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Affen und Menschen teilen noch heute 99 Prozent ihres genetischen Materials.Trotzdem ist es nur der Menschheit gelungen, kognitive Fähigkeiten auszubilden, die so komplexe Gebilde wie etwa sprachliche Kommunikation und soziale Organisationen, Hochleistungsindustrie und entsprechende Technologien hervorgebracht haben. Wie ist das möglich? Gestützt auf zahlreiche Experimente mit Primaten und Kleinkindern, entwickelt Michael Tomasello ein Modell des menschlichen Denkens, das diese Phänomene erklären kann, indem er kulturelle Vermittlung als biologischen Mechanismus begreift. Die Ausführung dieser zentralen These wirft ein neues Licht auf zahlreiche Disziplinen der Geistes- und Naturwissenschaften und zeigt die Verbindung dieser sonst so strikt getrennten »zwei Kulturen« im Licht der evolutionären Anthropologie auf. Michael Tomasello ist Kodirektor am Max- Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie und am Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum, beide in Leipzig.
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Seitenzahl: 425
Veröffentlichungsjahr: 2013
12Affen und Menschen teilen noch heute 99 Prozent ihres genetischen Materials. Trotzdem ist es nur der Menschheit gelungen, kognitive Fähigkeiten auszubilden, die so komplexe Gebilde wie sprachliche Kommunikation und symbolische Repräsentation, soziale Organisation und Institutionen, Hochleistungsindustrie und entsprechende Technologien hervorgebracht haben. Wie ist das möglich?
Gestützt auf zahlreiche Experimente mit Primaten und Kleinkindern, entwickelt der Anthropologe und Kognitionsforscher Michael Tomasello ein Modell des menschlichen Denkens, das diese Phänomene erklären kann, indem er kulturelle Vermittlung als biologischen Mechanismus begreift. Die Ausführung dieser zentralen These wirft ein neues Licht auf zahlreiche Disziplinen der Geistes- und Naturwissenschaften und zeigt die Verbindung dieser sonst so strikt getrennten »zwei Kulturen« im Licht der evolutionären Anthropologie auf.
Michael Tomasello ist Kodirektor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig.
Im Suhrkamp Verlag ist von ihm erschienen: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (2009) und Warum wir kooperieren (eu 36).
3Michael Tomasello Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens
Zur Evolution der Kognition
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp
4Titel der Originalausgabe:
The Cultural Origins of Human Cognition,
Harvard University Press, Cambridge (Mass.)/London
© 1999 by Michael Tomasello
Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-518-73221-2
www.suhrkamp.de
5Inhalt
Vorwort
7
1
Ein Rätsel und eine Vermutung
12
2
Biologische und kulturelle Vererbung
25
3
Gemeinsame Aufmerksamkeit und kulturelles Lernen
77
4
Sprachliche Kommunikation und symbolische Repräsentation
124
5
Sprachkonstruktionen und die Kognition von Ereignissen
173
6
Rede und repräsentationale Neubeschreibung
205
7
Kulturelle Kognition
253
Danksagung
273
Literatur
275
Register
298
67Vorwort
Ich möchte dem deutschen Leser dieses Buch anhand von zwei grundlegenden Dichotomien vorstellen, die ursprünglich von deutschen Gelehrten vorgeschlagen wurden und die eine wichtige Rolle im Denken des Abendlandes gespielt haben. Die erste ist eine methodologische Unterscheidung, die verschiedene Formen annimmt. Eine Form der Unterscheidung stammt von Wilhelm Wundt, dem Begründer der wissenschaftlichen Psychologie (1879 in Leipzig). Wundt teilte psychologische Phänomene in zwei Klassen ein: diejenigen, die im Labor mit den Methoden der Naturwissenschaften gemessen und quantifiziert werden können (z. B. Geschwindigkeit von Wahrnehmungsdiskriminationen, von Reaktionen etc.), und diejenigen, die einen kulturellen Ursprung haben und deshalb am besten durch sozialhistorische Methoden in ihrem natürlichen Umfeld untersucht werden (z. B. anhand historischer und kultureller Vergleiche). Wundt prägte für die Untersuchung dieser Phänomene den Begriff der Völkerpsychologie, die die Untersuchung aller kulturell verfaßten Phänomene und Artefakte, einschließlich der Sprache beinhaltete.1
Aber die Dinge haben sich als schwieriger erwiesen, und diese saubere Arbeitsteilung ließ sich einfach nicht durchführen. Betrachten wir zum Beispiel die Sprache. In der modernen Welt interdisziplinärer Wissenschaft werden von den Sprachwissenschaften sowohl experimentelle als auch sozialhistorische Methoden auf innovative Weisen angewendet. Manche Forscher betrachten z. B. die genetischen Grundlagen von Individuen, die eine bestimmte Sprache sprechen, und führen diese Information mit dem Wissen über die Sprachgeschichte und die gegenwärtige geographische Verteilung der Sprache zusammen, um Schlüsse auf verschiedene Aspekte der Vorgeschichte des Menschen zu ziehen. Ähnlich zeigen Forscher, die den Spracherwerb bei Kindern untersuchen, ein zunehmendes Interesse sowohl an histori8schen Prozessen der Grammatikalisierung (indem sie nach möglichen Gemeinsamkeiten dieser Prozesse suchen) als auch an den genetischen und neuronalen Grundlagen der Sprache (indem sie nach möglichen angeborenen Faktoren beim Spracherwerb suchen). Außerdem setzen sie Sprachvergleiche und experimentelle Methoden ein, um die psycholinguistischen Prozesse zu bestimmen, die kleine Kinder zu kompetenten Sprechern einer natürlichen Sprache machen. Auf vielen anderen Gebieten der Sozialwissenschaften werden ebenfalls experimentelle und sozialhistorische Methoden verwendet, um verschiedene Aspekte des sozialen und kulturellen Lebens zu verstehen. Meine Heimatinstitution in Wundts Leipzig (Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie) hat sich genau einem solchen interdisziplinären Unternehmen verschrieben.
Man könnte dafür argumentieren, daß die grundlegendere Form von Wundts Unterscheidung die Differenzierung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften sei. In diesem Fall scheinen die verschiedenen Methodologien, die mit diesen beiden Ausprägungen der Forschung verknüpft sind – grob gesagt, naturalistische (oder experimentelle) und hermeneutische (oder interpretative) Methoden –, zumindest in ihren extremen Erscheinungsformen noch weniger miteinander verträglich zu sein. Bekanntlich haben einige mehr geisteswissenschaftlich orientierte Denker betont, daß die Wissenschaft nur eine von vielen abendländischen Kulturinstitutionen ist und daß sie wie andere Kulturinstitutionen interpretative Dimensionen hat, die im Kontext dieser Kultur verstanden werden müssen. In manchen Fällen wurde nicht nur auf die Beschränkungen, sondern auch auf den verzerrenden Charakter der experimentellen Methode hingewiesen. Andererseits glauben viele Forscher mit einer stärker naturwissenschaftlichen Orientierung, daß die Probleme, die von den Geisteswissenschaften untersucht werden, schließlich auf physische Phänomene wie Gene, Neuronen und Hormone reduziert werden können, ohne daß etwas übrigbleibt, das durch Kulturprozesse erklärt werden könnte. Jeder Ansatz versucht also den anderen zu verdrängen.
Das vorliegende Buch läßt sich entlang dieser Dimension nicht 9so leicht einordnen. Sein Thema sind soziale und kulturelle Tätigkeiten des Menschen und ihre Rolle für die menschliche Kognition – klassische Forschungsthemen der Geisteswissenschaften. Zugleich stammen die verwendeten Methoden jedoch aus den Naturwissenschaften. Nahezu alle Forschungen, über die hier berichtet wird, verwenden die eine oder andere Form der experimentellen Methode, nach der Kinder und Menschenaffen als Naturerscheinungen aufgefaßt werden, die wie andere Naturerscheinungen auch zu untersuchen sind. Man findet darin keine »interpretierende Sozialwissenschaft« oder hermeneutische Methode. Auch wenn die Methoden, die bei diesen Forschungen verwendet werden, naturwissenschaftliche sind, versuche ich jedoch nicht, die menschliche Kognition und das gesellschaftliche Leben auf physische Dinge wie Gene oder Neuronen zu reduzieren. Tatsächlich lehne ich diese Art von Reduktionismus ausdrücklich ab. Man könnte die Sache folgendermaßen betrachten: Das Thema des vorliegenden Buches besteht darin, was Menschen dazu befähigt, überhaupt einen Interpretationsprozeß zu vollziehen, d. h. diejenige Art von Verstehen, die Dilthey und andere als wesentlich dafür ansahen, interpretierende Sozialwissenschaft zu betreiben (z. B. in der Lage zu sein, sich mit den Gedanken und Gefühlen von Menschen eines anderen Zeitalters zu identifizieren).2 Dieser Prozeß ist jedoch Gegenstand einer naturalistischen (aber nicht reduktionistischen) Untersuchung. Unsere Frage lautet, wie sich Verstehen als kognitive Fähigkeit während der Vorgeschichte und der Geschichte des Menschen zu einer wichtigen Dimension des menschlichen Denkens entwickelte und wie sich diese Fähigkeit heute während der Ontogenese in einer Generation von Kindern nach der anderen entwickelt. Ob das eine naturwissenschaftliche oder eine geisteswissenschaftliche Untersuchung ist, weiß ich nicht.
Die zweite wichtige Dichotomie ist weniger methodologisch, sondern von substantiellerer Natur. Es ist die Unterscheidung des Soziologen Ferdinand Tönnies zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft.3 Diese Unterscheidung ist für das vorliegende Buch 10deshalb von Bedeutung, weil das im Titel genannte Wort »kulturell« eine systematische Doppeldeutigkeit aufweist. Einerseits läßt es sich mehr im Sinne von Gesellschaft interpretieren. Wenn wir beispielsweise in unserer Umgangssprache von französischer Kultur sprechen, meinen wir oft solche Dinge wie französische Kunst, Literatur, Musik etc. Diese Dinge würde Tönnies zur Gesellschaft gerechnet haben, da sie Teil des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Kultur sind und oft eine kommerzielle Dimension haben. Sie stellen keinen notwendigen Bestandteil des menschlichen Soziallebens dar, sondern entwickelten sich ziemlich spät in der Evolution des Menschen. Kinder fangen erst an, diese Dinge zu verstehen und an ihnen teilzuhaben, wenn sie schon relativ alt sind. Andererseits läßt sich der Ausdruck »kulturell« im Titel des Buches mehr im Sinne von Gemeinschaft deuten – in der Tat ist er so gemeint –, d. h. im Sinne des Zusammenlebens und gegenseitigen Verstehens (und Mißverstehens), was die Grundlage allen menschlichen Soziallebens ausmacht. Gemeinschaft entstand vermutlich schon früh in der Evolution von Homo sapiens sapiens, und sie bildet einen Teil des gegenwärtigen menschlichen Lebens vom Säuglingsalter an.
Unsere These ist gewiß nicht, daß die Gesellschaft für grundlegende Aspekte menschlicher Kognition verantwortlich ist, obwohl sie wahrscheinlich für einige der komplexeren Aspekte Verantwortung trägt, die in manchen Gesellschaften nach der Agrarrevolution vor etwa 10000 Jahren auftraten (einschließlich des Auftauchens von Schreib-, Lese- und Rechenfertigkeiten). Unsere These ist vielmehr, daß die menschliche Kognition aufgrund der menschlichen Gemeinschaft so ist, wie sie ist, d. h. aufgrund jener besonderen Form soziokultureller Interaktion und Organisation (jener traditionellen Lebensweise), die sich bei keiner anderen Art auf diesem Planeten findet. Die menschliche Gemeinschaft stellte die adaptive Umgebung dar, in der sich die menschliche Kognition phylogenetisch entwickelte. Ohne diese Umgebung würde nach der vorliegenden Auffassung die menschliche Kognition mehr Ähnlichkeit mit der Kognition von Menschenaffen haben.
Die Praktiken von Wissenschaftlern bilden die Gemeinschaft 11der Wissenschaft, und in der modernen Welt passen diese Praktiken nicht sauber in die Schubfächer unserer etablierten und akademischen Gesellschaft. Die meisten der wirklich innovativen intellektuellen Arbeiten sind heutzutage interdisziplinär, und zwar sowohl was die Fragen angeht als auch im Hinblick auf die verwendeten Methoden. Die Kulturinstitutionen, die die Wissenschaft unterstützen, sowie das öffentliche Verständnis von Wissenschaft müssen sich dieser neuen Wirklichkeit anpassen, wenn sie die Wissenschaft des 21. Jahrhunderts verstehen und an ihr teilhaben wollen.
Michael Tomasello
Leipzig, März 2002
1
Wundt, 1900–1909.
2
Dilthey, 1990.
3
Tönnies, 1935.
121 Ein Rätsel und eine Vermutung
Die großen Errungenschaften des Geistes übersteigen sämtlich die Kräfte einzelner Individuen.
Charles Sanders Peirce
Irgendwo in Afrika wurde vor etwa sechs Millionen Jahren eine Population von Menschenaffen durch ein unscheinbares Evolutionsereignis von ihren Artgenossen reproduktiv isoliert. Diese neue Gruppe entwickelte sich fort und teilte sich in weitere Gruppen auf, so daß schließlich verschiedene Arten eines zweibeinigen Affen der Gattung Australopithecus entstanden. Alle bis auf eine dieser neuen Arten starben dann aus. Diese eine Art überlebte bis vor zwei Millionen Jahren und hatte sich in der Zwischenzeit so sehr verändert, daß sie nicht nur nach einer neuen Art-, sondern auch nach einer neuen Gattungsbezeichnung verlangte, nämlich Homo. Im Vergleich mit seinen australopithezinen Vorfahren, die etwa 1,20 m groß waren, Gehirne mit einer anderen Affen vergleichbaren Größe hatten und keine Steinwerkzeuge herstellten, war Homo größer, hatte ein größeres Gehirn und machte Werkzeuge aus Stein. Schon bald begann Homo seine weite Reise über den Globus anzutreten, obwohl es keinem seiner frühen Raubzüge von Afrika aus gelang, Populationen zu etablieren, die dauerhaft überlebten.
Vor ungefähr 200000 Jahren und noch immer in Afrika schlug dann eine Population von Homo eine neue und andere Entwicklungslinie ein. Diese Population begründete zunächst eine neue Lebensweise in Afrika selbst und breitete sich dann über die ganze Welt aus, wobei sie alle anderen Populationen von Homo verdrängte und Nachkommen hinterließ, die heute als Homo sapiens bekannt sind (vgl. Abbildung 1.1). Die Angehörigen dieser neuen Art hatten verschiedene neue Körpereigenschaften, darunter etwas größere Gehirne. Aber am auffälligsten waren ihre neuen kognitiven Fertigkeiten und die Gegenstände, die sie herstellten:
13• Sie begannen mit der Herstellung einer Vielzahl neuer Steinwerkzeuge, die jeweils besonderen Zwecken angepaßt wurden, wobei jede Population dieser Art ihre eigene »Industrie« des Werkzeuggebrauchs schuf – mit dem Ergebnis, daß einige Populationen schließlich so etwas wie computergesteuerte Produktionsprozesse erfanden.
• Sie begannen mit der Verwendung von Symbolen zur Kommunikation und zur Strukturierung ihres Soziallebens, unter denen sich nicht nur
Abbildung 1.1 Eine vereinfachte Darstellung des zeitlichen Maßstabs menschlicher Evolution.
14sprachliche, sondern auch künstlerische Symbole in Form von Steingravuren und Höhlenzeichnungen fanden – was schließlich darin mündete, daß einige Populationen Schrift, Geld, mathematische Notationen und Kunst erfanden.
• Sie gründeten neue Arten gesellschaftlicher Praktiken und Organisationen, die alles mögliche – von der zeremoniellen Bestattung der Toten bis zur Domestizierung von Pflanzen und Tieren – umfaßten, so daß einige Populationen schließlich formalisierte Institutionen der Religion, der Regierung, des Erziehungswesens und des Handels schufen.
Das Grundrätsel besteht nun in folgendem: Die sechs Millionen Jahre, die uns Menschen von anderen Menschenaffen trennen, sind, evolutionär betrachtet, eine sehr kurze Zeitspanne, vor allem im Hinblick darauf, daß der moderne Mensch mit dem Schimpansen ungefähr 99 Prozent des genetischen Materials teilt. Es handelt sich dabei um denselben Grad von Verwandtschaft wie zwischen anderen eng verwandten Gattungen, z. B. zwischen Löwen und Tigern, Pferden und Zebras oder Ratten und Mäusen.1 Unser Problem ist also ein zeitliches. Es stand einfach nicht genügend Zeit für normale biologische Evolutionsprozesse, wie genetische Variation und natürliche Selektion, zur Verfügung, um Schritt für Schritt jede der kognitiven Fertigkeiten zu erzeugen, die es modernen Menschen ermöglichen, komplexe Werkzeuggebräuche und Technologien, komplexe Formen der Kommunikation und Repräsentation durch Symbole und komplexe gesellschaftliche Organisationen und Institutionen zu erfinden und aufrechtzuerhalten. Dieses Rätsel wird nur noch geheimnisvoller, wenn wir gegenwärtige Forschungsergebnisse aus der Paläoanthropologie ernst nehmen, aus denen hervorgeht, daß (a) die Entwicklungslinie des Menschen außer in den letzten zwei Millionen Jahren keine weiteren als nur die für Menschenaffen typischen Fertigkeiten aufweist, und (b) die ersten dramatischen Anzeichen für einzigartige kognitive Fertigkeiten erst in den letzten 250000 Jahren mit dem modernen Homo sapiens auftreten.2
Dieses Rätsel hat nur eine einzige mögliche Lösung. Das heißt, 15es gibt nur einen einzigen bekannten, biologischen Mechanismus, der diese Veränderungen im Verhalten und der Kognition in so kurzer Zeit hervorbringen könnte, ob man diese Zeit nun mit sechs Millionen, zwei Millionen oder 250000 Jahren veranschlagt. Dieser biologische Mechanismus besteht in der sozialen oder kulturellen Weitergabe, die auf einer um viele Größenordnungen schnelleren Zeitskala operiert als die Prozesse der organischen Evolution. Im allgemeinen ist die kulturelle Weitergabe ein beinahe gewöhnlicher Evolutionsprozeß, der einzelnen Organismen hilft, viel Zeit und Mühe und vor allem Risiken einzusparen, indem sie das bereits vorhandene Wissen und die Fertigkeiten ihrer Artgenossen nutzen. Kulturelle Weitergabe beinhaltet solche Dinge wie, daß flügge gewordene Vögel den arttypischen Gesang ihrer Eltern imitieren, Rattenjunge nur diejenige Nahrung fressen, die ihre Mütter fressen, Ameisen dadurch Nahrung lokalisieren, daß sie den Pheromonspuren ihrer Artgenossen folgen, junge Schimpansen den Gebrauch von Werkzeugen von den sie umgebenden Erwachsenen lernen und Menschenkinder die sprachlichen Konventionen von anderen in ihren jeweiligen sozialen Gruppen erwerben.3 Trotz der Tatsache, daß sich alle diese Prozesse unter die allgemeine Rubrik kultureller Weitergabe subsumieren lassen, sind doch die genauen Mechanismen des Verhaltens und der Kognition, die in den einzelnen Fällen beteiligt sind, zahlreich und verschiedenartig. Sie beinhalten alles Mögliche vom Auslösen starrer Verhaltensmuster der Nachkommen durch die Eltern bis zur Weitergabe von Fertigkeiten durch Imitationslernen und Unterricht – was die Möglichkeit signifikanter Unterarten von Prozessen kultureller Weitergabe plausibel macht.4 Eine naheliegende Vermutung ist demnach, daß der erstaunliche Satz kognitiver Fertigkeiten und Produkte, den man beim modernen Menschen findet, das Ergebnis einer einzigartigen Weise kultureller Weitergabe ist.
Es gibt überwältigende Belege dafür, daß Menschen tatsächlich einzigartige Formen kultureller Weitergabe benutzen. Insbesondere verändern sich die menschlichen kulturellen Tradi16tionen und Artefakte über die Zeit in einer Weise, die man bei anderen Tierarten nicht antrifft – die sogenannte kumulative kulturelle Evolution. Im Grunde wurden keine der komplexesten Artefakte oder sozialen Praktiken des Menschen, einschließlich der Werkzeugherstellung, der symbolischen Kommunikation und der sozialen Institutionen, ein für allemal zu einem einzigen Zeitpunkt von einem einzelnen oder einer Gruppe von Individuen erfunden. Vielmehr war es so, daß ein Individuum oder eine Gruppe zunächst eine primitive Version des jeweiligen Artefakts oder der betreffenden Praxis erfand und spätere Benutzer eine Veränderung oder »Verbesserung« einführten, die dann von anderen manchmal unverändert viele Generationen lang übernommen wurde. Dieser Prozeß, der manchmal »Wagenhebereffekt« (ratchet effect) genannt wird, setzte sich über einen historischen Zeitraum fort.5 Der Vorgang kumulativer kultureller Evolution erfordert nicht nur Erfindungsgabe, sondern auch und ebenso sehr zuverlässige soziale Weitergabe, die ähnlich wie ein Wagenheber das Zurückfallen verhindern kann, so daß das gerade erst erfundene Artefakt oder die soziale Praktik die neue und verbesserte Form einigermaßen zuverlässig beibehält, bevor eine weitere Modifikation oder Verbesserung hinzukommt. Es überrascht vielleicht, aber bei vielen Tierarten ist es nicht die Komponente der Erfindung, sondern die stabilisierende »Wagenheberkomponente«, deren Fehlen eine Fortentwicklung verhindert. So bringen nichtmenschliche Primaten zwar regelmäßig intelligente Verhaltensneuerungen hervor, aber die anderen Gruppenmitglieder durchlaufen dann nicht diejenigen Arten sozialer Lernprozesse, die über die Zeit hinweg den kulturellen Wagenhebereffekt realisieren würden.6
Die grundlegende Tatsache besteht also darin, daß Menschen die Fähigkeit besitzen, ihre kognitiven Ressourcen in einer Weise zu bündeln, die anderen Tierarten abgeht. Dementsprechend haben Tomasello, Kruger und Ratner (1993) das menschliche kulturelle Lernen von weiter verbreiteten Formen des sozialen Lernens unterschieden und drei Grundtypen identifiziert: Imita17tionslernen, Lernen durch Unterricht und Lernen durch Zusammenarbeit. Diese drei Typen kulturellen Lernens werden durch eine einzige besondere Form sozialer Kognition ermöglicht, nämlich durch die Fähigkeit einzelner Organismen, ihre Artgenossen als ihnen ähnliche Wesen zu verstehen, die ein intentionales und geistiges Leben haben wie sie selbst. Dieses Verständnis ermöglicht es ihnen, sich in die geistige Welt einer anderen Person hineinzuversetzen, so daß sie nicht nur vom anderen, sondern auch durch den anderen lernen können. Diese Auffassung anderer als intentionale Wesen, die einem selbst ähnlich sind, ist entscheidend für das kulturelle Lernen des Menschen, weil kulturelle Artefakte und soziale Praktiken, deren prototypische Beispiele im Werkzeuggebrauch und in sprachlichen Symbolen bestehen, stets über sich hinaus auf andere Entitäten verweisen: Werkzeuge weisen auf die Probleme hin, die sie lösen sollen, und sprachliche Symbole verweisen auf die kommunikativen Situationen, die sie repräsentieren sollen. Um den konventionellen Gebrauch eines Werkzeugs oder Symbols von anderen zu erlernen, müssen Kinder daher zu einem Verständnis dessen gelangen, wozu, d. h. zu welchem äußeren Zweck, der andere das Werkzeug oder Symbol verwendet; das bedeutet, sie müssen die intentionale Bedeutung des Werkzeuggebrauchs oder der symbolischen Praxis verstehen lernen, wozu sie »gut« ist, was »wir«, die Benutzer dieses Werkzeugs oder Symbols, damit tun.
Kulturelle Lernprozesse sind besonders wirksame Formen des sozialen Lernens, weil sie sowohl (a) besonders zuverlässige Formen der kulturellen Weitergabe darstellen (indem sie einen besonders effizienten kulturellen »Wagenheber« schaffen) als auch (b) besonders wirkungsvolle Formen sozialer Kreativität und von Erfindungsreichtum sind. Es handelt sich um Prozesse der Soziogenese, durch welche mehrere Individuen etwas zusammen hervorbringen, was kein Individuum hätte alleine schaffen können. Diese besondere Wirksamkeit beruht unmittelbar auf folgender Tatsache: Wenn ein Mensch etwas »durch« einen anderen lernt, identifiziert er sich mit diesem anderen und seinen intentionalen und geistigen Zuständen. Trotz verschiedener Beobachtungen, die nahelegen, daß manche nichtmenschliche Pri18maten manchmal in der Lage sind, ihre Artgenossen als intentionale Akteure zu verstehen und von ihnen auf Weisen zu lernen, die an bestimmte Formen kulturellen Lernens erinnern, spricht die überwältigende Mehrzahl empirischer Belege dafür, daß nur Menschen ihre Artgenossen als intentionale Akteure wie sich selbst verstehen, und somit nur Menschen kulturelle Lernprozesse vollziehen (vgl. Kapitel 2).7 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, daß es ein ganz bestimmtes und biologisch begründetes Syndrom in der menschlichen Ontogenese gibt, nämlich den Autismus, bei dem die besonders stark betroffenen Personen weder in der Lage sind, andere Menschen als intentional-geistige Akteure wie sich selbst zu verstehen, noch die Fähigkeit zu arttypischem kulturellen Lernen haben.8
Die vollständige Reihe angenommener Evolutionsereignisse sieht folgendermaßen aus: Menschen entwickelten eine neue Form sozialer Kognition, die bestimmte neue Formen kulturellen Lernens ermöglichte, wodurch bestimmte neue Prozesse der Soziogenese und eine kumulative kulturelle Evolution möglich wurden. Ein solches Szenario löst unser Problem des knappen Zeitraums, weil es nur eine einzige biologische Anpassung erfordert, die zu jeder Zeit während der Evolution des Menschen, d. h. auch in jüngster Zeit, auftreten konnte. Die kulturellen Prozesse, die diese eine Anpassung in Gang setzte, brachten neue kognitive Fertigkeiten nicht aus dem Nichts hervor, sondern gründeten vielmehr auf den bestehenden individuellen kognitiven Fertigkeiten, wie z. B. auf solchen, die die meisten Primaten für die Orientierung im Raum und den Umgang mit Gegenständen, Werkzeugen, Quantitäten, Kategorien, sozialen Beziehungen, Kommunikation und sozialem Lernen besitzen, und transformierten sie in neue, kulturell basierte kognitive Fertigkeiten mit einer sozial-kollektiven Dimension. Diese Transformationen fanden nicht in einem evolutionären, sondern in einem historischen Zeitrahmen statt, in dem sich über einige tausend Jahre hinweg viele Veränderungen vollziehen können.
19Die kumulative kulturelle Evolution erklärt also viele der beeindruckendsten kognitiven Errungenschaften des Menschen. Um jedoch die Rolle der kulturell-historischen Prozesse für die Herausbildung moderner menschlicher Kognition völlig zu verstehen, müssen wir berücksichtigen, was während der Ontogenese des Menschen geschieht. Von besonders großer Bedeutung ist die Tatsache, daß die kumulative kulturelle Evolution den Vollzug der kognitiven Ontogenese des Menschen in einer Umgebung immer neuer Artefakte und sozialer Praktiken gewährleistet, die in jedem Zeitabschnitt das gesamte kollektive Wissen der ganzen sozialen Gruppe über ihre Kulturgeschichte hinweg ausmachen. Ab einem Alter von etwa neun Monaten sind Kinder in der Lage, voll an diesem kognitiven Kollektiv zu partizipieren, wenn sie die ersten Versuche unternehmen, ihre Aufmerksamkeit gemeinsam mit ihren Artgenossen auf etwas Bestimmtes zu lenken und von diesen durch Imitation zu lernen (vgl. Kapitel 3). Diese neu auftretenden Tätigkeiten der gemeinsamen Aufmerksamkeitslenkung sind nichts anderes als die ontogenetische Manifestation der einzigartigen sozio-kognitiven Anpassung des Menschen für die Identifikation mit anderen, wodurch diese als intentionale Akteure wie das eigene Selbst verstanden werden. Die neuartige Verstehensleistung und die neuen Tätigkeiten bilden also die Grundlage für das ursprüngliche Eindringen der Kinder in die Welt der Kultur. Durch diesen Prozeß kann jedes Kind, das seine Artgenossen als intentionale und geistbegabte Wesen gleich ihm selbst auffaßt, d. h. jedes Kind, das einen sozio-kognitiven Schlüssel für die geschichtlich gereiften Errungenschaften seiner sozialen Gruppe besitzt, nun an dem Kollektiv der menschlichen Kognition teilhaben und folglich (wie Isaac Newton) sagen, daß es nur deshalb so weit sieht, weil es »auf den Schultern von Riesen« steht. Diese arttypische Situation können wir insbesondere mit folgenden beiden Abweichungen kontrastieren:
• Autistische Kinder, die inmitten von kumulativen kulturellen Errungenschaften aufwachsen, aber nicht in der Lage sind, das in ihnen verkörperte kollektive Wissen zu nutzen, weil sie aus biologischen Gründen 20nicht über die erforderlichen sozio-kognitiven Fertigkeiten verfügen; und
• ein imaginäres wildes Kind, das auf einer einsamen Insel mit normalem Gehirn, Körper und Sinnesorganen aufwächst, aber keinen Zugang zu Werkzeugen, anderen materiellen Artefakten, Sprache, graphischen Symbolen, Schrift, arabischen Zahlzeichen, Bildern oder Menschen hat, die es unterrichten könnten, deren Verhalten es beobachten und imitieren oder mit denen es kooperieren könnte.
Für das autistische Kind existieren kognitive Schultern, auf denen es jedoch nicht stehen kann, während für das imaginäre wilde Kind solche Schultern fehlen. In beiden Fällen ist das Ergebnis dasselbe bzw. würde es dasselbe sein, nämlich etwas anderes als die Herausbildung arttypischer kognitiver Fertigkeiten.
Das Aufwachsen in einer kulturellen Welt hat jedoch weitergehende kognitive Implikationen. In einer kulturellen Welt aufzuwachsen, von dem sozio-kognitiven Schlüssel Besitz zu ergreifen, der den Zugang zu dieser Welt ermöglicht, bringt die Bildung einzigartiger Formen kognitiver Repräsentation mit sich. In diesem Prozeß benutzen Kinder ihre kulturellen Fertigkeiten des Lernens dazu, sprachliche und andere kommunikative Symbole zu erwerben. Sprachliche Symbole sind besonders wichtige symbolische Artefakte für in der Entwicklung begriffene Kinder, weil sie die verschiedenen Weisen der Kategorisierung und Auffassung der Welt zum Zweck zwischenmenschlicher Kommunikation verkörpern, die frühere Generationen von Menschen nützlich fanden. In verschiedenen Kommunikationssituationen kann z. B. ein und dasselbe Objekt als Hund, Tier, Haustier oder als Plage aufgefaßt werden; ein und dasselbe Ereignis kann als laufen, sich bewegen, fliehen oder als überlebensdienliche Handlung verstanden werden; ein und derselbe Ort läßt sich als Küste, Ufer, Strand oder Sand auffassen, wobei jede solcher Auffassungen von den Kommunikationszielen des Sprechers abhängt. Wenn das Kind die sprachlichen Symbole seiner Kultur zu beherrschen lernt, erwirbt es dadurch die Fähigkeit, vielfältige Perspektiven auf ein und dieselbe Wahrnehmungssituation einzunehmen. Als perspektivenbasierte, kognitive Repräsentationen beruhen also sprachliche Symbole nicht auf der Registrierung unmittelbarer 21sensorischer oder motorischer Erfahrungen, wie es bei den kognitiven Repräsentationen anderer Tierarten oder bei Kleinkindern der Fall ist. Vielmehr gründen sie in den verschiedenen Kategorisierungen, die Individuen aus einer gewissen Anzahl von Möglichkeiten auswählen, welche durch die anderen verfügbaren sprachlichen Symbole verkörpert sind, die sie ebenfalls wählen könnten. Sprachliche Symbole befreien somit die menschliche Kognition von der unmittelbaren Wahrnehmungssituation nicht einfach dadurch, daß sie eine Bezugnahme auf Dinge außerhalb dieser Situation ermöglichen (»Verschiebung«),9 sondern vielmehr durch die Ermöglichung verschiedenartiger, gleichzeitiger Repräsentationen aller vorstellbaren Wahrnehmungssituationen.
Wenn Kinder später im Umgang mit ihrer Muttersprache erfahrener werden, eröffnen sich zusätzliche Möglichkeiten für die verschiedenartige Auffassung von Dingen. Natürliche Sprachen enthalten z. B. kognitive Ressourcen für die Einteilung der Welt in Ereignisse und Dinge, die an diesen beteiligt sind und die unterschiedliche Rollen in diesen Ereignissen spielen können, und für die Bildung abstrakter Kategorien von Ereignis- und Dingtypen. Darüber hinaus stellen natürliche Sprachen kognitive Ressourcen für die Auffassung ganzer Ereignisse und Situationen in Begriffen anderer Ereignisse und Situationen bereit, d. h. für die Bildung der verschiedenen Arten von Analogien und Metaphern, die für die Kognition des Erwachsenen von so großer Bedeutung sind, wie z. B. die Auffassung des Atoms als eines Sonnensystems, der Liebe als einer Reise oder des Zorns als Hitze (vgl. Kapitel 5).10 Außerdem versetzen die wachsenden Fertigkeiten zu sprachlicher Kommunikation Kinder in die Lage, an komplexen Diskursinteraktionen teilzunehmen, in denen die explizit symbolisierten Perspektiven der Interagierenden aufeinanderstoßen und deshalb ausgehandelt und zu einem Entschluß gebracht werden müssen. Diese besonderen Arten der Interaktion können Kinder dazu veranlassen, mit der Konstruktion einer Theorie des Geistes ihrer Kommunikationspartner zu 22beginnen. In manchen Sonderfällen pädagogischer Rede können sie die Anweisungen der Erwachsenen verinnerlichen und so beginnen, sich selbst zu steuern und auf ihr eigenes Denken zu reflektieren, was möglicherweise zu bestimmten Arten von Metakognition und repräsentationaler Neubeschreibung führt.11 Die Verinnerlichung sprachlicher Interaktionen, an denen mehrere konfligierende Perspektiven beteiligt sind, kann sogar mit bestimmten Typen von spezifisch menschlichen, dialogischen Denkprozessen identifiziert werden.12
Im vorliegenden Buch, dessen Inhalt ich auf den letzten Seiten skizziert habe, versuche ich, bestimmte Details dieser Hauptargumentationslinie auszuführen. Meine spezifische Hypothese besteht darin, daß menschliche Kognition ihre arteigentümlichen Eigenschaften aufgrund folgender Faktoren aufweist:
• Phylogenetisch: Der moderne Mensch entwickelte die Fähigkeit, sich mit seinen Artgenossen zu »identifizieren«, was dazu führte, daß er sie als intentionale und geistbegabte Wesen wie sich selbst auffaßte.
• Historisch: Dadurch wurden neue Formen des kulturellen Lernens und der Soziogenese möglich, die kulturelle Artefakte und Verhaltenstraditionen hervorbrachten, in denen sich Veränderungen über eine historische Zeitspanne hinweg akkumulieren.
• Ontogenetisch: Kinder wachsen inmitten dieser sozial und historisch gebildeten Artefakte und Traditionen auf, was sie in die Lage versetzt, (a) von dem akkumulierten Wissen und den Fertigkeiten ihrer sozialen Gruppen zu profitieren; (b) perspektivenbasierte kognitive Repräsentationen durch sprachliche Symbole (und Analogien und Metaphern, die auf der Grundlage dieser Symbole konstruiert werden können) zu erwerben und zu nutzen; (c) bestimmte Typen von Diskursinteraktionen als Fertigkeiten zur Metakognition, repräsentationaler Neubeschreibung und dialogischem Denken zu verinnerlichen.
Ich möchte gleich zu Beginn betonen, daß sich mein Augenmerk nur auf diejenigen Aspekte menschlicher Kognition richtet, die für den Menschen einzigartig sind. Gewiß wird menschliche Kognition in großem Maß durch Faktoren bestimmt, die als Kapitelüberschriften in traditionellen Lehrbüchern der Kogni23tionspsychologie erscheinen: Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Kategorisierung und so weiter. Aber das sind alles kognitive Prozesse, die Menschen mit anderen Primaten teilen.13 Die Theorie, die ich hier vorstelle, setzt sie einfach voraus und richtet sich dann im Sinne Vygotskijs auf die verschiedenen Arten evolutionärer, historischer und ontogenetischer Prozesse, die diese grundlegenden Fertigkeiten in die besondere Art von Primatenkognition transformiert haben, die menschliche Kognition darstellt. Ich möchte ebenfalls betonen, daß ich die biologischen und historischen Prozesse, die an der Evolution menschlicher Kognition beteiligt sind, nur kurz und eher indirekt behandeln werde, und zwar hauptsächlich deshalb, weil die interessanten Ereignisse in der evolutionär und historisch weit zurückliegenden Vergangenheit stattfanden, und wir nur wenige Anhaltspunkte darüber haben (Kapitel 2). Andererseits werde ich ausführlicher auf die kognitive Ontogenese eingehen, über die wir durch jahrzehntelange Beobachtung und Experimente einiges in Erfahrung gebracht haben, und auf diejenigen Prozesse, mit denen Kinder sowohl ihr biologisches als auch ihr kulturelles Erbe aktiv nutzen (Kapitel 3–6).
Leider wird meine Argumentation im gegenwärtigen intellektuellen Klima von einigen Theoretikern als eine im wesentlichen genetische angesehen werden: Die für Menschen kennzeichnende sozio-kognitive Anpassungsleistung sei eine Art »Wundermittel«, die Menschen von anderen Primatenarten unterscheidet. Aber das ist ein Irrtum, der im Grunde den ganzen sozio-kulturellen Aufwand ignoriert, der von einzelnen und Gruppen sowohl innerhalb des historischen als auch innerhalb des ontogenetischen Zeitrahmens geleistet werden muß, damit die spezifischen kognitiven Fertigkeiten und Leistungen des Menschen zustande kommen. Vom historischen Standpunkt aus ist eine viertel Million Jahre eine sehr lange Zeit, in der auf kulturellem Gebiet vieles erreicht werden kann. Und jeder, der Erfahrung mit kleinen Kindern hat, weiß, wie viele Lernepisoden im Laufe einiger Jahre oder sogar in einigen Tagen oder Stunden 24stattfinden können. Jede ernsthafte Erforschung menschlicher Kognition muß daher eine Darlegung dieser historischen und ontogenetischen Prozesse beinhalten, die zwar durch die biologische Anpassung des Menschen an eine besondere Art von sozialer Kognition ermöglicht, aber keineswegs dadurch determiniert werden. In der Tat besteht mein Hauptargument in diesem Buch darin, daß es diese Prozesse sind, und nicht direkt spezialisierte biologische Anpassungen, die die Hauptlast bei der Hervorbringung vieler, wenn nicht gar aller charakteristischen und wichtigsten kognitiven Leistungen und Prozesse der Spezies Homo sapiens tragen. Wenn wir diese Prozesse ernst nehmen, werden wir nicht nur in der Lage sein, die universalen Merkmale der spezifisch menschlichen Kognition zu erklären, wie z. B. das Herstellen und den Gebrauch von materiellen, symbolischen und institutionellen Artefakten, in denen sich Geschichte akkumuliert, sondern auch die Besonderheiten einzelner Kulturen, von denen jede ihrerseits durch dieselben historischen und ontogenetischen Prozesse eine Vielfalt kulturell spezifischer kognitiver Fertigkeiten und Leistungen während der letzten paar zehntausend Jahre entwickelt hat.
1
King und Wilson, 1975.
2
Foley und Lahr, 1977; Klein, 1989; Stringer und McKie, 1996.
3
Mundinger, 1980; Heyes und Galef, 1996.
4
Tomasello, 1990; 1994.
5
Tomasello, Kruger und Ratner, 1993.
6
Kummer und Goodall, 1985.
7
Tomasello, 1996b; 1998; Tomasello und Call, 1997.
8
Hobson, 1993; Baron-Cohen, 1993; Sigman und Capps, 1997; Carpenter und Tomasello, 2000.
9
Hockett, 1960.
10
Lakoff, 1987; Gentner und Markman, 1997.
11
Karmiloff-Smith, 1992.
12
Vygotskij, 1992.
13
Tomasello und Call, 1997; Tomasello, 1998.
252 Biologische und kulturelle Vererbung
Es ist keineswegs ungewöhnlich, daß das Ergebnis eines bestimmten Prozesses zur weiteren Entwicklung dieses Prozesses beiträgt oder zu einem entscheidenden Faktor innerhalb seiner wird.
George Herbert Mead
Evolution durch natürliche Selektion ist die grundlegende Tatsache, von der die ganze organische Welt beherrscht wird. Ein Schlüsselelement in diesem Prozeß ist die biologische Vererbung, durch die ein Organismus den Grundbauplan seiner Vorfahren zusammen mit dessen Implikationen für die Funktionen der Wahrnehmung, Kognition und des Verhaltens erbt. Bei allen Säugetierarten, einschließlich aller Primatenarten, vollzieht sich jedoch die Ontogenese, durch die dieser Bauplan verwirklicht wird, während der Interaktion des Organismus mit seiner Umwelt. Die relativ lange Zeit der Unreife, in die diese Interaktion fällt, ist natürlich eine sehr riskante Strategie in der Geschichte des Lebens, da die Nachkommen während dieser Zeit im Hinblick auf Schutz und Nahrung völlig von einem oder beiden Elternteilen abhängig sind. Der kompensierende Vorteil einer langen Reifungsperiode liegt jedoch darin, daß dadurch Pfade der ontogenetischen Entwicklung ermöglicht werden, die typischerweise flexiblere Anpassungen der Kognition und des Verhaltens zum Ergebnis haben. Flexible Anpassungen der Kognition und des Verhaltens, die eng auf die lokale Umgebung abgestimmt sind, sind besonders nützlich für Organismen, die in unterschiedlichen Umweltnischen leben oder deren Umweltnischen sich relativ schnell verändern.
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