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Jonathan Franzen

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Beschreibung

Eine gefährdete Liebe, eine Familie im Konflikt, ein Roman voller Geschichten – vom Autor des Welterfolgs «Die Korrekturen» Eine Serie von Erdbeben erschüttert Boston. Als die Großmutter von Louis Holland dabei ums Leben kommt, entbrennt ein erbitterter Familienstreit um ihr Vermögen. Seine Freundin, die junge Seismologin Renée, bemüht sich unterdessen, die Ursachen des rätselhaften Bebens zu ergründen. Doch je näher sie ihrem Ziel kommt, desto heftiger gerät das moralische Fundament der Familie Holland ins Wanken. «Ein großer Roman. Eine der schönsten Liebesgeschichten dieser Zeit.» (Süddeutsche Zeitung) «Jonathan Franzen zeigt ungemein unterhaltsam und humorvoll, was die Stärken des amerikanischen Romans ausmacht. ‹Schweres Beben› ist ein weiteres gewichtiges Kapitel der Menschlichen Komödie.» (Literaturen) «Ein sprachgewaltiges Panorama.» (Die Welt) «Moralisch und zynisch, heftig und sanft, komisch und traurig zugleich. Als hätten Bob Dylan und The Clash zusammen einen Song geschrieben.» (die tageszeitung) «‹Schweres Beben› ist nicht nur ein spannender Ökokatastrophenthriller, sondern auch ein Liebes- und Familienroman.» (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

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Jonathan Franzen

Schweres Beben

Roman

 

 

Übersetzt von Thomas Piltz

 

Über dieses Buch

Eine gefährdete Liebe, eine Familie im Konflikt, ein Roman voller Geschichten – vom Autor des Welterfolgs «Die Korrekturen»

 

Eine Serie von Erdbeben erschüttert Boston. Als die Großmutter von Louis Holland dabei ums Leben kommt, entbrennt ein erbitterter Familienstreit um ihr Vermögen. Seine Freundin, die junge Seismologin Renée, bemüht sich unterdessen, die Ursachen des rätselhaften Bebens zu ergründen. Doch je näher sie ihrem Ziel kommt, desto heftiger gerät das moralische Fundament der Familie Holland ins Wanken.

 

«Ein großer Roman. Eine der schönsten Liebesgeschichten dieser Zeit.» (Süddeutsche Zeitung)

 

«Jonathan Franzen zeigt ungemein unterhaltsam und humorvoll, was die Stärken des amerikanischen Romans ausmacht. ‹Schweres Beben› ist ein weiteres gewichtiges Kapitel der Menschlichen Komödie.» (Literaturen)

 

«Ein sprachgewaltiges Panorama.» (Die Welt)

 

«Moralisch und zynisch, heftig und sanft, komisch und traurig zugleich. Als hätten Bob Dylan und The Clash zusammen einen Song geschrieben.» (die tageszeitung)

 

«‹Schweres Beben› ist nicht nur ein spannender Ökokatastrophenthriller, sondern auch ein Liebes- und Familienroman.» (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

Vita

Jonathan Franzen wurde 1959 in der Nähe von Chicago geboren, aufgewachsen ist er in Webster Groves/Missouri, einem Vorort von St. Louis. Für seinen Weltbestseller «Die Korrekturen» erhielt er 2001 den National Book Award. Jonathan Franzen lebt in New York und Boulder Creek, Kalifornien.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Die 27ste Stadt

Die Korrekturen

Die Unruhezone

Anleitung zum Alleinsein

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2011

Copyright © 2006 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Strong Motion» Copyright © 1992 by Jonathan Franzen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Cathrin Günther

Coverabbildung Foto: I. Fujita / getty images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01061-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

FÜR VALERIE

Der Autor dankt für die Unterstützung, die er durch die Mrs. Giles Whiting Foundation und die Corporation of Yaddo sowie von Sven-Erik und Marianne Ekström und von Dieter und Inge Rahtz erfahren hat; Dank gebührt auch Lorrie Fürrer, Robert Franzen und ganz besonders Göran Ekström für seinen fachmännischen Rat und die Seismogramme. Teile des 13. Kapitels hätten ohne William Cronons Changes in the Land (Hill & Wang, 1983) nicht geschrieben werden können.

Ein Felsen ragte aus dem Wasser, spitz und zerklüftet und von Moos bedeckt – eine Erinnerung an die Eiszeit und an den Gletscher, der einst dieses Becken in die Erde gefräst hatte. Der Felsen hatte dem Regen widerstanden, dem Schnee und dem Frost, der Hitze. Er fürchtete sich vor niemandem. Er bedurfte keiner Erlösung, denn er war bereits erlöst.

 

I. B. Singer

TEIL 1GESCHLECHT: K. A.

Kapitel 1

Wenn Eileen Holland gefragt wurde, ob sie Geschwister habe, musste sie manchmal einen Augenblick nachdenken.

In der Grundschule hatte sie mit ihren Freundinnen während der Pausen Ballhüpfen gespielt, und wenn es in einer fernen Ecke des Pausenhofs zu einer Keilerei kam, stellte sich meistens heraus, dass der, dessen Gesicht gerade aufs Pflaster gedrückt wurde, ihr jüngerer Bruder Louis war. Da ließen sie und ihre Freundinnen den Ball von Quadrat zu Quadrat einfach weiterhüpfen. Sie waren beim Seilspringen, als Louis auf den höchsten Sprossen des alten, tetanusverheerten Klettergerüsts mit einem Mitschüler kämpfte und sich bei seinem Sturz an jedem der Eisenrohre, gegen die er stieß, einen anderen Körperteil verletzte. Auf der obersten Ebene schlug er sich die Schneidezähne aus, auf der mittleren zog er sich eine Rippenprellung zu, die untere trug ihm eine Gehirnerschütterung samt Schleudertrauma ein, und der Aufprall auf dem Asphalt hatte eine Zwerchfelllähmung zur Folge. Eileens Freundinnen rannten hin, um sich den wahrscheinlich toten Jungen anzusehen. Sie selbst stand da, das Springseil in der Hand, und kam sich vor, als wäre sie es, die gestürzt war, und keiner eilte ihr zu Hilfe.

Eileen war ein getreues und hübsches Ebenbild ihrer Mutter, mit staunenden dunklen Augen und bleistiftdünnen Brauen, einer hohen Stirn und vollen Wangen und glattem, dunklem Haar. Ihre Gliedmaßen hatten etwas von Gerten einer Weide, und manchmal, die Augen geschlossen haltend, wiegte sie sich auch wie eine – wenn sie so glücklich war, im Kreis ihrer Freunde zu sein, dass sie deren Anwesenheit vergaß.

Louis taugte, genau wie sein Vater, weniger zum Schmuckstück. Seit seinem zehnten Lebensjahr trug er eine Art Fliegerbrille, deren Metallgestell zu seinen Haaren passte, Haaren, die lockig und von der Farbe alter Messingschrauben waren und bereits schütter wurden, als er die Highschool abschloss. Auch sein ausladender Brustkorb war Erbteil väterlicher Gene. In der Unter- und Oberstufe erwarteten neue Freunde von Eileen stets, «Nein, nicht verwandt» als Antwort zu hören, wenn sie sich bei ihr erkundigten, ob Louis Holland etwa ihr Bruder sei. Für Eileen waren diese Fragen wie Impfspritzenpikser. Der lindernde Alkoholtupfer, der ihnen folgte, war die Versicherung ihrer Freunde, ihr Bruder sehe völlig anders aus als sie.

«Genau», pflichtete sie dann bei, «wir sind total verschieden.»

Die jungen Hollands wuchsen in Evanston, Illinois, im Schatten der Northwestern University auf, an der ihr Vater als Professor für Geschichte beschäftigt war. Dann und wann an Nachmittagen sichtete Eileen ihren Bruder an einem Tisch bei McDonald’s, umgeben von den komischen Vögeln, mit denen er sich herumtrieb, sah ihre erbärmliche Essensauswahl, die Zigaretten und teigigen Gesichter und Militärklamotten. So negativ war die Stimmung, die von seinem Tisch ausging, dass sie sich gar nicht fest genug zwischen die Ellbogen ihrer Begleiter klemmen konnte. Sie war, so sagte sie sich, wirklich ganz anders als Louis. Aber richtig sicher vor ihm war sie nie. Selbst mitten auf einer voll gequetschten und lachenden Rückbank konnte es ihr passieren, dass sie genau dann aus dem Fenster schaute, wenn ihr Bruder über den verdreckten Randstreifen einer sechsspurigen Ausfallstraße lief, sein weißes Hemd grau vor Schweiß, die Brillengläser weiß im Widerschein der Fahrbahn. Immer schien es, als könnte nur sie ihn sehen, ein Gespenst aus jenem privaten Paralleluniversum, das sie verlassen hatte, als sie begann, sich mit Jungs zu treffen, das Louis aber offensichtlich immer noch bewohnte – der Welt, in der man mit sich alleine war.

Im Sommer, ehe sie aufs College ging, brauchte sie eines Tages plötzlich das Familienauto, um zu ihrem Freund Judd zu fahren, der weiter oben am Michigansee, in Lake Forest, wohnte. Als Louis darauf hinwies, dass er den Wagen schon eine Woche zuvor für sich reserviert hatte, wurde sie wütend auf ihn, so wütend, wie man es auf unbelebte Gegenstände werden kann, die man an die Wand wirft und zerstört. Schließlich brachte sie ihre Mutter dazu, Louis zu bitten, wenigstens dieses eine Mal so selbstlos zu sein und ihr den Wagen für den Besuch bei ihrem Freund zu überlassen. Als sie bei Judd ankam, war sie immer noch so wütend, dass sie den Zündschlüssel stecken ließ. Prompt wurde der Wagen gestohlen.

Die Polizei von Lake Forest war nicht besonders nett zu ihr. Ihre Mutter, am Telefon, war es noch weniger. Und Louis kam, als sie endlich zu Hause eintraf, mit Tauchermaske die Treppe herunter.

«Eileen», sagte ihre Mutter. «Schätzchen. Du hast den Wagen in den See rollen lassen. Er wurde überhaupt nicht gestohlen. Gerade hat mich Mrs. Wolstetter angerufen. Du hast die Handbremse nicht angezogen, und du hast den Wählhebel nicht auf Parken gestellt. Der Wagen ist über die Wiese der Wolstetters ins Wasser gerollt.»

«Parken, Eileen!» Louis’ Stimme klang verglast und nasal. «Das kleine P ganz links. N für Neutral, also Leerlauf. P für Parken.»

«Louis!», sagte ihre Mutter.

«Oder heißt es N für Nicht doch und P für … Preschen? D für Doof?»

Nach diesem traumatischen Erlebnis gelang es Eileen nie mehr, sich zu merken, wo Louis gerade war oder was er machte. Sie wusste, dass er in Houston studierte und als Fachrichtung etwas wie Elektrotechnik hatte, doch als ihre Mutter am Telefon von ihm sprach und vielleicht erzählen wollte, dass ein Fachwechsel hinter ihm lag, wurde es in dem Raum, in dem Eileen telefonierte, laut. Sie konnte sich nicht daran erinnern, was ihre Mutter soeben gesagt hatte. Sie musste zurückfragen: «Sein Studienfach ist also – was nochmal?» Und wieder wurde es laut im Raum! Sie konnte sich an die Worte ihrer Mutter selbst dann nicht erinnern, als sie gerade ausgesprochen wurden! Und so bekam sie nie heraus, welches Fach Louis denn nun studierte. Als sie ihn im zweiten Jahr ihres Hauptstudiums – sie studierte Betriebswirtschaft in Harvard – während der Weihnachtsferien traf, musste sie wilde Vermutungen anstellen, was er seit seinem Abschluss an der Rice-Universität gemacht hatte: «Mom hat mir erzählt, dass du, na ja, so was wie Mikrochips entwirfst?»

Er starrte sie an.

Sie schüttelte den Kopf, nein nein nein nein, vergiss es. «Erzähl mir doch, was du jetzt machst», sagte sie kleinlaut.

«Ich starre dich an und staune.»

Später erfuhr sie von ihrer Mutter, dass er bei einem lokalen Radiosender in Houston arbeitete.

Eileen wohnte nicht weit vom Central Square in Cambridge. Ihr Apartment lag im siebten Stock eines modernen Hochhauses mit Läden und einem Fischrestaurant im Tiefgeschoss, einem Betonturm, der die holzverschalten Ziegelmauern der Umgebung überragte wie ein Relikt, das der Erosion entgangen war. Eines Abends gegen Ende März war sie zu Hause gerade dabei, dreifach cremegefüllte Brownies zu backen, als Louis, den sie zuletzt neben dem Weihnachtsbaum in Evanston beim Lesen eines Kriminalromans gesehen hatte, anrief und ihr mitteilte, dass er von Houston nach Somerville, den ärmlichen Nachbarort von Cambridge, umgezogen sei. Sie fragte, was ihn nach Somerville verschlagen habe. Mikrochips, sagte er.

Der Mensch, der ein paar Tage darauf in einer rauen Spätwinternacht durch ihre Tür trat, war faktisch ein Fremder. Mit dreiundzwanzig Jahren war Louis auf dem Hinterkopf fast kahl, hatte noch gerade genug Locken, um ein paar nasse Schneeflocken einzufangen. Seine plumpen schwarzen Halbschuhe quietschten auf Eileens Linoleumboden, als er auf einer sternförmigen Bahn, von jeder Ecke langsam wieder ins Zentrum driftend, durch ihre Küche ging. Seine Wangen und die Nase waren gerötet und die Brillengläser weiß beschlagen.

«Voll auf der Höhe der Zeit», sagte er, womit er das Apartment meinte.

Eileen presste die Ellenbogen an ihren Rumpf und hielt die Handgelenke über der Brust gekreuzt. Sie hatte alle vier Flammen ihres Gasherds aufgedreht, auf der einen köchelte ein Topf. «Ich krieg die Bude nicht warm», sagte sie. Sie trug einen weiten Pullover, flauschige Schlappen und einen Minirock. «Ich glaube, ab ersten April wird nicht mehr geheizt.»

Es klingelte. Sie ließ den Türöffner summen. «Das ist Peter», sagte sie.

«Peter?»

«Mein Freund.»

Bald klopfte es an der Tür, und Eileen führte ihren Freund, Peter Stoorhuys, in die Küche. Seine Lippen waren blau vor Kälte, und seine Haut, die eigentlich sonnengebräunt war, wirkte bleigrau. Er hüpfte auf und ab, die Hände in den Taschen seiner leichten Sommerhose vergraben, und war offensichtlich viel zu durchgefroren, um auf die Worte zu achten, mit denen Eileen ihn und ihren Bruder einander vorstellte. «Mist», sagte er, sich über den Herd beugend. «So eine Saukälte da draußen.»

Peters Gesichtszüge zeugten von einer Müdigkeit, die keine Sonnenbräune übertünchen konnte. Es war eines jener Großstadtgesichter, die so oft neu kreiert worden waren, dass die Haut wie ein immer wieder beschmiertes und radiertes Blatt Papier die Fähigkeit eingebüßt hatte, klare Konturen zu zeigen. Unter den Schattierungen seines aktuellen Erscheinungsbilds als Gesinnungskalifornier waren die Spuren eines Yuppies, eines Punks, eines betuchten Privatschulzöglings und eines Kiffers zu erkennen. Häufige Frisurenwechsel hatten seinen langen blonden Haaren, wie zu häufiges Kämmen, die Spannkraft genommen. Sein Tribut an das Wetter waren ein Jackett mit Hahnentrittmuster und ein kragenloses Hemd.

«Peter und ich waren vorigen Monat in St. Kitts», erklärte Eileen. «Wir haben uns noch immer nicht ganz umgestellt.»

Peter hielt seine Hände, deren Fingerknöchel weiß hervortraten, über zwei Flammen des Herds und röstete sie; er widmete sich dem Erwärmungsprozess mit solcher Hingabe, dass Eileen und Louis nicht viel anderes übrig blieb, als ihm dabei zuzusehen.

«Mit Mützen sieht er absolut bescheuert aus», sagte Eileen.

«Ich finde Mäntel optimal für diesen Zweck», sagte Louis und warf seine Jacke mit Kunstfaserfütterung in eine Ecke. Er trug seine Uniform der vergangenen acht Jahre, ein weißes Hemd und schwarze Jeans.

«Genau da liegt das Problem», sagte Eileen. «Sein Lieblingsmantel ist in der Reinigung. Wenn das kein bescheuerter Aufbewahrungsort ist.»

Es vergingen noch fünf Minuten, bis Peter so weit aufgetaut war, dass sie sich ins Wohnzimmer zurückziehen konnten. Eileen machte es sich auf dem Sofa bequem, zog den Saum ihres Pullovers über ihre bloßen Knie und streckte einen Arm gerade rechtzeitig auf der Rückenlehne aus, um das Whiskyglas entgegenzunehmen, das Peter ihr gefüllt hatte. Louis lief im Zimmer herum und blieb nur stehen, um sich aus nächster Nähe, wie ein Kurzsichtiger, Bücher und andere Konsumartikel anzusehen. Alle Einrichtungsgegenstände in dieser Wohnung waren neu, und die meisten setzten sich aus weißen Flächen, schwarzen Zylindern und kirschroten Plastikelementen zusammen.

«Also dann, Louis», sagte Peter, der Eileen mit einem Whisky Gesellschaft leistete. «Erzähl uns was von dir.»

Louis studierte die Fernbedienung des Videorecorders. Auf den großen, beschlagenen Fensterscheiben fransten die fernen Lichter des Harvard Square zu Perlmuttkränzen aus.

«Du bist in der Kommunikationsbranche?», lockte Peter.

«Ich arbeite für einen Radiosender», sagte Louis sehr langsam und sehr ruhig. «Kennt ihr WSNE …? Verkehrsfunk mit Drive …?»

«Klar», sagte Peter, «kenn ich. Nicht dass ich ihn je hören würde, aber ich hatte ein paar Mal mit denen zu tun. Soweit ich weiß, haben sie finanziell ziemlich zu kämpfen. Aber das ist ja wohl normal bei so einem Tausendwattsender. Ich würde dir jedenfalls raten, dich nach Möglichkeit wöchentlich auszahlen zu lassen, und was auch immer du tust, lass dich auf keinen Fall auf irgendein Beteiligungsmodell ein –»

«Oh, natürlich nicht», sagte Louis so ernsthaft, dass ein aufmerksamer Zuhörer argwöhnisch geworden wäre.

«Ich meine, du kannst selbstverständlich machen, was du willst», fuhr Peter fort. «War nur ein Rat unter Freunden.»

«Peter verkauft Anzeigen fürs Boston Magazine», sagte Eileen.

«Unter anderem», sagte Peter.

«Er überlegt zurzeit, ob er sich im Herbst an der Business School bewerben soll. Nicht dass er’s nötig hätte. Er weiß so viel, Louis. Er weiß zentnerweise mehr als ich.»

«Weißt du dann auch, wie man zuhört?», sagte Louis plötzlich.

Peters Augen wurden schmal. «Was soll das heißen?»

«Weißt du, wie man einem zuhört, dem man gerade eine persönliche Frage gestellt hat?»

Peter blickte Eileen hilfesuchend an. Ihm schien nicht recht klar zu sein, was diese Bemerkung sollte. Eileen sprang auf. «Er hat dir doch nur einen Rat gegeben, Louis. Wir haben alle Zeit der Welt, um einander zuzuhören. Wir nehmen alle Anteil – aneinander! Ich hol uns was zum Knabbern.»

Sie war kaum aus dem Zimmer, als Louis sich auf das Sofa setzte und, sein gerötetes Gesicht dicht an Peters Ohr, eine Hand auf dessen Schulter legte. «He, Freund», sagte er, «ich hab auch einen Rat für dich.»

Peter blickte starr geradeaus; seine Augen weiteten sich ein wenig, Zeichen eines unterdrückten Lächelns.

Louis neigte sich noch näher zu ihm hin. «Möchtest du ihn nicht hören, meinen Rat?»

«Du hast irgendwie Probleme», stellte Peter fest.

«Trag Mäntel, Mann!»

«Louis?», rief Eileen aus der Küche. «Bist du etwa komisch zu Peter?»

Louis klatschte mit der flachen Hand auf Peters Knie und ging um das Sofa herum. Auf dem Fußboden stand auf ausgebreitetem Zeitungspapier ein Käfig, in dem sich eine mongolische Rennmaus an einem Laufrad zu schaffen machte. Die Rennmaus rannte zögerlich, hielt immer wieder inne, wobei ihre winzigen Zehennägel zwischen die Querbalken rutschten, und fiel dann mit hochgereckter und zur Seite gedrehter Schnauze in einen neuen Galopp. Viel Spaß schien sie dabei nicht zu haben.

«Du Kindskopf.» Eileen war mit einem Rautenschliff-Bierkrug, in dem Salzgebäckstangen steckten, aus der Küche zurückgekehrt. Sie drückte ihn Peter in die Hand. «Ich sag Peter immer wieder, dass unsere ganze Familie einen Sprung in der Schüssel hat. Seit dem Tag, an dem wir uns kennen gelernt haben, sag ich ihm, er soll nur nichts persönlich nehmen.» Atemberaubend flink und geschmeidig ließ sie sich auf die Knie sinken und zog, nachdem sie die Käfigtür geöffnet hatte, die Rennmaus am Schwanz heraus. Sie hob sie hoch über ihren Kopf und blinzelte zur schnuffelnden Nase empor. Die Vorderpfoten des Tiers krallten sich erfolglos in die Luft. «Stimmt’s, Milton Friedman?» Sie riss den Mund auf wie ein Wolf, als wollte sie der Maus den Kopf abbeißen. Dann setzte sie sie auf ihrer nach oben gewendeten Handfläche ab, und die Maus kletterte blitzartig den Ärmel des Pullovers zu ihrer Schulter hoch, wo sie sie wieder einfing und zwischen ihre hohlen Hände sperrte, sodass nur noch die spitze Schnauze mit den Schnurrhaaren hervorlugte. «Sagst du hallo zu meinem Bruder Louis?» Sie wedelte mit der Rennmaus unmittelbar vor Louis’ Gesicht; der Mäusekopf sah wie ein pelziger Penis mit Augen aus.

«Hallo, Nager», sagte Louis.

«Was hör ich da?» Sie hielt die Rennmaus an ihr Ohr und lauschte aufmerksam. «Er sagt: Hallo, Mensch. Hallo, Onkel Louis.» Sie steckte das Tier in den Käfig zurück und schloss die Tür. Noch vermenschlicht, aber wieder ihr eigener Herr, wirkte die Maus schwachsinnig oder brüsk, als sie zum Röhrchen ihrer Wasserflasche lief und an einem Tropfen schlabberte. Eileen kniete noch einen Augenblick am Boden, die Hände auf die Knie gestützt und den Kopf schief gelegt, als hätte sie Wasser im Ohr. Dann erhob sie sich mit der flinken Geschmeidigkeit, die Louis sichtlich bewunderte, und gesellte sich mit einem federnden Satz zu Peter auf dem Sofa.

«Peter und Milton Friedman», sagte sie, «sind gerade nicht gut aufeinander zu sprechen. Milton Friedman hat Pipi gemacht auf eine Popelinhose, an der Peters Herz hing.»

«Sehr komisch», sagte Louis. «Wirklich zum Schreien komisch.»

«Ich denke, ich geh jetzt besser», sagte Peter.

«Ach, komm schon, du musst Geduld haben», sagte Eileen. «Louis ist einfach zugeknöpft. Du bist mein Freund, aber er ist mein Bruder. Ihr beide werdet miteinander auskommen müssen. Ihr müsst im gleichen Käfig happa-happa machen. Du kriegst das Rad, Louis, in dem du laufen kannst, und meinem kleinen Schluckspecht werde ich ein paar Tropfen Chivas ins Trinkröhrchen füllen. Hahaha!» Eileen lachte. «Für Milton Friedman besorgen wir eine Popelinhose!»

Peter leerte sein Glas und stand auf. «Also, ich pack’s dann mal.»

«Schon gut, bin wohl ein bisschen anstrengend», sagte Eileen mit völlig veränderter Stimme. «Ich hör schon auf. Entspannen wir uns. Benehmen wir uns wie Erwachsene.»

«Benehmt ihr euch wie Erwachsene», sagte Peter. «Ich habe zu tun.» Ohne sich umzudrehen, verließ er das Zimmer und die Wohnung.

«Na toll», sagte Eileen. «Schönen Dank.» Sie warf den Kopf in den Nacken und sah Louis über die Sofalehne hinweg mit kopfstehenden Augen an. Ihre schmalen Brauen wirkten wie Lippen, die keinen Atem durchließen, und ohne Brauen über den Augen hatte ihr Blick einen Ausdruck, dem menschliches Vokabular nicht gewachsen war, eine rätselhafte Fremdheit. «Was hast du zu ihm gesagt?»

«Ich hab gesagt, er soll öfter mal einen Mantel tragen.»

«Wirklich klasse, Louis.» Sie stand auf und zog sich ein Paar Stiefel an. «Was ist eigentlich los mit dir?» Sie rannte durch den Flur hinaus.

Louis verfolgte ihren Abgang mit Gleichmut. Er wischte ein Guckloch in die beschlagene Fensterscheibe und blickte in den von Rücklichtern rosa gefärbten Schneeregen, der auf die Massachusetts Avenue fiel. Das Telefon klingelte.

Er ging zu dem kleinen Tisch, der dem Telefon und dem Anrufbeantworter vorbehalten war, und betrachtete die Geräte, als stünde er vor einem Büfett, an dem ihn nichts reizte. Als sich nach dem fünften Klingeln immer noch nichts rührte, hob er ab. «Ja?»

«Peter?» Am anderen Ende war eine ältere Frau, deren Stimme zitterte. «Peter, ich hab immer wieder versucht –»

«Hier ist nicht Peter.»

Ein nervöses Rascheln war zu hören. Kaum hatte die Frau eine Entschuldigung gebrummelt, verlangte sie nach Eileen. Louis bot an, etwas auszurichten.

«Wer spricht denn?», fragte die Frau.

«Eileens Bruder. Louis.»

«Louis? Ach du liebe Güte. Hier ist Großmutter.»

Er starrte lange aufs Fenster. «Wer?»

«Rita Kernaghan. Großmutter.»

«Oh. Klar. Großmutter. Klar.»

«Ich glaube, wir sind uns erst ein einziges Mal begegnet.»

Jetzt endlich hatte Louis ein Bild vor Augen, das Bild einer blähbäuchigen Frau mit stark geschminktem Kätzchengesicht, die an einem verschneiten Abend in Chicago bereits an einem Tisch im Berghoff saß, als er und seine Eltern und Eileen das Restaurant gerade erst betraten. Sieben Jahre mochte das her sein – ungefähr ein Jahr nachdem seine Mutter zur Beerdigung ihres Vaters nach Boston geflogen war. Vom Essen im Berghoff hatte er nur einen Teller mit geschmortem Hasen und Kartoffelpuffern in Erinnerung. Und hatte Rita Kernaghan Eileen nicht übers Haar gestrichen und sie Püppchen genannt? Oder war das ein anderes Essen gewesen, eine andere alte Frau oder vielleicht ein Traum?

Nicht Großmutter: Stiefgroßmutter.

«Ja», sagte er. «Ich erinnere mich. Du lebst hier in der Gegend.»

«Ganz in der Nähe von Ipswich, genau. Bist du zu Besuch bei deiner Schwester?»

«Nein, ich arbeite hier. Ich arbeite bei einem Radiosender.»

Das schien Rita Kernaghan zu interessieren. Sie quetschte Louis nach Einzelheiten aus. War er Moderator? Kannte er den Programmdirektor? Sie schlug vor, dass sie sich auf ein Glas treffen sollten. «Da kannst du mich ein wenig kennen lernen. Sagen wir, am Freitag nach der Arbeit? Ich bin an diesem Abend in der Stadt.»

«In Ordnung», sagte Louis.

Sie hatten kaum Uhrzeit und Treffpunkt vereinbart, als Rita Kernaghan schon Leb wohl murmelte und die Verbindung abbrach. Augenblicke später kam Eileen, nass und wütend, in die Wohnung zurück und verschwand in der Küche. «Kein Abendessen, bevor du dich nicht bei mir entschuldigt hast», sagte sie.

Am Salzgebäck knabbernd, runzelte Louis nachdenklich die Stirn.

«Du warst sehr kindisch und sehr kränkend», sagte Eileen. «Ich möchte, dass du dich bei mir entschuldigst.»

«Tu ich aber nicht. Er wollte mir nicht mal die Hand geben.»

«Ihm war kalt!»

Louis rollte die Augen. «Na schön», sagte er. «Es tut mir Leid, dass ich dir den Abend verdorben habe.»

«Also, mach das nicht wieder. Ich mag Peter nämlich sehr.»

«Liebst du ihn?»

Die Frage trieb Eileen aus der Küche; ihr Gesichtsausdruck war verwirrt. Louis hatte sie niemals etwas auch nur annähernd so Persönliches gefragt. Sie setzte sich neben ihn auf das Sofa und fasste sich in einer Haltung, als wäre sie beim Beine-Enthaaren, an die Zehen, ihre Nasenspitze berührte sanft ein Knie. «Manchmal glaube ich es», sagte sie. «Aber eigentlich bin ich nicht der romantische Typ. Milton Friedman ist mehr mein Stil. Ich find’s komisch, dass du das fragst.»

«Liegt es nicht nahe?»

Noch immer vornübergebeugt, kniff sie ein Auge zusammen und fixierte ihn. «Du hast dich verändert», sagte sie.

«Verändert? Inwiefern?»

Sie schüttelte den Kopf, wollte sich nicht eingestehen, dass sie ihren kleinen Bruder, der jetzt dreiundzwanzig war, noch nie als jemanden wahrgenommen hatte, dem das Wort Liebe etwas sagte. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Fußgelenke, fuhr mit dem Finger die tastbaren Knochen nach, prüfte die Elastizität der Sehnen oberhalb der Ferse und schaukelte ein wenig vor und zurück. Ihr Gesicht verlor bereits an Reiz. Die Zeit und die Sonne und die Harvard Business School hatten ihren Teint fahler werden lassen, sodass plötzlich, wie alte Tapete unter frisch aufgetragener Farbe, eine Eileen hindurchzuschimmern begann, wie man sie sich in ihren mittleren Jahren vorstellen mochte. Sie warf einen scheuen Blick zu Louis hinauf. «Nett, dass wir wieder in der gleichen Stadt sind.»

«Mm-hm.»

Sie wagte sich weiter vor. «Gefällt dir dein Job?»

«Kann man noch nicht sagen.»

«Du musst Peter eine Chance geben, Louis. Er mag ja arrogant wirken, aber darunter ist er sehr verletzlich.»

«Da fällt mir ein», sagte Louis, «er hat einen Anruf bekommen, während du draußen warst. Großmutter, ich war völlig verdattert, welche Großmutter?»

«Ach, Rita. Mich wollte sie auch dazu bringen, sie Großmutter zu nennen.»

«Ich hatte ganz vergessen, dass es sie gibt.»

«Kein Wunder, sie und Mom haben nichts anderes füreinander übrig als – uarrrrrgh.» Eileen fing an, sich mit beiden Händen selbst zu würgen. «Hast du das überhaupt mitgekriegt?»

«Weißt du, wann ich mich das letzte Mal richtig mit Mom unterhalten habe? Ferguson Jenkins hat noch für die Chicago Cubs gespielt.»

«Na ja, jedenfalls scheint Grandpa irgendwann eine Stange Geld gemacht zu haben, doch als er starb, hat er Mom oder Tante Heidi nichts davon hinterlassen, weil er mit Rita verheiratet war. Rita hat abkassiert.»

«Nicht gerade der direkteste Weg, um Moms Herz zu erobern.»

«Allerdings meint Peter, dass auch Rita nichts bekommen hat. Steckt alles in einem Treuhandfonds.»

«Was weiß denn Peter darüber?»

«Er war Ritas PR-Mann. So hab ich ihn kennen gelernt.» Eileen schwang sich auf die Füße und ging zum Bücherregal. «Nach Grandpas Tod ist Rita zur Esoterikerin geworden. Sie hat eine Pyramide auf das Dach ihres Hauses setzen lassen, und jetzt lagert sie ihre Weinflaschen im Schuppen, weil sie glaubt, dass der Wein unter der Pyramide nicht reift. Hier ist ihr neues Buch.» Sie gab Louis einen dünnen grellrosa Band. «Sie lässt die bei irgendeinem Möchtegernverlag in Worcester drucken, und dann werden ihr alle auf einmal ins Haus geliefert, auf riesigen Holzpaletten. Als ich sie das letzte Mal besucht habe, lagerten sie im Schuppen, zusammen mit dem Wein. Eine gigantische Bücherwand. Deshalb braucht sie jemanden, der die Werbetrommel für sie rührt, auch wegen der Vorträge. Aber hör mal, möchtest du lieber Tortellini mit Tomatensauce oder Linguine in heller Muschelsauce?»

«Egal. Was schneller geht.»

«Tja. Sind beides Fertigpackungen.»

«Tortellini», sagte Louis. Der Titel des grellrosa Buches lautete: Prinzessin Itaray: Eine Fallgeschichte aus Atlantis. Auf die Titelseite hatte die Verfasserin eine Widmung geschrieben: Für Eileen, mein Püppchen, von deiner dich liebenden Großmutter. Louis blätterte durch den Band, der in Kapitel und Unterkapitel und Unter-Unterkapitel mit fett gedruckten, dreistellig durchnummerierten Überschriften gegliedert war:

4.1.8. Implikationen des Verschwindens der dimesischen Ausstülpung: eine reversible Vertreibung aus dem Paradies?

Er warf einen Blick auf den Klappentext. In diesem ebenso phantastischen wie gelehrten Werk untermauert Dr. Kernaghan die Theorie, dass die allumfassende Befriedigung sexueller Bedürfnisse den Grundpfeiler der atlantischen Gesellschaft bildete, und formuliert die Hypothese, dass der menschliche Blinddarm, heute ein funktionsloses inneres Organ, bei den Atlantiden äußerlich und von hoher Funktionalität war. Ausgehend von der hypnotischen Rückführung eines jungen Mädchens – der vierzehnjährigen Schülerin Mary M. aus Beverly, Massachusetts –, gelingt Dr. Kernaghan eine faszinierende Darstellung der atlantischen Tiefenpsychologie, der historischen Wurzeln unterdrückter Sexualität und der Chancen der modernen Welt, in ein goldenes Zeitalter zurückzukehren …

«Sie hat noch zwei andere Bücher geschrieben», sagte Eileen.

«Sie hat einen Doktortitel?»

«Irgendeinen Ehrendoktor. Milton Friedman hält das Ganze für den größten Blödsinn, den er je gehört hat, stimmt’s, Milton Friedman? Peter hat ihr viel geholfen – hat ihr ein paar Auftritte im Radio und im Fernsehen verschafft. Er hat alle möglichen Kontakte, und dabei macht er das nur als Teilzeitjob. Irgendwann musste er ihr dann aber doch sagen, dass sie sich jemand anderen suchen soll. Zum einen, weil sie fürchterlich trinkt. Und dann spricht sie von Grandpa, als würde er noch leben und dauernd mit ihr reden. Man weiß wirklich nicht, ob man lachen oder weinen soll.»

Louis erwähnte nicht, dass er sich mit ebenjener Frau auf ein Glas verabredet hatte.

«Jedenfalls, auf diese Weise habe ich Peter kennen gelernt. Sie hat ein schönes großes Haus, wahrscheinlich kannst du dich nicht daran erinnern. Wir waren mal für eine Woche oder so was dort, als Kinder. Erinnerst du dich?»

Louis schüttelte den Kopf.

«Ich eigentlich auch nicht. Rita spielte damals noch keine Rolle. Ich meine, sie war nichts weiter als Grandpas Sekretärin. Manchmal frage ich mich, was wir von ihm denken würden, wenn er noch da wäre.»

Den Rest des Abends über saß Louis auf diversen Stühlen und Sesseln, und Eileen kreiste um ihn herum. Ein gefüllter Teller war nichts, dem sie sich besonders verpflichtet fühlte; sie stand vom Tisch auf und kehrte wieder zu ihm zurück; die Mahlzeit war ihren Launen ausgeliefert. Als Louis seinen Mantel anzog, um zu gehen, klopfte sie ihm unbeholfen auf den Arm und fiel ihm dann, noch unbeholfener, um den Hals. «Pass gut auf dich auf, ja?»

Er riss sich los. «Was soll das heißen, pass auf dich auf? Glaubst du, ich mach ’ne Weltreise? Das sind gerade mal vier Kilometer.»

Ihre Hand blieb auf seiner Schulter liegen, bis er zur Tür hinaus war. Ein paar Augenblicke später, als sie gerade die Nachrichten einschaltete, klopfte es. Louis stand draußen im Hausflur, geschäftsmäßig wie ein Vertreter, mit gerunzelter Stirn und abgewandtem Blick. «Mir ist noch was eingefallen», sagte er. «Ich hab mich gerade doch an dieses Haus in Ipswich erinnert, das von Moms Vater. Wir haben Steine –»

«Ja!» Eileens Gesicht begann zu leuchten. «Nach den Pferden geworfen.»

«Wir haben Steine nach den Pferden geworfen –»

«Um sie zu retten!»

«Um ihnen das Leben zu retten. Du weißt es also auch noch. Wir dachten, sie würden sterben, wenn sie sich nicht bewegen.»

«Ja.»

«Das war’s schon.» Seine runden Schultern drehten sich von ihr weg. «Bis dann.»

 

Nichts hatte Louis in der Highschool so aus der Bahn werfen können, dass er sich seiner Liebe zum Radio schämte. Das Radio war für ihn wie ein lahmender Schoßhund oder ein zurückgebliebener Bruder – ein Mitgeschöpf, für das er sich Zeit nahm und über das die Leute lachen oder lästern mochten, ohne dass es ihn kümmerte, ja ohne dass er es überhaupt mitbekam. Wenn Eileen ihn draußen durch städtische Wüsteneien streifen sah, war er meistens auf dem Weg von oder zu einem klimatisierten, menschenleeren Elektronik-Fachmarkt in einem längst von Unkraut angenagten Einkaufszentrum, in dem sonst nur noch ein chinesisches Restaurant im letzten seiner neun Leben und vielleicht ein entvölkertes Zoogeschäft geöffnet hielten. Von einer Wand voller in Plastikfolien eingeschweißter Schaltkreise und HF-Verbindungsstecker und Mikropotis und Krokodilklemmen und Überbrücker und Drehkondensatoren suchte er sich zusammen, was auf seinem Wunschzettel ganz oben stand, addierte im Kopf die Preise – wobei er die Umsatzsteuer über den Daumen peilte –, händigte seine Beute dem traurigen Schnurrbartträger an der Kasse aus, der lieber eine Stereoanlage verkauft hätte, und bezahlte mit kleinen Scheinen, die ihm Nachbarn für niedere Dienste wie Tapetenabwaschen, Bürstenreinigen, Gassigehen und dergleichen gegeben hatten. Mit zehn Jahren bekam er einen Bastelkasten für ein Detektorradio, mit zwölf baute er seinen ersten HeathKit-Kurzwellenempfänger zusammen, mit vierzehn erhielt er die Kennung WC9HDD und mit sechzehn die allgemeine Amateurfunkerlaubnis. Das Funken war sein Ding, seine Leidenschaft. Ein Junge kann eine Befriedigung, die der durch Sex erzielten gleichkommt oder sich sogar auf geheimnisvollen seelischen Schleichwegen mit dem Sex verbündet, aus dem Zusammenfügen einiger simpler Metall- und Keramikteile schöpfen, die er nur an eine Batterie anzuschließen braucht, um Stimmen aus der Ferne in sein Schlafzimmer zu holen – dass jene Teile simpel sind, weiß er genau, hat er sie doch oft genug aus Neugierde mit Schraubendreher oder Flachzange zerstört. Tatsächlich fanden sich verstreute Widerstände, deren Farbkennzeichnung er schon ein Jahr lang auswendig wusste, ehe er zum ersten Mal von Spermien und Eizellen hörte, an dem Nachmittag, als er seine Unschuld verlor, in seinem Bett. «Autsch, was war denn das?» (Es war ein metallischer 220-Ohm-Schichtwiderstand der Toleranzklasse Gold.) Außerdem traf es sich, dass Louis zu den wenigen Amateurfunkern im Großraum Chicago zählte, die bereit und in der Lage waren, ihren Sprech- und Morsefunkverkehr auf Französisch abzuwickeln, und so kam es, dass er bei starker Sonnenfleckenaktivität halbe Nächte lang aufblieb, um Wetterinformationen, aber auch Persönliches mit Gesinnungsgenossen aus allen eingeschneiten Winkeln Quebecs auszutauschen. Was ihn freilich im Französischunterricht um keinen Deut gesprächiger, nur gelangweilter machte, da er alles, was er wirklich gut beherrschte, vor der Außenwelt verbarg.

Er schrieb sich als künftiger Elektroingenieur an der Rice-Universität ein und verließ sie mit einem Abschluss in Französisch, nachdem er drei Semester lang den Campussender KTRU geleitet hatte. Bereits eine Woche nach seinem Examen fing er bei einem kleinen Country-&-Western-Sender an, wo er eine verhältnismäßig angenehme und interessante Arbeit hatte, deren plötzliches Aufkündigen nach nur acht Monaten er Eileen mit nichts anderem als der unbefriedigenden Gegenfrage erklärte: «Warum gibt man wohl seinen Job auf?»

Die Studios von WSNE, seinem neuen Arbeitgeber, lagen im westlichen Vorort Waltham in einem Bürogebäude, von dem aus man einen Winkel der zirka sechzehn Hektar übersah, die für das Autobahnkreuz der Route 128 («Amerikas Technologie-Region») und des Massachusetts Turnpike abgesteckt worden waren. Offiziell nannte Louis sich Sendetechniker, ein Handlangerjob, der das Bedienen des Kassettendecks, das pünktliche Abfahren von Musikstücken und das Kalkulieren des Zeitfensters für die von Associated Press zugespielten Nachrichten umfasste, aber das alles machte er nur von sechs bis zehn, weil allein der Moderator des morgendlichen Verkehrsfunks, Dan Drexel, für so unersetzlich gehalten wurde, dass man ihm einen eigenen Sendetechniker zubilligte. Louis war klar, dass der Rest seines Arbeitstages, der um drei Uhr nachmittags endete, mit so aufregenden Tätigkeiten wie dem Abtippen von Verkehrsmeldungen, dem Überspielen der von Werbeagenturen gelieferten Spots von Tonband auf Kassette, dem Verfassen von Programmhinweisen und dem Sortieren der richtigen und falschen Antworten ausgefüllt sein würde, mit denen die schrumpfende Hörerschaft des Senders wertlose Preise zu gewinnen hoffte. Ihm war klar, dass er dafür keinen Cent mehr als den tariflichen Mindestlohn erwarten durfte.

Einer der Gründe, warum es so wenige Mitbewerber um die Stelle gegeben hatte, war, dass der Antrag von WSNE auf Erneuerung der Sendelizenz im Juni keine Routineangelegenheit zu werden versprach. Gehaltsschecks wurden mit genauen Anweisungen ausgegeben, wann (und wann nicht) man sie am besten einlösen könne. Der Moloch Personalkosten war ins Sendestudio eingedrungen und hatte die Bandmaschinen und Mischpulte und alles auch nur einigermaßen Verkäufliche verschlungen, sodass rechteckig klaffende, den Blick auf blanke Spanplatten freigebende Löcher in den Resopalkonsolen sowie karamellfarbene Leimreste an den Wänden übrig geblieben waren. Ein neuer Collegesender hatte WSNE fast die gesamte Plattensammlung abgekauft und nur die Kinderabteilung (das komplette LP-Schaffen der Care Bears, die Muppets, den originalen Disney-Soundtrack von Winnie-the-Pooh, die Feuersteins, die das Einmaleins skandieren) und den Comedy-Bestand verschmäht. Die Rillen des letzteren wurden vom Programm des WSNE-Morgenfunks mit Drive stark strapaziert, das die aktuellen Meldungen und Kommentare mit den «witzigsten Pointen, die Sie je gehört haben», würzte.

Eigentümer und Betreiber des Senders war ein gewisser Alec Bressler. Alec war ein russischer Emigrant deutscher Abstammung, von dem man sich erzählte, dass er Mitte der sechziger Jahre in einem Schlauchboot von Kaliningrad nach Schweden gepaddelt sei. Die einzige Dienstpflicht, die er sich auferlegt hatte, war die tägliche Verlesung eines Leitartikels, doch ständig streunte er durch die Studios, wo er mit tiefster Zufriedenheit registrierte, dass Strom durch alle benötigten Leitungen floss – dass dieser Sender, der ihm gehörte, tatsächlich arbeitete und das von ihm erkorene Programm in den Äther schickte. Er war ein maßvoll beleibter Fünfziger mit Ostblockhaaren, die irgendwie abgewertet und wachstumsschwach wirkten, und seine Haut war angegraut von einer Zigarettensucht, der er nur insoweit zu widerstehen vermochte, als er ihr die Sucht nach Nikotinpastillen zur Seite stellte. Er kleidete sich in dünne Pullover und abgetragene, die Schenkel wie eine Wursthaut umspannende Hochwasserhosen, deren jede alt genug aussah, um mit ihm in dem legendären Gummiboot gereist zu sein.

Louis merkte bald, dass eine der Aufgaben, die er zu erfüllen hatte, darin bestand, Alec Bresslers Monologen zu lauschen. «Sind Sie Freund klarer Worte?», fragte ihn der Senderchef an seinem zweiten Arbeitstag, als er gerade Sendebestätigungen für Werbekunden ausdruckte. «Hab gerade ein paar wirklich klare Worte gesagt. Ich hab ein aktuelles Ereignis kommentiert, echtes Probläm. Können Sie sich denken, welches?»

Louis gab sich erwartungsvoll, bereit, sich zu amüsieren. «Verraten Sie’s mir!»

Alec setzte sich ins Leere und griff nach hinten, um einen Stuhl heranzuziehen. «Dieses furchtbare Flugzeugunglück vom Wochenende. In einem Staat im Mittelwesten, hab vergessen, welcher, fängt mit ‹I› an. Zweihundertneunzehn Tote, keine Überlebenden. Der Rumpf der Maschine völ-lig zer-fetzt. Hab ich die Frage gestellt, worin der Nachrichtenwert dieser Meldung liegt. Bei allem Respekt vor den Familien der Toten – warum müssen wir so was im Fernsehen sehen? Wir haben es vorigen Monat gesehen, wir sehen es immer wieder. Wenn Leute Trümmerhaufen sehen wollen, warum sehen wir uns nicht Navy-Raketen und Air-Force-Bomber an, die jedes Mal abstürzen, wenn wir sie testen? Wenn Leute Tote sehen wollen, warum zeigt ihnen die Kamera nicht, was in den Krankenhäusern passiert? Was? Da sterben doch die meisten. Dann hab ich gesagt, was man sich statt dieser Katastrophenberichte, boykottiert sollten die werden, ansehen kann. Da läuft M*A*S*H zur gleichen Zeit und Ein himmlisches Vergnügen und Jede Menge Familie und Matt Houston. Oder Werbesendungen, die besseren. So etwas sollten wir sehen. Oder wir sollten ein Buch lesen, aber das hab ich nur angedeutet. Lest ein Buch, hab ich schon zu oft gesagt.»

«Ist das nicht ohnehin eine verlorene Schlacht?», sagte Louis.

Alec stützte sich auf die Armlehnen seines Stuhls und rutschte mit dem Hintern zurück, um sich noch besser vorbeugen und auch den letzten Rest an Aufmerksamkeit fesseln zu können, den ihm Louis womöglich vorenthalten hatte. «Vor acht Jahren hab ich diesen Sender gekauft», sagte er. «Im Programm gab es wirklich gute Lokalberichterstattung, dazu Popmusik, auch Übertragungen von den Spielen der Boston Bruins. Seit acht Jahren versuche ich, WSNEpolitikfrei zu machen. Es ist mein ‹amerikanischer Traum› – ein Sender, in dem den ganzen Tag geredet wird (keine Musik – das wäre ge-mo-gelt!), ohne dass EIN Wort über Politik fällt. Das ist mein amerikanischer Traum. Ein Radio, das den ganzen Tag Wortbeiträge bringt und keine Ideologie. Reden wir über Kunst, Philosophie, Humor, das Leben. Reden wir darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein. Und je näher ich meinem Ziel komme – man kann es in Graphik zeigen, Louis –, je näher ich meinem Ziel komme, desto weniger Leute chören mir zu! Jetzt haben wir jeden Morgen nur noch insgesamt eine Stunde Nachrichten, und die Leute chören sich gerade diese eine Stunde an. Jeder weiß, dass Jack Benny mehr unterhält als Abrüstungspalaver in Genf. Aber wenn Genf fehlt, will auch niemand Jack Benny chören. So sind die Leute. Ich weiß es. Hab dazu eine Graphik gemacht.»

Er spitzte die Finger und zupfte eine Zigarette aus einer Benson-&-Hedges-Packung. «Wer ist das Mädchen?», fragte er, mit dem Kopf auf eine halb offene Schublade deutend, in der ein Foto zu sehen war. Die junge Frau auf dem Schnappschuss hatte dunkle Ringe unter den Augen und einen kahl rasierten Kopf.

«Jemand, den ich in Houston kannte», sagte Louis.

Alec duckte sich und duckte sich nochmal, als wollte er sagen: Nichts für ungut. Dann duckte er sich erneut, betont verständnisvoll, und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Am Freitag nach der Arbeit fuhr Louis mit seinem sechs Jahre alten Civic über den Massachusetts Turnpike nach Boston hinein und stellte ihn auf der obersten Etage eines Parkhauses vom Umriss und der Größe eines Flugzeugträgers ab. Sein Aussteige-Ritual – ein Hineinspähen durch das linke Seitenfenster, ein Klopfen auf die Autoschlüssel in der Hosentasche, ein Rütteln an der verriegelten Fahrertür, ein langsames Umrunden des Fahrzeugs mit anschließendem Prüfen der Beifahrertür, ein abermaliges Klopfen auf die Schlüssel und ein letzter, leidender, beunruhigter Abschiedsblick – wurde von einem aus Osten wehenden Wind in eine Art verzweifelter Endgültigkeit getaucht. Noch zwei Stunden, dann sollte er sich im Ritz-Carlton mit Rita Kernaghan treffen.

Eine nahende Warmfront hatte begonnen, das klare Blau des Himmels einzutrüben. Im North End versetzte ein schlanker Neonstiefel namens ITALIA einem unförmigen Neonbrocken namens SICILIA einen Tritt. Es war unmöglich, der Leuchtschrift FLEISCHEREI zu entgehen. Die Italiener, die hier lebten – alte Frauen in bedruckten Kittelkleidern mit im Nacken aufklaffenden Kragen, Greisinnen, die wie grundlos innehaltende Insekten auf den Gehsteigen stehen blieben, junge Autonarren mit Frisuren wie Zobelfelle –, schienen von einem Wind zerzaust zu werden, den die Touristen und die wohlhabenden Zuzügler nicht spürten, einem Wind des Wandels, der feucht war vom Mörtelstaub der Renovierungen, so abgekühlt wie die Vorliebe der Gesellschaft für schwere rote Saucen mit Oregano oder für Songs von Frank Sinatra, so schneidend wie Bostons Appetit auf Immobilien in guten weißen Wohnanlagen. FLEISCHEREI. FLEISCHEREI. Touristen aus dem Mittelwesten strömten den Hügel hoch. Zwei junge Japaner, die ihre Finger in grünen Michelin-Führern stecken hatten, spurteten an Louis vorbei, während er sich der Old North Church näherte, deren Anblick, die Kirche war von Baumassen bedrängt, rasch und unmerklich das eher baumbestimmte Bild auslöschte, das er sich in seiner Vorstellung von ihr gemacht hatte. Er ging an einem alten Friedhof entlang und dachte an Houston, wo schon der Sommer eingezogen war, wo man in Innenstadtstraßen Zypressensümpfe riechen konnte und immergrüne Eichen grüne Blätter abwarfen, und er erinnerte sich an ein Gespräch, das er dort in einer feuchtwarmen Nacht geführt hatte – beim nächsten Mal wirst du Glück haben, verlass dich drauf. In den Häusern, die dem Friedhof gegenüber lagen, sah er weiße Innenräume – Unterhaltungselektronik, die wie die Technik einer Intensivstation blinkte, mächtige Spielgeräte in bunten Farben inmitten kahler Zimmer.

In der Commercial Street gab es Tausende von Fenstern, blanke und rechtwinklige, jeder Verzierung bare Fenster, die so hoch hinaufreichten, wie das Auge wandern mochte. Fahlgrün, undurchsichtig, lidschlaglos und abweisend. Da war kein Abfall auf dem Boden, den der Wind aufwirbeln konnte, und kein Ruhepunkt fürs Auge außer immer neuen Ziegelmauern, neuen Fenstern, neuen Pflasterplatten aus Beton. Es sah so aus, als wäre der einzige Kitt, der diese Mauern und Straßen zusammenhielt, die einzige Kraft, die diese sauberen und undurchdringlichen und glanzlosen Fassaden überdauern ließ, das Wechselspiel von Geldflüssen und Notariatsurkunden.

Aus der Faneuil Hall, dem bedeutungsschweren Pilgerziel ermatteter Touristen, quoll ein Geruch nach Fett: von Hamburgern und frittiertem Schellfisch und Croissants und Pizzen und frisch gebackenen Schokowaffeln und Pommes und mit Käse gratiniertem Krabbenfleisch und Baked Beans und gefüllten Paprikaschoten und Quiches und knusprig gebratenen Oriental Nuggets mit Tamari. Louis verschwand in einem Arkadengang und kam mit einer Papierserviette wieder heraus, in die er sich schnäuzte. Das Gehen und die kalte Luft hatten ihm soweit zugesetzt, dass ihm die ganze sich verdunkelnde Stadt nur noch als mitleidlose Projektion der Einsamkeit des Einzelnen erschien, einer so tief gehenden Einsamkeit, dass sie die Geräusche der Außenwelt – Sekretärinnengeplapper, Lkw-Motoren, sogar die wummernden Bässe vor Elektrofachgeschäften – fast bis zur Unhörbarkeit dämpfte.

In der Tremont Street, von Fenstern angestarrt, die nun durchlässig genug waren, um ihm einen Blick in teuer möblierte und mit teuren technischen Geräten ausgestattete Wohnungen ohne Menschen zu gewähren, musste er sich gegen einen Strom von demonstrierenden Abtreibungsgegnern vorwärts drängen. Unterwegs zum Parlament, fluteten sie vom Gehsteig auf die Fahrbahn. Alle schienen sie mit Tränen unterdrückter Wut zu kämpfen. Die Frauen, modisch gekleidet wie Stewardessen oder Fitnesstrainerinnen, trugen die Stangen ihrer Transparente so betont senkrecht, als wollten sie die schlampigen Verfechter anderer Anliegen beschämen. Die wenigen Männer in der Menge trotteten mit leeren Händen und leeren Blicken mit, auch ihre Frisuren waren vom Wind zerzaust. Aus der Art, wie die Männer und Frauen sich zusammendrängten und den Passanten nur widerwillig Platz machten, konnte man schließen, dass sie bei ihrer Kundgebung im Stadtpark Boston Common mit brutaler Verfolgung rechneten, dem modernen Äquivalent hungriger Löwen und einem übersättigten Heidenpublikum. Umso merkwürdiger, dass das Tal der Tränen von Restaurants und Luxushotels, Lederwarengeschäften und teilnahmslosen Fenstern gesäumt war.

Louis tauchte am Ende des Demonstrantenzugs mit Krawatte wieder auf. Er hatte sie sich während seines Slaloms um die MACHT-DEM-MASSENMORD-EIN-ENDE-Transparente umgebunden.

Mehr als eine Stunde wartete er in der dämmerigen Bar des Ritz an einem Tisch, der ständig Rempler abbekam, bis ihm klar wurde, dass Rita Kernaghan ihn versetzt hatte. Der Gin Tonic, den er ohne nachzudenken bestellt hatte, ließ sein Gesicht rot wie eine Ampel anlaufen, und das einzige Gespräch, das sich in dem Meer wetteifernder Stimmen an der Oberfläche hielt, drehte sich um Kastraten. Bald reimte er sich zusammen, dass das Wort Abtastraten hieß, aber er verstand immer weiter nur Kastraten, worauf es bei den Kastraten ankommt, je höher die Kastraten, desto besser klingt die Musik, wenn du schnell was scannen willst, musst du die Kastraten klein halten, drohendes Monopol bei den Chips für gängige Kastraten. «Mir ist schlecht», murmelte er alle paar Minuten, «mein Gott, ist mir schlecht.» Schließlich zahlte er und ging ins Foyer, um ein Telefon zu suchen. Er musste einer Dreiergruppe von Geschäftsleuten ausweichen, die auch als eineiige Drillinge durchgegangen wären. Ihre Münder bewegten sich wie die Münder von Latexpuppen:

Haben Sie’s auch gespürt?

Hier war nichts davon zu merken.

Halten Sie mich für einen Spinner oder was?

Es war zehn nach sieben. Louis rief die Auskunft an, und auf die Frage nach der gewünschten Stadt sagte er: Ipswich. Der Hörer, den er in der Hand hatte, roch heftig nach einem Kölnischwasser, das ihm so unangenehm in die Nase stieg, dass er eine allergische Reaktion seiner Schleimhäute befürchtete. Er ließ es achtmal bei Rita Kernaghan klingeln und war im Begriff einzuhängen, als ein Mann abnahm und sich mit einer leisen, tonlosen, amtlichen Stimme meldete: «Wachtmeister Dobbs.»

Louis verlangte nach Mrs. Kernaghan.

Kastraten, Kölnisch, Föten. Dobbs. «Wer spricht?»

«Ich bin ihr Enkel.»

Durch die Leitung kam das Schrumm-schrumm einer über die Sprechmuschel gelegten Handfläche, dann ein dumpfes Geraune, dem Stille folgte. Schließlich sprach jemand anders, Sergeant Akins. «Wir haben ein paar Fragen an Sie», sagte er. «Wie Ihnen sicher bekannt ist, hat es hier oben ein Erdbeben gegeben. Und Sie können nicht mit Mrs. Kernaghan sprechen, weil Mrs. Kernaghan vor ein paar Stunden tot aufgefunden wurde.»

In diesem Augenblick meldete sich die Computerstimme der Vermittlung und forderte den Einwurf neuer Münzen, die Louis hektisch zu suchen begann.

Kapitel 2

Wie Rom war Somerville auf sieben Hügeln erbaut. Die Wohnung, in der Louis ein Zimmer zur Untermiete gefunden hatte, lag auf dem Clarendon Hill, dem westlichsten der sieben und, mangels Konkurrenz, dem grünsten. Woanders in der Stadt waren Bäume zumeist hinter Häusern versteckt oder fristeten ihr Dasein in quadratischen Bürgersteiglöchern, die rennenden Kindern die Beine brachen.

Früher im Jahrhundert war Somerville die Stadt mit der höchsten Bevölkerungsdichte im ganzen Land gewesen – eine demographische Leistung, die mit einem engen Straßengewirr und dem Verzicht auf Parks und Vorgärten erkauft war. Dreistöckige Häuser mit holzverschalten Fassaden beherrschten das Bild. Sie hatten vieleckige Erker oder dreifach übereinander gestapelte, wackelige Veranden, und sie waren in Farbkombinationen wie Blau und Gelb, Weiß und Grün, Braun und Braun gestrichen.

In den Straßen von Somerville standen dicht an dicht Autos, die weniger an Autos erinnerten als an einzelne Schuhe. Jeden Morgen trotteten sie zur Arbeit oder schoben sich, dem Diktat der zweimonatlichen Straßenreinigung folgend, auf dem Pflaster vor und zurück. Selbst zu Beginn der achtziger Jahre, als Massachusetts ein Wirtschaftswunder erlebte und das Pentagon Milliarden von Dollars in die heruntergekommenen Industriestandorte des Landes pumpte, blieb Somerville die Heimat vorwiegend niederer Kasten der Fußbekleidungshierarchie. Da gab es salzgesprenkelte Hush Puppies und schiefgelaufene Pumps in zwei sich beißenden Farben, die vor den Türen der irisch- und italienischstämmigen Mittelschicht parkten, abgelatschte Adidas-Treter vor den Einfahrten alleinstehender Frauen, Springerstiefel oder Schuhwerk aus der Kleiderkammer der Heilsarmee vor den Wohnungen derer, für die der Ort von perversem Chic war, riemchenlose Jesuslatschen, aufgebockt in den Hinterhöfen der verkümmernden Hippiekultur, weite, bequem geschnittene Freizeitschuhe mit flauschigem Obermaterial und Schaumgummisohlen als Kennzeichen der Häuser von Immobilienmaklern und Ruheständlern, ramponierte Studententurnschuhe vor ramponierten Studentenwohnheimen, ein paar mit Troddeln verzierte Gucci-Slipper auf dem Rathausparkplatz sowie glänzende Westernstiefel und verspielte Ballerinas und Joggingschuhe im Flash-Gordon-Look auf den Zufahrten von Eltern, deren achtzehn- oder zwanzigjährige Sprösslinge noch zu Hause wohnten.

Gegen Ende der achtziger Jahre, kurz bevor die Nation das Tempo der Aufrüstung drosselte und die Banken in Massachusetts in Schieflage gerieten und das Wirtschaftswunder sich weniger als Wunder denn als Ironie und Schwindel entpuppte, tauchte eine neue Art von Automobilen in Somerville auf. Diese neuen Autos sahen aus, als wären sie durch Spritzguss erzeugt. Denn so, wie es Reebok und all seinen Nachahmerfirmen endlich gelungen war, echtes Leder vollkommen künstlich aussehen zu lassen, hatten Detroit und dessen überseeische Entsprechungen es geschafft, echtem Metall und echtem Glas die Anmutung von Plastik zu verleihen. Das wirklich Interessante an den neuen Autos war jedoch ihr Neusein. In einer Stadt, in der es jahrzehntelang der Regelfall gewesen war, dass ein Wagen bei seiner ersten Fahrt nach Hause den Preis in gelber Kreide auf der Windschutzscheibe stehen hatte, sah man plötzlich die Überreste von Aufklebern an den Fenstern hinten links. Nicht auf den Kopf gefallen, begannen die örtlichen Hausbesitzer bei Mieterwechseln den Mietpreis auf das Doppelte zu erhöhen, und Somerville, zu nah an Boston und Cambridge gelegen, um auf ewig ein Mieterparadies zu bleiben, hatte seine Unschuld verloren.

Louis hatte in einer Drei-Zimmer-Wohnung an der Belknap Street ein Zimmer, das ihm von einem an der Tufts University diplomierten Studenten der Psychologie vermietet wurde. Er hieß Toby und hatte Louis versprochen: «Unsere Wege werden sich niemals kreuzen.» Die Tür zu seinem Schlafzimmer stand offen, wenn Louis von der Arbeit nach Hause kam, stand immer noch offen, wenn er zu Bett ging, und war geschlossen, wenn er vor dem Morgengrauen im Dunkeln das Haus verließ. Die Fächer in Tobys Kühlschrank waren mit genuteten Kiefernbrettern senkrecht in zwei Hälften unterteilt. Auch die Badematte war aus Kiefernholz gefertigt, gut zur Fußpilzprophylaxe und zum Wundstoßen von Zehen. Die Möblierung des Wohnzimmers bestand aus zwei Sesseln mit breiten Armlehnen und einem Sofa, alles in Beige gepolstert, sowie einer ebenfalls beigefarbenen Schrankwand, die nichts weiter enthielt als Telefonbücher, ein Scrabble-Spiel, eine in einem Kunststofffuß steckende, beige schimmernde Miniaturvase aus garantiert echter VULKANASCHE VOM MOUNT ST.HELENS und Rechnungen für die Schrankwand und das übrige Mobiliar über insgesamt 1758,88 Dollar.

Louis hielt sich meistens in seinem Zimmer auf. In der dem Fenster gegenüberliegenden Wohnung besaß ein Paar in den Dreißigern ein Klavier und sang sich gern Arpeggien vor, während er sein Abendbrot aus Sandwiches, Karotten, Äpfeln, Keksen und Milch verzehrte. Später verstummte der Gesang, und er widmete sich einer eingehenden Lektüre des Boston Globe oder des Atlantic Monthly, von vorne bis hinten, keine einzige Zeile überspringend. Oder er saß mit übereinander geschlagenen Beinen vor seinem Fernseher und runzelte bei einem Baseballspiel – sogar einer Bierreklame – ebenso ernsthaft die Stirn, wie er es bei Kriegsberichterstattungen getan hätte. Oder er stand im grellen Lichtkegel der Deckenlampe und inspizierte die beigefarbenen Wände und die getäfelte Decke und den Holzfußboden seines Zimmers aus jedem nur denkbaren Blickwinkel. Oder er tat dasselbe in Tobys Zimmer.

Am Freitagabend, sobald die Polizei von Ipswich am Telefon mit ihm fertig gewesen und er nach Somerville zurückgefahren war, rief er Eileen an. «Du glaubst es nicht, was ich gerade in den Nachrichten gesehen habe», sagte Eileen. Was sie gesehen hatte, live übertragen von einer kleinen Videokamera, war der Rettungswagen, in dem die Leiche ihrer Stiefgroßmutter lag. Eileen meinte, sie habe das Erdbeben an ihrem Schreibtisch gespürt, ohne es als solches zu erkennen. Sie habe geglaubt, es seien vorbeifahrende Lkws. Sie sagte, es sei schon das zweite leichte Beben gewesen, das sie innerhalb von zwei Jahren in Boston gespürt habe.

Louis sagte, er habe nichts gespürt.

Eileen sagte, dass die Eltern wegen Ritas Tod am Sonntag mit dem Flugzeug nach Boston kommen und in einem Hotel absteigen würden.

«Sie geben Geld für ein Hotel aus?», fragte Louis.

Am nächsten Morgen ging er zum Drugstore an der Ecke, um Zeitungen zu kaufen. Es hatte die ganze Nacht hindurch geregnet, und die Wolken wirkten noch immer regenschwer, doch für einen Augenblick war der Himmel freundlicher geworden, und das Neonlicht im Laden hatte die gleiche Farbe und Helligkeit wie das Tageslicht draußen. Die Samstagsausgabe des Herald machte mit folgenden Schlagzeilen auf:

Das Beben hatte es auch auf die Titelseite des Globe geschafft (ERDSTOSS ERSCHÜTTERT CAPE ANN; EIN TODESOPFER), den Louis gleich auf dem Rückweg zu lesen begann. In die Lektüre vertieft, bemerkte er den groß gewachsenen alten Mann in Strickjacke und Gummistiefeln zunächst nicht, der seinen viertürigen Straßenschuh – ein amerikanisches Fabrikat – mit einem Frotteehandtuch polierte. Als er Louis kommen sah, trat er ihm in den Weg. «Na, beim Zeitunglesen?»

Louis stritt es nicht ab.

«John», stellte sich der gaffende Alte vor. «John Mullins. Ich weiß, dass Sie hier nebenan wohnen. Hab doch gesehen, wie Sie eingezogen sind. Ich wohne gleich hier im Erdgeschoss, seit dreiundzwanzig Jahren. Ich bin hier in Somerville geboren. John heiß ich. John Mullins.»

«Louis Holland.»

«Louis? Lou? Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie Lou nenne? Sie lesen da gerade übers Erdbeben.» Plötzlich sah der Alte aus, als hätte er in eine Zitrone oder ein faules Ei gebissen, er schnitt ein Gesicht wie im Fegefeuer. «Einfach schrecklich, das mit der alten Frau. Ganz schrecklich. Ich hab’s nämlich gespürt, wissen Sie. Ich war beim Foodmaster, wissen Sie, gleich hier um die Ecke, ein guter Laden ist das. Kaufen Sie auch dort ein? Ein guter Laden, aber was wollte ich eigentlich … ach ja, dass ich’s gespürt habe. Erst hab ich gedacht, es liegt an mir. Die Nerven, hab ich gedacht. Aber dann hab ich die Nachrichten gesehen, und was soll ich sagen, es war ein Erdbeben, ein leichtes Beben, so haben sie’s genannt. Gott sei Dank war es kein schweres, da können wir Gott nur danken. Was sind Sie, Student?»

«Nein», sagte Louis langsam, «ich bin beim Rundfunk. Ich arbeite für einen Rundfunksender.»

«Hier wohnen viele Studenten. Taffe Tuff-Studenten, haha. Ist ja gleich hier in der Straße. Nette junge Leute, finden Sie nicht auch? Gefällt’s Ihnen hier? Gefällt’s Ihnen in Somerville? Ich denke, es wird Ihnen gefallen. Hab ich schon erzählt, dass ich das Beben gespürt habe?» John Mullins schlug sich gegen die Stirn. «Na klar hab ich. Na klar.» Die Begegnung strengte ihn offensichtlich an. «Alles klar, Lou!» Er klopfte auf Louis’ Schulter und stolperte zurück zu seinem Wagen.

Als Louis ins Haus ging, legte der Sopran seiner Nachbarin gerade wieder mit den Arpeggien los, deren Grundtöne in chromatisch ansteigender Skala auf dem Klavier angeschlagen wurden. Er hockte sich auf den nackten Fußboden seines Zimmers und schlug die Zeitungen auf. «Verdammt», hörte er John Mullins draußen zu einem anderen Nachbarn sagen. «Es hieß doch, dass der Regen aufhört.»

Weder der Globe noch der Herald konnten ihre Freude darüber verbergen, dass es eine Tote gegeben hatte, Rita Kernaghan, die große Schlagzeilen für ein kleines, lokales Beben rechtfertigte. Der Erdstoß mit einer Stärke von 4,7 und einem Epizentrum südöstlich von Ipswich hatte sich um 16 Uhr 48 ereignet und weniger als zehn Sekunden gedauert. Die Sachschäden waren so gering, dass das Foto eines Mannes aus Ipswich, der an einem Riss in der Wand seines Frühstückszimmers herumfingerte, von beiden Zeitungen eines großformatigen Abdrucks für wert befunden wurde. Als das anspruchsvollere der beiden Blätter brachte der Globe außerdem eingekastelte Artikel über die Geschichte von Erdbeben in Boston, über die Geschichte von Erdbeben allgemein und über die Geschichte Bostons, ergänzt durch eine graphische Darstellung, deren Zeitachse (unter anderem) enthüllte, dass die beiden letzten erwähnenswerten Beben in Boston (1944 und 1953) mit dem Ende der zweiten beziehungsweise dritten Amtszeit von Henry Cabot Lodge jr. als Senator der Vereinigten Staaten von Amerika zusammengefallen waren.

Ein weiterer Kasten auf Seite 16 informierte über die jüngsten Aktivitäten eines protestantischen Geistlichen namens Philip Stites, der, wie der Globe zu berichten wusste, sechs Monate zuvor mit seiner «Kirche der christlichen Aktion» von Fayetteville, North Carolina, nach Boston übersiedelt war und es zu seinem Ziel erklärt hatte, «der Abtreibung in Massachusetts ein Ende zu bereiten». Seine Anhänger versammelten sich zu Mahnwachen vor Krankenhauseingängen, um gegen den Mord an Föten zu protestieren. Bekenner aus einunddreißig Bundesstaaten und Besitzungen waren am Freitagabend bei der nunmehr bereits dritten Demonstration durch die Innenstadt von Boston gezogen; in einem anschließenden Fernsehinterview sagte Stites, das Beben habe um ein Haar «das Epizentrum der Schlächterei» heimgesucht, womit er auf das Parlamentsgebäude des Staates Massachusetts anspielte. Gott selbst (Stites legte diesen Schluss nahe) habe seinen Zorn auf Massachusetts gerichtet. Wie die Kirche der christlichen Aktion, so werde auch Er nicht ruhen, bis das Gemetzel an den Ungeborenen ein Ende finde. «Sie müssen überall mit mir rechnen», sagte Stites.

«Ich war beim Foodmaster», sagte John Mullins in den Regen und die Arpeggien hinein. «Ich dachte, es wären die verdammten Nerven.»

Opfer war Schriftstellerin

Rita Damiano Kernaghan, das einzige Todesopfer des gestrigen Erdbebens in Ipswich, war in hiesigen New-Age-Zirkeln als Vortragsrednerin geschätzt und ist auch als Autorin von drei Büchern über esoterische Themen hervorgetreten. Sie wurde 68 Jahre alt.

Am bekanntesten wurde Kernaghan wahrscheinlich durch die Auseinandersetzung, die sie seit 1986 mit der Stadt Ipswich wegen eines pyramidenförmigen Aufsatzes geführt hatte, den sie auf dem Dach ihres Anwesens errichten ließ; sie bewohnte ein 1765 innerhalb der Gemeindegrenzen von Ipswich erbautes ehemaliges Bauernhaus, das 1823 unter Leitung von George Stonemarsh, einem führenden Architekten der nachrevolutionären Ära, erweitert worden war.

1987 kam die Bürgerversammlung von Ipswich zu dem Schluss, dass die Erteilung der Baugenehmigung für die Pyramide irrtümlich erfolgt war, worauf die Verwaltung die Einhaltung der Denkmalschutzgesetze durch Rückbau der Pyramide anordnete. Kernaghan reichte 1988 Klage gegen diesen Beschluss ein und lehnte später einen außergerichtlichen Vergleich ab, bei dem die Stadt die Kosten für die Entfernung der Pyramide und die Wiederherstellung des Bauzustands von 1823 übernommen hätte.

Kernaghan beharrte darauf, dass ihr Recht zur Errichtung der Pyramide – eine geometrische Form, der heilende und schützende Kräfte zugeschrieben werden – durch den Ersten Verfassungszusatz verbrieft und in der Trennung von Kirche und Staat begründet sei. Der Streit, der noch nicht rechtskräftig entschieden ist, hat in den New-Age-Kreisen nördlich von Boston wegen seines Stellenwerts als möglicher Präzedenzfall anhaltende Beachtung gefunden.

Kernaghan veröffentlichte die Bücher «Das Leben beginnt mit 60», «Kinder der Sterne» sowie den erst kürzlich erschienenen Band «Die Prinzessin von Italia». Sie war die Witwe des Bostoner Rechtsanwalts John Alfred Kernaghan und hinterlässt eine Stieftochter, Melanie Holland aus Cleveland.

Höher und höher arbeitete sich der Sopran die Tonleiter hinauf, eine aufwärts bohrende Schraube der Hysterie. Louis runzelte die Stirn, sein kleiner Finger lag auf dem Steg seiner Brille, sein Daumen am Kiefer, die übrigen Fingerspitzen tasteten nach dem Haaransatz. Das, wovon er seinen Blick nicht losreißen konnte, war der Name seiner Mutter. Nicht weil sie für den Globe noch immer in Cleveland lebte, sondern wegen der schieren, persönlichen, nachklingenden Gegenwart dieses Namens in Druckerschwärze auf Papier. Melanie Holland: das war seine Mutter, seltsam reduziert. Zwei Wörter in einer Bostoner Zeitung.

Mit nach wie vor gerunzelter Stirn und jetzt auch fröstelnd, als würden die hinter ihm gegen die Scheibe trommelnden Regentropfen ihre Kälte auf ihn abstrahlen, wandte er sich wieder dem eingekastelten Artikel über Reverend Philip Stites zu. «Die Tremont Street entlang», hieß es da, «und durch den Common bis vor die Stufen des Parlaments.» Die Tatsachen entsprachen dem, was Louis selbst von der Demonstration gesehen hatte – entsprachen dem ganz unmittelbar, weil der Artikel, wie Erinnerungen, wie Träume, ein Ereignis zu einem Bild verdichtete, das nicht vom Licht der Dämmerung und der Straßenlampen, sondern von einer eigenen Lichtquelle mitten im Dunkel seines Schädels beleuchtet wurde: Er sah es, weil er wusste, dass es genau so gewesen war, weil er wusste, dass sich die Dinge genau so zugetragen hatten. Und deshalb fand er, dass es an diesem Vormittag regnen musste. Der Regen war notwendig, um diesen Tag anders sein zu lassen, um jede Rückkehr zum gestrigen Nachmittag, zu der besonderen Stimmung von Atmosphäre und Licht, in der sich jene Demonstranten bewegt hatten, zu verhindern – die blaue, nördliche Klarheit des Lichts im Großraum Boston, als sich das Erdbeben ereignete. Der Regen machte den Morgen wirklich, machte ihn so unerschütterlich präsent, dass es schwer fiel zu glauben, es habe tatsächlich ein Beben stattgefunden, es sei etwas anderswo passiert als auf Papier.

An einer Wand des Zimmers waren die Kartons mit seiner Funkausrüstung aufgestapelt, die er gewissenhaft von Evanston nach Houston und von Houston nach Boston transportiert, aber nie ausgepackt hatte. Mit einem Fingernagel lockerte er das Klebeband, das den obersten Karton verschlossen hielt. Da verließ ihn die Kraft. Er taumelte zu seinem Futon, rutschte mit einem Fuß auf den ausgebreiteten Seiten des Globe aus, knallte auf den Boden und blieb, das Gesicht nach unten, liegen, bis die Arpeggien längst verklungen waren.

Am Sonntagabend traf er sich in einem Fischrestaurant am Hafen mit seiner Familie. Er war verblüfft, als er hörte, dass seine Mutter und Eileen ganz selbstverständlich annahmen, Rita Kernaghans tödlicher Sturz sei weniger eine Folge des Erdbebens als vielmehr des Alkohols gewesen, den sie zum fraglichen Zeitpunkt intus hatte. Immerhin hatten die beiden Rita gekannt und er nicht. Es hieß, sie sei von einem Barhocker gefallen, was nach einem geschmacklosen Scherz klang, aber offenkundig die nackte Wahrheit war. Am Mittwochmorgen sollte sie in aller Stille eingeäschert werden, schon für den Nachmittag desselben Tages war geplant, die Asche von einem Pier in Rockport aus zu verstreuen, und tags darauf war eine Trauerfeier zu ihrem Angedenken vorgesehen, für die sich Louis, das wurde von ihm erwartet, bei seinem Sender freinehmen sollte. Seine Mutter, die ihre Ungeduld mit der ganzen Leichen-Entsorgungsprozedur nur mühsam kaschieren konnte, sprach von der Trauerfeier immer nur als von «dieser Sache am Donnerstag».