bisschen, jedenfalls im Moment.»
Pip riss ob dieser neuerlichen Beleidigung verblüfft die Augen auf.
«Vielleicht brauchst du ja eine Freundin, die etwas älter ist, aber früher so ähnlich war wie du.»
«Du warst nie wie ich», sagte Pip.
«Doch. Setz dich bitte, ja? Rede mit mir.»
Annagrets Stimme war so seidig und gebieterisch und ihre Beleidigung hatte Jasons Anwesenheit in Pips Zimmer in ein derart demütigendes Licht gerückt, dass Pip ihr fast gehorcht und sich hingesetzt hätte. Doch wenn sie erst einmal Misstrauen gegen jemanden hegte, war es ihr körperlich unerträglich, bei ihm zu bleiben. Sie flüchtete durch den Flur, hörte hinter sich das Scharren eines Stuhls, den Klang ihres Namens, der gerufen wurde.
Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock blieb sie stehen; sie schäumte. Stephen schwach? Sie denke zu viel an Männer? Na, großartig. Da kann ich mich doch richtig toll fühlen.
Der Ehestreit hinter Stephens Tür hatte aufgehört. Pip schlich sehr leise hin, weg von den Basketball-Geräuschen unten, und horchte. Es dauerte nicht lange, und es knarrte eine Bettfeder, dann wurde unmissverständlich gewimmert und geseufzt, und da begriff sie, dass Annagret recht gehabt hatte: Stephen war tatsächlich schwach; er war schwach, und trotzdem war nichts dabei, wenn Ehemann und Ehefrau miteinander schliefen. Dass sie es hörte und sich ausmalte und davon ausgeschlossen war, erfüllte Pip mit einer Trostlosigkeit, für deren Linderung sie nur ein Mittel hatte.
Die restlichen Stufen lief sie hinauf, indem sie jeweils zwei auf einmal nahm, als könnten fünf eingesparte Sekunden eine halbe Stunde Abwesenheit ungeschehen machen. Vor ihrer Tür ordnete sie ihr Gesicht zu einem Ausdruck verlegenen Schuldbewusstseins. Dieses Gesicht hatte sie tausendfach ihrer Mutter gegenüber aufgesetzt, mit verlässlich guter Wirkung. Sie öffnete die Tür und spähte mit dieser Miene hinein.
Das Licht brannte, und Jason, wieder angezogen, saß auf der Matratze und simste konzentriert.
«Psst», sagte Pip. «Bist du furchtbar sauer auf mich?»
Er schüttelte den Kopf. «Es ist bloß so, dass ich meiner Schwester gesagt habe, ich bin um elf zu Hause.»
Das Wort Schwester vertrieb einiges von dem Schuldbewusstsein auf Pips Gesicht, aber Jason sah sie ohnehin nicht an. Sie trat ein, setzte sich neben ihn und berührte ihn. «Es ist aber noch nicht elf, oder?»
«Es ist zwanzig nach elf.»
Sie legte den Kopf auf seine Schulter und umfasste mit beiden Händen seinen Arm. Sie spürte, wie seine Muskeln beim Simsen arbeiteten. «Es tut mir leid», sagte sie. «Ich kann nicht erklären, was passiert ist. Das heißt, ich kann es schon, aber ich will nicht.»
«Du musst nichts erklären. Ich hab’s sowieso schon gewusst.»
«Was gewusst?»
«Nichts. Egal.»
«Nein, was denn? Was hast du gewusst?»
Er hielt im Simsen inne und starrte auf den Boden. «Ich bin ja auch nicht so richtig normal. Aber relativ gesehen –»
«Ich möchte ganz normal mit dir schlafen. Können wir das nicht noch? Wenn auch nur eine halbe Stunde? Du kannst deiner Schwester ja sagen, dass du ein bisschen später kommst.»
«Hör zu. Pip.» Er runzelte die Stirn. «Ist das übrigens dein richtiger Name?»
«So nenne ich mich nun mal.»
«Irgendwie kommt es mir so vor, als würde ich nicht mit dir reden, wenn ich ihn ausspreche. Ich weiß auch nicht … ‹Pip›. ‹Pip›. Das klingt … Ich weiß nicht …»
Die letzten Spuren von Schuldbewusstsein wichen aus ihrem Gesicht, und sie nahm die Hände von seinem Arm. Sie wusste, dass sie einen Ausbruch unterdrücken musste, doch sie schaffte es nicht. Immerhin gelang es ihr, nur ganz leise zu sprechen.
«Okay», sagte sie. «Dir passt also mein Name nicht. Was passt dir sonst nicht an mir?»
«Ach, komm. Schließlich hast du mich hier eine Stunde lang sitzen lassen. Über eine Stunde.»
«Genau. Während deine Schwester auf dich gewartet hat.»
Noch einmal das Wort Schwester auszusprechen war, als würfe sie ein Streichholz in einen Ofen voller Gas – voll von dem hochentzündlichen Zorn, mit dem sie Tag für Tag herumlief; in ihrem Kopf machte es wusch.
«Im Ernst», sagte sie mit klopfendem Herzen, «du kannst mir ruhig gleich alles sagen, was dir an mir nicht passt, da wir ja offenbar nie Sex haben werden, weil ich nicht normal genug bin, obwohl, darüber, was an mir so anormal ist, könnte ich schon ein bisschen Aufklärung gebrauchen.»
«Krieg dich mal ein», sagte Jason. «Ich hätte auch einfach gehen können.»