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Die Natur kann Organismen nicht so »bauen«, dass sie biologisch auf alle Eventualitäten vorbereitet sind. Sie kann aber psychologische Akteure schaffen: Organismen, welche als Feedbacksteuerungssysteme funktionieren, die Ziele verfolgen, fundierte Verhaltensentscheidungen treffen und deren Ausführung überwachen. In seinem neuen Buch stellt Michael Tomasello eine Typologie der wichtigsten Formen psychologischen Handelns vor, die auf dem Weg der Evolution zum Menschen entstanden sind.
Er skizziert vier Haupttypen dieses Handelns in der evolutionären Reihenfolge ihres Auftretens: das zielgerichtete der Wirbeltiere, das intentionale der Säugetiere, das rationale der Menschenaffen und schließlich das sozial-normative der Menschen. Jede neue Form ging mit einer höheren Komplexität bei der Planung, Entscheidungsfindung und Kontrolle einher. Und jede führte zu neuartigen Erfahrungen mit der Umwelt sowie – in einigen Fällen – mit sich selbst. Schlussendlich kam es dazu, dass der Mensch eine sowohl objektive als auch normative Welt erlebt, die sein gesamtes Denken und Handeln bestimmt.
Die Evolution des Handelns ist ein ebenso kreatives wie kühnes Werk, das einen neuen theoretischen Rahmen präsentiert, der den evolutionspsychologischen State of the Art sowohl erweitert als auch vertieft.
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Seitenzahl: 306
5
3Michael Tomasello
Die Evolution des Handelns
Von den Eidechsen zum Menschen
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp
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Titel der Originalausgabe: The Evolution of Agency. Behavioral Organization from Lizards to HumansDie Originalausgabe in englischer Sprache, die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 2022 bei The MIT Press
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024Copyright © 2022 Massachusetts Institute of Technology
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Umschlaggestaltung: Brian Barth
Umschlagabbildung: mikronan6/Getty Images
eISBN 978-3-518-77883-8
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Danksagung
1 Einleitung
Evolutionäre Ansätze in der Tierpsychologie
Evolutionäre Ansätze mit Bezug auf die Psychologie des Menschen
Ziele dieses Buches
2 Ein Feedbacksteuerungsmodell des Handelns
Maschinenmodelle des Handelns
Typen ökologischer Herausforderungen
Heute lebende Tierarten als Modelle für ausgestorbene Tierarten
3 Urzeitliche Wirbeltiere als zielgerichtete Akteure
Belebte (nichtagentive) Akteure
Zielgerichtete Akteure
Ökologische und erfahrungsbezogene Nischen
Die Grundlagen des Handelns
4 Urzeitliche Säugetiere als intentionale Akteure
Emotionen, Kognition und Lernen
Die Exekutivschicht
Exekutive Entscheidungsprozesse
Exekutive (kognitive) Kontrolle
Instrumentelles Lernen
Die Erfahrung der eigenen zielgerichteten Handlung und Aufmerksamkeit
5 Urzeitliche Menschenaffen als rationale Akteure
Sozioökologische Herausforderungen
Kausale Ereignisse verstehen
Intentionale Handlungen verstehen
Rationale Entscheidungsprozesse und kognitive Kontrolle
Die reflexive Schicht und ihre Erfahrungsnische
Aber sind sie wirklich rational?
6 Urzeitliche Menschen als sozial normative Akteure
Frühmenschliches gemeinsames Handeln bei der Zusammenarbeit
Die Bildung eines gemeinsamen Ziels
Die Koordination von Rollen
Die kooperative Selbstregulation der Zusammenarbeit
Die kooperative Rationalität und ihre Erfahrungsnische
Kollektives Handeln in Kulturgruppen bei modernen Menschen
Die Bildung kollektiver Ziele
Die Koordination sozialer Rollen
Kollektive Selbstregulation durch soziale Normen
Normative Rationalität und ihre Erfahrungsnische
Die Komplexitäten des menschlichen Handelns
7 Handeln als Organisation des Verhaltens
1. Das »Rückgrat« des psychologischen Handelns ist die Organisation der Feedbacksteuerung
2. Die ökologischen Herausforderungen, die zur Evolution des Handelns führten, beinhalten alle die eine oder andere Form von Unvorhersagbarkeit in der Umwelt
3. Trotz der Vielzahl spezifischer verhaltensmäßiger und psychologischer Anpassungen über verschiedene Tierarten hinweg gibt es nur ein paar wenige Typen psychologischer Baupläne für die agentive Organisation des Verhaltens
4. Die evolutionäre Entstehung neuer Formen der Verhaltensorganisation umfasst sowohl »hierarchische Modularität« als auch »Trickle-down-Selektion«
5. Veränderungen der agentiven Organisation des Verhaltens und der Psychologie einer Tierart führen zu Veränderungen der Typen von Erfahrung, zu denen sie fähig ist (ihrer Erfahrungsnische)
6. Der Entscheidungen treffende Akteur ist notwendig, und er ist kein Homunkulus, zumindest nicht in einem schlechten Sinne
Anhang A
Anhang B
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Register
Fußnoten
Informationen zum Buch
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Ich möchte mehreren Kollegen für hilfreiche Rückmeldungen zu einer früheren Fassung dieses Manuskripts danken. Josep Call las so gut wie die gesamte erste Fassung und gab mir äußerst hilfreiche Rückmeldungen, ebenso wie Jan Engelmann, Walter Sinnott-Armstrong und Manuel Bohn. Ich danke ihnen allen dafür, dass sie zur Verbesserung dieses Buches beigetragen haben. Außerdem danke ich Brian Hare und Alex Rosenberg für eine Reihe nützlicher Anregungen im Hinblick auf Teile der früheren Fassung. Weiterer Dank geht an Walter Sinnott-Armstrong und sein aus Kollegen bestehendes Seminar (hauptsächlich von der Abteilung für Psychologie und Neurowissenschaft der Duke University) für eine sehr interessante, diesem Buch gewidmete Sitzung, die in zahlreichen Hinsichten hilfreich war. Außerdem danke ich Philip Laughlin von MIT Press und vier anonymen Gutachtern für sehr nützliche Rückmeldungen. Und schließlich möchte ich meine tiefste Dankbarkeit meiner Ehefrau Rita Svetlova gegenüber zum Ausdruck bringen, für ihre Hilfe sowohl im Hinblick auf die Ideen als auch auf das Manuskript selbst, insbesondere die Einleitung.
In einer fernen Zukunft … [wird die] […] Psychologie sicher auf der von Herbert Spencer geschaffenen Grundlage weiterbauen: daß jedes geistige Vermögen und jede Fähigkeit nur allmählich und stufenweise erlangt werden kann.
Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten
Primaten und andere Säugetiere scheinen »intelligenter« als Wesen kleineren Maßstabs, wie zum Beispiel Insekten, zu sein. Aber die Grundlage für diesen Eindruck ist alles andere als klar. Er beruht sicherlich nicht auf Unterschieden in der Komplexität des Verhaltens: Ameisen, die Ameisenhaufen bauen, Spinnen, die Spinnennetze weben, und Bienen, die ihren Gefährten im Bienenstock mitteilen, wo Nektar zu finden ist, zeigen ein ebenso komplexes oder komplexeres Verhalten als alles, wozu irgendein Primat oder Säugetier in der Lage ist.
Entscheidend ist nicht die Komplexität, sondern die Kontrolle. Auch wenn sie etwas Hochkomplexes tun, scheint das Verhalten von Ameisen, Spinnen und Bienen nicht unter der Kontrolle des Individuums zu stehen. Ihre evolvierte Biologie hat die Kontrolle. Im Gegensatz dazu scheinen Primaten und Säugetiere, auch wenn sie etwas relativ Einfaches tun, aktive und sachkundige Entscheidungen zu treffen, die zumindest bis zu einem gewissen Grad der Kontrolle des Individuums unterliegen. Zusätzlich zu ihrer evolvierten Biologie operieren sie anhand einer Psychologie des individuellen Handelns.
Individuelles Handeln bedeutet nicht völlige Freiheit von der Biologie; es wird stets im Kontext der evolvierten Fähigkeiten eines Organismus ausgeübt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist klar, dass 12ein Eichhörnchen irgendwie vorprogrammiert ist, Nüsse zu verstecken. Aber die Erfordernisse einer bestimmten Umgebung zu einem bestimmten Zeitpunkt sind einzigartig in Hinsichten, auf die der Organismus nicht im Einzelnen biologisch vorbereitet sein kann, und daher muss das individuelle Eichhörnchen als Akteur die gegenwärtige Situation einschätzen und selbst eine Entscheidung mit Bezug auf das Versteck treffen. Für viele Organismen sind die Freiheitsgrade beim Treffen solcher Entscheidungen zwar ziemlich begrenzt – und können sich in verschiedenen Verhaltensbereichen voneinander unterscheiden –, aber solche Freiheitsgrade gibt es häufig trotzdem, und innerhalb dieser Freiheitsgrade ist es der individuelle Akteur, der entscheidet, was zu tun ist.
Evolutionstheoretische Ansätze für sowohl das Verhalten von Tieren als auch von Menschen haben, aus welchen historischen Gründen auch immer, dazu geneigt, das individuelle Handeln zu ignorieren. Vielleicht beschwört es das Gespenst eines Homunkulus hinter den Kulissen herauf, das nichts erklärt. Aber die Biologen selbst waren vor einem Jahrhundert im Hinblick auf die Vorstellung eines élan vital, der vorgab, Leben im Allgemeinen zu erklären, mit einem ähnlichen Problem konfrontiert. Es zeigt sich, dass Lebewesen sich von leblosen Dingen nicht durch eine belebende Substanz oder Entität unterscheiden, sondern vielmehr durch eine besondere Art von chemischer Organisation. Ähnlich können wir im vorliegenden Fall sagen, dass agentive* Wesen sich von nichtagentiven Wesen nicht 13durch eine Handlungssubstanz oder -entität unterscheiden, sondern vielmehr durch eine besondere Art der Verhaltensorganisation. Diese ist eine Organisation der Feedbacksteuerung, bei der das Individuum sein Verhalten auf Ziele richtet – von denen viele oder die meisten sich biologisch entwickelt haben – und den Prozess durch das Treffen sachkundiger Entscheidungen und die Beobachtung des eigenen Verhaltens steuert oder gar selbstreguliert. Die Biologie der Art wird durch die individuelle Psychologie ergänzt.
Wie und warum entwickelte sich die Fähigkeit zum Handeln und warum bei einigen Arten (in manchen Verhaltensbereichen) mehr als bei anderen? Eine plausible Hypothese lautet, dass in manchen Fällen die ökologische Nische einer Art über Raum und Zeit hinweg zu unvorhersagbar ist, als dass fest verdrahtete Wahrnehmungen/Verhalten-Beziehungen effektiv wären. Angesichts einer solchen Unvorhersagbarkeit braucht die Natur – wenn wir den Prozess der Evolution durch natürliche Selektion um der leichteren Darstellung willen personifizieren dürfen (Okasha 2018) – sozusagen jemanden »vor Ort«, um die örtlichen Bedingungen zum jeweiligen Zeitpunkt einzuschätzen und über den besten Handlungsverlauf zu entscheiden. Was sich auf diese Weise entwickelt, ist eine zugrunde liegende Psychologie des Handelns, die das Individuum – in einer bestimmten wichtigen Teilmenge von Situationen – in die Lage versetzt, für sich selbst zu entscheiden, was es seinem eigenen besten Urteil zufolge tun soll. Dieser Operationsmodus stellt eine uralte Organisationsarchitektur dar, die für die große Mehrheit heute lebender Tierarten charakteristisch ist, und tatsächlich würde ich auch behaupten, dass sogar Ameisen, Spinnen und Bienen einige individuelle Entscheidungen treffen, auch wenn es nur wenige sind und sie außerdem starken Einschränkungen unterliegen.
14Beim Handeln geht es also nicht um all die vielen und mannigfaltigen Dinge, die Organismen tun – vom Bau von Ameisenhaufen bis zum Verstecken von Nüssen –, sondern vielmehr darum, wie sie sie tun. Individuen, die als Akteure handeln, leiten und steuern ihre eigenen Handlungen, wie auch immer diese Handlungen im Einzelnen aussehen mögen. Die wissenschaftliche Herausforderung besteht darin, die zugrunde liegende psychologische Organisation zu bestimmen, die eine solche individuelle Leitung und Steuerung ermöglicht. Die Antwort auf diese Herausforderung ergibt eine Art von fotografischem Negativ des gewöhnlichen Bildes in der Evolutionspsychologie: dasjenige, was gewöhnlich im Brennpunkt steht (die angepassten Spezialisierungen der Arten), in den Hintergrund zu stellen und dasjenige, was gewöhnlich im Hintergrund steht (das Handeln von Individuen), in den Brennpunkt zu rücken. Um am Ende das spezifisch menschliche Handeln zu erklären – wie ich es tun möchte –, brauchen wir eine Darstellung, die die evolutionären Schritte bei der Verhaltensorganisation des Handelns von Lebewesen, die nur wenige und stark eingeschränkte Entscheidungen treffen, bis zu Lebewesen nachzeichnet, die recht häufig für sich entscheiden, was zu tun ist. Es überrascht vielleicht, dass es, wie sich zeigt, nur wenige solcher Schritte gibt.
Von Anfang an interessierte sich Charles Darwin für das Verhalten. Seine Galapagosfinken hatten Schnäbel in verschiedenen Formen und Größen, weil – und nur weil – sie unterschiedliche Dinge tun mussten, um an Nahrung zu gelangen. Zu verschiedenen Zeiten untersuchte Darwin das Verhalten von Hunden, Katzen, Regenwürmern, eines Orang-Utans namens Jenny im Londoner Zoo, von Seepocken, das Verhalten seines erstgeborenen Kindes und sogar das von Kletterpflanzen! In jedem Fall spekulierte er über die daran beteilig15te zugrunde liegende Psychologie und argumentierte für Kontinuität durch »Abstammung mit Modifikationen« (siehe das Motto am Kapitelanfang). Außerdem machte Darwin geltend, dass die Handlungsfähigkeit von Individuen zu der Variation beitrage, die für die Evolution des Verhaltens benötigt wird, und daher eine wichtige Rolle in dem Vorgang spiele (Bradley, 2020). Doch zu jener Zeit gab es kein ausgestaltetes wissenschaftliches Paradigma für die Untersuchung des Verhaltens von Tieren, das Darwins Interesse am Verhalten in ein empirisches Forschungsprogramm hätte verwandeln können.
Das erste empirische Forschungsprogramm, das mit Darwins ursprünglicher Vision übereinstimmte, tauchte erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf. Konrad Lorenz, Niko Tinbergen und Karl von Frisch gründeten die Disziplin der Ethologie, die sich auf die evolvierten (»angeborenen«) Verhaltensweisen bestimmter Tierarten konzentrierte. Ihre Grundbehauptung bestand darin, dass das Verhalten einer Art, ebenso wie ihre Physiologie, sich als Anpassung an eine ganz bestimmte ökologische Nische entwickelte. So entwickelten beispielsweise Graugansmütter angeborene Verhaltensweisen, um ihnen abhandengekommene Eier (oder Golfbälle in Experimenten) zum Nest zurückzurollen, und Stichlinge entwickelten aggressive Verhaltensweisen als Reaktion auf bestimmte Färbungen bestimmter Körperteile von Artgenossen. E. O. Wilson dehnte in seinem Buch Soziobiologie (engl. Orig., 1975, dt. Übers., 1980) den Ansatz auf soziales Verhalten aus, darunter insbesondere auf das hochkomplexe Sozialverhalten eusozialer Insekten wie Ameisen und Bienen. Das Paradigma enthielt nicht viel Psychologie – und zwar absichtlich, da es sich selbst als »Biologie des Verhaltens« bezeichnete – und hatte so gut wie kein Interesse am individuellen Handeln.
In den vergangenen Jahrzehnten florierte die Ethologie, aber unter unterschiedlichen Bezeichnungen. Sie hat sich im Grunde zu dem gewandelt, was man jetzt als »Verhaltensbiologie« und »Verhaltensökologie« bezeichnet. Wie die klassische Ethologie befasst sich keine 16dieser neueren Disziplinen mit der Psychologie an sich (typischerweise sind sie bei den Biologiefakultäten angesiedelt). Beide konzentrieren sich auf Verhalten, aber nur bezüglich der Art und Weise, wie dieses Verhalten zur genetischen Fitness beiträgt. Manchmal beziehen sie sich zwar auch auf Entscheidungsprozesse, zum Beispiel in Modellen der optimalen Nahrungssuche, aber diese Prozesse werden nicht als psychologische Mechanismen aufgefasst, die von Individuen gesteuert werden, sondern vielmehr als die Art und Weise, wie die natürliche Selektion das Verhalten einer Art formt, um Fitnessvorteile (zum Beispiel die Kalorienaufnahme) zu maximieren und Fitnesskosten (zum Beispiel den Energieaufwand) zu minimieren. Potenziell psychologische oder handlungsbezogene Begriffe wie Auswahl und Strategie, die bei diesen Analysen verwendet werden, sind deshalb nur Stellvertreter für die evolutionären und genetischen Prozesse, die zum Verhalten beitragen.
Während Verhaltensbiologen und Ökologen sich zum größten Teil nicht für die psychologischen Mechanismen interessieren, die das Verhalten erzeugen, haben Psychologen ein solches Interesse. Die ersten Psychologen mit einem systematischen Programm für die empirische Erforschung von Tierverhalten waren die Behavioristen, die tatsächlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch vor den Ethologen begannen (indem sie frühere philosophische Ansätze der Tierpsychologie modifizierten). Die Behavioristen konzentrierten sich auf genau eine Sache – das Lernen – bei einer oder zwei Arten (zuerst Ratten und dann Tauben). Sie waren keine Evolutionspsychologen. Sie berücksichtigten weder die ökologischen Herausforderungen noch die evolvierten Verhaltensfähigkeiten bestimmter Arten – und auch nicht die Frage, wie die evolvierten Fähigkeiten der Arten ihr Lernen strukturieren –, und sie standen den Behauptungen der Ethologen mit Bezug auf die Angeborenheit skeptisch gegenüber (etwa zum Beispiel Skinner, 1966). Die Behavioristen waren auch keine Kognitionspsychologen: Bei ihren Verhaltensanalysen vermieden sie ausdrücklich jeden Bezug auf »innere Zustände« (obwohl 17sie an einem bestimmten Punkt ein Gedächtnis für gelernte Assoziationen einräumten). Der aktive Widerstand sowohl gegenüber der evolutionären als auch gegenüber der kognitiven Revolution in der Untersuchung des Verhaltens führte zum Niedergang des Behaviorismus im späten 20. Jahrhundert. Trotzdem überleben noch einige nutzlose Überbleibsel des Paradigmas auf vielen Gebieten psychologischer Forschung, insbesondere die Sichtweise auf Organismen als passive Empfänger von Reizen, auf die sie reaktiv antworten.
Ein weiteres nutzloses Überbleibsel des Behaviorismus ist die Anlage-Umwelt-Debatte. Wenn wir es mit den psychologischen Mechanismen zu tun haben, durch die Organismen ihre Handlungen generieren, ist das die falsche Debatte. Es geht nicht darum, ob etwas angeboren oder gelernt ist, sondern vielmehr um den Grad, bis zu dem es vom Individuum gesteuert wird. So mag beispielsweise ein Organismus eine genetisch verdrahtete Vorliebe für zuckerhaltige Nahrungsmittel haben, aber vom Standpunkt der Handlungsfähigkeit aus geht es darum, ob diese Vorliebe den Organismus dazu zwingt, jede zuckerhaltige Nahrung zu verzehren, der er begegnet, oder ob diese Vorliebe bloß ein Faktor unter mehreren bei der individuellen Entscheidung des Organismus mit Bezug darauf ist, was er essen soll. Im Hinblick auf die Kognition können manche Tiere nur eine einzige Art von Werkzeug in einem begrenzten Kontext verwenden, während Schimpansen eine große Bandbreite von Werkzeugen flexibel in einer breiten Vielfalt von Kontexten verwenden können – einschließlich neuer Werkzeuge in Experimenten –, ja, sie können sogar Werkzeuge herstellen, um sie der Situation anzupassen, wenn es nötig ist. Eine solche Verhaltensflexibilität, die auf individuellem Urteil und auf Entscheidungsprozessen beruht, beinhaltet nicht notwendig auch Lernen; Schimpansen verwenden manchmal neue Werkzeuge flexibel, schon wenn sie das erste Mal mit ihnen in Berührung kommen. Vielmehr geht eine solche Verhaltensflexibilität aus einer besonderen Art von Verhaltensorganisation hervor, die ich »agentiv« nenne.
Die Anlage-Umwelt-Debatte wird noch irrelevanter, wenn wir 18die Künstlichkeit der Konzentration der Behavioristen auf eine molekulare Ebene punktförmiger Reize und Reaktionen erkennen. Die Verhaltensweisen der meisten Organismen werden psychologisch auf mehreren hierarchischen Ebenen gleichzeitig vollzogen – ein Ausflug zur Nahrungssuche dient gleichzeitig dazu, den Hunger zu stillen, Beute zu suchen, sich an einen bestimmten Ort zu begeben und die Extremitäten auf bestimmte Weisen zu bewegen –, und manche dieser Ebenen unterstehen der Kontrolle des individuellen Akteurs mehr als andere. Eine wichtige Art und Weise, wie sich das Verhalten einer Art entwickelt, betrifft das evolutionäre Auftauchen neuer Zielzustände, die von der Natur mehr oder weniger fest verdrahtet werden (zum Beispiel eine evolvierte Vorliebe für eine neue Nahrung), wobei jedoch die Verhaltensmittel zur Erreichung dieser Zielzustände dem Individuum überlassen bleiben, das sie (vor dem Hintergrund seiner bestehenden kognitiven und Verhaltensfähigkeiten) eigenständig findet. Diese Art, sich die Dinge vorzustellen, erkennt – selbst in ein und derselben Tätigkeit – die wichtige Rolle sowohl der genetischen Strukturierung auf der Ebene der Art als auch der individuellen psychologischen Handlungsfähigkeit an.
In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren hatten sich viele Erforscher des Tierverhaltens der kognitiven Revolution angeschlossen. In den 1990er Jahren gab es eine Zeitschrift mit dem Titel Animal Cognition, die Untersuchungen einer Vielfalt von Tierarten veröffentlichte, welche hauptsächlich die Theorien und Methoden der Kognitionswissenschaft vom Menschen anwendeten, einschließlich der kognitiven Entwicklungspsychologie. Die entstehende Disziplin umfasste Themen wie räumliche Kognition, Objektbegriffe und -kategorien, das Verständnis von Kausalität, das Verständnis von Quantitäten, soziale Kognition (Theorie des Geistes), soziales Lernen (Imitation), Kommunikation, Kooperation und so genannte horizontale Fertigkeiten wie Gedächtnis und Problemlösen. Bei der Untersuchung solcher Phänomene konzentrierten sich die Erforscher der Tierkognition hauptsächlich auf diejenigen, die bis zu einem be19stimmten Grad unter der Kontrolle des Individuums stehen. So stellten Tomasello und Call (1997) in ihrem Überblick über die Forschung und Theorie mit Bezug auf die Kognition von Primaten ausdrücklich fest, dass Dinge wie etwa das Weben von Spinnennetzen zwar interessante und komplexe Phänomene sind, aber keine psychologischen, und zwar gerade deshalb, weil sie größtenteils nicht der flexiblen Kontrolle der Spinne unterliegen. Der Begriff des Handelns stellt daher in einem gewissen Sinne die Trennlinie zwischen biologischen und psychologischen Ansätzen mit Bezug auf Verhalten dar; es ist die Unterscheidung zwischen komplexen Verhaltensweisen, die sozusagen von der Natur entworfen und kontrolliert werden, und denjenigen, die zumindest bis zu einem gewissen Grad vom individuellen psychologischen Akteur entworfen und kontrolliert werden.
Die Forschung im Bereich der tierischen Kognition hat sich hauptsächlich auf verschiedene kognitive Fertigkeiten konzentriert, mit denen bestimmte Tierarten operieren; viel weniger untersucht wurden individuelle Entscheidungsprozesse und die Verhaltenssteuerung. Im Hinblick auf Entscheidungsprozesse haben Studien festgestellt, dass manche nichtmenschliche Primaten einige derselben Entscheidungsprozesse wie Menschen verwenden, unter anderem viele der »nichtrationalen« Tendenzen, die von Wissenschaftlern auf dem Gebiet menschlicher Entscheidungen entdeckt wurden, wie beispielsweise die Zeitpräferenz (die Bevorzugung einer Belohnung in der Gegenwart gegenüber einer in der Zukunft, A. d. Ü.) oder die Verlustaversion (Santos und Rosati, 2015; Mendelson et al., 2016). In manchen Fällen wurden auch die ökologischen Zwänge identifiziert, die zu Unterschieden im Stil des Entscheidungsprozesses zwischen Tierarten führen (zum Beispiel Rosati, 2017a). Im Hinblick auf die Verhaltenssteuerung haben Untersuchungen wiederum gezeigt, dass manche nichtmenschliche Primaten mit einem Teil derselben Prozesse exekutiver Funktionen wie Menschen operieren, und viele ihrer ökologischen Korrelate wurden ebenfalls identifiziert (Rosati, 2017b, 2017c). Was bei diesen Arbeiten jedoch immer noch fehlt, 20ist eine systematische theoretische Darstellung der Evolution individueller Entscheidungsprozesse und der Verhaltenssteuerung. Mit anderen Worten: Es fehlt eine Darstellung dessen, wie bestimmte Typen von Entscheidungsprozessen und der Verhaltenskontrolle, die in bestimmten Typen psychologischer Architekturen realisiert sind, sich unter bestimmten Typen ökologischer Bedingungen entwickelt haben, um Individuen in die Lage zu versetzen, individuelle Entscheidungen zu treffen. Idealerweise würde diese Darstellung die Entwicklung des individuellen Entscheidens von urzeitlichen Wesen bis zur Gegenwart nachverfolgen.
Von Darwins Abstammung des Menschen (1871) an sind evolutionäre Erklärungen des Verhaltens und der Psychologie von Menschen auf aktiven Widerstand sowohl von Wissenschaftlern als auch von Nichtwissenschaftlern gestoßen. Besonders lautstarken Protest gab es gegen E. O. Wilsons Versuch im letzen Kapitel seines Buches von 1975, für eine evolutionäre Grundlage des menschlichen Sozialverhaltens zu argumentieren. Der Widerstand gründete sich auf eine Reihe von Bedenken, aber das wichtigste unter ihnen bestand darin, dass eine evolutionäre Erklärung mit biologischem (genetischem) Determinismus gleichzusetzen sei, was bedeutet, dass individuelle menschliche Akteure für ihre Handlungen nicht verantwortlich sind. Dieses Bedenken wurde verstärkt durch die Rhetorik von Richard Dawkins und anderen, der zufolge »egoistische Gene« die wirklichen kausalen Faktoren sind und die Organismen lediglich als deren »Vehikel« fungieren.[1]
21Aber die Wissenschaft schreitet voran. Wir verfügen nun über ein quicklebendiges wissenschaftliches Paradigma, das als »Verhaltensökologie« des Menschen bezeichnet und hauptsächlich von Anthropologen (zum Beispiel Winterhalder und Smith, 2000) praktiziert wird und das untersucht, wie Menschen, die in (größtenteils) kleinformatigen, traditionellen Gesellschaften leben, ihren Lebensunterhalt bestreiten und sich reproduzieren. Wie bei verhaltensökologischen Ansätzen im Allgemeinen liegt das Hauptaugenmerk auf den evolutionären, unter anderen genetischen Grundlagen dieser Tätigkeiten ohne ein besonderes Interesse für Psychologie an sich. Indem sie sich ausdrücklich auf die Psychologie konzentrierten, haben John Tooby und Leda Cosmides (1992, 2005) ein Forschungsprogramm in die Evolutionspsychologie des Menschen eingeführt. Im Gegensatz zur Annahme vieler Mainstream-Psychologen machen sie geltend, dass das Gehirn keine Allzweck-Lern- oder Rechenmaschine ist. Die Evolution erzeugt nicht einfach nur allgemein nützliche Mechanismen, sondern spezifische funktionale Lösungen für spezifische ökologische Herausforderungen. Die Psychologie des Menschen umfasst daher eine Vielzahl spezialisierter, bereichsspezifischer Rechenmechanismen, von denen sich jeder entwickelt hat, um ein spezifisches Anpassungsproblem zu lösen – wie die unterschiedlichen Klingen eines Schweizer Taschenmessers. Die Suche und Auswahl eines Partners beruhen somit auf völlig anderen psychologischen Prozessen als die Nahrungssuche und -auswahl. Der größte Teil der Forschung in der Evolutionspsychologie hat sich auf Mechanismen mit unmittelbaren Implikationen für Überleben und Fortpflanzung wie etwa Partnerwahl, Identifikation von Verwandten und Erkennung von Schwindlern konzentriert, wie sie sich bei der Gattung Homo während des Paläolithikums entwickelt haben, als die Menschen ausschließlich Jäger und Sammler waren. Diese Darstellungen sind nicht 22systematisch auf irgendwelche nichtmenschlichen Tiere in der Vergangenheit ausgedehnt worden. Obwohl die Evolutionspsychologie eine Vielfalt von Ursachen des menschlichen Verhaltens und der Kognition anerkennt, hat sie sich hauptsächlich auf biologische Ursachen konzentriert und wurde deshalb ebenfalls eines übermäßigen genetischen Determinismus unter Vernachlässigung der kulturellen Dimensionen menschlicher Psychologie beschuldigt.
Bei dem Versuch, die kulturellen Dimensionen der Psychologie des Menschen zu erklären, haben Peter Richerson und Robert Boyd (2005; siehe auch Henrich, 2016) ein koevolutionäres Modell menschlichen Verhaltens und menschlicher Psychologie entwickelt, dem zufolge das Individuum sowohl seine Gene als auch seine kulturelle Umwelt erbt, und zwar mittels einer Rückkopplungsschleife, sodass diejenigen Individuen am besten abschneiden, die genetisch daran angepasst sind, in einer kulturellen Umwelt zu funktionieren (zum Beispiel, indem sie starke »Sozialinstinkte« und Fertigkeiten zum sozialen Lernen haben). Da dieser koevolutionäre Ansatz die Kultur in den Prozess hineinholt, stellt er einen reichhaltigeren Ausgangspunkt für die Erforschung der Evolution spezifisch menschlichen Verhaltens und menschlicher Psychologie als die Evolutionspsychologie dar. Doch ebenso wie die Evolutionspsychologie hat er sich nicht systematisch auf nichtmenschliche Tiere zurückbezogen, um zu bestimmen, wie sich das Verhalten und die Psychologie des Menschen »durch Abstufung« aus denen anderer Arten entwickelt haben. Meine eigenen Forschungen und die meiner Kollegen (zum Beispiel Tomasello et al., 2012; Tomasello, 2014, 2016) können als Versuch angesehen werden, zumindest bis auf unsere Menschenaffen-Vorfahren zurückzugehen, um zu entdecken, wie Menschen sich entwickelt haben, um die kulturellen Fähigkeiten zu schaffen und sich anzueignen, die für ihr Funktionieren so zentral sind.
Keiner dieser evolutionären Ansätze mit Bezug auf das Verhalten und die Psychologie des Menschen spricht den menschlichen Individuen die Handlungsfähigkeit ab. Obwohl diese Ansätze betonen, 23dass Menschen mit der Welt mittels evolvierter kognitiver und motivationaler Mechanismen interagieren – und diese Mechanismen mehr oder weniger die Entscheidungen beeinflussen, die Menschen treffen –, finden wir an keiner Stelle den von manchen Kritikern beschworenen genetischen Determinismus, dem zufolge die Individuen der Verantwortung für ihre Handlungen enthoben sind. Trotzdem hat sich keiner dieser Ansätze spezifisch auf die Psychologie der individuellen menschlichen Handlungsfähigkeit konzentriert. Die psychologische Forschung, die diese evolutionären Ansätze potenziell ergänzen könnte, ist die Untersuchung menschlicher Entscheidungsprozesse. Doch die überwältigende Mehrheit dieser Forschungen befasst sich damit, ob menschliche Entscheidungen im normativen Sinne rational sind oder verschiedenen nichtrationalen Tendenzen unterliegen (zum Beispiel Kahnemann, 2011). Relevanter sind Forschungen von Gerd Gigerenzer und Kollegen (zum Beispiel 1999, 2001) bezüglich der Art und Weise, wie Menschen tatsächlich Entscheidungen treffen und wie so genannte nichtrationale Tendenzen sehr wahrscheinlich evolutionäre Anpassungen sind, die den Individuen dabei helfen, mit Risiken und Unsicherheit praktisch umzugehen (oder ihnen dabei halfen, mit diesen in ihrer evolutionären Vergangenheit umzugehen). Forschungen mit Bezug auf die exekutive Funktion und kognitive Kontrolle des Menschen sind ebenfalls relevant und wichtig (zum Beispiel Egner, 2017), aber bislang gibt es fast keine Forschung, die Menschen und andere Tierarten miteinander vergleicht.
Entscheidend ist, dass es bislang keine systematischen Versuche gegeben hat, die Wurzeln menschlicher Entscheidungsprozesse und Verhaltenssteuerung tief in die evolutionäre Vergangenheit zurückzuverfolgen. Eine systematische Darstellung der evolutionären Wurzeln der menschlichen Handlungsfähigkeit würde einen Ausgangspunkt bei den urzeitlichen Vorfahren des Menschen lange vor den Primaten erfordern sowie eine theoretische Darstellung, die Entscheidungsprozesse und Verhaltenskontrolle in grundlegendere Pro24zesse zielgerichteten Handelns integriert. Wenn man die Aufmerksamkeit auf eine ausgedehnte Evolutionsgeschichte vor der Entstehung moderner Menschen richtet, so erzeugt man eine Sichtweise der menschlichen Psychologie als einer Art von Zwiebel mit mehreren Schalen, wobei es einen inneren Kern grundlegender Prozesse gibt, die von allen handlungsfähigen Organismen geteilt werden, weiteren Schalen, die die Menschen nur mit anderen Säugetieren oder Primaten teilen, und einer äußersten Schale einzigartig menschlicher Psychologie in all ihrer schwindelerregenden Komplexität. In methodischer Hinsicht ist das Hindurchblicken auf die Funktion der urzeitlichen inneren Schalen menschlicher Psychologie schwierig oder unmöglich, wenn man nur vollentwickelte Erwachsene untersucht, bei denen diese inneren Schalen tief in der Kultur, der Sprache und der Selbstbewusstheit vergraben sind. Daher könnte es ratsam sein, zuerst die relativ einfachere psychologische Funktion relativ einfacherer Organismen als Stellvertreter der urzeitlichen Vorfahren des Menschen zu betrachten. Wie Aristoteles in seiner Politik sagt: »Wie in anderen Bereichen so dürfte jemand auch hier am erfolgreichsten seine Untersuchung vornehmen, wenn er die Dinge so, wie sie von Anfang an entstanden sind, betrachtet.«
Mein Ziel in diesem Buch besteht darin, den evolutionären Pfad zum psychologischen Handeln des Menschen zu rekonstruieren. Während die Anzahl und Mannigfaltigkeit spezifischer Verhaltensanpassungen über verschiedene Tierarten hinweg enorm sind, sind die psychologischen Mechanismen, durch die individuelle Akteure ihre Verhaltensentscheidungen leiten und steuern, in ihrer Zahl stark begrenzt. Manche der frühesten Vorfahren des Menschen, wie beispielsweise die ersten Bakterien, sind überhaupt keine psychologischen Akteure – ihre Verhaltensweisen sind weder auf Ziele gerichtet noch 25individuell gesteuert –, und manche handlungsfähigen Wesen wie zum Beispiel Vögel und Bienen befinden sich nicht auf der Evolutionslinie zum Menschen und werden hier daher nicht betrachtet. Im Folgenden schlage ich vier Haupttypen psychologischen Handelns vor, die spezifisch auf der Evolutionslinie zum Menschen liegen – vier Schemata einer organisationalen Architektur für das Treffen individueller Entscheidungen und für die Verhaltenssteuerung –, und zwar in vier Taxa, die für bedeutende Vorfahren des Menschen repräsentativ sind. In der evolutionären Reihenfolge ihrer Entstehung handelt es sich um folgende: zielgerichtetes Handeln bei urzeitlichen Wirbeltieren, intentionales Handeln bei urzeitlichen Säugetieren, rationales Handeln bei urzeitlichen Menschenaffen und sozial normatives Handeln bei urzeitlichen Menschen.
Um diese evolutionäre Rekonstruktion zu erreichen, ist das dringlichste Erfordernis ein theoretisch kohärentes und breit anwendbares Modell der organisationalen Architektur des Handelns, darunter auch die Angabe der Schlüsselelemente, die hinzugefügt oder umgewandelt werden müssen, um von einfacheren zu komplexeren Formen überzugehen. Mein sekundäres Ziel besteht deshalb darin, ein einfaches, aber umfassendes Modell des Handelns zu liefern, das mit geeigneten Modifikationen auf ein breites Spektrum von Tierverhalten anwendbar ist, von seinen ältesten Tiervorfahren bis zum modernen Menschen. Ein solches Modell muss notgedrungen die wahrnehmungsmäßigen und kognitiven Fähigkeiten beinhalten, die dafür notwendig sind, dass ein Individuum einer gegebenen Art die Verhaltensentscheidungen treffen kann, die es treffen muss, und zusätzlich den Prozess selbstregulieren kann, wie er sich im Laufe der Zeit entfaltet. Da das Handeln nicht bloß irgendeine spezialisierte Fertigkeit des Verhaltens oder der Kognition ist, sondern vielmehr der allgemeinste Organisationsrahmen, innerhalb dessen Individuen ihre Handlungen formulieren und hervorbringen, läuft die Nachzeichnung der evolutionären Wurzeln der menschlichen Handlungsfähigkeit auf nichts mehr oder weniger als auf eine evolutionäre Erklä26rung der psychologischen Organisation des Menschen im Allgemeinen hinaus. Eine solche Erklärung wird sowohl eine Ausweitung als auch eine Vertiefung gegenwärtiger Theorien der Evolutionspsychologie erfordern.
Natürliche Selektion ist die Theorie, [die erklärt], wie sich Formen angepasst haben, d. h. gleichsam durch einen Zweck bestimmt wurden. Sie legt eine wirksame Maschinerie zur Hervorbringung des Ziels nahe.
Charles Sanders Peirce, Collected Papers
Alle Tierarten vollziehen eine Vielfalt biologischer Tätigkeiten, darunter selbsterzeugte Bewegungen, die ihr Überleben und ihre Fortpflanzung fördern. Einigen Gelehrten zufolge machen diese Tätigkeiten alle Organismen zu »adaptiven Akteuren« im Evolutionsprozess (zum Beispiel Walsh, 2015). Diese organismische Perspektive ist in gegenwärtigen Erörterungen des Wesens der Evolution, die sich häufig nur auf molekulare Prozesse konzentrieren, äußerst wertvoll. Dennoch ist dieser Ansatz mit Bezug auf das Handeln für die vorliegenden Zwecke sowohl zu weit als auch zu biologisch. Mein Hauptaugenmerk liegt hier vielmehr auf dem engeren Begriff dessen, was man am besten als »psychologisches Handeln« bezeichnen könnte (siehe auch Sterelny, 2001).
Sich als psychologischer Akteur zu verhalten bedeutet, dass die zugrunde liegenden psychologischen Prozesse, die Handlungen generieren, auf eine ganz bestimmte Weise organisiert sind. Ein Akteur reagiert nicht einfach nur auf Reize, sondern richtet seine Handlungen auf Ziele (oder plant das sogar) und achtet zu diesem Zweck aktiv auf relevante Situationen. Und ein Akteur »zielt und schießt« nicht einfach nur ballistisch auf seine Ziele, sondern steuert (oder selbstreguliert sogar exekutiv) seine Handlungen, indem er sachkundige Entscheidungen darüber trifft, was an verschiedenen Punkten in einer sich dynamisch entfaltenden Situation am besten funktionieren wird. 28In methodischer Hinsicht ist der Hauptbeleg für psychologisches Handeln die »Verhaltensflexibilität« von Individuen, insbesondere unter neuen Umständen (siehe Lea et al., 2020, zu einer Erörterung der Bedeutung dieser Vorstellung für die moderne Erforschung der Tierkognition). Verhaltensflexibilität deutet darauf hin, dass der individuelle Organismus in einem bestimmten Augenblick neue Möglichkeiten findet, um mit herausfordernden neuen Umständen umzugehen.
Wenn das Ziel darin besteht, die verschiedenen Formen psychologischen Handelns auf dem Evolutionspfad zum Menschen zu rekonstruieren, muss ich zunächst dreierlei tun. Erstens muss ich, um die verschiedenen Formen des Handelns streng zu charakterisieren, einen integrierten Satz theoretischer Werkzeuge zur Beschreibung der Organisationsarchitektur des Handelns finden oder entwickeln. Die theoretischen Werkzeuge der Verhaltensökologie sind für diese Aufgabe nicht geeignet; die des Behaviorismus sind als solche zu eng fokussiert auf Lern- und Gedächtnisprozesse; und die der Evolutionspsychologie konzentrieren sich zu sehr auf modularisierte Fertigkeiten und vernachlässigen die übergreifende psychologische Organisation. Die theoretischen Werkzeuge der Tierkognition sind, wenn sie durch diejenigen der Theorie der Koevolution für Menschen ergänzt werden, der Aufgabe zwar angemessen, aber stark unterentwickelt. Daher werde ich versuchen, die theoretischen Werkzeuge der tierischen (und menschlichen) Kognition dadurch zu entwickeln, dass ich eine Klasse psychologischer Modelle des Handelns aus der modernen Kognitionswissenschaft anpasse und erweitere. Die Grundstruktur des psychologischen Handelns, so meine Behauptung, wird in klassischen kybernetischen Modellen zielgerichteter Handlungen, die auf Prinzipien der Feedbacksteuerung beruhen, offenkundig (zum Beispiel Miller, Galanter und Pribram, 1960). Diese Grundstruktur muss dann durch Modelle aus der modernen Entscheidungsforschung ausgestaltet werden, die sich auf verschiedene Typen von Entscheidungsprozessen unter verschiedenen Arten von Unsicherheit konzentrie29ren (zum Beispiel Gigerenzer et al., 2011). Für manche Organismen brauchen wir dann außerdem noch Modelle der Exekutivfunktion und kognitiven Steuerung, um zusätzliche Ressourcen für die Beschreibung der Art und Weise bereitzustellen, wie Individuen intentional handeln und ihre Handlungen von einer exekutiven Funktionsebene aus selbstregulieren (zum Beispiel Egner, 2017). Für andere Fälle wiederum müssen wir anschließend Modelle der Metakognition und »komputationalen Rationalität« anpassen, denen zufolge Akteure die Wirksamkeit ihrer exekutiven Prozesse erster Stufe von einer exekutiven Ebene zweiter Stufe aus einschätzen (zum Beispiel Gershman et al., 2015). Schließlich müssen wir all das noch an den Menschen anpassen, um seine einzigartigen Formen sozial geteilter Handlungsfähigkeiten zu charakterisieren, die die Art und Weise, wie Individuen ihre Entscheidungen treffen und selbstregulieren, grundlegend ändern.
Das Zweite, was ich als Vorbereitung meiner Rekonstruktionsaufgabe leisten muss, besteht in der Identifikation der ursächlichen ökologischen Umstände, die zur Erklärung der evolutionären Übergänge von einer Form der Handlungsfähigkeit zu einer anderen dienen. Laut allgemeiner theoretischer Überlegungen aus der Entscheidungsforschung sind Situationen der Unsicherheit – das heißt verschiedene Typen von Unsicherheit –, mit denen Entscheidungssubjekte konfrontiert sind (zum Beispiel Yu und Dayan, 2005), von besonderer Bedeutung. Die Evolutionshypothese besagt, dass, wenn Individuen regelmäßig mit Situationen von Unsicherheit konfrontiert sind, diejenigen Individuen am besten abschneiden, die agentiv operieren, um die vorliegende Situation flexibel einzuschätzen und eine Entscheidung zu treffen, die die relevanten lokalen Kontingenzen (sowie vielleicht bestimmte Heuristiken; siehe Gigerenzer et al., 2011) einbezieht, und dann die Verhaltensausführung bei ihrer Entfaltung überwachen und selbstregulieren. Meine spezifischere Hypothese lautet, dass die vier hauptsächlichen Typen agentiver Organisation auf dem Weg zum zeitgenössischen Menschen sich als Reaktion auf vier 30hauptsächliche Typen von Unsicherheiten entwickelten, die im Wesentlichen von vier verschiedenen Typen sozialer Interaktion erzeugt wurden. Ich bestimme diese Typen von Unsicherheit, indem ich ein Verfahren verwende, das das Gegenteil von Reverse Engineering darstellt und das man als »Prospective Engineering« bezeichnen könnte. Anstatt mit dem Mechanismus zu beginnen und zu bestimmen, welches Problem seine Entwicklung lösen sollte, beginne ich mit dem Problem (der ökologischen Herausforderung) und versuche – auf der Grundlage empirischer Beobachtungen aus Verhaltensexperimenten – zu bestimmen, welche Mechanismen möglicherweise zu seiner Lösung entworfen wurden.
Da wir das Verhalten ausgestorbener Lebewesen nicht beobachten können, müssen wir drittens und letztens gegenwärtig lebende Wesen identifizieren, die als Modellarten dienen können, wenn wir experimentelle Informationen über das Verhalten der urzeitlichen Vorfahren des Menschen gewinnen wollen. Für diese Aufgabe verwende ich die normalen Methoden der vergleichenden Biologie, nämlich die Sammlung allgemeiner Informationen anhand von Fossilien über die Physiologie der relevanten ausgestorbenen Organismen und ihren evolutionären Entwicklungsverlauf und die Verwendung dieser Informationen zum Auffinden heute lebender Organismen, die als Modelle fungieren sollen. Mit diesen Modellarten können wir dann Zugang zu Daten aus Verhaltensexperimenten gewinnen.
Psychologen sind schon immer von Maschinen als Modellen im Hinblick darauf angezogen worden, wie Verhalten generiert und organisiert wird. Die klassischen Behavioristen benutzten die automatisierte Telefonzentrale aus den 1930er Jahren als Modell. Die Zentrale war untätig, bis ein Anruf (der Reiz) eintraf, worauf sie die Telefonleitung des Anrufers mit der Telefonleitung der gewählten Nummer 31