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Die Entstehung der menschlichen Moral gehört zu den großen Rätseln der Wissenschaft. Gestützt auf jahrzehntelange empirische Forschungen, rekonstruiert Michael Tomasello die Entwicklung des einzigartigen menschlichen Sinns für Werte und Normen als einen langfristigen Prozess. Dieser beginnt vor einigen hunderttausend Jahren, als die frühen Menschen gemeinsame Sache machen mussten, um zu überleben; und er endet beim modernen, ultrakooperativen homo sapiens sapiens. Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral ist der derzeit wohl umfassendste Versuch zu verstehen, wie wir das geworden sind, was nur wir sind: genuin moralische Wesen.
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2016
Die Evolution des menschlichen Moralbewußtseins gehört zu den großen Rätseln der Wissenschaft. Es hat die Phantasie von Generationen von Forschern beflügelt, zahlreiche Theorien liegen auf dem Tisch, aber die Frage »Woher kommt die Moral?« ist nach wie vor offen. In Fortschreibung seiner faszinierenden Naturgeschichte des Menschen legt nun Michael Tomasello eine Antwort vor.
Gestützt auf jahrzehntelange empirische Forschungen, rekonstruiert er die Entstehung des einzigartigen menschlichen Sinns für Werte und Normen als einen zweistufigen Prozeß. Dieser beginnt vor einigen hunderttausend Jahren, als die frühen Menschen gemeinsame Sache machen mußten, um zu überleben; und er endet beim modernen, ultrakooperativen homo sapiens sapiens, der beides besitzt: eine Moralität der zweiten Person, die unseren Umgang mit dem je einzelnen Gegenüber prägt, und eine gruppenbezogene »objektive« Moral, die sagt, was hier bei »uns« als gut oder gerecht gilt.
In der Tradition von Mead, Kohlberg und Piaget zeigt Tomasello außerdem, wie sich die individuelle Moralentwicklung in einer bereits normengesättigten Welt vollzieht. Und so ist Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral der derzeit wohl umfassendste Versuch zu verstehen, wie wir das geworden sind, was nur wir sind: genuin moralische Wesen.
Michael Tomasello, geboren 1950, ist Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und leitet dort das Wolfgang-Köhler-Primaten-Forschungszentrum. Für seine Forschungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jean-Nicod-Preis, dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und dem Max-Planck-Forschungspreis. 2015 erhielt er für sein Gesamtwerk den prestigeträchtigen Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association.
Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt erschienen:
Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition (stw 1827), Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (2009 und stw 2004), Warum wir kooperieren (eu 36) und
Michael Tomasello
EINE NATURGESCHICHTE DER MENSCHLICHEN MORAL
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016.
Titel der Originalausgabe:
A Natural History of Human Morality
Die Originalausgabe in englischer Sprache, die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 2016 bei Harvard University Press
Copyright © 2016 by the President and Fellows of Harvard College
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016
© 2016 by the President and Fellows of Harvard College
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eISBN 978-3-518-74822-0
Für Chiara, Leo, Anya und
Vorwort
1 Die Interdependenzhypothese
2 Die Evolution der Kooperation
Grundlagen der Kooperation
Kooperation bei Menschenaffen
Verwandtschafts- und freundschaftsbasierte Prosozialität
3 Zweitpersonale Moral
Zusammenarbeit und Hilfe
Gemeinsame Intentionalität
Zweitpersonales Handeln
Gemeinsame Verpflichtung
Das ursprüngliche »Sollen«
4 »Objektive« Moral
Kultur und Loyalität
Kollektive Intentionalität
Kulturelles Handeln
Moralische Selbststeuerung
Das ursprünglich Richtige und Falsche
Koda: Nach dem Garten Eden
5 Menschliche Moral als Kooperation-plus
Theorien der Evolution der Moral
Geteilte Intentionalität und Moral
Die Rolle der Ontogenese
Schluß
Anmerkungen
Literatur
Register
Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral ist das Pendant zu meinem Buch von 2014 Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Die parallelen Titel sind deshalb sachgerecht, weil ich in beiden Bänden dieselbe zweistufige Abfolge der Evolution des menschlichen Soziallebens vorschlage: zuerst neue Formen der Zusammenarbeit und dann neue Formen der Kulturgestaltung. Im ersten Band versuchte ich, die für die Spezies einzigartigen Weisen des Denkens auszubuchstabieren, die aus diesen neuen Formen des Gesellschaftslebens entstanden. Im vorliegenden Buch versuche ich nun zu erläutern, wie diese neuen Formen des Gesellschaftslebens die Art und Weise strukturierten, in der Frühmenschen sich an moralischen Handlungen beteiligten, die ihre eigenen Interessen den Interessen anderer entweder unterordneten oder sie als diesen gleichwertig behandelten, und sich dazu sogar ein Stück weit verpflichtet fühlten. Diese moralische Einstellung oder Haltung behielt – und behält – bei den tatsächlichen Entscheidungen von Einzelpersonen natürlich nicht durchweg die Oberhand, aber sie macht diese Entscheidungen, wie auch immer sie ausfallen mögen, zu moralischen Entscheidungen.
Ich habe meine Gedanken für dieses Buch in etwa im Laufe der letzten fünf Jahre gesammelt, wobei am Anfang ein Seminar über die Entwicklung der menschlichen Kooperation stand, das ich im Herbst 2009 hier am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie abhielt, woran sich ein ähnliches Seminar über die Entwicklung der menschlichen Moral im Winter 2012/2013 anschloß. Viele interessante und fruchtbare Diskussionen in diesen Seminaren haben mein Denken über diese Themen bedeutend geformt, und ich danke all jenen, die daran teilnahmen. Außerdem hatte ich in derselben Zeit eine Reihe sehr hilfreicher Diskussionen mit Sebastian Rödl, der mir bei einigen schwierigen philosophischen Begriffen half.
Darüber hinaus las eine Reihe von Leuten frühere Manuskriptfassungen und lieferte sehr hilfreiche Kommentare dazu. Insbesondere wurde die eine oder andere Fassung von Ivan Cabrera, Robert Hepach, Patricia Kanngiesser, Christian Kietzmann, Berislav Marusic, Cathal O'Madagain und Marco Schmidt gelesen. Ich danke ihnen allen für ihre äußerst hilfreichen Kommentare und Vorschläge. Besonders danken möchte ich Neil Roughley und Jan Engelmann, die sich mit mir und dem Manuskript besonders tiefgehend und mehrmals auseinandersetzten. Mit Sicherheit ist der Text aufgrund all ihrer Kenntnisse viel schlüssiger geworden. Außerdem danke ich Andrew Kinney, Richard Joyce und einem anonymen Gutachter von Harvard University Press für ihre Kommentare zum Manuskript.
Schließlich gebührt wie auch schon beim ersten Band meine tiefste Dankbarkeit Rita Svetlova, mit der ich ausführlich die wichtigsten Ideen besprochen habe – und andere, bei denen sie mir half, sie fahren zu lassen –, was dem Endprodukt sehr zugute kam. Ich widme dieses Buch ihr und unseren Kindern.
Die Verpflichtungen, die uns mit der Gesellschaft verbinden, sind nur wegen ihrer Gegenseitigkeit zwingend; ihr Wesen ist, daß man bei ihrer Erfüllung nicht für andere arbeiten kann, ohne für sich selbst zu arbeiten.JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Der Gesellschaftsvertrag
Kooperation tritt in der Natur in zwei grundlegenden Formen auf: als altruistische Hilfe, bei der eine Person zugunsten einer anderen Person Opfer bringt, und als wechselseitige Zusammenarbeit, bei der alle Beteiligten gewisse Vorteile haben. Die einzigartig menschliche Variante der Kooperation, die wir als Moral kennen, tritt in der Natur in zwei analogen Formen auf. Einerseits kann eine Person Opfer bringen, um einer anderen Person zu helfen, und dies auf der Grundlage solcher selbstloser Motive wie Mitgefühl, Anteilnahme und Wohlwollen. Andererseits können miteinander interagierende Personen nach einer Möglichkeit suchen, damit alle einen ausgeglicheneren Nutzen haben, und zwar auf der Grundlage solcher unparteiischer Motive wie Fairneß, Billigkeit und Gerechtigkeit. Viele klassische Schilderungen in der Moralphilosophie erfassen diesen Unterschied, indem sie ein Wohltätigkeitsmotiv (das Gute) mit einem Gerechtigkeitsmotiv (das Richtige) kontrastieren; und viele moderne Darstellungen fassen den Unterschied, indem sie eine Moral des Mitgefühls einer Moral der Fairneß entgegensetzen.
Die Moral des Mitgefühls ist am grundlegendsten, da die Sorge um das Wohlergehen anderer die notwendige Bedingung alles Moralischen ist. Die evolutionäre Quelle der mitfühlenden Anteilnahme besteht mit größter Sicherheit in der elterlichen Fürsorge für die Nachkommen, die auf der Verwandtschaftsselektion beruht. Bei Säugetieren bedeutet das alles mögliche, von der Versorgung der eigenen Nachkommen mit Nahrung durch Säugen bzw. Stillen – was durch das »Liebeshormon« von Säugetieren, Oxytocin, reguliert wird – bis zu deren Schutz vor Raubtieren und anderen Gefahren. In diesem Sinne zeigen im Grunde alle Säugetiere eine mitfühlende Anteilnahme, zumindest für ihre Nachkommen, aber bei manchen Arten auch für ausgewählte Gruppen, die nicht zu ihren Verwandten gehören. Im allgemeinen ist der Ausdruck des Mitgefühls relativ unkompliziert. Es mag zwar eine gewisse kognitive Komplexität bei der Bestimmung geben, was für die eigenen Nachkommen oder andere gut ist, aber sobald das entschieden ist, ist Hilfe eben Hilfe, wobei der einzige ernsthafte Konflikt darin besteht, ob das Mitgefühl, das den Hilfeakt motiviert, stark genug ist, um irgendwelche eigennützigen Motive, die außerdem noch beteiligt sind, zu überwinden. Hilfeakte, die durch mitfühlende Anteilnahme motiviert sind, sind frei vollzogene, altruistische Akte und werden in ihrer reinsten Form nicht von einem Gefühl der Pflicht begleitet.
Im Gegensatz dazu ist die Moral der Fairneß weder ebenso grundlegend noch ebenso unkompliziert – außerdem mag sie durchaus auf die menschliche Spezies beschränkt sein. Das Grundproblem besteht darin, daß es in Situationen, die Fairneß verlangen, typischerweise eine komplexe Interaktion zwischen kooperationsbezogenen und wettbewerbsorientierten Motiven mehrerer Individuen gibt. Der Versuch, fair zu sein, bedeutet, daß man versucht, ein gewisses Gleichgewicht zwischen all diesen Motiven herzustellen, und um dies zu bewerkstelligen, gibt es normalerweise viele Möglichkeiten, die auf vielen verschiedenen Kriterien beruhen. Menschen treten somit in solche komplexen Situationen ein mit der Bereitschaft, moralische Urteile darüber ins Feld zu führen, was die beteiligten Personen, einschließlich sie selbst, »verdienen«,1 aber sie sind auch zugleich mit stärker auf Strafe bezogenen moralischen Einstellungen gegenüber unfairen anderen bewaffnet, beispielsweise Groll oder Empörung. Darüber hinaus besitzen sie noch andere moralische Einstellungen, die zwar nicht gerade strafbezogen sind, aber doch streng, durch die sie danach trachten, Interaktionspartner für ihre Handlungen rechenschaftspflichtig zu machen, indem sie sich auf zwischenmenschliche Urteile von Verantwortlichkeit, Verpflichtung, Verbindlichkeit, Vertrauen, Respekt, Schuldigkeit, Tadel und Schuld berufen. Die Moral der Fairneß ist daher viel komplizierter als die Moral des Mitgefühls. Außerdem, und wahrscheinlich damit zusammenhängend, führen ihre Urteile typischerweise ein Gefühl der Verantwortlichkeit oder Pflicht mit sich: Es ist nicht nur so, daß ich allen Beteiligten gegenüber fair sein will, sondern es ist auch so, daß man allen Beteiligten gegenüber fair sein soll. Allgemein gesagt: Das Mitgefühl ist reine Kooperation, wohingegen Fairneß eine Art von Kooperativierung des Wettbewerbs ist, bei der die einzelnen Personen nach ausgewogenen Lösungen für die vielen und miteinander im Konflikt stehenden Ansprüche suchen, die sich aus den verschiedenartigen Motiven mehrerer Beteiligter ergeben.
Unser Ziel in diesem Buch besteht darin, eine evolutionäre Erklärung für die Entstehung der menschlichen Moral zu liefern, und zwar sowohl in puncto Mitgefühl als auch in puncto Fairneß. Wir gehen von der Annahme aus, daß die menschliche Moral eine Form der Kooperation ist, insbesondere diejenige Form, die entstand, als Menschen sich an neue und für die Spezies einzigartige Formen der sozialen Interaktion und Organisation angepaßt haben. Weil Homo sapiens ein ultrakooperativer Primat ist und vermutlich auch der einzige moralische, nehmen wir weiter an, daß die menschliche Moral ebenjene einzigartigen artspezifischen und proximalen Mechanismen umfaßt – psychologische Prozesse der Kognition, sozialen Interaktion und Selbstregulation –, die es den Menschen ermöglichen, in ihren besonders kooperativen sozialen Arrangements zu überleben und zu gedeihen. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen besteht unser Versuch in diesem Buch darin, erstens auf der Grundlage experimenteller Forschung so detailliert wie möglich anzugeben, wie die Kooperation von Menschen sich von der Kooperation ihrer nächsten Primatenverwandten unterscheidet; und zweitens ein plausibles evolutionäres Szenario dafür zu entwerfen, wie eine solche einzigartige menschliche Kooperation die menschliche Moral hervorbrachte.
Der Ausgangspunkt sind nichtmenschliche Primaten, insbesondere die nächsten lebenden Verwandten der Menschen, die Menschenaffen. Wie bei allen sozialen Spezies sind Menschenaffen, die in derselben sozialen Gruppe leben, im Hinblick auf ihr Überleben voneinander abhängig – sie sind interdependent (Roberts, 2005) –, und deshalb ist es für sie sinnvoll, einander zu helfen und füreinander zu sorgen. Außerdem formen Menschenaffen wie viele Primatenspezies langfristige prosoziale Beziehungen zu spezifischen anderen Angehörigen ihrer Gruppe. In manchen Fällen bestehen diese Beziehungen zu Verwandten, aber in anderen bestehen sie zu nichtverwandten Gruppenmitgliedern oder »Freunden« (Seyfarth und Cheney, 2012). Weil sie ihre biologische Fitness befördern, sind die Individuen von diesen besonderen Beziehungen abhängig, und deshalb investieren sie in sie, indem sie beispielsweise bevorzugt ihre Freunde lausen oder sie beim Kampf unterstützen. Der evolutionäre Ausgangspunkt unserer Naturgeschichte der menschlichen Moral ist daher das prosoziale Verhalten, das Menschenaffen im allgemeinen denen gegenüber zeigen, von denen sie abhängig sind, nämlich gegenüber Verwandten und Freunden.
Tomasello et al. (2012) liefern eine Darstellung der Evolution der einzigartig menschlichen Kooperation, die sich darauf konzentriert, wie die Frühmenschen von diesem Ausgangspunkt bei den Menschenaffen aus immer stärker im Hinblick auf kooperative Unterstützung voneinander abhängig wurden. Die Interdependenzhypothese – deren grundsätzlichen Rahmen wir hier übernehmen – besagt, daß dieser Vorgang sich in zwei entscheidenden Schritten vollzog, wobei bei beiden neue ökologische Umstände eine Rolle spielen, die die Frühmenschen zu neuen Weisen der sozialen Interaktion und Organisation zwangen: zuerst Zusammenarbeit und dann Kultur. In diesen neuen sozialen Umständen schnitten diejenigen Individuen am besten ab, die diese wechselseitigen Abhängigkeiten erkannten und entsprechend handelten, also eine Art kooperativer Rationalität ausbildeten. Obwohl die Angehörigen vieler Tierarten auf unterschiedliche Weisen voneinander abhängig sind, beruhten die Interdependenzen der Frühmenschen somit auf einem neuen und einzigartigen Repertoire proximaler psychologischer Mechanismen. Diese Mechanismen versetzten die Individuen in die Lage, mit anderen einen pluralen Akteur, ein »wir« zu erzeugen, wie er beispielsweise auftritt, wenn es darum geht, was »wir« tun müssen, um ein Beutetier zu fangen, oder wie »wir« unsere Gruppe gegen andere Gruppen verteidigen sollten. Die zentrale These des vorliegenden Erklärungsversuchs ist, daß es die Fertigkeiten und die Motivation waren, mit anderen ein interdependentes, im Plural handelndes »wir« zu konstruieren – das heißt sich mit anderen an Akten geteilter Intentionalität (Bratman, 1992; 2014; Gilbert, 1990, 2014) zu beteiligen –, die die menschliche Spezies von der strategischen Kooperation zur echten Moral getrieben haben.
Der erste Schritt fand vor Hunderttausenden von Jahren statt, als eine Veränderung der Ökologie die Frühmenschen vor die Alternative stellte, gemeinsam mit einem Partner auf Nahrungssuche zu gehen oder zu verhungern. Diese neue Form der Interdependenz bedeutete, daß die Frühmenschen jetzt ihr Mitgefühl über die Verwandten und Freunde hinaus auf Partner ausdehnten, mit denen sie zusammenarbeiteten. Um ihre gemeinschaftlichen Aktivitäten kognitiv zu koordinieren, entwickelten sie Fertigkeiten und Motivationen einer gemeinsamen Intentionalität, wodurch sie imstande waren, zusammen mit einem Partner ein gemeinsames Ziel zu bilden und gemeinsam mit ihm über Dinge in ihrem persönlichen gemeinsamen Hintergrund Bescheid zu wissen (Tomasello, 2014). Auf der individuellen Ebene hatte jeder Partner bei einer bestimmten gemeinschaftlichen Aktivität (zum Beispiel Antilopen jagen) eine eigene Rolle zu spielen, und im Lauf der Zeit entwickelte sich ein auf den gemeinsamen Hintergrund bezogenes Verständnis der idealen Art und Weise, wie jede Rolle im Sinne des gemeinsamen Erfolgs gespielt werden mußte. Diese Rollenideale des gemeinsamen Hintergrunds kann man sich als die Urform sozial geteilter normativer Standards vorstellen. Diese idealen Standards waren unparteiisch in dem Sinne, daß sie angaben, was jeder Partner, wer auch immer von uns es sein mag, seiner Rolle entsprechend tun muß. Die Unparteilichkeit der Rollenstandards zu erkennen bedeutete zu erkennen, daß man selbst und der andere in dem gemeinschaftlichen Unternehmen eine gleichwertige Stellung und Bedeutung innehaben.
Im Kontext der Partnerwahl, in dem alle Individuen Verhandlungsmacht hatten, führte diese Anerkennung der Gleichwertigkeit von Selbst und anderem dazu, daß sich die Partner gegenseitig respektierten. Und da es für sie entscheidend war, Trittbrettfahrer auszuschließen, entwickelte sich auch die Einsicht, daß nur kollaborative Partner (und keine Trittbrettfahrer) die Beute verdienen. Das Gesamtergebnis war, daß Partner dahin gelangten, einander zu achten, sich als zweitpersonale Handelnde zu betrachten, die gleichermaßen anspruchsberechtigt sind (siehe Darwall, 2006). Sie waren nun in der Position, eine gemeinsame Verpflichtung zur Zusammenarbeit zu bilden (siehe Gilbert, 2003). Der Inhalt einer gemeinsamen Verpflichtung bestand darin, daß jeder Partner sein Rollenideal erfüllen werde und daß beide Partner die legitime Autorität besitzen, den anderen darüber hinaus zurechtzuweisen, falls seine Leistung hinter dem Ideal zurückbleiben sollte. Der Sinn für gegenseitige Achtung und Fairneß im Umgang mit Partnern bei den Frühmenschen entsprang also hauptsächlich einer neuen Art kooperativer Rationalität, bei der es sich als sinnvoll erwies, die eigene Abhängigkeit von einem Kollaborationspartner anzuerkennen – bis hin zu dem Punkt, an dem zumindest ein Teil der Kontrolle über die eigenen Handlungen an das selbstregulierende, durch eine gemeinsame Verpflichtung erzeugte »wir« abgegeben wurde. Dieses »wir« war eine moralische Kraft, weil beide Partner es als legitim betrachteten, da sie es selbst eigens zum Zweck der Selbstregulierung geschaffen hatten, und da beide ihren Partner so sahen, daß er der Zusammenarbeit wirklich würdig war. Sie fühlten sich daher gegenüber dem anderen für den gemeinsamen Erfolg verantwortlich, und sich vor dieser Verantwortung zu drücken bedeutete praktisch, auf die eigene kooperative Identität zu verzichten.
Auf diese Weise erzeugte die Beteiligung an gemeinsamen intentionalen Tätigkeiten – die sowohl die Anerkennung von Partnern als gleichwertige zweitpersonal Handelnde als auch die kooperative Rationalität der Unterordnung des »ich« unter das »wir« im Rahmen einer gemeinsamen Verpflichtung hervorbrachte – eine in evolutionärer Hinsicht neue Form der Moralpsychologie. Diese beruhte nicht auf dem strategischen Vermeiden von Strafe oder Angriffen auf den eigenen Ruf von »denen«, sondern vielmehr auf einem echten Versuch, sich im Einklang mit unserem »wir« tugendhaft zu verhalten. Und so wurde eine normativ konstituierte Gesellschaftsordnung geboren, in der kooperativ rationale Akteure nicht nur darauf achteten, wie Personen tatsächlich handeln, oder darauf, wie ich gerne hätte, daß sie handeln, sondern vielmehr darauf, wie sie handeln sollten, wenn sie einer von »uns« sein wollen. Schließlich lief das Ergebnis all dieser neuen Weisen, sich in gemeinsamen intentionalen Tätigkeiten zu einem Partner in Beziehung zu setzen, für die Frühmenschen auf eine Art natürlicher, zweitpersonaler Moral hinaus.
Der zweite Evolutionsschritt in dieser hypothetischen Naturgeschichte – der mit dem Auftauchen von Homo sapiens sapiens vor etwa 150 000 Jahren begann – wurde von einer sich ändernden Demographie ausgelöst. Als die Gruppen moderner Menschen größer zu werden begannen, spalteten sie sich in kleinere Verbände auf, die auf der Stammesebene immer noch in sich geschlossen waren. Eine Stammesgruppe – nennen wir sie eine Kultur – konkurrierte mit anderen derartigen Gruppen um Ressourcen und funktionierte daher als ein großes, interdependentes »wir«, insofern alle Gruppenmitglieder sich mit ihrer Gruppe identifizierten und ihre arbeitsteiligen Rollen erfüllten, die das Überleben und Wohlergehen der Gruppe zum Ziel hatten. Bei den Mitgliedern einer solchen Kulturgruppe waren daher das Mitgefühl und die Loyalität zu ihren Kulturgenossen auf besondere Weise ausgeprägt, wohingegen sie Außenseiter als Trittbrettfahrer oder Konkurrenten betrachteten, die daher die Vorteile der Kultur nicht verdienten. Um ihre Gruppenaktivitäten kognitiv zu koordinieren und ein gewisses Maß an sozialer Kontrolle in motivationaler Hinsicht zu gewährleisten, entwickelten die modernen Menschen neue kognitive Fertigkeiten und Motive der kollektiven Intentionalität – was die Schaffung kultureller Konventionen, Normen und Institutionen ermöglichte (siehe Searle, 1995) –, die auf einem kulturellen gemeinsamen Hintergrund beruhten. In diesem Sinne konventionelle Kulturpraktiken waren mit Rollenidealen verknüpft, die insofern völlig »objektiv« waren, als jeder innerhalb des kulturellen gemeinsamen Hintergrunds wußte, wie eine beliebige Person, die eine von »uns« wäre, diese Rollen im Hinblick auf den kollektiven Erfolg zu spielen hätte. Sie stellten die richtigen und die falschen Weisen dar, wie man etwas tat.
Im Unterschied zu den Frühmenschen mußten die modernen Menschen ihre größten und bedeutendsten sozialen Verpflichtungen nicht erst schaffen; sie wurden vielmehr in sie hineingeboren. Am wichtigsten ist jedoch, daß die Menschen ihre Handlungen selbst regulieren mußten, und zwar vermittels jener sozialen Normen der Gruppe, deren Verletzung nicht nur von den davon betroffenen Personen getadelt wurde, sondern auch von Dritten. Abweichungen von einer rein konventionellen Praxis signalisierten eine Schwäche des Sinns für kulturelle Identität, aber die Verletzung einer moralischen Norm – die in der zweitpersonalen Moral gründete – signalisierte einen moralischen Verstoß (siehe Nichols, 2004). Moralische Normen wurden als legitim angesehen, weil sich die Person erstens mit der Kultur identifizierte und daher eine Art von Mitverantwortung für sie übernahm und sie zweitens der Ansicht war, daß ihre Kulturgenossen ihre Kooperation verdienten. Mitglieder von Kulturgruppen fühlten sich daher dazu verpflichtet, soziale Normen als Teil ihrer moralischen Identität sowohl zu befolgen als auch durchzusetzen: um zu bleiben, wer man war – in den Augen der moralischen Gemeinschaft und somit auch in den eigenen – , war man gehalten, sich mit den Urteilen über die richtigen und falschen Weisen, die Dinge zu tun, zu identifizieren (siehe Korsgaard, 1996a). Man konnte von diesen Normen nur dann abweichen und dennoch die eigene moralische Identität bewahren, wenn man die Devianz den anderen gegenüber und somit auch vor sich selbst im Sinne der geteilten Werte der moralischen Gemeinschaft rechtfertigte (siehe Scanlon, 1998).
Auf diese Weise erzeugte die Teilnahme am Kulturleben – die sowohl die Erkenntnis hervorbrachte, daß allen Gruppenangehörigen Anerkennung gebührte, als auch das Gefühl, daß die kollektiven Verpflichtungen der Kultur von »uns« für »uns« geschaffen wurden – eine zweite neue Form der Moralpsychologie. Es handelte sich in drei Hinsichten um eine Art vergrößerte Variante der zweitpersonalen Moral der Frühmenschen: die normativen Standards waren völlig »objektiv«, die kollektiven Verpflichtungen waren von allen Gruppenmitgliedern geschaffen worden, und für alle war das Gefühl von Verpflichtung rational im Sinne des Gruppengeistes, insofern es sich aus der eigenen moralischen Identität und der empfundenen Notwendigkeit ableitete, die eigenen moralischen Entscheidungen gegenüber der moralischen Gemeinschaft, sich selbst eingeschlossen, zu rechtfertigen. Am Ende liefen all diese neuen Weisen, in kollektiv strukturierten kulturellen Kontexten zueinander in Beziehung zu treten, für die modernen Menschen auf eine Art von kultureller und von einem Gruppengeist getragener, »objektiver« Moral hinaus.
Eine Folge dieses zweistufigen Evolutionsprozesses jenseits der Menschenaffen – zuerst zur Zusammenarbeit und dann zur Kultur – besteht darin, daß die heutigen Menschen unter dem Einfluß von mindestens drei verschiedenen Arten von Moral stehen. Die erste wird einfach von den kooperativen Neigungen der Menschenaffen im allgemeinen bestimmt und ist um ein besonderes Mitgefühl für Verwandte und Freunde herum organisiert: Wenn die Hütte (oder das Haus) brennt, rette ich als erstes mein Kind oder meinen Ehepartner, und zwar ohne darüber nachdenken zu müssen. Die zweite Art ist eine gemeinsame Moral der Zusammenarbeit, bei der ich spezifische Verantwortlichkeiten in spezifischen Umständen gegenüber spezifischen Individuen habe: Die Person, die ich als nächstes rette, ist diejenige, die mit mir zusammen den Brand bekämpft, mit der ich also gegenwärtig kollaboriere (und mit der ich eine gemeinsame Verpflichtung habe), um das Feuer zu löschen. Die dritte ist eine stärker unpersönliche kollektive Moral kultureller Normen und Institutionen, der zufolge alle Mitglieder der Kulturgruppe gleichermaßen wertvoll sind: Ich rette alle anderen Gruppenmitglieder gleichermaßen und unparteiisch vor dem Unglück (oder vielleicht auch alle anderen Menschen, wenn meine moralische Gemeinschaft die ganze Menschheit ist), wobei ich vielleicht den Verletzlichsten von uns (zum Beispiel Kindern) besondere Aufmerksamkeit widme. Die Koexistenz dieser drei verschiedenen Arten von Moral – moralischen Orientierungen oder Haltungen – ist natürlich alles andere als friedlich. Konflikte zwischen ihnen sind die Quelle vieler der verwirrendsten moralischen Dilemmata, mit denen Menschen konfrontiert sind – sollte ich das Medikament stehlen, um meinen Freund zu retten? Sollte ich mein Versprechen halten, wenn dadurch Schaden für unbekannte andere entsteht? – und für die wir anscheinend keine völlig befriedigenden Lösungen haben (Nagel, 1986). Daß solche unlösbaren Unvereinbarkeiten bei den Diktaten der Moral auftreten, deutet auf eine komplexe und nicht ganz einheitliche Naturgeschichte hin, bei der verschiedenen kooperativen Herausforderungen zu verschiedenen Zeiten auf unterschiedliche Weise begegnet wurde.
Die Möglichkeit, daß Menschen mit mehreren verschiedenen und manchmal inkompatiblen Arten von Moral operieren – und daß diese zumindest teilweise auf Prozesse der natürlichen Selektion zurückgehen –, beschwört das Schreckgespenst herauf, das von vielen nachdenklichen Menschen seit der Zeit Darwins gefürchtet wurde, nämlich daß evolutionäre Erklärungen dazu dienen können, die ganze Idee der Moral zu untergraben. Aber das muß nicht so sein. Der springende Punkt lautet: Die letztendlichen Ursachen von Evolutionsprozessen sind unabhängig von den tatsächlichen Entscheidungsprozessen von Personen, die ihre persönlichen Ziele und Werte verwirklichen wollen. Das Lehrbuchbeispiel hierfür ist Sex, dessen evolutionäre Daseinsberechtigung zwar die Fortpflanzung ist, dessen proximale Motivation jedoch meistens in anderem besteht. Die Tatsache, daß diejenigen Frühmenschen, die sich um das Wohlergehen von anderen sorgten und die andere fair behandelten, die meisten Nachkommen hatten, berührt weder meine eigenen persönlichen moralischen Entscheidungen noch meine Identität. Ich bin zwar nur aufgrund meiner evolutionären, kulturellen und persönlichen Geschichte fähig, die englische Sprache zu sprechen, aber dadurch ist nicht festgelegt, was genau zu sagen ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt entschließe. Aufs Ganze gesehen, sollten wir einfach über die Tatsache staunen, daß moralisches Verhalten für die menschliche Spezies irgendwie richtig ist und zum beispiellosen evolutionären Erfolg der Menschen ebenso beiträgt wie dazu, daß jeder einzelne von uns das Gefühl hat, eine persönliche moralische Identität zu besitzen.
Daher möchte ich mit dieser Apologie im Hintergrund eine Geschichte erzählen, eine Naturgeschichte darüber, wie die menschliche Moral entstand. Sie beginnt bei unseren Menschenaffenvorfahren und ihrem Mitgefühl für Verwandte und Freunde, geht dann über zu gewissen Frühmenschen, die in wechselseitiger Abhängigkeit unter gemeinsamen Verpflichtungen und einem Sinn für die Gleichwertigkeit von Partnern miteinander zusammenzuarbeiten anfingen, um schließlich bei den modernen Menschen mit ihren kulturell konstituierten sozialen Normen und einem objektivierten Sinn für richtig und falsch zu enden.
Und wenn sich diese Knappheit (von Ressourcen) nicht durch gemeinsame Tätigkeit lindern ließe, würde sich der Bereich der Gerechtigkeit nur auf die Vermeidung wechselseitig zerstörerischer Konflikte erstrecken und nicht auf die kooperative Erzielung von gegenseitigem Nutzen.DAVID GAUTHIER, Morals by Agreement
Sozialität ist nicht unvermeidlich. Viele Organismen leben praktisch ein völlig einsiedlerisches Leben. Aber viele andere Organismen leben in Gesellschaft, typischerweise wenn sie sehr nah bei anderen ihrer Art bleiben, um soziale Gruppen zu bilden. Die evolutionäre Funktion dieser Gruppenbildung ist in erster Linie der Schutz vor Raubtieren. Eine solche Sozialität à la »Zusammen ist man weniger gefährdet« wird manchmal als Kooperation bezeichnet, da die Individuen sich mit anderen relativ friedlich zusammentun. Aber bei komplexeren sozialen Spezies kann sich die Kooperation auch in aktiveren sozialen Interaktionen manifestieren, wie beispielsweise altruistischer Hilfe und auf Gegenseitigkeit beruhender Zusammenarbeit.
Die gesteigerte Nähe des Soziallebens bringt eine gesteigerte Konkurrenz um Ressourcen mit sich. Bei sozialen Spezies müssen die Individuen täglich aktiv um Nahrung und Paarungspartner konkurrieren. Diese Konkurrenz kann auch zu körperlichen Angriffen führen, was für alle Beteiligten potentiell schädlich ist, und daher ein Statussystem hervorbringen, bei dem Individuen mit geringerer Kampffähigkeit denen mit größerer das überlassen, was diese haben wollen.
Damit sind wir bei den beiden grundlegenden Achsen der Tiersozialität angelangt (Abbildung 2.1): einer horizontalen Achse der Kooperation, die in den (großen oder geringen) Neigungen der Individuen gründet, sich anderen ihrer Art anzuschließen (oder gar mit ihnen zusammenzuarbeiten oder ihnen zu helfen); und einer vertikalen Achse der Konkurrenz, die auf der (großen oder geringen) Macht und Dominanz der Individuen im Kampf um Ressourcen beruht. Die grundsätzliche Herausforderung eines komplexen Soziallebens besteht darin, ein befriedigendes Gleichgewicht zwischen Kooperation und Konkurrenz zu finden.
Abbildung 2.1: Die beiden Dimensionen des Soziallebens bei komplexen Lebewesen
Innerhalb eines Darwinschen Rahmens erfordert die Konkurrenz natürlich keine besondere Erklärung, die Kooperation aber schon. So zu handeln, daß andere Vorteile davon haben, ist nur unter bestimmten Bedingungen eine stabile evolutionäre Strategie. Die erste Aufgabe in diesem Kapitel besteht deshalb darin, unter Verwendung des Prinzips der Interdependenz als Leitfaden zu untersuchen, wie die Kooperation in der Evolution im allgemeinen funktioniert. Anschließend nutzen wir diesen theoretischen Rahmen, um die Eigenart der Kooperation bei Gesellschaften von Menschenaffen im besonderen zu charakterisieren, und dies mit dem Ziel, die kooperativen Interaktionen des letzten gemeinsamen Vorfahrens von Menschen und anderen Menschenaffen vor etwa sechs Millionen Jahren als Ausgangspunkt für unsere Naturgeschichte der menschlichen Moral darzulegen.
Die Kooperation hält für die Theorie der Evolution durch natürliche Auslese eine Vielfalt von Rätseln bereit. Nicht alle davon müssen wir hier lösen. Für den vorliegenden Zweck reicht es aus, nur diejenigen evolutionär stabilen Kooperationsmuster zu bestimmen, die für unsere Untersuchung der menschlichen Spezies relevant sind. Bei der Identifikation dieser Muster wird es uns speziell sowohl um die proximalen (psychologischen) Mechanismen gehen – die kognitiven, sozial-motivationalen und selbstregulativen Prozesse –, die die Angehörigen komplexer sozialer Spezies befähigen, miteinander zu kooperieren, als auch um die Anpassungsbedingungen, unter denen diese psychologischen Prozesse wahrscheinlich von der natürlichen Selektion begünstigt wurden.
Der gewöhnlichen Evolutionstheorie zufolge kann Kooperation als evolutionär stabile Strategie nur dann aufrechterhalten werden, wenn sie der reproduktiven Fitness der beteiligten Individuen nicht allzu abträglich ist (Altruismus wird von Evolutionsbiologen – humorvoll, aber demonstrativ – definiert als »das, was sich nicht entwickeln kann«). Aber es gibt eine Reihe klassischer Interaktionskategorien, die Möglichkeiten beschreiben, wie Individuen ihr unmittelbares Eigeninteresse zeitweise unterdrücken können, um mit anderen zu kooperieren, ohne dadurch langfristig ihre eigene Existenz und die ihrer Nachkommenschaft aufs Spiel zu setzen. Der Theorie der Multilevel-Selektion zufolge ist es am nützlichsten, von drei Großkategorien auszugehen, die sich hinsichtlich der Ebene unterscheiden, auf der sie operieren: Die Verwandtschaftsselektion operiert auf der Ebene der Gene; die Gruppenselektion setzt auf der Ebene der sozialen Gruppe an; und Gegenseitigkeit und Reziprozität operieren auf der Ebene des einzelnen Organismus. Jede dieser Kategorien kooperativen Verhaltens kann bei verschiedenen Spezies potentiell durch eine breite Vielfalt verschiedener proximaler Mechanismen realisiert werden.
Die Verwandtschaftsselektion ist wohl der grundlegendste Prozeß bei der Evolution der Kooperation. Darwin fragte sich, warum soziale Insekten, etwa Ameisen und Bienen, sich so bereitwillig füreinander aufopfern (bis hin dazu, daß es sogar zeugungsunfähige Helfer gibt). Im Kontext der modernen Genetik lösten Haldane und Hamilton das Problem durch die Feststellung, daß bei sozialen Insekten Individuen, die in derselben sozialen Gruppe leben, mehr Gene miteinander teilen als die Gruppenmitglieder anderer Tierarten. Indem sie anderen helfen, begünstigen die einzelnen Ameisen und Bienen Kopien ihrer eigenen Gene; in einem gewissen Sinne helfen sie sich selbst. Dawkins (1976) trieb diese Ansicht ins Extrem, indem er die gesamte Evolution aus dieser »Genperspektive« betrachtete.
Die proximalen Mechanismen für die Verwandtschaftsselektion sind normalerweise nicht besonders kompliziert. Man muß dazu prädisponiert sein, Dinge zu tun, die anderen helfen (ohne daß man kognitiv versteht, daß man das tut), und dieses Verhalten muß selektiv auf die eigene Sippe gerichtet sein. Diese Selektivität gegenüber Verwandten wird am häufigsten durch räumliche Nähe erreicht. Beispielsweise tun Ameisen und Bienen einfach Dinge, die anderen in ihrer unmittelbaren Umgebung helfen, und selbst kognitiv komplexere Organismen, wie etwa Menschen, identifizieren in den meisten Fällen diejenigen als Verwandte, mit denen sie in enger physischer Nähe aufgewachsen sind (Westermarck, 1891). Diese psychologische Schlichtheit bedeutet, daß die Verwandtschaftsselektion wahrscheinlich nicht die Brutstätte für die vielen komplexen kognitiven Unterscheidungen und Urteile war, die der menschlichen Moral zugrunde liegen. Sie war jedoch höchstwahrscheinlich für die grundlegende prosoziale Emotion des Mitgefühls verantwortlich, da sie im Kontext der Bindung zwischen Eltern und Nachkommen sowie der Hilfe für die eigenen Verwandten entstand. Wie wir bei der Darstellung der Kooperation von Menschenaffen noch sehen werden, hatten dann einige Spezies Gelegenheit, ihr Mitgefühl über Verwandte hinaus auf »Freunde« auszudehnen.
Ein zweiter wichtiger Prozeß bei der Evolution der Kooperation ist, umstrittenermaßen, die Gruppenselektion. Die Theorie der Gruppenselektion nimmt keine Genperspektive auf den Prozeß ein, sondern vielmehr eine Gruppenperspektive, wobei manche Theoretiker sogar anmerken, daß ein vielzelliger Organismus einfach eine Gruppe von kooperierenden einzelligen Organismen ist (Wilson und Wilson, 2008). Die Grundidee lautet: Wenn die sozialen Gruppen einer Spezies jeweils intern genetisch homogen sind und sich zugleich genetisch gut voneinander unterscheiden, dann können diese Gruppen tatsächlich selbst zu Einheiten der natürlichen Selektion werden. Kooperation kommt ins Spiel, weil man sich vorstellen kann, daß soziale Gruppen mit mehr Kooperatoren solche mit mehr Nichtkooperatoren ausstechen. Einzelne Kooperatoren haben daher zwar innerhalb ihrer Gruppe einen Nachteil gegenüber den Nichtkooperatoren (die in den Genuß der Vorteile kommen, ohne dafür zahlen zu müssen), aber ihre Gruppe floriert, und daher haben sie einen Vorteil gegenüber Individuen aus anderen Gruppen derselben Spezies. Die meisten Theoretiker stimmen darin überein, daß Gruppenselektion zwar im Prinzip möglich ist, aber daß es de facto in den meisten Fällen (aufgrund von Einwanderung) zu viel Genfluß zwischen den Gruppen gibt, als daß die Gruppenselektion in mehr als nur ein paar wenigen isolierten Fällen eine mächtige Kraft sein könnte.
Abermals sind die proximalen Mechanismen der Gruppenselektion einfach. Wieder muß man einfach prädisponiert sein, Dinge zu tun, die anderen helfen (ohne unbedingt kognitiv zu verstehen, daß man das tut), und dieses Verhalten muß selektiv auf Gruppenmitglieder gerichtet sein, die auch hier wieder meist durch räumliche Nähe erkannt werden.1 Obwohl die Gruppenselektion dieses Typs vielleicht keine entscheidende Rolle bei der Evolution der menschlichen Kooperation und Moral gespielt hat, hat doch eine Variante davon, die als kulturelle Gruppenselektion bezeichnet wird, höchstwahrscheinlich genau das getan, wenn auch recht spät. Die kulturelle Gruppenselektion betrifft nicht in erster Linie die genetische Evolution, sondern vielmehr die kulturelle, da Individuen sich via soziales Lernen nach dem Verhalten der anderen in ihrer Gruppe richten (und damit die Homogenität des Verhaltens fördern), und selbst Einwanderer sich anpassen (wodurch sie das Einwanderungsproblem lösen). Eine sekundäre Phase der Koevolution von Genen und Kultur ist ebenfalls eine mögliche Folge, so daß Individuen, die beispielsweise am besten in der Lage sind, sozial zu lernen, einen Anpassungsvorteil besitzen. Die kulturelle Gruppenselektion wird in späteren Stadien unserer Geschichte von der Evolution der menschlichen Moral eine Schlüsselrolle spielen, da Gruppen, die die Fähigkeit besitzen, die Kooperation unter ihren konstituierenden Mitgliedern zu fördern und anzuregen – etwa durch soziale Normen und Institutionen –, benachbarte Gruppen ausstechen, die in dieser Hinsicht nicht so gut sind.
An dritter Stelle stehen Prozesse der Gegenseitigkeit und Reziprozität, die aufgrund ihres potentiellen Einflusses auf psychologische Mechanismen absolut zentral für meinen Ansatz sind. Diese Prozesse operieren beide sowohl auf der Ebene des individuellen Organismus als auch evolutionär, indem das Individuum durch seine Kooperation irgendwelche »Rückzahlungen« erhält, entweder sofort oder später.
Aus einer evolutionären Perspektive lassen sich Prozesse der Gegenseitigkeit leicht erklären, weil alle kooperierenden Personen einen unmittelbaren Vorteil haben (obwohl es dennoch in manchen Fällen Probleme mit Trittbrettfahrern geben kann). Aus diesem Grund wird in der theoretischen Literatur über die Evolution der menschlichen oder nichtmenschlichen Kooperation der Gegenseitigkeit nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt (man konzentriert sich auf den Altruismus). Aber tatsächlich ist die mutualistische Zusammenarbeit für viele der markantesten Eigenschaften der menschlichen kooperativen Kognition und Sozialität verantwortlich. Sie ist in dem Sinne dafür verantwortlich, daß das Bedürfnis nach spezifischen Typen wechselseitiger Zusammenarbeit schon früh in der Evolution des Menschen diejenigen Anpassungsbedingungen erzeugte, unter denen sich eine besonders komplexe Menge proximaler Mechanismen zur Regulation der sozialen Koordination und Kommunikation entwickelte: geteilte Intentionalität (Tomasello, 2009, 2014). Diesen proximalen (psychologischen) Mechanismen wurde in diesem Zusammenhang wenig Aufmerksamkeit der Forschung zuteil, aber sie sind absolut entscheidend – jedenfalls werden wir dafür argumentieren –, um die Evolution menschlicher Kooperation und Moral zu verstehen.
Was die Reziprozität angeht, so ist die klassische Variante der sogenannte reziproke Altruismus (Trivers, 1971): Ich helfe dir oder lasse dir den Vortritt bei dieser Gelegenheit, und du erwiderst meine Gefälligkeit, indem du mir bei der nächsten Gelegenheit hilfst oder den Vortritt läßt, so daß wir beide langfristig einen Vorteil haben. Aber wie funktioniert das psychologisch? Die klassische Wie-du-mir-so-ich-dir-Reziprozität (die manchmal auch als »du kratzt meinen Rücken, und ich kratze deinen« charakterisiert wird) stellt man sich häufig implizit als eine Art von Gesellschaftsvertrag vor, bei dem wir im voraus darüber übereinkommen, uns auf einen zukünftigen Handlungsverlauf zu verpflichten. Obwohl niemand ernsthaft einen Gesellschaftsvertrag für nichtmenschliche Tiere vorschlagen würde, ist es nur schwer zu verstehen, wie Reziprozität ohne so einen Vertrag funktionieren könnte. Das erste Problem ist, daß der reziproke Altruismus überhaupt keine Erklärung für den allerersten altruistischen Akt hat, der dieser Darstellung zufolge auf blindem Optimismus oder Zufall beruhen muß. Das zweite Problem ist der mächtige Impuls, abtrünnig zu werden: Sobald du mir meinen Vorteil verschafft hast, habe ich keinen Anreiz mehr, dir im Gegenzug deinen zu verschaffen; ich sollte mich also einfach zurückziehen, solange ich die Nase vorn habe. Mein einziger Anreiz besteht darin, daß mein reziprokes Handeln dich vielleicht dazu veranlassen wird, mir im Gegenzug einen weiteren Vorteil zu verschaffen. Aber warum sollte es? Du hast ja schließlich denselben Impuls, abtrünnig zu werden, wie ich. Ohne irgendeine Art von Übereinkunft besitzt die Reziprozität an sich keine wirkliche rationale oder emotionale Kraft, um zu altruistischem Verhalten zu motivieren. Indirekte Reziprozität führt zwar die Reputation in das Gesamtbild ein, aber am Ende wird auch sie von denselben beiden Problemen der Motivation des ersten Akts und des Betrugs geplagt.2
Zweifellos sind reziproke Verhaltensmuster in der Natur weit verbreitet. Das Problem sind die proximalen Mechanismen, die ihnen zugrunde liegen. Was wir zumindest für den vorliegenden Zweck brauchen, ist eine in psychologischer Hinsicht realistischere Theorie, um die implizite Vertragsauffassung der Reziprozität zu ersetzen. Ein guter Ausgangspunkt ist die Typologie von de Waal (2000), und diesbezüglich am wichtigsten ist die Tatsache, daß er das, was er als kalkulierte Reziprozität bezeichnet, von der emotionalen (oder einstellungsbezogenen) Reziprozität unterscheidet. Kalkulierte Reziprozität ist der implizite Vertrag: Wir führen jeweils Buch darüber, wer was für wen getan hat und hören mit der Kooperation auf, wenn wir mehr geben, als wir bekommen. Es überrascht nicht, daß dieser Typ von Reziprozität in der Natur sehr selten vorzukommen scheint. Häufiger ist die emotionale Reziprozität, insbesondere bei den Säugetieren mit ihrer Neigung zur Bildung langfristiger, auf Emotionen gründender sozialer Beziehungen. Bei der emotionalen Reziprozität gehen Individuen emotionale Bindungen mit denen ein, die ihnen helfen (möglicherweise auf der Grundlage des Mechanismus, durch den die Nachkommen sich an diejenigen binden, die ihnen beistehen und sie beschützen), und dann helfen sie naturgemäß denen, mit denen sie sozial verbunden sind – Verwandten und »Freunden«. Emotionale Reziprozität scheint zwar zumindest bei Primaten und anderen Säugetieren weit verbreitet zu sein, aber die Frage ist, warum Individuen überhaupt freundschaftliche soziale Beziehungen zu Nichtverwandten aufbauen, warum sie diesen Freunden helfen und wie ihre Freundschaften ihre reproduktive Fitness beeinflussen.
Nahezu alle formalisierten Theorien der Kooperationsentwicklung (zum Beispiel Nowak und Highfield, 2011) begreifen das Individuum als asoziale Monade, die sich in dem Bemühen, ihre Gene weiterzugeben, in ständiger Konkurrenz zu allen anderen Mitgliedern ihrer Spezies befindet. Aber obwohl diese Ansicht in einem gewissen Sinn stichhaltig ist, ist sie bezogen auf kognitiv und sozial komplexe Organismen doch unvollständig, ganz zu schweigen davon, daß sie nur wenig an proximalen Mechanismen interessiert ist. Die Hauptsache ist, daß kognitiv und sozial komplexe Organismen in vielfältige soziale Beziehungen und Interdependenzen mit anderen verstrickt sind; und das bedeutet – unter der Annahme, daß diese Beziehungen und Interdependenzen für ihre Fitness wichtig sind –, daß die Hilfe für diese anderen und die Kooperation mit ihnen, ob sie nun reziprok oder anders geschieht, kein Opfer, sondern eine Investition ist.
Betrachten wir Maynard Smith' (1982) berühmte Interaktion zwischen Falken und Tauben. Zwei Individuen einer Spezies, die nichts übereinander wissen, nähern sich einem kleinen Bissen Nahrung. Sie könnten beide kooperieren (»Taube« spielen), und jedes könnte die Hälfte der Nahrung bekommen; aber jedes Individuum ist auch versucht, das andere wegzujagen (»Falke« zu spielen) und alles für sich zu nehmen – obwohl das in einem vernichtenden Kampf enden kann. Sie befinden sich in einem Gefangenendilemma: Um die Nahrungsaufnahme zu maximieren, besteht die beste Strategie für beide darin, Falke zu spielen, und zwar unabhängig davon, was das andere tut, und das unvermeidliche Ergebnis ist ein vernichtender Kampf.3 Betrachten wir nun aber, wie sich die Situation ändert, wenn die Individuen eine bedeutende soziale Beziehung zueinander haben. Ein Männchen nähert sich der Nahrung zur selben Zeit wie das einzige Weibchen in der Gruppe, das sich mit ihm paaren wird. Da sein zukünftiger Fortpflanzungserfolg völlig in ihren Händen liegt – für die Weitergabe seiner Gene ist es zu 100 Prozent von ihr abhängig –, will es nicht, daß sie Hunger leidet. Sein bevorzugtes Ergebnis ist, daß jeder einen Teil der Nahrung bekommt. Wenn das Weibchen ebenfalls vom Männchen als Paarungspartner abhängt, dann will es auch nicht, daß das Männchen Hunger leidet. Jetzt sind sie interdependent, und es gibt kein Gefangenendilemma, weil keiner von beiden die Situation bevorzugt, in der er oder sie die ganze Nahrung bekommt und der andere nichts. Sie sorgen sich um das Wohlergehen des anderen.
Die klassische Darstellung von Reziprozität – wie sie in formalen Modellen typischerweise charakterisiert wird – kennt keine solchen Interdependenzen; das heißt, sie erkennt nicht die Wichtigkeit sozialer Beziehungen für kooperative Interaktionen. Und natürlich sind unterschiedliche Typen von Partnern unterschiedlich wichtig. Dementsprechend schlägt Roberts (2005) ein »Stakeholder-Modell« vor, dem zufolge Individuen ein Interesse am Wohlergehen bestimmter anderer Individuen haben, beispielsweise ihrer Paarungs- oder Bündnispartner. Für einen individuellen altruistischen Akt gilt
iRV > K,
wobei mit RV wie in Hamiltons berühmter Gleichung für die Verwandtschaftsselektion die Reproduktionsvorteile für den Handelnden gemeint sind. Diese müssen größer sein als seine Kosten K, wenn die Vorteile durch das Interesse i bedingt sind, das der Handelnde am Empfänger hat (analog zu Hamiltons Verwandtschaftsgradskoeffizient). Die Variable i zeigt einfach an, wie wichtig es für den Handelnden ist, daß der Empfänger am Leben und in guter Verfassung für zukünftige Interaktionen ist. Wie ein Individuum im einzelnen diejenigen identifiziert, von denen es abhängt, und wie abhängig es von ihnen ist, ist eine Funktion der jeweiligen kognitiven Mechanismen, über die die jeweilige Spezies verfügt, und die von einfachen angeborenen Heuristiken bis zu komplexen gelernten Urteilen reichen können.
Man beachte, daß das Stakeholder-Modell eine asymmetrische Anwendung hat: Es sagt mir, ob ich jemandem aufgrund meines Interesses an ihm helfen sollte. Ob er ein Interesse an mir hat oder nicht, ist irrelevant. So könnte ich beispielsweise ein Interesse an einem Alarmrufer haben, da mir seine Leistung regelmäßig dabei hilft, Raubtieren aus dem Weg zu gehen. Daher sollte ich ihm bei Bedarf helfen, für seine Aufgabe in guter Verfassung zu bleiben. Aber natürlich ist es möglich, daß er die Aufgabe, die niemand anders erledigen will, gerade deshalb erledigt, weil ich und andere ihn dafür belohnen. Jetzt haben wir wieder einen Fall von Interdependenz, obwohl in diesem Fall die beiden Abhängigkeiten, um die es geht, unterschiedlicher Natur sind und die relevanten Handlungen zu verschiedenen Zeiten stattfinden. Bei mutualistischeren Tätigkeiten, wie beispielsweise der Paarung, der kooperativen Jagd oder dem Streben nach Dominanz durch Bündnisse, sind dieselben grundlegenden Prozesse der Interdependenz am Werk, nur finden sie gleichzeitig und symmetrischer statt: Wir ziehen zur selben Zeit und auf ähnliche Weise Vorteile aus unserer interdependenten Zusammenarbeit. Später werde ich geltend machen, daß eine interdependente Partnerschaft bei einer wechselseitigen gemeinschaftlichen Tätigkeit eine besonders wichtige Situation sowohl für die Kooperation als auch für den Altruismus ist, und zwar wegen der symmetrischen Stabilität, die dadurch erreicht wird: Jeder hängt vom anderen unmittelbar und akut ab, so daß Betrügereien ihren Reiz verlieren.
Individuen sozial komplexer Spezies hängen auf viele verschiedene Weisen von vielen anderen Gruppenmitgliedern ab und sind interdependent mit Bezug auf sie. Tatsächlich hat Clutton-Brock (2002) geltend gemacht, daß das Wesen des Soziallebens in der Interdependenz besteht (obwohl er diesen Ausdruck nicht verwendet), und schlägt deshalb einen Mechanismus namens Gruppensteigerung (group augmentation) vor, der für das Sozialleben im allgemeinen gilt. Wenn mein Wohlergehen von meiner sozialen Gruppe abhängt (beispielsweise beim Schutz vor Raubtieren oder anderen Gruppen), dann liegt es in meinem Interesse, dafür zu sorgen, daß jedes meiner Gruppenmitglieder lebendig und wohlauf ist. Soziale Wesen haben somit zumindest ein kleines Interesse an jedem ihrer Gruppenmitglieder. Das Ergebnis ist, daß das Gesamtinteresse, das ich an jedem Gruppenmitglied habe, die Summe vieler besonderer Interessen ist, die ich an ihm habe: als Alarmrufer, als Bündnispartner, als Gruppenmitglied usw. Daher werde ich für dieses Mitglied einen altruistischen Akt vollziehen, wenn
i1RV1 + i2RV2 … ikRVk > K,
wobei jeder Term eine Art und Weise repräsentiert, wie ich von ihm abhängig bin, ein Interesse an ihm habe, und zwar jeweils auf seinem eigenen quantitativen Niveau. Um es nochmals zu sagen: Organismen müssen ihr Interesse an anderen offensichtlich nicht kognitiv berechnen, bevor sie handeln; wie immer stellt Mutter Natur geeignete kognitive Heuristiken und andere Abkürzungen bereit, wobei Organismen, die sozial und kognitiv komplexer sind, vermutlich auch diesbezüglich geschickter und flexibler sind.
Dem Stakeholder-Modell zufolge könnte man also sagen, daß die Lebewesen für ihre Freundlichkeit »Rückzahlungen« erhalten, so daß man von so etwas wie »Pseudoreziprozität« sprechen könnte (Bshary und Bergmueller, 2008). Schön. Aber der wichtige Punkt ist, daß im Unterschied zur klassischen Reziprozität das Verhalten des Altruisten nicht davon abhängt, daß der Empfänger reagiert oder durch die Hilfe auf irgendeine Weise beeinflußt wird (und auch davon, daß der Altruist irgendeine Reaktion dieser Art oder einen Einfluß antizipiert). Der Empfänger wird einfach mit dem fortfahren, was er immer schon tut – Alarm schlagen, sich paaren, ein Bündnis- oder Jagdpartner sein oder in der sozialen Gruppe sein –, weil es in seinem Interesse liegt, das zu tun; und zufällig springt dabei, sozusagen als Nebenprodukt, ein Vorteil für den Altruisten heraus. Eine aktivere Vorstellung vom Verhalten des Altruisten ist folglich die einer Art von Investition in den Empfänger; er investiert in dessen Wohlergehen, da das zu seinem eigenen Wohlergehen beiträgt (Kummer, 1979). Dieser Auffassung zufolge läßt sich emotionale Reziprozität am angemessensten als wechselseitige Investitionen zwischen interdependenten Freunden charakterisieren, die einander helfen, und zwar nicht, um vergangene Akte zurückzuerstatten, sondern um in die Zukunft zu investieren. In einigen Fällen mag jedes Individuum vom anderen gerade wegen der von diesem gebotenen Vorteile abhängen, die dieses andere bietet, aber aus einer proximalen Perspektive wird der altruistische Akt nicht durch irgendeinen besonderen früheren Akt motiviert, sondern nur durch das Ziel, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Wir könnten die Situation daher begrifflich so fassen, daß die Individuen symbiotisch zusammenleben (ein Begriff, der typischerweise nur auf Interaktionen zwischen Spezies angewandt wird), da es keinen Austausch von Gefälligkeiten oder irgend etwas Derartiges gibt, sondern nur Individuen, die versuchen, ihre Fitness direkt zu steigern.
Diese Sicht der Dinge weist nicht die vielen Probleme der Reziprozität auf – insbesondere das Problem der Motivierung des ersten altruistischen Akts oder das Problem des Abtrünnigwerdens –, weil es keine direkte Abhängigkeit altruistischer Akte gibt (obwohl natürlich eine Beziehung im Lauf der Zeit aus vielen Gründen zusammenbrechen kann). Ein Individuum hilft dem anderen das zu tun, was es ohnehin schon aus seinen eigenen Gründen tun würde – und zwar bis zu einem bestimmten mathematischen Punkt. Aber diese Theorie hat natürlich immer noch ein potentielles Problem mit Trittbrettfahrern, weil man die Hilfe hinauszögern kann: Am besten wäre es, jemand anders würde meinem Alarmrufer helfen, so daß ich die Vorteile genießen könnte, ohne irgendwelche Kosten zu haben. Aber wie Zahavi (2003) deutlich gemacht hat, läßt sich genau dieselbe Logik auch auf die Verwandtschaftsselektion anwenden: Es liegt in meinem Interesse, meinem Bruder zu helfen, weil er meine Gene teilt, aber meine erste Präferenz ist, daß jemand anders ihm hilft, so daß ich nicht die Kosten oder Risiken tragen muß. Und daher löst die Interdependenz, wie sie von dem Stakeholder-Modell beschrieben wird, natürlich nicht alle Probleme der Kooperation auf einen Streich; vielmehr ändert sie die Kosten-Nutzen-Analyse beträchtlich, indem sie dieselbe Logik wie die Verwandtschaftsselektion benutzt.
Die Perspektive der Interdependenz integriert also Gegenseitigkeit und Reziprozität auf natürliche Weise, und sie motiviert Reziprozität in einem viel stabileren Sinne als klassische Darstellungen. Außerdem rückt sie den Altruismus in ein neues Licht. Altruismus ist keine unwahrscheinliche Errungenschaft gegen die individualisierenden Kräfte der natürlichen Selektion; vielmehr ist er ein wesentlicher Bestandteil des Soziallebens aller Wesen, die interdependent mit anderen zusammenleben – bis zu einem gewissen (mathematischen) Punkt. Jeder hilft jedem und bekommt Hilfe bis zu einem bestimmten Punkt, weil jeder für jemand bis zu einem bestimmten Punkt auf irgendeine Weise wichtig ist. Diese Auffassung stimmt auch gut mit den vorausblickenden Ansichten Kropotkins (1989) über »gegenseitige Hilfe« überein, die eine entscheidende Rolle im Alltagsleben sozialer Lebewesen spielt, die mehr gegen die Anforderungen der physischen Umwelt kämpfen müssen (manchmal auf kooperative Weise) als gegeneinander.