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Fast alle Theorien darüber, wie der Mensch zu einer so einzigartigen Spezies geworden ist, konzentrieren sich auf die Evolution. Michael Tomasello legt mit seinem faszinierenden Buch eine komplementäre Theorie vor, die sich auf die kindliche Entwicklung konzentriert. Aufbauend auf den bahnbrechenden Ideen von Lev Vygotskij, erklärt sein empiriegesättigtes Modell, wie sich das, was uns menschlich macht, in den ersten Lebensjahren herausbildet. Mit seiner radikalen Neubewertung der Ontogenese zeigt Tomasello, wie die Biologie die Bedingungen schafft, unter denen die Kultur ihre Arbeit verrichtet.
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Seitenzahl: 792
3Michael Tomasello
Mensch werden
eine Theorie der Ontogenese
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp
5Für das Leipziger Team
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Vorwort
I
Hintergrund
1 Auf der Suche nach der Einzigartigkeit des Menschen
2 Evolutionäre Grundlagen
Die Evolution des Menschen
Individuelle Intentionalität von Menschenaffen
Frühmenschliche Zusammenarbeit und gemeinsame Intentionalität
Die Kultur des modernen Menschen und kollektive Intentionalität
Zusammenfassung und Implikationen für die Ontogenese
Die Ontogenese des Menschen
Die ontogenetische Nische des Menschen
Die psychologische Lebensgeschichte des Menschen
Erklärungen in der Entwicklungspsychologie
Reifung und Erfahrung
Exekutive Regulation
Methoden
II
Die Ontogenese der einzigartig menschlichen Kognition
3 Soziale Kognition
Im Ausgang von Menschenaffen: Sich vorstellen, was andere wahrnehmen
Soziale Kognition von Menschenaffen
Menschenkinder
Individuelle und kulturelle Variation
Gemeinsame Aufmerksamkeit
Das Teilen von Gefühlen in Protokonversationen
Die Entstehung gemeinsamer Aufmerksamkeit
Gemeinsamer Hintergrund und kultureller gemeinsamer Hintergrund
Individuelle und kulturelle Variation
Die Koordination von Perspektiven
Die Angleichung von Perspektiven
Der Austausch von Perspektiven
Die Koordination widersprüchlicher Perspektiven
»Objektiv« werden
Theoretische Erklärungen
Implikationen für die Kognition
4 Kommunikation
Im Ausgang von Menschenaffen: Intentionale Kommunikation
Gestische Kommunikation bei Menschenaffen
Menschenkinder
Kooperative Kommunikation
Zeigegesten
Ikonische Gesten und So-tun-als-ob
Individuelle und kulturelle Variation
Kommunikation anhand von Konventionen
Der Erwerb von Wörtern
Übergänge in der Sprache im Alter von etwa drei Jahren
Individuelle und kulturelle Variation
Symbolisch werden
Theoretische Erklärungen
Implikationen für die Kognition
5 Kulturelles Lernen
Im Ausgang von Menschenaffen: Soziales Lernen
Soziales Lernen bei Menschenaffen
Menschenkinder
Imitation und Konformität
Imitation durch Rollentausch
Soziale Imitation
Konformität mit anderen oder mit der Gruppe
Individuelle und kulturelle Variation
Lernen durch Anweisung
Bezeugte Aussagen und Vertrauen
Pädagogik und Lernen durch Anweisung
Selbstreguliertes Lernen
Individuelle und kulturelle Variation
Sachkundig werden
Theoretische Erklärungen
Implikationen für die Kognition
6 Kooperatives Denken
Im Ausgang von Menschenaffen: Individuelles Denken
Das Denken von Menschenaffen
Menschenkinder
Gemeinsames Denken
Gemeinsames Problemlösen und Dialog
Die Angabe von Gründen und die Rechtfertigung
Individuelle und kulturelle Variation
Koordinierte Entscheidungsprozesse
Koordinationsspiele mit Kindern und Schimpansen
Multiperspektivische Begriffe
Individuelle und kulturelle Variation
Vernünftig werden
Theoretische Erklärungen
Implikationen für die Kognition
III
Die Ontogenese der einzigartig menschlichen Sozialität
7 Zusammenarbeit
Im Ausgang von Menschenaffen: Parallel zu anderen handeln
Die Gruppenjagd von Schimpansen
Menschenkinder
Zusammenarbeit auf zwei Ebenen
Ein »Wir«-Gefühl
»Ich« und »du«
Zweitpersonales Handeln und gegenseitiger Respekt
Individuelle und kulturelle Variation
Gemeinsame Verpflichtungen
Gemeinsame Verpflichtungen
Zweitpersonaler Protest
Versprechen
Individuelle und kulturelle Variation
Zweitpersonal werden
Theoretische Erklärungen
Soziale und moralische Implikationen
8 Prosozialität
Im Ausgang von Menschenaffen: Elementares Mitgefühl
Helfen und Teilen bei Menschenaffen
Menschenkinder
Smithsches Helfen und Teilen
Helfen
Teilen
Individuelle und kulturelle Variation
Fairness
Menschenaffen haben keinen Sinn für Fairness
Dreijährige Kinder teilen den Ertrag einer Zusammenarbeit auf faire Weise
Distributive und prozedurale Fairness
Individuelle und kulturelle Variation
Kooperativ werden
Theoretische Erklärungen
Soziale und moralische Implikationen
9 Soziale Normen
Im Ausgang von Menschenaffen: Leben in Gruppen
Soziale Gruppen von Menschenaffen
Die Entwicklung der geistigen Orientierung an der Gruppe bei Kindern
Soziale Normen
Das Befolgen sozialer Normen
Die Durchsetzung sozialer Normen
Die Schaffung sozialer Normen
Individuelle und kulturelle Variation
Gerechtigkeit
Vergeltungsgerechtigkeit und Bestrafung
Verteilungsgerechtigkeit und Eigentum
Interkulturelle Variabilität
Einen Gruppengeist entwickeln
Theoretische Erklärungen
Soziale und moralische Implikationen
10 Moralische Identität
Im Ausgang von Menschenaffen: Soziale Bewertung
Soziale Bewertung bei Menschenaffen
Menschenkinder
Selbstpräsentation und Befangenheitsgefühle
Selbstpräsentation
Schuld und Scham
Individuelle und kulturelle Variation
Moralische Rechtfertigung und Identität
Moralische Argumentation und Rechtfertigung
Moralische Identität
Individuelle und kulturelle Variation
Verantwortlich werden
Theoretische Erklärungen
Soziale und moralische Implikationen
IV
Schluss
11 Eine neovygotskijsche Theorie
Globale Theorien der menschlichen Ontogenese
Individualistische Theorien
Soziokulturelle Theorien
Was brauchen wir noch?
Die Theorie der geteilten Intentionalität
Das Teilen von Gefühlen bei Säuglingen
Die Neunmonatsrevolution und zweitpersonale Beziehungen (gemeinsame Intentionalität)
Die objektive/normative Wende im Alter von drei Jahren (kollektive Intentionalität)
Vernunft und Verantwortung
Probleme und Aussichten
Forschung an Menschenaffen
Untersuchungen an Kindern
Neue Möglichkeiten
12 Die Macht gemeinsamen Handelns
Literatur
Register
Fußnoten
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
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In diesem Buch schlage ich einen theoretischen Rahmen zur Ordnung und Erklärung der Forschungen vor, die meine Kollegen und ich von 1998 bis 2017 an der Abteilung für vergleichende und Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig durchgeführt haben. Die Forschungsarbeiten werden zwar als eine mehr oder minder kohärente Geschichte dargestellt, aber der rote Faden existierte nicht schon von Anfang an. Er ergab sich erst aus der Arbeit. Der theoretische Rahmen verdankt vieles meinen Kollegen, obwohl sie natürlich nicht alle mit allen Punkten einverstanden sind.
Mein größter Dank richtet sich folglich an das Leipziger Team als ganzes für seine außergewöhnliche Arbeit und sein Engagement für die Wissenschaft. Viele der Studien des Teams werden hier zitiert. Von den zahlreichen Kollegen, mit denen ich im Lauf der Jahre zusammengearbeitet habe, möchte ich meine Seniorpartner hervorheben, die die ganze Zeit über da waren. Elena Lieven war in diesen Jahren meine einzige Altersgenossin, und sie erinnerte mich ständig daran, dass nichts die Einzigartigkeit des Menschen so gut bezeugt wie die Sprache (außerdem fungierte sie häufig noch als mein soziales Gewissen). Josep Call war das Affenhaus, angefangen beim Entwurf seiner Untersuchungsräume bis zum Design brillanter Experimente. Die Arbeit mit den Menschenaffen wäre ohne ihn schlicht unmöglich gewesen. Malinda Carpenter war meine wichtigste Komplizin, als wir begannen, fast täglich über mehrere Jahre hinweg beim Mittagessen über die Einzigartigkeit des Menschen im Sinne geteilter Intentionalität nachzudenken (obwohl wir uns über einige Punkte immer noch nicht einig sind). Ebenfalls entscheidend für das Unternehmen waren Katharina Haberl, die unser unvergleichliches Kinderlabor schuf und betreute, und Henriette Zeidler, die den organisatorischen Knotenpunkt darstellte, durch den und weshalb alles funktionierte.
Ich möchte auch meine tiefste Dankbarkeit gegenüber der Max-10Planck-Gesellschaft zum Ausdruck bringen, die zweifellos die beste Wissenschaftsorganisation auf der Welt ist, und gegenüber meinen Kollegen aus den anderen vier Abteilungen des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, das zweifellos das beste Institut seiner Art auf der Welt ist. Die Arbeitsatmosphäre während dieser neunzehn Jahre war, mit einem Wort, inspirierend. Es war ein Privileg, in der Gesellschaft und am Institut zu arbeiten.
Im Hinblick auf dieses Buch möchte ich zuerst und vor allem meiner Frau, Rita Svetlova, für zahllose hilfreiche Kommentare und viele Ideen und Formulierungen in unterschiedlichen Teilen des Buches danken. Darüber hinaus danke ich Jan Engelmann, der das gesamte Manuskript las und hilfreiche Rückmeldungen gab, insbesondere mit Bezug auf das zweite Kapitel. Und schließlich danke ich Andrew Kinney von Harvard University Press sowie drei anonymen Gutachtern des Verlags für hilfreiche Rückmeldungen zur vorletzten Textfassung.
Man beachte, dass es zu vielen der Untersuchungen, die in diesem Buch zitiert werden, Videos von den Kindern oder den Menschenaffen gibt, die ihr Verhalten (gewöhnlich) unter einer einzigen Aufgabenbedingung zeigen. Wissenschaftler und Pädagogen können sie (zu wissenschaftlichen und pädagogischen Zwecken) ansehen unter:
www.becoming-human.orgBenutzername: developmentalPasswort: psychology
[Es sind die] epigenetischen Regeln […], welche […] Gene mit Kultur verknüpfen: Die Suche nach der menschlichen Natur ist gleichsam die Archäologie der epigenetischen Regeln […].
E. O. Wilson, Die Einheit des Wissens (1998)
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In seinem Buch Die Abstammung des Menschen von 1871 machte Charles Darwin praktisch den Vorschlag, dass Menschen einfach nur ein weiterer Zweig am Stammbaum der Evolution sind. Die viktorianischen Engländer, von denen viele wissenschaftlich hochgebildet waren, zeigten sich skeptisch. Die engsten lebenden Verwandten der Menschen, die großen Menschenaffen, lebten immer noch »blutrünstig« in Wäldern und Dschungeln, die Menschen jedoch lebten in einer Welt voller Teleskope und Dampfmaschinen, Sinfonieorchestern und dem britischen Parlament sowie morgendlichen Andachten, denen der Nachmittagstee folgte. Es war, gelinde gesagt, ein Rätsel, wie ein bloßer weiterer Zweig des evolutionären Stammbaums ein Leben führen konnte, das so völlig anders war als das Leben anderer Tiere.
Heute ist dieses Rätsel im Wesentlichen gelöst. An einem bestimmten Punkt der Menschheitsgeschichte entstand ein neuer Evolutionsprozess. Ein verräterisches Zeichen für diesen neuen Prozess besteht darin, dass nicht alle Menschen inmitten von Teleskopen, Sinfonieorchestern und dem britischen Parlament leben, sondern stattdessen von ihren eigenen charakteristischen Artefakten, Symbolen und Institutionen umgeben sind. Und da Kinder unabhängig von ihrer genetischen Ausstattung die besonderen Artefakte, Symbole und Institutionen, in die sie hineingeboren werden, annehmen, ist es klar, dass diese gesellschaftliche Variation nicht von den Genen herrühren kann, sondern vielmehr eine gesellschaftliche Schöpfung ist. Das vollständige Rätsel besteht folglich darin, dass Menschen nicht nur eine Spezies mit noch nie dagewesenen kognitiven und sozialen Errungenschaften sind, sondern gleichzeitig auch eine solche, die eine neue Art gesellschaftlich erzeugter Diversität auf der Gruppenebene aufweist.
14Die Lösung des Rätsels – der neue Evolutionsprozess – ist natürlich die menschliche Kultur. Aber die traditionelle Vorstellung von Kultur als etwas, das von der Biologie und Evolution getrennt ist, genügt nicht. Die menschliche Kultur ist diejenige Form sozialer Organisation, die auf der menschlichen Entwicklungslinie als Reaktion auf ganz bestimmte Anpassungsherausforderungen entstand. Ihre hervorstechendste Eigenschaft ist ihr hoher Grad (und sind ihre neuen Formen) von Kooperation. Aus synchroner Perspektive betrachtet, koordinieren die Mitglieder einer Kulturgruppe sich miteinander im Kontext selbstgeschaffener kooperativer Strukturen wie beispielsweise Konventionen (einschließlich sprachlicher Konventionen), Normen und Institutionen, und sie pflegen Umgang miteinander anhand kooperativer Motive wie Vertrauen, Verpflichtung und Fairness. Nennen wir das die Koordinationsdimension der Kultur. Diachron gesehen, geben die Mitglieder einer Kulturgruppe Fertigkeiten und Wissen an die folgenden Generationen durch kooperative Prozesse des kulturellen Lernens weiter, wie beispielsweise aktiven Unterricht und auf Konformität abzielendes Lernen, was eine Art von »Wagenhebereffekt« zur Folge hat, bei dem kulturelle Praktiken und Produkte (darunter Konventionen, Normen und Institutionen) sich über geschichtliche Zeitspannen hinweg entwickeln und vielleicht auch »verbessern«. Bezeichnen wir das als die Weitergabedimension der Kultur. Im Ergebnis beruhen so gut wie alle der bemerkenswertesten menschlichen Errungenschaften – von Dampfmaschinen bis zur höheren Mathematik – darauf, wie sich jeder Einzelne auf einzigartige Weise mit anderen kooperativ koordinieren kann, und zwar sowohl bezogen auf den jeweiligen Augenblick als auch auf kulturgeschichtliche Zeitspannen.
Aber diese Erklärung der Einzigartigkeit des Menschen mittels kultureller Prozesse gibt Anlass zu einem weiteren Rätsel, und dieses ist noch nicht gelöst. In diesem Fall liegt das Augenmerk nicht auf der Ebene der Spezies und ihrer Errungenschaften, sondern vielmehr auf der Ebene des Individuums und seiner Psychologie: Wie kommen Menschen zu den für die Spezies einzigartigen kognitiven und gesellschaftlichen Fähigkeiten, die notwendig sind, um 15sich an kultureller Koordination und Weitergabe zu beteiligen? Um diese Frage zu beantworten, besteht der offensichtliche erste Schritt darin, dass man feststellt, wie genau sich die Psychologie des Menschen von der anderer Primaten unterscheidet – in welchem Sinne genau Menschen als Individuen einzigartig sind. Die Schwierigkeit liegt darin, dass die empirische Forschung im Laufe der letzten Jahrzehnte festgestellt hat, dass die nächsten lebenden Verwandten der Menschen, die großen Menschenaffen, kognitive und soziale Fertigkeiten besitzen, die denen der Menschen sehr ähnlich sind, einschließlich vieler, die anscheinend für Kulturprozesse relevant sind. Beispielsweise gibt es jüngere Forschungen, die nachweisen, dass zumindest manche Menschenaffen 1. Werkzeuge herstellen und gebrauchen, 2. intentional (oder gar »sprachlich«) kommunizieren, 3. eine bestimmte Art von »Theorie des Geistes« haben, 4. manche Verhaltensweisen durch soziales Lernen erwerben (was zur »Kultur« führt), 5. gemeinsam in Gruppen jagen, 6. »Freunde« haben, die sie vorzugsweise lausen und mit denen sie Bündnisse bilden, 7. anderen aktiv helfen und 8. die sozialen Handlungen der anderen bewerten und sich für sie revanchieren.
Aber tun die Menschenaffen diese Dinge genauso wie Menschen? Um dies im Einzelfall zu bestimmen, müssen wir hinter die pauschale Behauptung blicken, dass sowohl Menschenaffen als auch Menschen »x haben« oder »y tun«, auch wenn solche Behauptungen im Allgemeinen richtig sein mögen. Um durch solche Allgemeinheiten hindurch weiter in die Tiefe vorzudringen, müssen wir feinkörnigere Vergleiche anstellen, indem wir vergleichende Experimente durchführen, in denen Menschen und Menschenaffen (insbesondere Schimpansen und Bonobos als die nächsten lebenden Verwandten des Menschen) unter Umständen beobachtet werden, die so ähnlich wie möglich sind. Solche kontrollierten experimentellen Vergleiche ermöglichen es, subtile Verhaltensunterschiede festzustellen und idealerweise ebenso die kognitiven und motivationalen Prozesse, die diesen Unterschieden zugrunde liegen. Auf diese Weise versuchen wir, die Unterschiede auf der individuellen psychologischen Ebene zu identifizieren, die letztlich zu den einzigartigen Formen der kulturellen Koordination und Weitergabe der 16Menschen (und somit auch zu Teleskopen und Parlamenten) führen.
Verfügt man über eine Beschreibung der wichtigsten Unterschiede zwischen Menschen und ihren nächsten Verwandten unter den Menschenaffen, dann besteht die nächste Aufgabe darin, diese Unterschiede zu erklären. In einem evolutionären Rahmen ist die grundsätzliche Erklärung selbstverständlich die natürliche Selektion: Die heute lebenden Menschen sind auf natürliche Weise selektiert worden, um bestimmte für die Spezies einzigartige ökologische oder sozioökologische Herausforderungen zu meistern. Beispielsweise lautet ein Vorschlag, dass Menschen viele ihrer einzigartigen kognitiven und sozialen Fähigkeiten als Reaktion auf ökologische Herausforderungen entwickelten, die sie zuerst zur Zusammenarbeit miteinander bei der Nahrungsbeschaffung zwangen und sie dann später veranlassten, größere Kulturgruppen zu bilden, um ihre Ressourcen gegen andere Gruppen zu verteidigen (Tomasello 2014, 2016). Unter diesen Bedingungen hatten Individuen, die am besten mit anderen kooperieren konnten – Individuen, die sowohl in der Lage als auch motiviert waren, ihre Köpfe mit anderen zusammenzustecken, um zusammenzuarbeiten oder eine Kultur zu bilden –, einen Anpassungsvorteil und vermehrten sich deshalb.
Aber die natürliche Selektion erzeugt nichts. Sie ist nur ein Sieb, das im Nachhinein lebensfähige von nichtlebensfähigen Organismen trennt. Evolutionäre Neuheiten entspringen nicht der natürlichen Selektion, sondern stammen vielmehr aus der anderen Hauptdimension des Evolutionsprozesses: der erblichen Variation. Klassischerweise geht die erbliche Variation in der Evolution aus der genetischen Mutation oder der Rekombination hervor, die durch ontogenetische Prozesse neue Merkmale hervorbringen. Aber jüngere Fortschritte in der evolutionären Entwicklungsbiologie (der so genannten Evo-Devo) deuten darauf hin, dass die konstruktive Rolle dieser ontogenetischen Prozesse nicht vollständig erkannt wurde. Es ist nicht nur so, dass neue Merkmale immer durch ontogenetische Prozesse entstehen – die die Expression von Genen steuern und einschränken –, sondern die bei weitem häufigste Quelle 17neuer Merkmale besteht in Änderungen der zeitlichen Abstimmung und der Art und Weise, wie bereits existierende Gene exprimiert werden und mit der Umgebung interagieren. Somit können auch relativ geringe Veränderungen der Art und Weise, wie Regulatorgene das ontogenetische Timing und die Plastizität arrangieren, gewaltige, hintereinandergeschaltete phänotypische Effekte haben – die nicht direkt in den Genen kodiert sind –, während die sich entwickelnden Systeme miteinander und mit der Umgebung auf unerwartete Weisen interagieren. Wenn wir erklären wollen, wie die einzigartige menschliche Psychologie entsteht, müssen wir unsere Aufmerksamkeit folglich auf die Ontogenese konzentrieren und insbesondere darauf, wie die Ontogenese der Menschenaffen im Allgemeinen in die Ontogenese des Menschen im Besonderen verwandelt worden ist.
Und genau das ist hier auch mein Ziel. Ich möchte die Ontogenese der einzigartig menschlichen Psychologie beschreiben und erklären, indem ich die Ontogenese der Menschenaffen zum Ausgangspunkt nehme. Menschenaffen weisen elementare Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Kategorisierungsprozesse auf sowie auch komplexere Prozesse intentionaler Kommunikation, prosozialen Verhaltens und sozialen Lernens. Von diesem Ausgangspunkt aus können wir versuchen, die einzigartigen Aspekte der Psychologie des Menschen zu bestimmen, wie sie ontogenetisch im Lauf der ersten Lebensjahre auftreten. Ein natürlicher Schlusspunkt dieser Untersuchung sind sechs- bis siebenjährige Kinder. In den Augen vieler Kulturinstitutionen und Traditionen über viele Jahrhunderte und Gesellschaften hinweg kündigt der sechste oder siebente Geburtstag eines Kindes seinen Eintritt ins »Alter der Vernunft« an. Dem britischen Gewohnheitsrecht zufolge ist es das erste Alter, in dem ein Kind ein Verbrechen begehen kann. In der katholischen Kirche ist es das Alter, in dem ein Kind erstmals zur Kommunion gehen darf. In Kulturen, die eine formale Bildung erfordern, ist es das Alter, in dem ein Kind für einen regelrechten Schreib- und Rechenunterricht bereit ist. Und in traditionellen Gesellschaften ist dies das Alter, in dem einem Kind erstmals wichtige selbständige Aufgaben überlassen werden, wie beispielsweise eine Herde zu hüten, 18Brennholz zu sammeln oder eine Botschaft zu überbringen (Rogoff et al., 1975). Insgesamt sind Kinder in diesem Alter in kognitiver Hinsicht zum größten Teil vernünftig geworden – Wesen, mit denen man argumentieren und von denen man im Gegenzug eine vernünftige Reaktion erwarten kann –, und in gesellschaftlicher Hinsicht sind sie zum größten Teil verantwortlich geworden – Wesen, die man zur Verantwortung ziehen und von denen man erwarten kann, dass sie sich selbst im Hinblick auf ihre Überzeugungen und Handlungen für verantwortlich halten. Das Ergebnis sind werdende »Personen«, die einen gewaltigen ersten Schritt auf die Internalisierung der Rationalitäts- und Moralnormen der Kultur hin gemacht haben, wodurch sie zum ersten Mal die Fähigkeit und tatsächlich auch die Verantwortung dafür erlangen, ihre eigenen Überzeugungen und Handlungen einer normativen Selbstregulierung zu unterziehen.
Unsere Arbeitshypothese zur Erklärung der Ontogenese der einzigartigen Psychologie des Menschen geht auf Vygotskij zurück: Einzigartig menschliche Formen der Kognition und Sozialität entstehen in der menschlichen Ontogenese durch – und nur durch – unsere einzigartigen Formen soziokultureller Tätigkeit. Aber die Theorie, die wir entwickeln, aktualisiert und modifiziert Vygotskij – sie ist neo-vygotskijsch –, insofern sie die soziokulturelle Tätigkeit des Menschen in den Rahmen der modernen Evolutionstheorie einbettet. Das bedeutet, dass wir zunächst die Hinsichten zu bestimmen versuchen, in denen Menschen biologisch für die Beteiligung an ihren einzigartigen Formen soziokultureller Tätigkeit vorbereitet sind; tatsächlich können wir geltend machen, dass es genau diese biologische Vorbereitung ist – in Form durch Reifungsprozesse exprimierter Fähigkeiten –, die die einzigartig menschlichen soziokulturellen Tätigkeiten und Erfahrungen überhaupt erst möglich macht. Das widerspricht nicht Vygotskijs Argumentation für die Schlüsselrolle des soziokulturellen Kontexts bei der psychologischen Entwicklung des Menschen. Die moderne Evolutionstheorie betont, dass Organismen ihre Umwelten ebenso erben wie ihre Gene: Ein Fisch erbt nicht nur Flossen, sondern auch das Wasser. Menschenkinder erben einen soziokulturellen Kontext, der 19voller kultureller Artefakte, Symbole und Institutionen ist, und ihre einzigartigen Reifungsfähigkeiten blieben inaktiv ohne einen soziokulturellen Kontext, in dem sie sich entwickeln könnten (Richerson und Boyd, 2005). Eine normale menschliche Ontogenese erfordert daher sowohl die Reifung für die Spezies einzigartiger kognitiver und sozialer Fähigkeiten als auch individuelle Erfahrung mit solchen Dingen wie auf Zusammenarbeit bezogene und kommunikative Interaktionen mit anderen, die durch kulturelle Artefakte wie beispielsweise sprachliche Konventionen und soziale Normen strukturiert werden.
Der Erklärungsansatz der Evolution des Menschen, auf den wir uns berufen, stammt von Tomasello et al. (2012; siehe auch Tomasello, 2014, 2016) und konzentriert sich auf die Evolution menschlicher Kooperation und darauf, wie sie für die Spezies einzigartige Prozesse kultureller Koordination und Weitergabe ermöglicht. Genauer übernimmt der Erklärungsansatz theoretische Werkzeuge aus philosophischen Darstellungen geteilter Intentionalität (Bratman, 1992, 2014; Searle, 1995, 2010; Gilbert, 1989, 2014). Dieser Sichtweise zufolge nehmen die Fähigkeiten der Menschen, miteinander zu kooperieren, deshalb einzigartige Formen an, weil die Individuen in der Lage sind, miteinander einen gemeinsamen Akteur, ein »wir«, zu schaffen, der sich geteilter Intentionen, geteilten Wissens und geteilter soziomoralischer Werte bedient. Die These ist, dass diese Fähigkeiten erstmals in der Evolution des Menschen zwischen kooperierenden Partnern auftauchten, die sich auf dyadische Weise an Akten gemeinsamer Intentionalität beteiligten, und dann später unter Individuen als Mitgliedern einer Kulturgruppe bei Akten kollektiver Intentionalität. Im Gegensatz zu Vygotskijs nahezu ausschließlicher Konzentration auf die Dimension der Weitergabe der Kultur – darauf, wie die Praktiken der Kultur mit Bezug auf Symbole und andere Artefakte über Generationen hinweg weitergegeben werden und dadurch die psychologischen Funktionen des Menschen restrukturieren –, konzentrieren wir uns mehr auf die Koordinationsdimension der Kultur – darauf, wie Menschen, Kinder eingeschlossen, in dem Moment zusammenwirken und kommunizieren (wie sie miteinander ko-operieren), in dem sie sich mit 20anderen an soziokulturellen Tätigkeiten beteiligen. Tatsächlich wird die Argumentation darin bestehen, dass es die Koordinationsdimension der einzigartig menschlichen Kognition und Sozialität ist – einschließlich ihrer motivationalen Aspekte und der neuen sozialen Beziehungen, die diese erzeugen –, die die kooperativen Kulturpraktiken des Lehrens und des auf Konformität abzielenden Lernens ermöglicht, die die entscheidenden Rollen bei der einzigartig menschlichen Weitergabe der Kultur spielen.
Im Kontext dieses evolutionären Erklärungsansatzes macht unser ontogenetischer Ansatz drei Mengen von Prozessen namhaft, die zusammen bestimmte Entwicklungspfade aufbauen. Die ersten sind Reifungsprozesse als mehr oder weniger direkte Widerspiegelungen der Evolutionsgeschichte des Menschen. Unser konkreter Vorschlag lautet, dass die Ontogenese der menschlichen kognitiven und sozialen Einzigartigkeiten durch die Reifung der Fähigkeiten des Kindes zu geteilter Intentionalität strukturiert wird. Indem er die phylogenetische Abfolge widerspiegelt, entfaltet sich dieser Reifungsprozess in zwei grundlegenden Schritten: An erster Stelle steht das Auftauchen gemeinsamer Intentionalität im Alter von etwa neun Monaten, und an zweiter Stelle folgt das Auftauchen kollektiver Intentionalität im Alter von ungefähr drei Jahren. Diese beiden Übergänge beeinflussen die kognitive und die Sozialpsychologie der Kinder durch die Bank, obgleich mit unterschiedlichen Details bei verschiedenen Entwicklungspfaden.
Die zweite Menge von Prozessen sind die individuellen Erfahrungen der Kinder, insbesondere ihre soziokulturellen Erfahrungen. Die einzigartige menschliche kognitive und soziale Ontogenese hängt entscheidend von Transaktionen zwischen dem Individuum und einer reichhaltigen kulturellen Ökologie ab, die sowohl für die normale menschliche Entwicklung notwendig als auch für viele kulturelle und individuelle Variationen verantwortlich ist. (Ein Kind, das auf einer einsamen Insel aufwächst, hätte im Erwachsenenalter am Ende keine auch nur vage Ähnlichkeit mit einer kulturell kompetenten »Person«.) Auch hier ist das Alter von drei Jahren ein entscheidender Übergangspunkt. Für den größten Teil der Evolutionsgeschichte des Menschen ist dies das Alter des Abstillens, in dem 21die Kinder ihre ersten eigenen kleinen Schritte in die weitere Welt unternehmen. In diesem Alter beginnen sie daher, an selbständigen und sinnvollen Interaktionen mit Gleichaltrigen teilzunehmen, und leiten damit das ein, was manche Gelehrte als »die beiden sozialen Welten der Kindheit« bezeichnet haben: 1. Interaktionen mit sachkundigen und maßgeblichen Erwachsenen, die sie mit Schlüsselerfahrungen versorgen, welche für die Weitergabedimension der Kultur relevant sind; und 2. Interaktionen mit ebenbürtigen Altersgenossen, die besonders anspruchsvolle Partner für die soziale und mentale Koordination beim Zusammenwirken und bei der Kommunikation darstellen und somit Schlüsselerfahrungen liefern, die für die Koordinationsdimension der Kultur relevant sind. Die These ist folglich, dass Kinder vor dem Alter von drei Jahren hauptsächlich daran angepasst sind, die Sorge und Aufmerksamkeit von Erwachsenen hervorzurufen, wohingegen sie nach diesem Alter sowohl für das kulturelle Lernen von der Erwachsenenpädagogik als solcher als auch für die Entwicklung neuer Fähigkeiten durch koordinierende Interaktionen mit Gleichaltrigen vorbereitet sind.
Die dritte Menge von Prozessen sind die verschiedenen Formen der exekutiven Selbstregulierung der Menschen. Vygotskij (1930/1978) folgend, lautet der Vorschlag, dass viele Aspekte der kognitiven und sozialen Einzigartigkeit des Menschen sich aus den besonderen Weisen ergeben, wie Kinder versuchen, ihre Gedanken und Handlungen nicht nur individuell einer exekutiven Selbstregulierung zu unterziehen, wie es auch viele Primaten tun, sondern auch sozial, indem sie ständig die Perspektiven und Bewertungen der Sozialpartner mit Bezug auf das Selbst überwachen. Auch hier ist das Alter von drei Jahren wieder entscheidend. Vor diesem Alter ist die exekutive Regulierung der Kinder zum größten Teil individuell wie die anderer Primaten, obwohl sie sich häufig auf einzigartig menschliche kognitive und soziale Inhalte bezieht. Nach dem Alter von drei Jahren fangen die Kinder an, ihre Kommunikationsversuche zum Gegenstand einer sozialen Selbstüberwachung zu machen, um zu sehen, ob sie für andere verständlich und rational sind, und sie fangen an, den Eindruck, den sie auf andere machen, einer sozialen Selbstüberwachung zu unterziehen, um ihre koope22rative Identität in der Gruppe aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus regulieren Kinder ab drei Jahren ihre kooperativen Interaktionen mit anderen auch im Zusammenwirken mit ihnen. So gehen sie beispielsweise gemeinsame Verpflichtungen mit anderen ein, bei denen »wir« sicherstellen, dass »du« und »ich« uns anständig verhalten, sowie (implizite) kollektive Verpflichtungen auf die sozialen Normen der Gruppe, im Hinblick auf welche »wir« sicherstellen, dass sowohl das Selbst als auch die anderen sie befolgen. Durch die Beteiligung an einer solchen sozialen und kulturellen Selbstregulierung im Alter von drei bis sechs Jahren gelangen die kleinen Kinder dazu, die vielen und mannigfaltigen Arten der selbstreflexiven, normativ strukturierten und vernunftbasierten Formen des Denkens und Handelns zu erzeugen, die sie erstmals zu vernünftigen und verantwortlichen Personen machen.
Im Folgenden versuche ich, diesen neovygotskijschen Rahmen zu benutzen, um den Ursprung und die Entwicklung der für die Spezies einzigartigen Formen der psychologischen Funktion von Kindern während der ersten sechs Lebensjahre zu erklären. Ich tue das gesondert für jeden der acht ontogenetischen Pfade – vier kognitive und vier soziomoralische –, die die Menschen am deutlichsten von ihren nächsten Menschenaffen-Verwandten unterscheiden (wie durch vergleichende Experimente bestimmt wurde). Das übergeordnete Ziel ist somit eine vollständige und kohärente Erklärung des Prozesses, ein Mensch – das heißt einzigartig menschlich – zu werden.
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Die elementarsten kognitiven und sozialen Prozesse, die man bei sich entwickelnden Kindern heute beobachten kann, haben alle Evolutionsgeschichten. Es ist wichtig, diese Historien zu verstehen, weil sie uns sagen, was diese psychologischen Prozesse sind, und zwar im Sinne ihres »Zwecks« (Tooby und Cosmides, 2005).[1]
Im Allgemeinen haben Menschenaffen kognitive und soziale Fertigkeiten für solche Dinge wie die Nahrungssuche und die Konkurrenz mit Gruppenmitgliedern um den Dominanzstatus entwickelt. Menschen haben darüber hinaus eine Folge von für die Spezies einzigartigen kognitiven und sozialen Fertigkeiten für die Koordination mit anderen bei verschiedenen neuen Formen der kooperativen Interaktion entwickelt. Diese einzigartig menschlichen Anpassungen für Kooperationsverhalten entwickelten sich in zwei entscheidenden Schritten (Tomasello et al., 2012). Der erste Schritt beinhaltete Anpassungen, die es frühmenschlichen Individuen ermöglichten, miteinander dyadisch bei der obligaten gemeinsamen Nahrungssuche (mit Partnerwahl) zu kooperieren; das sind die Fertigkeiten und Motivationen der gemeinsamen Intentionalität. Der zweite Schritt beinhaltete Anpassungen, die moderne menschliche Individuen in die Lage versetzten, miteinander bei der umfassenderen gemeinsamen Unternehmung, die als Kultur bekannt ist, zu 24kooperieren; das sind die Fertigkeiten und Motivationen der kollektiven Intentionalität. Diese beiden Schritte stellen die evolutionären Grundlagen der einzigartig menschlichen kognitiven und sozialen Ontogenese dar.
Die Entstehung der frühmenschlichen gemeinschaftlichen und kulturellen Lebensweisen führte auch zu wichtigen Veränderungen des allgemeinen Verlaufs und Kontexts der menschlichen Ontogenese. Von besonderer Bedeutung ist folgender Umstand: In dem Maße, wie die Menschen immer kooperativer wurden, begannen sie, mehr Zeit und Ressourcen in die Entwicklung ihrer Kinder zu investieren, und diese Bemühung schloss auch andere Erwachsene als die Mutter ein (beim so genannten kooperativen Brutverhalten). Erwachsene, die Kinder mit Nahrung und Information bis weit in die Adoleszenz hinein versorgten, verlangsamten die Ontogenese und setzten Zeit und Ressourcen frei, die es den Kindern ermöglichten, sich die gewaltigen Mengen kultureller Information, die erforderlich waren, um im Hinblick auf die Eigentümlichkeiten der Gruppe kompetent zu werden, effizienter anzueignen.
In diesem Kapitel bereiten wir also die Bühne für die konkreten ontogenetischen Analysen im Hauptteil des Buches. Das erreichen wir erstens durch die Erläuterung der evolutionären Grundlagen der einzigartig menschlichen Psychologie und zweitens dadurch, dass wir genauer ausführen, wie diese Psychologie zu mehreren neuen Merkmalen der menschlichen Ontogenese als ganzer führte. Wir schließen mit einigen methodologischen Betrachtungen, die in den folgenden Kapiteln unsere Beschreibung und Erklärung der einzigartig menschlichen ontogenetischen Entwicklungspfade strukturieren werden.
Unsere Geschichte beginnt mit dem letzten gemeinsamen Vorfahren (LGV) von Menschen und Menschenaffen vor etwa 6 Millionen Jahren. Allem Anschein nach war dieser LGV den heutigen Schimpansen und Bonobos viel ähnlicher als den heutigen Men25schen. Daher verwenden wir die heutigen Schimpansen und Bonobos als Modelle für seine Psychologie. Im Ausgang davon postulieren wir zwei neue »Umgebungen evolutionärer Angepasstheit«, die die Ultra-Kooperativität der Menschen selektierten: Bei der einen geht es in erster Linie um die persönliche Zusammenarbeit bei den Frühmenschen vor etwa 400 000 Jahren, bei der anderen um die Kultur des modernen Menschen vor etwa 100 000 Jahren. Die heutige psychologische Ontogenese des Menschen umfasst sowohl Anpassungen, die auch der LGV aufwies, als auch einzigartig menschliche Anpassungen, die in diesen beiden nachfolgenden Evolutionsperioden gründen.
Offensichtlich verfügen wir über keine direkten Belege für die Eigenart der Psychologie des LGV. Dafür wissen wir aber eine ganze Menge über die Psychologie von Schimpansen und Bonobos als Modelle des LGV. Da unsere Ziele hier allgemeiner Art sind, ist auch unsere Darstellung ihrer Kognition und Sozialität allgemein. Zu detaillierteren Darstellungen mit vollständigeren Quellenangaben der relevanten Forschung siehe Tomasello und Call (1997), Call und Tomasello (2008) und Tomasello (2014, 2016). Darüber hinaus besprechen wir in den folgenden acht Kapiteln viele Untersuchungen genauer, in denen Schimpansen und/oder Bonobos direkt mit Menschenkindern verglichen werden.
KOGNITION. Schimpansen und Bonobos verbringen den größten Teil ihres Tages mit der Nahrungssuche. In diesem Zusammenhang haben sie kognitive Fertigkeiten zum Verständnis der Funktionsweise der physikalischen Welt entwickelt (Tomasello und Call, 1997). Sie verstehen 1. den Raum – zum Finden von Nahrung; 2. Objektkategorien – zur Identifikation von Nahrung; und 3. Quantitäten – zur Maximierung der Nahrungsaufnahme. Mit anderen Worten: Schimpansen und Bonobos besitzen dasselbe »Basiswissen« über die physikalische Welt, das menschliche Kleinkinder schon früh in der Ontogenese zu zeigen beginnen (Spelke, 2009). 26Darüber hinaus ziehen diese Affen bei der Beschaffung und Gewinnung von Nahrung – insbesondere dann, wenn dabei Werkzeuge benutzt werden – kausale Schlüsse auf eine Weise, die nur als Denken bezeichnet werden kann. Wenn beispielsweise ein Affe ein kognitives Problem an einem Ort sieht und anschließend an einen anderen Ort geht, um eine Reihe von Werkzeugen zu untersuchen, kann er einfach nur durch Anschauen das Werkzeug auswählen, das zur Kausalstruktur des Problems passt (obwohl das Problem im Augenblick nicht in Sicht ist). Der Affe ist dazu in der Lage, weil er die Fähigkeit besitzt, das Problem kognitiv zu repräsentieren und mental zu simulieren, indem er die verfügbaren Werkzeuge innerhalb dieses repräsentierten Problems benutzt. Insgesamt können wir auf der Grundlage von Studien moderner Menschenaffen vermuten, dass der LGV sehr raffinierte Fertigkeiten der Kognition und des Denkens mit Bezug auf die physikalische Welt besaß.
Eine recht ähnliche Geschichte lässt sich über die soziale Kognition erzählen. Menschenaffen, und daher auch der LGV, besitzen und besaßen ein Verständnis von anderen als intentionalen Akteuren. Es ist wahrscheinlich, dass das Verständnis intentionalen Handelns seitens der Menschenaffen sich ebenfalls im Kontext der – konkurrenzbasierten – Nahrungssuche entwickelte, weil die Identifikation der Ziele und Wahrnehmungen von anderen entscheidend für die Vorhersage ihres Verhaltens ist, wenn man mit ihnen konkurriert. Wenn beispielsweise eine untergeordnete Schimpansin zwei Portionen Nahrung sieht und sieht, dass ein dominanter Schimpanse in die Richtung von einer davon blickt, wird sie sich dafür entscheiden, diejenige Portion zu verfolgen, die der dominante Schimpanse nicht sehen kann. Sie tut das auf der Grundlage der Einsicht, dass er das Ziel der Nahrungsaneignung hat und dass er dieses Ziel nur dann verfolgen kann, wenn er die Nahrung wahrnimmt. Daher können wir auf der Grundlage von Untersuchungen an Menschenaffen vermuten, dass der LGV ein Verständnis von anderen als intentionalen Akteuren (ein weiterer Bestandteil des Kernwissens) hatte und dass er dieses Verständnis bei mentalen Simulationen benutzte, um vorherzusagen, was andere in verschiedenen neuen Konkurrenzsituationen täten. Auf der Grundlage anderer Studien mit Menschen27affen können wir schließen, dass die Kommunikations- und sozialen Lernfähigkeiten des LGV ebenfalls hoch entwickelt waren, weil ihnen ebenfalls die grundlegende sozial-kognitive Fertigkeit des Verstehens von anderen als intentionale Akteure zugrunde lag.
Insgesamt habe ich bei dem Vergleich der kognitiven Fertigkeiten von Schimpansen und Bonobos mit denen von Menschenkindern unsere nächsten Verwandten unter den Menschenaffen so charakterisiert, dass sie mit Fertigkeiten individueller Intentionalität operieren (Tomasello, 2014). Sie besitzen komplexe Fertigkeiten der Kognition und der sozialen Kognition zum Verstehen, zur Vorhersage und zur Beeinflussung ihrer physikalischen und sozialen Welten. Was ihnen abgeht, sind menschenähnliche Fertigkeiten der geteilten Intentionalität, wie beispielsweise die Fähigkeit, sich am Denken der anderen durch gemeinsame Aufmerksamkeit, konventionelle Kommunikation und Pädagogik zu beteiligen. Schimpansen und Bonobos – und somit auch der LGV – sind und waren sehr schlau, aber hauptsächlich oder nur als Individuen.
SOZIALITÄT. Wie die meisten Primaten hatte der LGV mehr oder weniger lang anhaltende soziale Beziehungen mit ausgewählten Gruppengenossen. Zusätzlich zu Verwandtschaftsbeziehungen beruhten seine Beziehungen hauptsächlich auf 1. Konkurrenz und Dominanz und 2. Kooperation und »Freundschaft«. Wie viele Säugetiere verband er diese beiden Beziehungstypen miteinander, als er mit einem Partner kooperierte, um sich eine dominante Stellung gegenüber einem Konkurrenten zu erkämpfen. Um gute Partner für diese Konflikte zu kultivieren, tat er Verschiedenes, um Freundschaften zu schließen (wie zum Beispiel Lausen und Nahrung teilen). Die LGVs halfen einander auch beim Wiederfinden eines Gegenstands oder bei der Nahrungsgewinnung, wenn sie selbst nicht darum konkurrierten. Im Allgemeinen hatten die LGVs sehr wahrscheinlich ein besonders ausgeprägtes Mitgefühl für Verwandte und Freunde – vor allem für diejenigen, von denen sie bei konkurrenzbezogenen Interaktionen unterstützt wurden – und kooperierten daher auf unterschiedliche Weisen mit ihnen. Ihre Kooperation gründete in der Konkurrenz.
28Die eine scheinbare Ausnahme ist überhaupt keine. Schimpansen (und vielleicht auch Bonobos) jagen in kleinen Gruppen nach Affen und anderen kleinen Säugetieren, und vermutlich tat das auch der LGV. Im Hinblick auf die Koordination ähnelt das manchmal einer überstürzten und chaotischen Verfolgungsjagd; aber in anderen Fällen umringen die Jäger ein kleines Beutetier, um es zu fangen. Auf der Grundlage von experimentellen Untersuchungen können wir schließen, dass es sich dabei um eine individualistische Koordination handelt: Jeder Jäger versucht, den Affen für sich selbst zu fangen (weil der Fänger das meiste Fleisch bekommt), berücksichtigt dabei aber die Handlungen und Absichten der anderen. Die Beteiligten arbeiten nicht so sehr zusammen, sondern benutzen einander vielmehr als »soziale Werkzeuge«, um ihren eigenen Gewinn zu maximieren. Das zeigt sich auch daran, dass der Fänger sich mit dem Kadaver davonstehlen wird, wann immer es ihm möglich ist. Aber typischerweise kann er das nicht, weshalb alle Beteiligten (und viele Zuschauer) zumindest einen Teil des Fleisches bekommen, indem sie den Fänger anbetteln und drangsalieren. Daher können wir schließen, dass der LGV zwar über einige elementare Fertigkeiten der Zusammenarbeit verfügte, aber diese beinhalteten nicht das Zusammenwirken auf ein gemeinsames Ziel hin oder das freiwillige Teilen der Beute am Schluss.
So paradox es auch klingen mag: Unsere beste Vermutung lautet, dass LGV-Individuen zwar ein reichhaltiges Sozialleben mit lange anhaltenden Beziehungen hatten, dass aber – im Vergleich zu Menschen – ihre Sozialität doch immer noch etwas individualistisch war. Bei der Jagd konnten sie nicht ihre Köpfe mit anderen zusammenstecken, um das gemeinsame Ziel des Zusammenarbeitens zu bilden, und sie hatten auch keine Neigung, Ressourcen fair unter den relevanten Parteien zu teilen. Schimpansen und Bonobos, und somit auch der LGV, sind und waren zwar sehr sozial, aber nur auf eine gewisse instrumentelle Art.
EXEKUTIVE REGULATION. Sowohl im physikalischen als auch im sozialen Bereich besaßen LGV-Individuen außerdem wahrscheinlich die Fähigkeit, ihre eigenen Handlungen und ihr Denken 29zu überwachen. Daher können wir anhand von Untersuchungen an Menschenaffen schließen, dass sie Entscheidungen auf der Grundlage einer Einschätzung dessen treffen konnten, was sie wussten und was nicht; wenn sie beispielsweise nicht genau wussten, wo sich etwas befand (oder ob sie in der Lage waren, einen Kampf zu gewinnen), konnten sie sich »ausklinken« und ein anderes Ziel verfolgen, anstatt einen kostspieligen Misserfolg zu riskieren. Das deutet darauf hin, dass sie in einem gewissen Sinne wussten, was sie tun, wenn sie über ein Problem nachdachten.
Darüber hinaus deutete eine großangelegte Untersuchung über Schimpansen (und Orang-Utans) darauf hin, dass der LGV sein Verhalten auf verschiedene angepasste Weisen selbst regulieren konnte, wenn die Situation es erforderte. Beispielsweise konnte er 1. etwas aufschieben, indem er jetzt eine kleinere Belohnung annahm, um später eine größere zu erhalten, 2. eine zuvor erfolgreiche Reaktion zugunsten einer neuen hemmen, die von einer veränderten Situation verlangt wird, und 3. sich dazu bringen, etwas Unangenehmes zu tun, um am Ende eine begehrte Belohnung zu erlangen (Herrmann et al., 2015). Kurz, LGVs verfügten über eine Vielfalt von Fertigkeiten der kognitiven Selbstüberwachung und motivationalen Selbstregulation. Was sie jedoch nicht taten, obwohl es sogar schon menschliche Kinder tun, war, ihre Handlungen und ihr Denken anhand der Perspektiven und Bewertungen von anderen in ihrer sozialen Gruppe zu überwachen.
Menschen spalteten sich von den anderen Menschenaffen vor etwa 6 Millionen Jahren ab. Im Laufe der nächsten 4 Millionen Jahre waren sie im Grunde zweifüßige Affen, die ein Gehirn mit einer für Affen üblichen Größe besaßen. Anschließend, vor etwa 2 Millionen Jahren, entstand die Gattung Homo mit einem größeren Gehirn und neuen Fertigkeiten für die Herstellung von Steinwerkzeugen. Bald darauf führte eine globale Abkühlungs- und Trockenheitsperiode zur Ausbreitung von auf dem Erdboden lebenden Kleinaffen (zum 30Beispiel Paviane), die Homo mit Bezug auf viele Ressourcen aus dem Felde schlugen. Neue Verhaltensmöglichkeiten waren notwendig. Eine Übergangsmöglichkeit bestand im Verzehr von Kadavern, die von anderen Tieren getötet wurden, aber dann begannen manche Frühmenschen (die beste Vermutung deutet auf Homo heidelbergensis vor etwa 400 000 Jahren) damit, den größten Teil ihrer Nahrung durch aktivere Zusammenarbeit zu gewinnen; tatsächlich wurde die Zusammenarbeit obligat. Das bedeutete, dass die Individuen auf viel dringlichere Weise wechselseitig voneinander abhängig waren als zuvor.
Ein wesentlicher Teil des Prozesses obligater gemeinsamer Nahrungssuche bestand in der Partnerwahl. Individuen, die kognitiv oder in anderer Hinsicht für die Zusammenarbeit ungeeignet waren – beispielsweise diejenigen, die nicht in der Lage waren, mit anderen ein gemeinsames Ziel zu bilden –, wurden nicht wiederholt als Partner gewählt, und das bedeutete keine Nahrung. Ebenso wurden Individuen, die sozial oder moralisch in ihren gemeinsamen Interaktionen mit anderen unkooperativ waren – zum Beispiel diejenigen, die versuchten, die ganze Beute für sich selbst einzuheimsen –, als regelmäßige Partner gemieden und waren daher dem Untergang geweiht. Das Ergebnis war, dass es eine starke und aktive soziale Selektion (West-Eberhard, 1979) für kooperativ kompetente und motivierte Individuen gab.
Der radikal neue psychologische Prozess, der zu dieser Zeit entstand, war das, was wir als »gemeinsame Intentionalität auf der Grundlage gemeinsamen Handelns« bezeichnen können. Ein gemeinsamer Akteur umfasst zwei Individuen, die ein gemeinsames Ziel haben, das durch gemeinsame Aufmerksamkeit strukturiert ist, und jeder von beiden hat gleichzeitig seine eigene individuelle Rolle und Perspektive. Das lässt sich als die Zwei-Ebenen-Struktur bezeichnen: gleichzeitige Gemeinsamkeit und Individualität. Die Partner beim gemeinsamen Handeln beziehen sich dyadisch aufeinander, zweitpersonal, in Interaktionen von Angesicht zu Angesicht; im Lauf der Zeit erzeugen sie miteinander geteilte Erfahrungen, den gemeinsamen Hintergrund, auf den sie sich bei ihren gemeinsamen Anstrengungen verlassen können. Die Schaffung ei31nes gemeinsamen Akteurs – während jeder Partner gleichzeitig seine eigene individuelle Rolle und Perspektive beibehält – erzeugte eine völlig neue Psychologie des Menschen und brachte neue Formen der Kognition und Sozialität hervor.
KOGNITION. Man kann das, was mit diesen Frühmenschen geschah, als die bloße Entstehung von ein paar neuen Fertigkeiten charakterisieren, und das stimmt sicherlich auch. Aber es handelte sich dabei nicht um irgendwelche Fertigkeiten, sondern um Fertigkeiten, die eine neue Art von Akteur erzeugten, nämlich einen solchen, in dem zwei unterschiedliche Individuen gewissermaßen die Welt gemeinsam wahrnahmen und verstanden, während sie dennoch ihre eigene individuelle Perspektive nicht verloren. Das führte für die Frühmenschen zu dem, was wir als »perspektivische kognitive Repräsentationen« bezeichnen können. Während Menschenaffen gemeinsame Merkmale von Einzelgegenständen abstrahieren und eine abstrakte Repräsentation einer Menge von Entitäten bilden konnten, waren die Frühmenschen nicht nur ebenfalls dazu in der Lage, sondern konnten denselben Gegenstand auch aus verschiedenen Perspektiven, unter verschiedenen Beschreibungen (zum Beispiel als Stock und als Werkzeug) sehen, und zwar gleichzeitig. Diese Form der kognitiven Repräsentation ist größtenteils verantwortlich für die bemerkenswerte Flexibilität und Leistungsfähigkeit der begrifflichen Tätigkeit des Menschen.
Eine gemeinsame intentionale Tätigkeit konstituierte eine geteilte Begriffswelt, die die unterschiedlichen Perspektiven der Partner umfasste, und sie erzeugte die pragmatische Infrastruktur, auf der die neuen frühmenschlichen Fertigkeiten der kooperativen Kommunikation aufgebaut werden konnten (Tomasello, 2008). Diese Fertigkeiten zeigten sich ursprünglich in den neuen und einzigartig menschlichen Gesten des Zeigens und Gebärdenspiels, das von den Partnern benutzt wurde, um ihre individuellen Rollen und Perspektiven auf einen gemeinsamen Zweck hin zu koordinieren. Diese Gesten beruhten auf einigen neuen Formen kognitiver Schlüsse. So könnte beispielsweise ein Individuum gegenüber einem anderen auf einen toten Ast an einem Baum zeigen. Ohne gemeinsamen 32Hintergrund wäre eine solche Geste sinnlos. Aber wenn sie zusammen auf Antilopenjagd wären und aufgrund ihrer vorherigen gemeinsamen Erfahrung einen gemeinsamen Hintergrund hätten und wüssten, dass der andere einen Speer braucht, aber seinen eigenen gestern zerbrochen hatte (und dass dieser tote Ast von geeigneter Größe und Beschaffenheit wäre), dann könnte die einfache Zeigegeste so etwas mitteilen wie »Hier ist ein möglicher neuer Speer für dich.« Das heißt, sie würde dies mitteilen, wenn der Angesprochene eine evolutionär neue Form des Schließens vollziehen könnte: einen sozial rekursiven Schluss. Konkret musste sich der Angesprochene beim Folgen der Zeigegeste zum Stock hin fragen, warum der Kommunizierende beabsichtigte, dass er seine Aufmerksamkeit auf diesen Stock richten sollte (woraufhin seine Überprüfung ihres gemeinsamen Hintergrunds die Antwort liefern würde). In der Lage zu sein, einen intentionalen oder mentalen Zustand (die Aufmerksamkeit auf etwas richten) rekursiv in einen anderen (beabsichtigen) einzubetten, stellte eine andere neue Fähigkeit mit gewaltigen kognitiven Folgen dar.
Die neuen frühmenschlichen Fertigkeiten der kooperativen Kommunikation ermöglichten so nicht nur neue Formen sozialer Koordination, sondern auch neue Formen des Denkens, insbesondere die Fähigkeit, verschiedene Perspektiven auf vielfältige Weisen mit einem Partner zu koordinieren, und zwar unter anderem auch rekursiv. Sozial rekursive Schlüsse – bei denen das Individuum einen intentionalen oder mentalen Zustand begrifflich in einen anderen einbettet – ermöglichen den Individuen nicht nur, über ihre eigenen mentalen Zustände zu reflektieren, sondern auch, über ihr eigenes Denken nachzudenken. Das kognitive Ergebnis der frühmenschlichen Anpassungen für obligate gemeinsame Nahrungssuche waren Fertigkeiten gemeinsamer Intentionalität: Fertigkeiten dafür, den eigenen Kopf mit einem Partner zusammenzustecken, um ein gemeinsames Ziel mit gemeinsamer Aufmerksamkeit zu bilden, wodurch die Möglichkeit entsteht, dass man über Dinge im Sinne perspektivischer kognitiver Repräsentationen und sozial rekursiver Schlüsse nachdenken kann.
33SOZIALITÄT. Frühmenschliche Individuen, die für die gemeinsame Nahrungssuche sozial selektiert wurden, bezogen sich auf bestimmte neue Weisen auf andere Individuen. Am wichtigsten war, dass sie starke Kooperationsmotive hatten, und zwar sowohl, um mit anderen auf kooperative Ziele hinzuarbeiten, als auch, um Mitgefühl mit anderen zu haben und ihnen zu helfen, da sie ihre Partner waren oder noch sein könnten. Wenn ein Individuum für den Erfolg bei der Nahrungssuche von einem Partner abhängig war, dann ergab es einen guten evolutionären Sinn, ihm immer, wenn es nötig war, zu helfen, um sicherzustellen, dass er sich in einem guten Zustand für zukünftige Exkursionen befand.
Darüber hinaus entwickelten frühmenschliche Individuen, die sozial für die gemeinsame Nahrungssuche selektiert wurden, eine neue Art von kooperativer Rationalität, die sie dazu führte, andere als Partner zu behandeln, die gleichermaßen anspruchsberechtigt sind – das heißt, nicht nur mit einem Sinn für Mitgefühl, sondern auch mit einem Sinn für Fairness. Die Partner verstanden, dass jeder von ihnen im Prinzip die eine oder andere Rolle bei einer Zusammenarbeit spielen könnte und dass beide für den gemeinsamen Erfolg vonnöten waren. Ferner entwickelten sie, da zwei Individuen wiederholt miteinander in einem bestimmten Nahrungssuchekontext zusammenarbeiteten, ein auf dem gemeinsamen Hintergrund basierendes Verständnis der Art und Weise, wie jede Rolle für den gemeinsamen Erfolg gespielt werden musste – etwas, das wir als »rollenspezifische Ideale« bezeichnen können (beispielsweise muss der Verfolger bei der Antilopenjagd x tun und der Speerwerfer muss y tun). Diese Ideale waren unparteiisch in dem Sinne, dass sie angaben, was jeder von uns tun muss, um die Rolle »richtig« zu spielen, nämlich so, dass unser gemeinsamer Erfolg sichergestellt wird. All dies zusammen führte zu einer Einstellung der Zusammenarbeit: Da wir beide für den Erfolg nötig sind und wir unsere Rollen (von denen jede wechselseitig bekannte und unparteiische Leistungsmaßstäbe beinhaltet) tauschen können, haben wir auch den gleichen Anspruch auf die Beute – im Gegensatz zu Betrügern oder Trittbrettfahrern, die keinen Anteil an der Beute verdienen.
Bei der Wahl eines Partners für eine gemeinsame Unternehmung 34wollten die Frühmenschen sich jemanden aussuchen, der die rollenspezifischen Ideale erfüllen und die Beute fair teilen würde. Um das Risiko, das der Partnerwahl eigen ist, zu reduzieren, konnten Individuen, die im Begriff waren, Partner zu werden, ihre neu gewonnenen Fertigkeiten der kooperativen Kommunikation nutzen, um eine gemeinsame Verpflichtung einzugehen, indem sie einander gelobten, ihre Rollenideale, einschließlich der fairen Aufteilung der Beute, zu erfüllen. Als Teil dieser gemeinsamen Verpflichtung konnten die potenziellen Partner außerdem stillschweigend geloben, dass jeder, der die Verpflichtung verletzen würde, eine Rüge verdiente; daher würde die Abweichlerin, wenn sie auch weiterhin einen guten Kooperationsstatus genießen wollte, sich dem Tadel des Partners (als Schuldgefühl internalisiert) anschließen, und zwar gemäß einer Moral, nach der wir 〉 ich ist.
Folglich war das soziale Ergebnis der frühmenschlichen Anpassungen an obligate gemeinsame Nahrungssuche eine Moral der zweiten Person: die Tendenz, sich auf andere zu beziehen, von Angesicht zu Angesicht, mit einem gesteigerten Mitgefühl für (potenzielle) Partner und einem Sinn für Fairness, beruhend auf einer ehrlichen Einschätzung sowohl des Selbst als auch des anderen als gleichermaßen anspruchsberechtigte Partner bei dem gemeinsamen Unternehmen (Äquivalenz zwischen Selbst und anderem).
EXEKUTIVE REGULATION. Anhand von Untersuchungen, die Menschenaffen und Kinder miteinander vergleichen, können wir schließen, dass die Frühmenschen sich nicht nur individuell selbst regulierten (wie der LGV), sondern auch eine bestimmte Art der sozialen Selbstregulation vollzogen. In kognitiver Hinsicht waren sie in der Lage, ihr eigenes Denken exekutiv zu regulieren, indem sie vorwegnahmen, wie die anderen dieses Denken verstehen und bewerten würden – und zwar typischerweise so, wie es in einem bestimmten offenen Akt der kooperativen Kommunikation zum Ausdruck kam. Das stellte eine Art der sozialen Selbstüberwachung ihres individuellen Denkens dar (was später zur Selbstregulation durch Rationalitätsnormen werden sollte). In sozialer Hinsicht, insbesondere im Kontext der Partnerwahl, konnten sie 35simulieren, wie die anderen ihre Kooperativität bewerteten, und daran lag ihnen sehr viel (was später und in Verbindung mit ihrer Moral des wir 〉 ich zur Selbstregulation durch moralische Normen werden sollte).
Die im kleinen Maßstab stattfindende, gemeinsame Nahrungssuche der Frühmenschen wurde schließlich durch zwei demografische Faktoren destabilisiert, die zu den modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) vor 150 000 Jahren führten. Der erste bestand in der Konkurrenz zu anderen Gruppen von Menschen. Die Konkurrenz zu anderen Gruppen bedeutete, dass eine locker strukturierte Population von zusammenarbeitenden Individuen sich in eine enger geknüpfte soziale Gruppe verwandeln musste, um ihre Lebensweise gegenüber Eindringlingen zu verteidigen. Das Ergebnis war das Gefühl, dass unsere gesamte soziale Gruppe eine große gemeinsame Tätigkeit war, die auf den Erfolg der Gruppe abzielte. Der zweite bestand in einer zunehmenden Populationsgröße. In dem Maße, wie die Populationen der Menschen anwuchsen, neigten sie dazu, sich in kleinere Gruppen aufzuspalten, was zur so genannten Stammesorganisation führte, bei der eine Reihe verschiedener sozialer Gruppen immer noch eine einzige Supergruppe oder »Kultur« waren. Das bedeutete, dass die Erkennung der anderen aus der eigenen Kulturgruppe wesentlich wurde; im Kontext von manchmal feindlicher Gruppenkonkurrenz musste man auch selbst von den anderen in der eigenen Gruppe erkannt werden. Eine solche Erkennung in beiden Richtungen war wichtig, weil man nur bei Mitgliedern der eigenen Kulturgruppe sicher sein konnte, dass sie die eigenen Fertigkeiten und Werte teilten und folglich gute und vertrauenswürdige Kooperationspartner wären, unter anderem für die Verteidigung der Gruppe. Die Abhängigkeit der Individuen von der Gruppe führte daher zu einem Gefühl der Gruppenidentität und -loyalität, und es konnte tödlich sein, wenn man diese Gruppenidentität und -loyalität nicht zur Schau stellte.
Die heutigen Menschen haben zwar viele verschiedene Möglich36keiten, die Gruppenidentität zu markieren, aber die ursprünglichen Möglichkeiten bestanden hauptsächlich im Verhalten: Menschen, die sprechen wie ich, das Essen zubereiten wie ich, und auch in anderen Hinsichten meine Kulturpraktiken teilen, sind wahrscheinlich Mitglieder meiner Kulturgruppe. Und so entstand die Neigung der modernen Menschen zur aktiven Konformität mit der Gruppe und ihren konventionellen Kulturpraktiken. Die eigenen Kinder zu lehren, die Dinge auf die hergebrachte Weise zu tun, wurde somit notwendig für ihr Überleben. Unterricht und Konformität erzeugten die kumulative kulturelle Evolution, die durch den »Wagenhebereffekt« charakterisiert ist – und somit auch die kulturelle Organisation in Form der besonderen Menge von Konventionen, Normen und Institutionen der Gruppe. Die Einzelnen wurden in diese überindividuellen Sozialstrukturen hineingeboren und hatten keine andere Wahl, als sich ihnen zu fügen. Das Schlüsselmerkmal von Individuen, die an das Kulturleben angepasst waren, bestand somit in einer Art von Gruppengeist, und zwar sowohl im Hinblick auf die kognitive Einnahme der Gruppenperspektive als auch im Hinblick auf die Sorge um das Wohlergehen der Gruppe.
KOGNITION. Die kognitiven Fertigkeiten, die für das Funktionieren in einer Kulturgruppe notwendig sind, waren nicht einfach nur Fertigkeiten der gemeinsamen Intentionalität, sondern Fertigkeiten der kollektiven Intentionalität. Die Einzelnen hatten nicht nur einen persönlichen gemeinsamen Hintergrund mit anderen Einzelnen, sondern auch einen kulturellen gemeinsamen Hintergrund – sogar mit Individuen, denen sie noch nie zuvor begegnet waren –, weil sie gemeinsam wussten, dass sie alle viele derselben Erfahrungen als Folge davon hatten, dass sie in derselben Kulturgruppe aufgewachsen waren. Außerdem musste das Individuum in vielen Situationen die Perspektive der Gruppe einnehmen, insbesondere im Hinblick auf die Konventionen, Normen und Institutionen der Kultur. Es gab richtige und falsche Weisen, die Rollen in ihnen zu spielen: So machen wir die Dinge hier. Diese neue Art von Perspektive war somit eine Art von »objektiver« Perspektive, die unabhängig von jedem Individuum war. Institutionen verstärk37ten dieses Gefühl von Objektivität noch weiter, weil wesentliche Teile der Kulturwelt institutionelle Wirklichkeiten wie Häuptlinge, Ehen und Muscheln-als-Geld waren, die in Wirklichkeit normale Menschen und Dinge waren, die einen neuen Status – mit neuen deontischen Kräften – erwarben, weil und nur weil jeder vor seinem kulturellen gemeinsamen Hintergrund anerkannte, dass sie tatsächlich diesen Status besaßen.
In vielen Hinsichten sind die wichtigsten Konventionen einer Kulturgruppe ihre sprachlichen Konventionen, die zur Koordination sozialer Tätigkeiten genutzt werden. Darüber hinaus ist die Sprache entscheidend dafür, dass Menschen auf viele unterschiedliche Weisen denken, wohl insbesondere mit Bezug darauf, wie durch sie Perspektiven konventionalisiert werden (zum Beispiel Hund gegenüber Haustier). Sie ermöglicht den Individuen, die gemeinsame Aufmerksamkeit auf die Vorstellungen der anderen Personen zu richten, während sie sie mittels ihrer geteilten sprachlichen Konventionen austauschen. Die Sprache trägt außerdem zum Gefühl einer objektiven Perspektive auf die Dinge bei, da sie den Individuen ermöglicht, generische Propositionen über die Welt im Allgemeinen auszudrücken. Um ihren Kindern etwas beizubringen, begannen die modernen Menschen somit, generische Sprachformen zu benutzen, denen zufolge es nicht nur der Fall ist, dass ein bestimmter Leopard eine Gefahr darstellt – »Leoparden sind gefährlich« repräsentiert eine objektive Tatsache mit Bezug auf die Welt. Die Lehrerin teilt dem Kind nicht ihre persönliche Meinung mit, sondern stellt vielmehr die objektive Sicht der Dinge seitens der Kultur dar.
Außerdem nutzten die modernen Menschen ihre sprachlichen Fertigkeiten, um sich miteinander kooperativ über eine bestimmte Überzeugung oder Handlung auszutauschen. Dabei lieferten sie Gründe dafür, warum die anderen ihnen zustimmen sollten (zum Beispiel sollten wir in diese Richtung gehen und nicht in jene, weil es auf diesem Pfad Antilopenspuren gibt, auf jenem aber nicht). Diejenigen, die sich an diesem Prozess sinnvoll beteiligen konnten, waren auch diejenigen, die sich kooperativ verhielten, indem sie sich selbst »guten« Gründen unterordneten: Meine persönliche Vor38liebe spielt keine Rolle, sondern ich werde zustimmen und werde mich derjenigen Entscheidung anschließen – wie immer sie auch ausfallen mag –, die von den meisten und besten Gründen gestützt wird, anhand von Kriterien, mit denen wir alle einverstanden sind. Dadurch, dass sie sich an diesem Prozess beteiligten, wurde das Denken der Individuen in einem viel weiteren und vernunftbasierteren »Überzeugungsnetz« organisiert, das von den normativen Rationalitätsmaßstäben der Gruppe strukturiert war.
SOZIALITÄT. Das Leben in einer Kulturgruppe moderner Menschen bedeutete vor allem anderen, sich anzupassen. Man musste sich anpassen, um sich mit anderen bei konventionellen Kulturpraktiken zu koordinieren, um die eigene Übereinstimmung mit den Praktiken der Kulturgruppe zur Schau zu stellen und um mit den sozialen Normen der Gruppe übereinzustimmen. Manche sozialen Normen bezogen sich nur auf Konformität und Gruppenidentität, aber andere berührten das Mitgefühl der Menschen und ihren Sinn für Fairness (das und den sie von den Frühmenschen geerbt hatten), und diese wurden zu moralischen Normen. Und folglich kodifizierten die moralischen Normen die richtige und falsche Art und Weise des moralischen Verhaltens gegenüber anderen Menschen, ebenso wie die konventionellen Normen die richtigen und falschen Praktiken bei instrumentellen Tätigkeiten kodifizierten. Da die kollektive Intentionalität und der kulturelle gemeinsame Hintergrund moderner Menschen eine Art von »objektiver« Perspektive auf die Dinge erzeugte, wurde die moderne menschliche Moral schließlich als objektiv angesehen.
Natürlich konnte man auch gegen moralische Normen verstoßen. Aber wenn man von anderen Gruppenmitgliedern zur Rechenschaft gezogen wurde, waren die Handlungsmöglichkeiten begrenzt: Man konnte ihre Kritik und ihren Tadel ignorieren und sich damit außerhalb der Normen und Werte stellen, die von der Kulturgruppe geteilt wurden (was möglicherweise zum Ausschluss aus der Gruppe führte), oder man konnte sie als legitim und berechtigt akzeptieren. Und tatsächlich stellten sich die modernen Menschen die kulturellen Normen, in die sie hineingeboren wurden, als legiti39mes Mittel vor, mit dem »wir« »uns« regulieren, und es war Bestandteil ihrer Gruppenidentität, so zu denken. Das bedeutete, dass es bei einer Abweichung von den sozialen Normen der Gruppe wichtig war, diese Abweichung den anderen gegenüber im Sinne der geteilten Werte der Gruppe zu rechtfertigen (zum Beispiel habe ich meine Pflichten vernachlässigt, weil ich ein in Not geratenes Kind retten musste). Auf diese Weise internalisierten die modernen Menschen nicht nur moralische Handlungen, sondern auch moralische Rechtfertigungen und schufen so innerhalb der moralischen Gemeinschaft eine vernunftbasierte moralische Identität.
EXEKUTIVE REGULATION. Daher regulierten die modernen Menschen – genau wie die Frühmenschen – ihre Gedanken und Handlungen nicht nur auf der Grundlage dessen, was ihrer Meinung nach andere Individuen über sie dachten, sondern auch auf der Grundlage normativer Maßstäbe der Gruppe. Sie begannen, ihre Gedanken durch die öffentlich akzeptierten Rationalitätsnormen der Gruppe selbst zu regulieren, und ihre Handlungen durch die öffentlich akzeptierten Normen der Moral: Sie vollzogen nicht nur eine soziale Selbstregulation, sondern eine normative Selbstkontrolle. Sie stellten sich die Frage: Was soll ich denken? Und was soll ich tun?