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George Harpole ist Mitte dreißig und arbeitet schon eine Weile an der St. Nicholas-Schule, als er auf den Direktorenposten befördert wird. Für ein halbes Jahr soll er die Geschicke der Lehranstalt leiten. Bald stellt er fest: Die eigentliche Herausforderung ist das, was außerhalb des Klassenzimmers passiert. Denn dort gilt es, sich durch ein kompliziertes Beziehungsgefüge zu hangeln. Auch die Zusammenarbeit mit den Kollegen erweist sich als schwieriger als gedacht. Ganz zu schweigen vom Umgang mit den Eltern. Zum Glück gibt es auch Lichtblicke: Die hübsche Mrs Foxberrow etwa, ihres Zeichens überzeugte Reformpädagogin. Und den ein oder anderen Schüler natürlich … ›Die Lehren des Schuldirektors George Harpole‹ ist in England ein Kultbuch. Aus Briefen, Tagebucheinträgen und Beobachtungen entsteht bei J. L. Carr ein äußerst unterhaltsamer Roman, der in Erinnerungen an die eigene Schulzeit schwelgen lässt – und zeigt, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen. »Eine Ansammlung von unvergesslichen Charakteren, die im Dickicht des britischen Schulsystems verborgen liegen … Absolut großartig!« The Times
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Seitenzahl: 319
© Brendan King/National Portrait Gallery, London
J. L. Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag und verfasste acht Romane. ›Ein Monat auf dem Land‹ (DuMont 2016) war 1980 für den Booker-Preis nominiert. Bei DuMont erschienen außerdem ›Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten‹ (2017) und ›Ein Tag im Sommer‹ (2018).
Monika Köpfer war Lektorin bei zwei Münchener Publikumsverlagen und ist heute freie Lektorin und Übersetzerin. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u. a. Naomi J. Williams, Richard C. Morais, Milena Agus, Fabio Stassi, Theresa Révay, Mohsin Hamid und Richard Russo.
J.L. Carr
DIE LEHREN DES SCHULDIREKTORS GEORGE HARPOLE
Roman
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Die englische Originalausgabe erschien 1972 unter dem Titel ›The Harpole Report‹ bei Martin Secker & Warburg Ltd, London.
Copyright © 1984 by Bob Carr
eBook 2019
© 2019 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Monika Köpfer
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Satz: Angelika Kudella, Köln
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-8472-8
www.dumont-buchverlag.de
Für Sally
»Das vierte Thema ist vielleicht das wichtigste – es sind die Lehrer selbst. Sie verkörpern das Schulsystem, und doch gibt es so gut wie keine systematischen Erkenntnisse über sie. Daher ist jede noch so kleine Information über diese Spezies willkommen …
Wer sind diese Menschen, die bereit sind, sich ganz der Erziehung unserer Kinder zu widmen? Warum nehmen sie all das auf sich, und was passiert mit ihnen, wenn sie es tun?
… Auch ist – im Detail – wenig darüber bekannt, womit Lehrer ihre Zeit verbringen, wenn sie einmal Fuß gefasst haben. Es bräuchte einen Naturkundler wie Gilbert White, der eine Art ›Naturgeschichte der Schule‹ schreibt. Ich gehe davon aus, dass dies im kommenden Vierteljahrhundert eines der anthropologisch inspirierendsten Forschungsgebiete sein wird – intensive, kleinteilige Feldforschung in einzelnen Schulen und Klassenzimmern, gepaart mit den reichhaltigen zwischenmenschlichen Beziehungen, die dort stattfinden.«
Michael Young
Gründer der Zeitschriften WHERE? und WHICH?
(Abdruck des folgenden Zitats mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Routledge & Kegan Paul Ltd)
»Den Tod des Geistes müssen wir fürchten. Nur das zu glauben, was uns beigebracht und uns zu glauben gelehrt wurde, zu wiederholen, was uns zu sagen gelehrt wurde, nur zu tun, was von uns erwartet wird, wie Marionetten zu leben, das Vertrauen in die eigene Unabhängigkeit und die Hoffnung auf Besserung zu verlieren – das ist der Tod des Geistes.«
Tokutomi Roka
1
Ich wurde damit beauftragt, diesen unabhängigen Bericht über das, was MrG. Harpole widerfuhr, zu schreiben, und möchte betonen, dass es MrHarpole selbst war, der mich – als älteren Kollegen und erfahreneren Schuldirektor – bat, meine Eindrücke von diesem vergangenen Schulhalbjahr zu schildern, mit dem seine Karriere endete.
Er hat mir erlaubt, sein »Tagebuch« (ein privates Arbeitstagebuch) einzusehen, und mir auch Einsicht in wichtige Dokumente seiner Korrespondenz gewährt. Zwar wurde mir, wie nicht anders zu erwarten, der Zugang zu den Akten des lokalen Schulamts verweigert, doch hat mir MrHarpole Kohledurchschläge seiner geschäftlichen und privaten Briefe zur Verfügung gestellt; auch war es mir möglich, gewisse Vorfälle anhand von Auszügen aus dem offiziellen Schulprotokollbuch und den Tagebüchern der Grundschüler, die darin tägliche Aufsatzübungen betreiben, näher zu beleuchten. Und so spricht jeder mehr oder weniger für sich selbst.
Kurzum, bei diesem Bericht handelt es sich nicht um eine von mir selbst gewählte Aufgabe, aber ich wurde in gewisser Hinsicht dafür entschädigt. Während ich mich bemühte, ein wenig Ordnung in diese Angelegenheit zu bringen, wuchs nicht nur meine Sympathie und meine Bewunderung für einige jener, die darin verwickelt waren, sondern auch für andere, mir unbekannte Menschen: isolierte, versprengte Trupps, die an vorderster Front des englischen Schulsystems, inmitten dichten Gefechtsstaubs, verzweifelt versuchen, die Stellung zu halten.
Und man bedenke auch Folgendes: Eine Schule ist eine komplexe Institution. Kinder und Lehrer, Verwaltungsbeamte und ihre Untergebenen, Hausmeister, Köchinnen, Schulärzte, Schulinspektoren, Mitglieder des Schulbeirats. Und Eltern. Sie alle rackern sich ab, unzählige Zahnräder, die mehr oder weniger gut ineinandergreifen. Wundert es einen da, wenn – wie im Falle Harpoles – es im Getriebe bisweilen quietscht und hakt oder, schlimmer noch, ein Hauptlager den Geist aufgibt?
ARTHUR S. CHADBAND, REKTOR DER TAMPLING ST. NICHOLAS PRIMARY SCHOOL1 (MITGLIED DES KÖNIGLICHEN GARTENBAU-INSTITUTS, MITGLIED DER KÖNIGLICHEN HISTORISCHEN GESELLSCHAFT), AN P. TUSKER, B.SC., VERWALTUNGSASSISTENT SCHULAMT
Bezug nehmend auf Ihr Schreiben vom Vierten dieses Monats, worin Sie Ihrer Sorge Ausdruck verleihen, es könnte in den wenigen Wochen meiner Dienstfreistellung, die mir der Grafschafts-Bildungsausschuss und meine Vorgesetzten nicht zuletzt aufgrund Ihrer freundlichen Unterstützung gewährt haben, an der Tampling St. Nicholas Primary School Schwierigkeiten geben, hoffe ich, Sie beruhigen zu können.
Obgleich MrHarpole gerade einmal Anfang dreißig ist, kann ich Ihnen bescheinigen, dass er ein außergewöhnlich zuverlässiger, gewissenhafter und fleißiger Angestellter der hiesigen Schulbehörde ist. Seine Arbeit mit der Begabtenklasse war überaus erfolgreich. In der Tat schneiden unsere Schüler bei der Aufnahmeprüfung für eine weiterführende Schule überdurchschnittlich gut ab, bisweilen liegen unsere Ergebnisse um zwanzig Prozent über dem Durchschnitt unserer Grafschaft.
In einer Beziehung teile ich indes Ihre Befürchtungen – dass es im Kollegium zu einer gewissen Aufsässigkeit kommen könnte, wenn ein noch recht junges Mitglied unversehens in eine höhere Position befördert wird. Jedoch gibt es an meiner Schule – gewiss erinnern Sie sich an unsere diesbezügliche (und von mir als sehr wertvoll empfundene) inoffizielle Unterhaltung – nur einen Störfaktor, und das ist MrsGrindle-Jones, die, wie ich leider zugeben muss, einen Groll gegen mich hegt, weil sie sich übergangen fühlt, nachdem wir MrHarpole mit der frei gewordenen Lehrerstelle mit Personalverantwortung der Besoldungsgruppe I betraut haben. Gleichwohl habe ich mir bezüglich dieser Entscheidung nichts vorzuwerfen (wie ich mir seit dem Zeitpunkt, da ich Sie traf, immer wieder sage), und ich bin froh, dass sich meine Vorgesetzten meiner Einschätzung angeschlossen haben – dass es nicht korrekt gewesen wäre, wenn MrsGrindle-Jones als Frau des Schuldirektors einer Nachbarschule während meiner temporären Abwesenheit Zugang zu vertraulichen Dokumenten gehabt hätte.
Zu guter Letzt seien Sie versichert, dass ich engen Kontakt zu meiner Schule halten werde. Genau wie ich MrHarpole versprochen habe, stehe ich ihm mit meiner dreißigjährigen Erfahrung als Rektor der Tampling St. Nicholas jederzeit telefonisch zur Verfügung.
Ich hoffe, Sie, Ihre Frau und Ihre beiden Kinder haben einen erquicklichen, erholsamen Urlaub auf der Isle of Man verbracht.
Die übertriebene Art und Weise, mit der Chadband seine Dankbarkeit bezeugt und sich bemüht, eine etwas persönlichere Verbindung zu dem Beamten aufzubauen, indem er auf Tuskers Familienurlaub anspielt, zeigt, dass er nach wie vor befürchtet, seine langersehnte Flucht an einen Ferienort an der Südküste könnte doch noch verhindert werden. Auch wenn es vordergründig um Harpole geht, möchte er Tusker mit diesem Brief vor allem in Erinnerung rufen, dass die Tampling St. Nicholas ein Juwel unter den lokalen Bildungsinstitutionen ist.
Chadband lässt daher durchblicken, er habe sich durch das Einrichten verschiedener Leistungsklassen, gezielte Förderung und kluges Prognostizieren von Prüfungsaufgaben den exzellenten Ruf erworben, dass seine Grundschulabsolventen ihren begabten Konkurrenten aus benachbarten Institutionen regelmäßig die begehrten Plätze an weiterführenden Schulen vor der Nase wegschnappen.
SCHULPROTOKOLLBUCH
Ich, Mr(George) Harpole (Besoldungsgruppe I / Lehrerstelle mit Personalverantwortung), habe heute interimsmäßig die Leitung dieser Schule übernommen, für die Dauer der Beurlaubung des Rektors, MrA. S. Chadband (Mitglied des Königlichen Gartenbauinstituts, Mitglied der Königlichen Historischen Gesellschaft), zu Zwecken der beruflichen und persönlichen Weiterbildung.
Das Schulpersonal setzt sich folgendermaßen zusammen:
Vierte Klasse – Emma Foxberrow, M.A. (Cambridge): akademischer Abschluss (ohne Lehrerausbildung; zusätzlich geschaffene Stelle)
Dritte Klasse – (Mrs) Rita Grindle-Jones: geprüfte Assistenzlehrerin
Zweite Klasse – Pintle, James Albert: geprüfter Assistenzlehrer
Erste Klasse – Croser, Sidney: geprüfter Assistenzlehrer (in der Probezeit)
»Zurückgebliebenen«-Klasse – Grace Tollemache: Assistenzlehrerin (ohne pädagogische Ausbildung)
Mr Edwin Ezra Theaker: Hausmeister
TAGEBUCH
Mein erster Tag als stellvertretender Rektor an unserer Schule. Zu meinem Leidwesen hat sich nichts ereignet, was meines Eingreifens bedurft hätte. Mir ist bereits jetzt bewusst, wie sehr ich das turbulente Treiben in einem Klassenzimmer vermissen werde, und ich hoffe, dass die Begabtenklasse nicht unter meiner Abwesenheit leidet und meine bisherige Arbeit weiterhin Früchte trägt. Das Schulamt hat sich ziemlich zurückhaltend hinsichtlich des personellen Neuzugangs geäußert – eine Hochschulabsolventin –, sodass man sich entweder auf das fatale Nachlassen der Disziplin oder einen rudimentären Unterricht gefasst machen muss (nach dem Motto »Schlagt eure Schulhefte auf und notiert euch folgende Sätze, die ich vor soundso vielen Jahren zu Papier brachte«). Ich werde in den kommenden Monaten ein väterliches Auge auf sie haben.
Wie dem auch sei, ich habe mir die Zeit vertrieben, indem ich den Inhalt der Schubladen von MrChadbands Schreibtisch neu ordnete. Ich habe Ediths neues farbiges Studioporträt in die Schublade mit meinem Briefpapier getan, damit ich einen Blick auf sie erhasche, wann immer ich Notizpapier oder ein Kuvert benötige. MrChadbands Zertifikat vom Hygieneinstitut habe ich einstweilen abgenommen und durch einen Bilderrahmen mit Sir H. Newbolts grandiosem Gedicht »Vitai Lampada« (auf samtenem Hintergrund) ersetzt, eine Arbeit, die ich im Kunstkurs am College angefertigt habe. Am inspirierendsten finde ich folgende Zeilen:
»Der Wüstensand2 durchtränkt und rot,
’s Geschütz steckt fest, der Oberst tot,
Der Fluss des Todes ist übergetreten,
doch ein Ruf lässt die Soldaten sich erheben:
›Auf, auf Kameraden! Gebt euer Bestes!‹«
Habe heute zum ersten Mal die Morgenandacht angeleitet und ein Lied zum Erntedank, »Fair Waved The Golden Corn«, sowie »Forth in Thy Name, O Lord« ausgewählt. Enttäuscht bemerkte ich, dass unser Neuzugang nicht mitsang; erst bei folgender Liedzeile stimmte sie ein:
»Bewahre mich vor den Fallstricken auf meinem Weg.«
Und zwar mit übertrieben lauter Stimme, um sogleich wieder zu verstummen. Die Kinder waren so verdutzt, dass sie ebenfalls zu singen aufhörten und die neue Lehrerin mit unverhohlener Neugier anstarrten.
MrsGrindle-Jones betätigt das rechte Pedal für meinen Geschmack ein wenig zu forsch, unentwegt hält sie es durchgedrückt, und ich finde es auch irritierend, dass sie beim Hereinkommen und Hinausgehen der Kinder seit nunmehr drei Jahren den ewig gleichen »Hyazinthen-Walzer« spielt. Nicht nur, dass die Musik längst ihren ästhetischen Gehalt eingebüßt hat, auch fällt es den Kindern schwer, im Dreivierteltakt zu bleiben.
Kurz nach Unterrichtsschluss schaute MrTusker, B.Sc., vorbei, um sich zu erkundigen, ob bei uns alles in Ordnung sei. Ich beruhigte ihn, er könne sich auf mich verlassen und dass bestimmt auch weiterhin alles reibungslos verlaufen werde, bis der Rektor seinen Dienst wieder aufnehme. Ehe er sich wieder zum Gehen anschickte, zögerte er und sagte dann in bedeutungsvollem Ton: »Nur damit Sie es wissen, Harpole: Wir vom Schulamt werden in diesem kommenden Halbjahr ein überaus aufmerksames Auge auf die Tampling St. Nicholas haben.«
Das fängt ja gut an. Harpole sollte offizielle Einträge ins Schulprotokollbuch so kurz und sachlich wie möglich halten. Mag es auch vor fremden Augen mit einem Schloss geschützt sein, so ist es doch Eigentum seines Arbeitgebers und kann jedes aufgezeichnete Wort auf Verlangen entweder von diesem oder aber von streitsüchtigen Eltern gegen Harpole verwendet werden. Weil die Seiten nummeriert sind, ist es Harpole nicht möglich, unüberlegte Einträge zu entfernen. Daher ist er gut beraten, wenn er beim Dokumentieren heikler Vorkommnisse in seinem eigenen Interesse jedes Wort auf die Waagschale legt.
Es ist durchaus bemerkenswert, dass er anders als Chadband nicht von »meiner Schule«, sondern »unserer Schule« spricht und hervorhebt, dass er sich Gedanken über die Auswahl der Kirchenlieder macht. Allerdings steht zu hoffen, dass er künftig eine etwas raffiniertere Auswahl trifft, zum Beispiel könnte er mal an einem Sommertag ein Weihnachtslied singen lassen oder »Summer Suns are Glowing« im tiefsten Winter. Nicht nur lieben Kinder derlei Abweichungen von der Routine, sondern wäre damit auch das Kollegium gewarnt, dass unter der beherrschten Oberfläche Harpoles ein gewisser Hang zur Exzentrik lauert und man ihn nicht unterschätzen sollte.
2
TAGEBUCH
Eine bescheidene Neuerung. Nachdem ich lange der Meinung war, wir Engländer seien allzu zurückhaltend in der Liebe zu unserem Vaterland, habe ich den Hausmeister, MrTheaker, angewiesen, jeden Morgen um 8.50Uhr den Union Jack am Fahnenmast zu hissen. Dies würde nicht nur den Patriotismus bestärken, sondern auch Nachzügler zur Eile mahnen, ist die Fahne doch weithin sichtbar.
Als ich MrTheaker diese Anweisung erteilte, stellte er sich taub, und als ich sie wiederholte, sagte er, die Flagge sei »verschlissen«, sie sei »durch die Salzluft vergammelt« und »im Müll gelandet«. Daher habe ich umgehend ein Antragsformular ans städtische Schulamt geschickt, damit man uns eine neue Fahne schickt.
TUSKER AN HARPOLE
Meine Bürokraft hat mich informiert, dass erst vor sieben Jahren, kurz vor dem Besuch des Vorsitzenden des Grafschaftsrats, eine neue Nationalflagge an Ihre Schule gesandt wurde. Man sollte doch meinen, dass ein solches Utensil bei normalem Einsatz und gebührender Pflege noch in gebrauchsfähigem Zustand sein müsste, daher würde ich Sie bitten, kurz zu erläutern, warum Sie eine zweite Fahne benötigen.
THEAKER AN HARPOLE (auf dem Schreibtisch hinterlassene Notiz)
Ich habe bei der Hausmeistergewerkschaft zur Sprache gebracht, was Sie mir gesagt haben, dass ich jeden Morgen die Fahne hochziehen soll, und die von der Gewerkschaft werden sich mit dem Schulamt beraten, damit wir wissen, was zu unseren Aufgaben gehört und was nicht.
(nicht unterschrieben)
TUSKER AN HARPOLE
Heute hat sich der für Arbeitszwistigkeiten Verantwortliche von der Gewerkschaft für Transport und allgemeine Dienstleistungen an mich gewandt und sich beschwert, Sie hätten Ihren Hausmeister, MrE. E. Theaker, angewiesen, jeden Morgen die Flagge zu hissen.
Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass der lokale Schulausschuss folgende Aufgaben- und Tätigkeitsbereiche für Hausmeister festgelegt hat: a.) Wartung der Heizung, b.) Gewährleistung der Sauberkeit und c.) der Sicherheit, und dass weitere Aufgaben nur dann übernommen werden müssen, wenn es die Zeit dieser Männer zulässt. In Anbetracht dieser Stellenbeschreibung werden Sie gewiss einräumen, wie unbedacht Ihr Ansinnen war, und ich erwarte Nachricht, welche Schritte Sie unternehmen werden, um diese ärgerliche Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.
Im Übrigen haben Sie meine Frage, warum Sie eine zweite Flagge benötigen, noch nicht beantwortet.
TAGEBUCH
Fühle mich niedergeschlagen und entmutigt. Habe mich von der Idee, jeden Morgen die Fahne hissen zu lassen, verabschiedet, weil sie mir bislang nur einen Sack voll Probleme eingebracht hat. Habe ans Schulamt geschrieben, dass die alte Flagge wiederaufgetaucht ist und sich in tadellosem Zustand befindet, und dass ich meine Anweisung an Theaker zurückgenommen habe.
Harpole hat sich in diesem Kampf für die Flagge nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Im Grunde war es eine gute Idee, denn das morgendliche Fahnenhissen hätte sicher für ein wenig Heiterkeit gesorgt, das den Kindern bestimmt gefallen hätte. Durch seinen Rückzieher hat Harpole das Gesicht verloren, und zwar gegenüber allen Beteiligten. Erstaunlicherweise scheint er nicht bemerkt zu haben, dass Tusker, obgleich er die Nachricht von Harpoles Anweisung an den Hausmeister nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen hat, ihn auch nicht direkt dafür tadelte. Ganz offensichtlich weiß dieser Beamte vom Schulamt, dass der Patriotismus, genau wie die Religion, ein Minenfeld ist, auf das sich nur Dummköpfe beherzt vorwagen.
TAGEBUCH
Sehr gefreut hat mich heute der Besuch von Lucinda Bulls Vater, einem Schrotthändler. Er meinte: »Als ich gehört hab, dass die Kinder keine Fahne kriegen, hab ich gedacht, sie sollen doch einfach die hier nehmen. Hab sie, seit ich beim Militär war.«
Ohne zu zögern, nahm ich sein Angebot in dem Glauben an, dass seine Großzügigkeit frei von irgendwelchen Hintergedanken sei. Was sich als Irrtum entpuppte. Er fügte hinzu, seine Frau lasse fragen, wie lange Lucinda noch in der »Zurückgebliebenen«-Klasse sein müsse, weil ein paar Bengel sie gehänselt hätten. Ich versicherte ihm, er brauche sich keine Sorgen zu machen, Lucinda sei in der Klasse 2x gut aufgehoben, da sie dort beim Lernen ihr eigenes Tempo anschlagen könne.
Das schien ihn nicht sonderlich zu beruhigen, denn er fragte, was er und seine »bessere Hälfte« tun könnten, »um sie da rauszukriegen«, und dass, wenn ich ihm das sagen könnte, sie bereit wären, ihr Nachhilfeunterricht zu bezahlen. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, denn ein Kind, das in der Klasse 2x ist (der »Zurückgebliebenen«-Klasse), »kommt da nicht raus«, es sei denn, es verlässt die Grundschule, um in die 1c (die »Zurückgebliebenen«-Klasse der Hauptschule) zu wechseln.
Kaum war er gegangen, kam Titus Fawcett aus der vierten Klasse und meinte, er habe gehört, wir hätten eine Fahne bekommen, und er würde sie gern jeden Morgen hochziehen. Es sei auch gar nicht nötig, es ihm vorzumachen, fügte er hinzu, weil die neue Lehrerin, Miss Foxberrow, es ihm gezeigt habe, die sei nämlich bei den Pfadfinderinnen gewesen und verstehe was vom Knotenmachen.
MITTEILUNG VON HARPOLE ANS KOLLEGIUM
Ich würde Ihnen gern zwei geringfügige Abweichungen von der Routine vorschlagen und rechne fest mit Ihrer Unterstützung:
1. Alle männlichen Kollegen sollen ab sofort darauf verzichten, sich mit »Sir« ansprechen zu lassen. Dieser archaische Titel ist einer ungezwungenen Beziehung zwischen uns und den Kindern hinderlich. Obgleich sie diese Anrede als eine der Regeln akzeptieren, die an der Schule nun einmal gelten, erweckt sie den Eindruck, wir unterschieden uns von anderen Männern. Desgleichen sollten die weiblichen Lehrkräfte darauf verzichten, sich von den Schülern mit »Miss«, »Frau Lehrerin« oder »Ma’am« ansprechen zu lassen.
2. Nachdem ich einen aufschlussreichen Artikel in der aktuellen Wochenausgabe des Teacher gelesen habe, schlage ich vor, uns vom Gebrauch des Rohrstocks zu verabschieden, und erwarte von jedem Kollegen und jeder Kollegin, der oder die ihn inoffiziell noch einsetzt, meinem Beispiel zu folgen. Mir fällt beim besten Willen nichts ein, was der Beziehung zwischen Lehrer / Kind / Eltern größeren und nachhaltigeren Schaden zufügen könnte.
Harpole scheint aus dem Scheitern seines beherzten Einsatzes für das Hissen der Flagge nichts gelernt zu haben. »Geringfügige Abweichungen von der Routine« – was für eine großartige Untertreibung! In einer Schule, an der Prinzipien gelten, die in den Zwanzigern auf der Höhe der Zeit waren, als Chadband seine pädagogische Ausbildung erhielt, und zwar von Männern, deren berufliche Praxis zu Beginn des Jahrhunderts geformt wurde, kommen Änderungen, wie Harpole sie vorschlägt, einer Revolution gleich.
Harpole hätte sich besser bei Tusker abgeschaut, wie man umsichtig vorgeht, und diesen Vorstoß lieber nicht schriftlich unternommen. Es wäre bei Weitem klüger gewesen, ein wenig abzuwarten, bis sich die Wogen geglättet hätten, um seine Ideen dann bei einer Tasse Tee im Lehrerzimmer vorzubringen.
Außerdem hätte er sich davor hüten sollen, es manchen Schulämtern gleichzutun, deren Anzeigen, mit denen sie um weibliche Lehrkräfte werben, klingen, als wollten sie biologische Untersuchungsobjekte einkaufen.
Die 2x – die »Zurückgebliebenen«-Klasse? Wenn sogar MrBull, ein Schrotthändler, dieses plumpe, herabwürdigende System durchschaut, wird Harpole, der studierte Pädagoge, es wohl kaum aufrechterhalten können …
PINTLE AN HARPOLE (handgeschriebener Zettel)
Meine Klasse und alle Kinder, die mit mir in Kontakt kommen, werden mich weiterhin mit »Sir« ansprechen. Streiks, Demonstrationen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, pornografische Theateraufführungen und Techtelmechtel ohne Trauschein – all das ist dieser Auflösung der sozialen Ordnung geschuldet, die ich nicht zu unterstützen gewillt bin.
Ich bin ein Lehrer der alten Schule und weigere mich, auf dieser Welle des nationalen Sittenverfalls zu schwimmen. Daher bin ich nicht gewillt, Ihrer Anweisung zu folgen, sondern werde die Angelegenheit derweil meinen Arbeitgebern zur Kenntnis bringen und sie um eine Handlungsanweisung bezüglich Ihres Vorstoßes bitten.
TAGEBUCH
… Bin zu Pintles Klassenzimmer geeilt und habe ihm versichert, dass es sich bei meiner Mitteilung lediglich um einen Vorschlag handelt, und er möge, wenn er eine solche Abneigung gegen diese wirklich unbedeutende Veränderung verspürt, sie ganz einfach ignorieren. Außerdem hoffte ich ihn durch meine Versicherung, ich hätte großen Respekt vor jemandem, der offen seine Meinung sagt, beschwichtigen zu können und dass die Sache damit erledigt sei. Dennoch ließ ich ihn wissen, dass der Rohrstock, was mich betrifft, der Vergangenheit angehört und ich dies den Kindern bei unserer nächsten Versammlung mitteilen werde.
Während ich zum ersten Mal in diesem Jahr zum Kricketplatz radelte, um am Fangnetz ein paar Schläge zu üben, traf ich Miss Foxberrow, unseren Neuzugang. Sie schien in ein voluminöses Schotten-Cape gehüllt zu sein, doch ehe ich sie genauer in Augenschein nehmen konnte, verfing sich meine Krickettasche im Fahrradlenker und brachte mich zu Fall. Habe das Training am Fangnetz auf nächste Woche verschoben.
MR ALEXANDER FESTING AN HARPOLE
Meine Tochter Martha hat mich informiert, Sie hätten den Kindern verkündet, dass Sie nicht länger über einen Rohrstock verfügen. Ich bitte Sie dringend, dies zu überdenken. Wenn man wie ich in einer städtischen Siedlung wie dem Muttler Council Estate wohnt, kommen einem tagtäglich und zunehmend Beispiele von äußerster Verderbtheit zu Ohren, und schuld daran sind unsere freizügige Gesellschaft, die von unserer sogenannten Regierung begünstigt wird, und das schludrige Strafmaß, das unsere sogenannten Gerichte verhängen.
Als Schotte kann ich mit allergrößter Überzeugung sagen, dass mich die Schläge mit dem Riemen, die mir in der Schule und zu Hause von meinem gottesfürchtigen Vater verabreicht wurden, davor bewahrten, in die Animalität abzugleiten, mit der das Heranwachsen das männliche Geschlecht besudelt. Es ist schon bedauerlich genug, dass die Züchtigung Erwachsener mit der Rute nicht mehr praktiziert wird, aber nun auch noch unseren Kindern die Angst vor der Rute zu nehmen, geht entschieden zu weit.
Ich hoffe sehr, dass Sie Ihren Entschluss nochmals überdenken.
HARPOLE AN FESTING
Wenngleich ich Ihre Meinung in dieser Angelegenheit respektiere, kann ich Ihre Überzeugung, dass der Rohrstock eine nachhaltige Lösung für irgendwelche Probleme sei, leider nicht teilen. Ich stimme Ihnen zu, dass er in gewissen Fällen auf den ersten Blick schnell Abhilfe zu schaffen scheint, doch meiner Erfahrung nach bewirkt er schlussendlich lediglich, dass Staub unter den Teppich gekehrt wird – und zwar in der Regel unter den Teppich von jemand anderem. Tatsächlich ist ein Experte aus Yorkshire der Ansicht, dass in Gegenden, wo an Schulen noch der Rohrstock zum Einsatz kommt, die Rate der Gewalttaten unter Jugendlichen sehr viel höher ist als anderswo.
Dennoch vielen Dank, dass Sie mir geschrieben haben, denn ich schätze es sehr, wenn sich Eltern für den Alltag an unserer Schule interessieren.
Eine von Harpoles Stärken scheint es zu sein, dass er stets umgehend und besonnen die Briefe von Eltern beantwortet. Das ist gar nicht so verbreitet, wie man meinen sollte. In Wirklichkeit pflegen einige Rektoren nie auf Briefe von Eltern zu reagieren, und zwar aus unterschiedlichsten Gründen – von Faulheit über die Unfähigkeit, den eigenen Schreibtisch in Ordnung zu halten, bis zum Groll darüber, dass der Absender das Prinzip der beinahe gottgleichen Unfehlbarkeit ihrer Person angezweifelt hat. Darüber hinaus gibt es auch jene grausamen Vertreter dieser Zunft, die nicht nur nicht zu antworten geruhen, sondern auch das arme Kind des Briefschreibers in Sippenhaft nehmen und es tyrannisieren, sodass die anderen Eltern von ihren verängstigten Kindern angefleht werden, bitte niemals einen Brief zu schreiben, es sei denn, er triefe vor sklavischer Lobhudelei.
HARPOLE AN SEINE VERLOBTE EDITH WARDLE
… Mir wurde ganz anders, als MrsTeale, meine Vermieterin, mich bat, ein Zuhause für ein weiteres ihrer vermaledeiten Kätzchen zu finden. Um ehrlich zu sein, ist es kein guter Zug von ihr, den Umstand auszunutzen, dass ich an einer Schule tätig bin. Und da ich seit vergangenem Herbst bereits acht Kätzchen unterbringen musste, wird es von Mal zu Mal schwerer. Zumal die Eltern ihren Kindern verboten haben, eines anzunehmen, selbst wenn es als Preis gedacht ist. Diesmal handelte es sich um einen kleinen rötlich getigerten Kater mit keckem, selbstbewusstem Blick und einem vorzüglich gewählten Namen, wie ich ausnahmsweise einmal anerkennen muss – »Ruhmreicher Apollon«!
Wie auch immer, zu guter Letzt ist es mir gelungen, ihn in die Obhut der Gaskins zu geben, die im Muttler Estate wohnen. Ein paar Tage danach fragte ich Polly Gaskin, wie es Apollon gehe. »Oh, er heißt jetzt Fluff«, antwortete sie. »Und Mum hat gemeint, dass er sich ein bisschen zu sehr aufplustert, genau wie Dads Bruder Fred. Deshalb ist sie mit ihm zum Tierarzt gegangen, damit der ihm die Flausen austreibt.«
3
TAGEBUCH
Heute Morgen sind mit der Post die Ergebnisse der Grundschulabschlussprüfung eingetroffen, aber ich habe beschlossen, sie nicht bei der morgendlichen Versammlung zu verkünden, so wie MrChadband es immer getan hat. Stattdessen habe ich einen Brief an die Eltern verfasst, in dem ich ihnen mitteilte, dass der lokale Schulbildungsausschuss über die Schulart bestimmt habe, die für die jeweiligen Kinder die geeignetste sei – die Melchester Grammar3 für die begabteren Jungen, die Melchester High School4 für die begabteren Mädchen oder aber (für den Rest) die Melchester Secondary Modern5 –, und handschriftlich auf den hektografierten Briefen vermerkt, um welchen Typ es sich bei ihrem Kind handelt. Doch offenbar haben die meisten Schüler nach Ausgabe der Briefe heimlich den Umschlag geöffnet, denn als ich an der Garderobe vorbeikam, bemerkte ich, dass Daphne Ellis ungewöhnlich blass war und einige Jungen um George Fenwick herumstanden, der sich mit Tränen in den Augen abgewandt hatte. Auch hörte ich, wie ein Junge sagte: »Das ist nicht fair, George. Wir wissen alle, dass du besser bist als ich, und ich habe bestanden und du nicht.«
Das Gefühl, das mich überkam, war alles andere als schön.
Oh, ja – ein Mädchen, das »ungewöhnlich blass war«! Selbst dem unerschütterlichsten Befürworter dieses Systems, bei dem die Kinder im Alter von elf Jahren auseinandergerissen und auf getrennte Schulen geschickt werden, muss sich das Herz auf die Größe einer Walnuss zusammenziehen, wenn er eine Schülerin derart erbleichen sieht!
SCHULPROTOKOLLBUCH
Von unseren Grenzfällen bei der Abschlussprüfung (drei Jungen und drei Mädchen), die zu einem Auswahlgespräch an der Melchester Grammar (die Jungen) bzw. der High School (die Mädchen) gingen, wurden zwei Jungen angenommen, aber alle drei Mädchen abgelehnt.
TAGEBUCH
Habe gehört, wie MrsGrindle-Jones im Lehrerzimmer damit angab, die Mount Pleasant Prep. School6 (die ihre beiden Kinder besuchen) habe bei der Abschlussprüfung »wieder einmal sehr erfolgreich« abgeschnitten. Offenbar wurden die Grenzfälle von der Mount Pleasant Prep. School, zwei Jungen und vier Mädchen, zu Auswahlgesprächen eingeladen, woraufhin ein Junge von der Grammar School und alle vier Mädchen von der High School aufgenommen wurden. Es ist zum Verrücktwerden, dass alle Mädchen von der Mount Pleasant Prep. eine weiterführende Schule besuchen dürfen, von unseren Mädchen hingegen keins.
Als ich die Kinder fragte, wie die Auswahlgespräche abgelaufen seien, stellte sich heraus, dass die Jungen zunächst MrMuttler (dem Besitzer der Tamplinger Garnfabrik und Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Tamplinger Grammar und High School) einen Text vorlesen mussten. Sodann wurden sie zum Rektor bestellt, der sie unter anderem fragte, ob sie die verschiedenen Möglichkeiten kennen, wie man einen Kricketschlagmann »outen« könne (die Kinder schwören, dass er »outen« sagte, ohne den letzten Laut zu verschlucken, wie es bisweilen seine Gewohnheit ist, wenn er in seinen Yorkshire-Dialekt zurückfällt), und wer ihr Lieblingsschauspieler sei. Die Mädchen, die bei Miss Layer-Marney, der Rektorin der High School, vorsprechen mussten, wurden von dieser lediglich gefragt, womit sich ihre Väter den Lebensunterhalt verdienen und in welcher Gegend von Tampling sie wohnen.
HARPOLE AN DEN SCHULAMTSLEITER VON MELCHESTERSHIRE
Wäre es Ihnen vielleicht möglich, mir mitzuteilen, welche Kriterien und welches Benotungssystem bei den Auswahlgesprächen mit den Grenzkandidaten für den Übertritt an eine weiterführende Schule zur Anwendung kommen? Ich frage deshalb, weil mir eine merkwürdige Diskrepanz aufgefallen ist – dass nämlich in den letzten drei Jahren nur acht Prozent der Mädchen, die wir zu einem Vorstellungsgespräch an die Mädchen-High-School schickten, zugelassen wurden, wohingegen von unseren Jungen sechzig Prozent einen Platz an der Grammar School bekamen.
TUSKER AN HARPOLE
Wie mir zur Kenntnis gebracht wurde, haben Sie bei der Grafschaftsverwaltung schriftlich um vertrauliche Informationen angesucht. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass sämtliche Briefe von Schulen an offizielle Stellen zuerst an mein Büro geschickt werden müssen und dass die Entscheidung, ob sie dann weitergeleitet werden, allein in meinem Ermessen liegt. Ihren Vorstoß erachte ich als eklatante Missachtung meiner Autorität.
OBERSCHULAMTSLEITER AN HARPOLE
Die Information, um die Sie gebeten haben, ist vertraulich. Doch seien Sie versichert, dass eine mögliche Abweichung bei der Zahl der Plätze, die jeweils von der Grammar und der High School angeboten werden, rein zufälliger Natur ist.
TAGEBUCH
Eine diskrete Nachforschung meinerseits hat ergeben, dass in den letzten drei Jahren fünfzehn Mädchen von der Mount Pleasant Prep. School zu einem Auswahlgespräch gebeten und alle fünfzehn aufgenommen wurden. Diese Diskrepanz von zweiundneunzig Prozent zwischen der Zahl der zugelassenen Schülerinnen der Prep. und der von unserer Schule lässt in meinen Augen absolut keinen Zweifel zu, dass wir es hier mit einem ungebührlichen Fall von gesellschaftlichen Vorurteilen zu tun haben.
HARPOLE AN J. R. MACDONALD DACRE, SOZIALDEMOKRATISCHER GRAFSCHAFTSRATSHERR FÜR DEN BEZIRK TAMPLING SOUTH
Gewiss werden Sie meine Beunruhigung teilen, wenn ich Ihnen zur Kenntnis bringe, dass in den letzten drei Jahren nur acht Prozent der Grenzfälle unter unseren Schülerinnen ein Platz an der Mädchen-High-School angeboten wurde, während die Grenzkandidatinnen von der Prep. School zu hundert Prozent angenommen wurden. Finden Sie nicht auch, dass diese Sachlage aus Gründen der Fairness gegenüber den Eltern und Kindern Ihres Bezirks nach einer Untersuchung verlangt? Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mein Schreiben streng vertraulich behandelten.
DACRE AN HARPOLE
Offenbar haben Sie sich diesbezüglich bereits an die Grafschaftsverwaltung gewandt. Da Sie nicht den offiziellen Dienstweg eingehalten haben, können Sie von mir nicht erwarten, dass ich mich in einer bereits anhängigen Sache einschalte. Im Übrigen gab es bislang noch von niemandem irgendwelche Klagen, jedenfalls sind mir noch keine zu Ohren gekommen.
HARPOLE AN DACRE
Wenn es bislang noch keine Klagen gab, liegt das daran, dass noch niemand diese Diskrepanz bemerkt hat. Im Übrigen sind die Eltern der meisten Kinder an unserer Schule keine großen Briefeschreiber. Umso mehr müssen sie sich darauf verlassen können, dass die Volksvertreter ihre Interessen wahrnehmen. Ich hätte eigentlich gedacht, dass Sie aufgrund der von mir dargelegten Fakten dieser Angelegenheit nachgehen würden, bei der es sich möglicherweise um skandalöse soziale Ausgrenzung handelt.
Bitte behandeln Sie dies STRENG VERTRAULICH.
Auf diesen Brief gibt es anscheinend keine Antwort.
TAGEBUCH
Habe zufällig aufgeschnappt, wie MrsG.-J. erwähnte, ihre Kinder hätten zur selben Zeit die Mount Pleasant Prep. School besucht wie die Tochter des Ratsherrn Dacre …
TUSKER AN HARPOLE
Mir wurde zur Kenntnis gebracht, dass Sie sich schriftlich mit einem Grafschafts-Ratsherrn austauschen, und zwar in einer Angelegenheit, die auch Ihre Schule betrifft. Das ist eine Ordnungswidrigkeit, und sowohl der Oberschulamtsleiter als auch meine Person nehmen Ihren neuerlichen Vorstoß sehr ernst. Muss ich Ihnen abermals sagen, dass die Kommunikationswege genau festgelegt sind, dass diese strikt eingehalten werden müssen und unter keinen Umständen davon abgewichen werden darf?
Ich möchte noch hinzufügen, dass es sowohl dem Schulamtsleiter der Grafschaft als auch mir widerstrebt, zur gleichen Schlussfolgerung zu gelangen wie womöglich andere – dass Sie Unregelmäßigkeiten beim Auswahlverfahren andeuten wollen.
TAGEBUCH
War im »Fusilier« und habe zufällig Shutlanger getroffen, den Rektor der Grammar School, und ganz nebenbei den Ratsherrn Dacre erwähnt. »Dieser faule Scheißkerl!«, rief er aus. »Der ist genauso wenig Sozialdemokrat wie mein Allerwertester. Er hat sich einfach nur als einer ausgegeben, um einen Posten als Gewerkschaftssekretär zu ergattern, wo er den lieben langen Tag auf seinem Hintern sitzen und sich vom Nichtstun in seinen diversen hohen Ämtern ausruhen kann – als Friedensrichter, Mitglied des Beirats der Grammar und der High School und des Krankenhauses, und wer weiß welche Spitzenposten er noch an sich gerafft hat, auf denen er mit einem Minimum an Hirnschmalz ein Maximum an heißer Luft produzieren kann. Sein Vater war 1924, dem Jahr der sozialdemokratischen Morgenröte, Streckenwärter bei der Eisenbahn und hat ihn auf den Namen James Ramsay Macdonald7 Dacre taufen lassen. Diese Farce ist bislang offenbar noch niemandem aufgefallen!«
Man ist hin- und hergerissen zwischen Bewunderung für Harpoles donquijotischen Feldzug für die Gerechtigkeit auf derart feindlichem Terrain, der, selbst wenn er von Erfolg gekrönt sein sollte, ihm persönlich nur zum Nachteil gereichen kann, und Erstaunen über seinen kindlichen Glauben, kommunalen Verwaltungsbeamten Informationen abringen zu können, die ihnen möglicherweise selbst schaden.
Er sollte besser früh als spät lernen, dass es unmöglich ist, den Kampf mit Beamten zu gewinnen, die sich hinter ihrer Amtsautorität verschanzen, und ein hoffnungsloses Unterfangen, Hilfe von gewählten Volksvertretern einzufordern (die selbst eben diese Beamten umschmeicheln müssen, auch wenn es nur um die Genehmigung einer neuen Türklinke für einen Bewohner der Sozialsiedlung ihres Wahlkreises geht).
HARPOLE AN EDITH WARDLE
Heute kam von unten ein mächtiger Lärm, den, wie ich kurz darauf feststellte, MrsTeale veranstaltete, die hysterisch herumkreischte, weil offenbar der gasbetriebene Heißwasserboiler nicht aufhörte, Dampf auszuspeien. Da das Gerät mit kleinen Münzen betätigt wird und ich daher annahm, es würde sich, wenn kein Nachschub käme, von allein beruhigen, beschloss ich, der Sache keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Doch als MrsTeale schließlich namentlich nach mir rief, rannte ich nach unten, riss die Badezimmertür auf und erblickte meine Vermieterin, die (gottlob) in eine Dampfwolke eingehüllt war.
»Tun Sie doch etwas, stoppen Sie ihn, MrHarpole!«, schrie die einfältige Frau wieder und wieder. »So tun Sie doch etwas, ehe er mein Haus in die Luft sprengt!«
Schnell lief ich in mein Zimmer hinauf, um den Rollgabelschlüssel zu holen (ein recht teures Werkzeug, das mein Vater mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat), kletterte auf den Badewannenrand (je ein Fuß links und rechts aufgestellt) und versuchte mich so gut wie möglich vor dem heißen Dampf zu schützen, den der Boiler ausspie. Doch ehe ich dazu kam, an irgendetwas herumzuschrauben, ließ das Ding ein jämmerliches Keuchen vernehmen, und still war es! Ich rief MrsTeale zu, sie möge einen Klempner kommen lassen, worauf sie vom Flur her antwortete, ja, das werde sie tun und ich könne nun getrost herauskommen, sie sei jetzt wieder in einem respektablen Aufzug …
THEAKER AN HARPOLE (auf dem Schreibtisch hinterlassene Notiz)
Diese MrsFoxberrow vermurkst mir die Einrichtung, nämlich benutzt sie die Kante vom Türpfosten, um die Spitzen aus den Federhaltern rauszuziehen.
(nicht unterschrieben)
TAGEBUCH
Habe Miss Foxberrow in ihrem Klassenzimmer einen Besuch abgestattet, um ihr den patentierten Federhalterspitzen-Rauszieher zu bringen, den ein Verlagsvertreter zu Demonstrationszwecken dagelassen hat. Von drinnen drangen laute Geräusche an mein Ohr, und als ich eintrat, sah ich mehrere Kinder zwischen den Schreibtischen auf dem Boden herumkrabbeln, die muhende Geräusche von sich gaben. Ich beugte mich über eines der Kinder und fragte: »Was machst du denn da, Liebes?«
»Ich mache vor, wie eine Kuh auf einer Weide grast«, kam prompt die Antwort, und bei näherem Hinsehen bemerkte ich, dass es Miss Foxberrow war, das Gesicht vollständig hinter ihren Haaren verborgen, sodass ich nur ein Auge erkennen konnte, das mich ansah wie ein wildes Tier aus dem Unterholz. Schnell versicherte ich ihr, dass es eigentlich nicht meine Art sei, Kolleginnen mit »Liebes« anzusprechen.
»Oh«, sagte sie. »Dann nennen Sie also nur Ihre männlichen Kollegen so?«
»Was machen Sie denn da auf dem Boden?«, fragte ich, indem ich ihre Anspielung geflissentlich überging.
»Wir malen heute ein Bild von unserer Freundin, der Kuh«, erklärte sie. »Und wie man in progressiven pädagogischen Kreisen weiß, erreicht man nur ein schales Ergebnis, solange es der Lehrperson nicht gelingt, eine Beziehung zwischen den Künstlern und dem Sujet aufzubauen, und ist es ein unbefriedigendes Unterfangen, solange sie es nicht vormacht.«
»Nun, wenn das so ist«, erwiderte ich, »aber warum malt Titus Fawcett seine Kuh leuchtend rot?«
»Na gut«, sagte sie, »wenn das jetzt in ein großes Palaver ausartet, stehe ich wohl besser auf.« Und das tat sie, wenngleich mit einem theatralischen Seufzer. Dann hielt sie das Blatt mit Fawcetts roter Kuh hoch und sagte: »Hört her, Kinder. MrHarpole gefallen unsere großartigen Bilder nicht. Vielleicht erklärt er uns ja, warum er sie nicht mag, denn schließlich sind wir ja hier, um jeden noch so kleinen Wissenskrümel aufzupicken, stimmt’s?«
Da ich ihr exaltiertes Getue außerordentlich irritierend fand, forderte ich sie in scharfem Ton auf, mich auf den Flur hinauszubegleiten. »Ich hoffe, Sie haben nicht irgendetwas Ungentlemanhaftes im Sinn, MrHarpole«, sagte sie, während sie mir folgte. Statt darauf einzugehen, deutete ich auf Fawcetts Bild und erklärte: »Falls es Sie interessiert: Es ist nicht die Farbe, gegen die ich Einwände habe, sondern das hier.« Ich deutete auf das Euter, das so groß war, dass es den Boden berührte. »Das ist überaus obszön.«
»Nun, wenn das alles ist, was Sie stört, sage ich Titus, er soll ihr eben einen Rock malen.« Da sie sich noch immer weigerte, ernsthaft über die Sache zu diskutieren, gab ich zu bedenken, eine derartige Laxheit könne Mädchen wie etwa Henrietta Billitt auf komische Ideen bringen.
»Blödsinn! Wenn man bedenkt, in welchem Loch sie lebt, in diesem ländlichen Elendsquartier mit Hinterhofklo, in der sich acht Menschen zwei Schlafzimmer teilen, ist anzunehmen, dass sie mehr über die menschliche Anatomie weiß als wir beide zusammen. Und da Sie nun mal dieses Thema aufgebracht haben: Neulich lautete das Motto des Malunterrichts ›Unsere Mutter und unser Vater‹, und da hat Titus seine Eltern splitterfasernackt gemalt und gemeint, wenn ich gewollt hätte, dass er seine Mutter und seinen Vater in Anziehsachen malen soll, hätte ich das eben sagen müssen.«
Worauf ich erwiderte, mir wäre es lieber, sie würde konventionellere Themen wählen wie zum Beispiel Elfen, Raumschiffe und solche Dinge. Und als ich ihr dann den Zeichenfederentferner hinhielt, meinte sie leichthin: »Oh, dann hat Theaker also gepetzt? Nun, richten Sie ihm doch bitte aus, wir brauchen seinen Türpfosten ohnehin nicht mehr, weil wir, seit ich neulich einen Artikel im Times Educational Supplement gelesen habe, keine Zeichenfedern mehr benutzen; sie hemmen nämlich den Ideenfluss der Kinder. Und was Theaker anbelangt – gibt es unter der wachsenden Schar aus dem Schulwesen geflohener Lehrer, die sich mit einem Wissenschaftsstipendium über Wasser halten, nicht zufällig jemanden, der das anthropologische Forschungspotenzial von Hausmeistern erkannt hat? Sie sollten den entsprechenden Einrichtungen einen Wink über seinen Aufenthaltsort geben.«
Als ich wortlos davonging, rief sie mir hinterher: »Oh, Sie sind wieder ganz hergestellt? Dann haben Sie sich also von Ihrem Sturz vom Fahrrad neulich erholt, als diese riesige Tasche Sie zu Fall brachte?«
Ich muss schon sagen, dafür dass sie eine junge, unerfahrene Lehrerin ist, leidet sie nicht gerade unter mangelndem Selbstvertrauen. Ich fürchte, sie sorgt für Unruhe an unserer Schule.
EMMA FOXBERROW AN FELICITY FOXBERROW
Felix, mein Liebling,
bin hundemüde und bis zu den Haarspitzen mit Klebstoff zugekleistert, deswegen nur ein paar Zeilen. Nein, ich werde nicht zur Fuchsjagd nach Hause kommen. An den Wochenenden ist mit mir nicht mehr viel anzufangen. Du musst der blutrünstigen Bande allein die Stirn bieten, so gut Du kannst. Schreien nützt nichts – tritt notfalls ordentlich zu.