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Ostengland, Ende der 80er-Jahre: Die 18-jährige Hetty steht kurz vor dem Schulabschluss. Für die Zeit danach hat sie große Pläne: Sie will Literatur studieren, etwas aus ihrem Leben machen! In ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus schlägt ihr wenig Verständnis entgegen – das gilt vor allem für ihren cholerischen Vater. Als sie erfährt, dass sie adoptiert worden ist, läuft Hetty davon. Ihr Weg führt sie nach Birmingham, wo sie ihre leiblichen Eltern finden will. Sie kommt in der Pension der exzentrischen Rose Gilpin-Jones unter. Die hilfsbereite Landlady unterstützt sie bei der Suche nach ihrer wahren Familie. Doch bald begreift Hetty: Es ist nicht wichtig, woher wir kommen, sondern wohin wir gehen wollen.
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Seitenzahl: 307
Ostengland, Ende der 80er-Jahre. Die literaturbegeisterte 18-jährige Hetty steht kurz vor dem Schulabschluss. Für die Zeit danach hat sie große Pläne: Sie will etwas aus ihrem Leben machen! In ihrem kleinbürgerlichen Elternhaus schlägt ihr wenig Verständnis entgegen – das gilt vor allem für ihren cholerischen Vater. Als sie erfährt, dass sie adoptiert worden ist, ergreift Hetty die Flucht. Ihr Weg führt sie nach Birmingham, wo sie ihre leiblichen Eltern finden will. Sie kommt in der Pension der exzentrischen Rose Gilpin-Jones unter. Die hilfsbereite Landlady unterstützt sie bald bei der Suche nach ihrer wahren Familie. Und während Hetty das Stadtleben kennenlernt, ganz besondere Menschen trifft und die ein oder andere Enttäuschung erfährt, begreift sie vor allem eines: Es ist nicht wichtig, woher wir kommen, sondern wohin wir gehen wollen. Schließlich entwickelt sich eine Zukunftsperspektive in Cambridge, die ihr sehr verlockend erscheint …
© Brendan King/National Portrait Gallery, London
J.L. Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 seinen eigenen Verlag Quince Tree Press und verfasste acht Romane. ›Ein Monat auf dem Land‹ (DuMont 2016) war 1980 für den Booker-Preis nominiert. Bei DuMont erschienen außerdem ›Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten‹ (2017), ›Ein Tag im Sommer‹ (2018) und ›Die Lehren des Schuldirektors George Harpole‹ (2019).
Monika Köpfer war viele Jahre als Lektorin tätig und übersetzt heute aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Zu den von ihr übersetzten Autoren zählen u.a. Mohsin Hamid, Richard Russo, Milena Agus und Agnès Poirier.
J.L. Carr
LEBENUND WERKDER HETTY BEAUCHAMP
Roman
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Die englische Originalausgabe erschien 1988 unter dem Titel ›What Hetty Did‹ bei Quince Tree Press, Bury St Edmunds.
Copyright © by Bob Carr
eBook 2022
© 2022 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Monika Köpfer
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: Bleistiftreste © plainpicture/E.Coenders; Frau: © Veronika Oliinyk/istockimages
Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-8233-5
www.dumont-buchverlag.de
»Furchtlos setzt’ ich das Slughorn an1 und blies
›Knabe Roland ist zum dunklen Turm gekommen‹.«
ROBERT BROWNINGund WILLIAM SHAKESPEARE
»… ob euch nicht die Lust angewandelt3, zu tun, was sich nicht umgehen lässt.«
MIGUELDE CERVANTES, Don Quijote de la Mancha
»Bringen Sie sie in einen Raum hier in London mit sechs beliebigen Personen, die alt genug sind, ihre Eltern zu sein, dann könnten diese möglicherweise darunter sein. Sie könnten in jedem Haus sein, das sie betritt, auf jedem Friedhof, an dem sie vorbeikommt, sie könnte ihnen irgendwo auf der Straße begegnen, ohne es zu wissen. Sie weiß nichts über sie. Hat nie etwas gewusst […] Wird nie etwas über sie wissen.«
CHARLES DICKENS, Little Dorrit
Für A., H., P., S., M. und N. und für viele verstorbene, aber unvergessene Zimmerwirtinnen mehr.
Und auch für Edmund Kirby, der in seinem neunzigsten Jahr unermüdlich Interesse für das Herstellen dieses Buchs zeigte, das dem Gedenken an John Baskerville aus Birmingham gewidmet ist, der die gleichnamige Schrifttype entworfen hat sowie Velinpapier erfand und fröhlich mit den ungewöhnlichen Büchern, die er veröffentlichte, Geld verlor.
Folgende Figuren treten auch in anderen Büchern auf:
George Harpole, Emma Foxberrow, Miss Tollemache, MrPintle, Croser, Billitt in Die Lehren des Schuldirektors George Harpole; zwei von ihnen finden sich auch in A Season in Sinji wieder. Der mittlere Teil ihrer Geschichte wird in Harpole & Foxberrow General Publishers erzählt.
Edward Peplow, Brightwell, Bellenger, Ruskin, Mullett und Dexter in Ein Tag im Sommer.
MrFangfoss, der arme Beattie und Gidner stammen aus Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten und Gidners Onkel aus The Battle of Pollocks Crossing. Miss Witherpen wird in Ein Monat auf dem Land erwähnt.
Ein Waffengang
Obwohl ich nicht wusste, dass es der Anfang vom Ende sein würde, erinnere ich mich natürlich haargenau an die Umstände. Es war ein Samstag, und wir vier saßen am Tisch beim Wohnzimmerfenster und nahmen mit gehacktem Lammnacken vorlieb. Ich entsinne mich sogar, wie sich Mum brüstete, niemand, wirklich niemand (»Nicht wahr, Dad?«) wäre in der Lage, ihre Plastiktischdecke von einer Leinendecke zu unterscheiden.
»Dieses blassrosa Gittermuster: Kein Mensch (Nicht wahr, Dad?) käme auf die Idee, dass es nicht eingewebt ist.«
Diese dringenden Bitten nach Bestätigung von oberster Stelle waren indes rein rhetorisch; denn auch nur ein Grunzen oder, wahrscheinlicher, ein Kläffen – vom Wesen her war Dad ein Foxterrier: angriffslustig, aufgestellte Nackenhaare, bissig – hätte sie vor Dankbarkeit in Ohnmacht fallen lassen. Aber diesmal verblüffte er uns alle mit der Heftigkeit seiner Reaktion. Er sprang auf und schrie: »Da! Seht ihr! Faulenzer! Allesamt! Leben alle von der Stütze! Langhaariges Schmarotzerpack!«
Wenn bei uns zu Hause der Eine und Einzige aufsprang, sprangen alle auf. Dabei trottete nur wieder ein Häufchen grimmig entschlossener Abrüstungsgegner mit ihren »Ban-the-Bomb«-Schildern vorbei in Richtung amerikanische Cruise-Missile-Startrampe. Schon seit ein paar Stunden zogen Grüppchen durchnässter Demonstranten durch Jordans Bank, aber noch immer hatte sich Dads schlechte Laune nicht erschöpft. (Wie auch, wo sie doch unerschöpflich war?) Und auch diesmal hätte die Fensterscheibe sein Gift geschluckt, wäre nicht in diesem Moment eine rauhaarige Promenadenmischung hinter meinem streunenden Kater her (dem ich insgeheim hie und da Unterschlupf bot und der, wie ich wusste, gut auf sich selbst aufpassen konnte) in den Garten hereingeschossen.
Dad stieß mit dem Fuß einen Stuhl zur Seite und stürmte wutschnaubend in den strömenden Regen hinaus. »Raus hier! Verschwinde, du verdammtes Mistviech!«, brüllte er und ließ seinen Spazierstock durch die Luft sausen, woraufhin die törichte Hundekreatur schlingernd und schlitternd Zuflucht ausgerechnet im Allerheiligsten suchte: dem Treibhaus. Dort scheuchte er sie in die Enge, um ihr das Fell zu gerben, wobei der erste Hieb nur ein paar gemästete Tomatenpflanzen fällte.
Doch etwas anderes, nicht minder Spektakuläres war derweil im Gange: Eine große hagere Frau in einem ehrwürdigen Trenchcoat rauschte durch das Gassentor herein und eilte zur Rettung des Tiers herbei.
»Wagen Sie es ja nicht, Sie abscheulicher Rüpel!«, rief sie mit gebieterischer Stimme. »Wagen Sie es ja nicht! Haben Sie gehört? Wehe, Sie krümmen meinem Hund« – wobei sie das Wort wie »Hond« aussprach – »auch nur ein Haar: Dann werde ich Sie auf die Anklagebank zerren – wenn es sein muss, vor sämtliche Instanzen in diesem Land. Hierher, Mustafa, du lieber kleiner Hond, komm schön her.«
Dad und sie starrten einander grimmig an. Schließlich marschierte sie an ihm vorbei, brach eine weitere Tomatenpflanze ab, während sie im Dickicht nach ihrem Hund stöberte, und drehte sich dann um. Und erblickte mich. Es war Miss Braceburn.
Ich sandte ein Stoßgebet gen Himmel (ohne die geringste Hoffnung, dass es erhört würde): »O Herr, lass es nie wieder Montag werden.« Denn ihre Augen hatten mich bereits registriert: »Ah, Hetty Birtwisle«, und ich wäre am liebsten unter der Türschwelle versunken. Doch mein nächster Gedanke war: Wenn es schon Montag werden musste, konnte ich wenigstens Mariana erzählen, dass Miss Braceburn einen kleinen »Hond« namens Mustafa hatte.
Verächtlich warf Miss Braceburn sich das eine Ende ihres College-Schals über die Schulter und schritt hoch erhobenen Hauptes hinaus, um sich wieder zu den Demonstranten zu gesellen. Durchnässt und elend marschierten diese tapfer weiter, wild entschlossen, den Vorposten des Feindes bald gegenüberzutreten.
»Nein, nein und nochmals nein, ich möchte nichts von deinem verdammten Sago-Pudding!«, brüllte Dad Mum an. »Und hör auf, blöd rumzustehen und zu glotzen. Fällt dir nichts Besseres ein, Frau? Los, lauf ihr nach und schreib ihren Namen und ihre Adresse auf, damit ich sie wegen Sachbeschädigung vorladen lassen kann.« Dann ging er türenknallend hinaus und lief ums Haus herum, um zwischen unseren bedröppelten Hennen seine Niederlage zu betrauern. Er wusste, dass er geschlagen war. Schlimmer noch, er wusste, dass ich es wusste.
Nur zu gern hätte ich eine Bemerkung darüber fallen lassen, wie sehr sich Dad über die geringste Kleinigkeit aufregen konnte, wusste aber nur zu gut, dass Sonny (mein zwölfjähriger Bruder) mich bei ihm verpetzen würde. Also bediente ich mich stillschweigend an dem verschmähten Pudding. Schließlich kam Mum durchnässt und geknickt zur Tür hereingeschlichen. Doch dann richtete sie sich auf und bemerkte, dass sie, jedenfalls vorerst, aufhören konnte, wegen des Misslingens ihrer Mission um Gnade zu winseln.
»In diesem Sturzregen sehen alle gleich aus, Ethel«, klagte sie. »Man kann Männer nicht von Frauen unterscheiden. Und wie hätte ich sie wiedererkennen können, wo ich doch an nichts anderes als an diese Tomatenpflanzen denken konnte. Ich habe herumgefragt, aber niemand kannte jemand anderen, sie scheinen aus den unterschiedlichsten Ecken des Landes hergekommen zu sein. Und als ich herumfragte, haben ein paar von ihnen so merkwürdig geredet, dass ich unmöglich aus ihren Antworten schlau werden konnte.«
Ein mädchenhaftes Entzücken blitzte in ihren blassen Augen auf. »Da war eine große schwarze Frau. Du hättest ihre goldenen Ohrringe sehen sollen! Solche Trümmer! Und ihre Zähne, als sie gelacht hat! Sie hatte eine Art gelben Turban auf, und die Soße lief ihr übers ganze Gesicht. Das Färbemittel, meine ich. Aber wie sie gelacht hat, nein, so was!«
»Ich gehe nur kurz zu Polly rüber und bringe ihr den Lateintext für die Hausaufgaben«, meinte ich. »Wenn Dad fragt, wo ich bin, sag ihm, ich komme gleich wieder.«
»Sieh zu, dass du nicht nass wirst, Ethel!«, rief sie mir mechanisch nach. Hastig schlüpfte ich in den blauen Gabardine-Regenmantel, der mir seit achtzehn Monaten zu klein war, zwängte mir den vom Major aufgedrängten Angler-Ölhut auf den Kopf – und mischte mich unter die Demonstranten.
Frieden um jeden Preis
Einige trugen Spruchbänder:
ABERTILLERY WILL FRIEDEN
BERMONDSEY GEGEN ATOMBOMBEN
OLDHAM & ROCHDALE TIERRECHTSAKTIVISTEN
Aber keiner dieser Orte, mochten sie noch so entlegen sein, konnte es mit unserem Landstrich aufnehmen – Zwiebelfelder, Kartoffel- und Rübenäcker, meilenweite heckenlose flache Eintönigkeit, Deiche und Gräben mit Armsäulen an Kreuzungen, die Reisende, sofern sie nicht bereits ertrunken waren, auf Orte mit Namen wie Poulter’s Guelph oder Forty Foot Drain hinwiesen.
Ich schob mich durch eine Schar sich auf dem Rückzug befindender »Pommes mit allem, was die Küche so hergibt«-Bierbäuche, deren eingeknicktes Transparent sie als Sons of the Jarrow Marchers auswies, und reihte mich neben einem behaarten Riesen ein.
»Elendes Marschland!«, maulte er. »Kein Wunder, dass die Bauern Gesichter wie Frösche haben. Zu welcher Gruppe gehörst du? Hoffentlich nicht zu diesem großmäuligen Trupp aus Scargill?«
»Philosophier-und-Debattierclub aus Putney«, log ich.
»Sentimentale Mittelschichtler, die immer nur Beschlüsse fassen und sonst verdammt noch mal nichts! Du solltest dich uns Aktivisten anschließen. Erst zuschlagen, dann reden. Wo verortest du dich so?«
»Bei den Republikanern«, erwiderte ich. »Wir sind die letzten Republikaner. Die Nachfahren der Civil War Putney Army Debates, du weißt schon.«
»Putney. Ne, noch nie gehört«, knurrte der widerwärtige Kerl.
»Dann wird es aber Zeit«, sagte ich im Brustton der Überzeugung, einem Ort Loyalität bezeugend, der seine Bekanntheit lediglich dem alljährlichen Ruderregatta-Tag verdankte (bei dieser Gelegenheit beschloss ich, mich mit der republikanischen Idee auseinanderzusetzen, hatte ich doch die Nase voll von den immer gleichen Bildern von Prinzessin Diana, die in stets neuen Outfits über den Bildschirm flimmerte).
»Hey, warum fährst du nicht mit mir in meinem Schlitten nach Darlington zurück, bevor die Staatspolizei dich auf den Schirm kriegt? Ich steh auf langbeinige Rothaarige. Ich hab dort ’ne Sozialbude. Wir könnten unsere Stütze zusammenlegen. Außerdem bin ich gut im Bett.«
Ich ließ mich zurückfallen und gesellte mich zu einem Pfarrer, dessen ihm treu folgender Frau und ihren drei kleinen Kindern. Keine Ahnung, was in den Köpfen der Kleinen vorging. Aber keines von ihnen heulte, vermutlich hatten sie erkannt, dass nicht der Hauch einer Chance bestand, mit einem Eis am Stiel bestochen zu werden. Oder aber sie waren zu dem Schluss gekommen, dass das hier auch nicht schlimmer war, als über einen Kirchenbasar geschleppt zu werden.
Der Pfarrer gab sich intellektuell. »Endlos, kahl, dehnen sich4 die einsamen Rübenfelder«, zitierte er falsch. »Und doch leben hier Leute!«
Natürlich leben hier Leute! Warum auch nicht!, dachte ich, denn das Fenland steckte mir in den Knochen, und das würde es wohl bis ans Ende meiner Tage, wenn nicht gar bis ans Ende aller Zeiten tun. In einer fernen Zeit an einem anderen Ort sollte ein Ehemann einmal übellaunig ausrufen, er verstehe mich einfach nicht. Und der arme Kerl würde recht haben. Denn wie sollte er auch, wenn er nie faulige Wassergräben gerochen, nie gesehen hatte, wie sich unsere wässrigen Weiten in der Dunkelheit auflösten? (Bis zum heutigen Tag fühle ich mich an schönen Orten unwohl.)
Und so schlurften wir weiter durch Pfützen und Lachen auf dieser Avenue voll trostloser Sehenswürdigkeiten, und manch einer oder eine wunderte sich zweifelsohne angesichts dieser Kundgebung, wozu es Leute mit Hochschulreife so treiben kann, und sah sich in dem lang gehegten Glauben bestätigt, dass Lernen in der Tat das Gehirn aufweicht.
Ein kleines Flugzeug drehte unverdrossen seine Runden, eine Reihe großer Lettern im Schlepptau – GEHT NACH HAUSE, WIEDERHOLUNGSTÄTER. »Wie ermutigend!«, bemerkte der Pfarrer. »Wirklich, wie ermutigend. Es besteht noch Hoffnung für das gute alte England, wenn der Verband der Junglandwirte ein solch langes Wort richtig buchstabieren kann.« Aber diese feindselige Botschaft vom Himmel gab einer alten Dame weiter vorn offenbar den Rest, jedenfalls scherte sie aus, platschte durch einen halb vollen Wassergraben und warf sich gegen den Maschendrahtzaun. »Mörder!«, kreischte sie mit kultivierter Stimme. Nicht ohne Bewunderung sah ich ihr zu und rechnete fast damit, dass sie sich bis auf amerikanisches Terrain durchbeißen würde, aber sie knirschte nur mit den Zähnen, und schon sprang ihr ein junger Bursche, durch einen Reitmantel gegen die Elemente gewappnet, nach und führte sie auf die Straße zurück.
»Versprich, dass du es nicht deinem Vater erzählst, Tom«, sagte sie keuchend. »Nur gut, dass uns hier niemand kennt.«
Und das war im Grunde auch schon alles, was passierte. Die Amis waren zusammen mit ihren Raketen in Bunkern in Sicherheit gebracht worden. Eine Front unserer eigenen Landsleute entwaffnete uns, indem sie fröhlich jede oder jeden über vierzig mit »Gran« oder »Grandpa« ansprachen und leere Kunstdünger-Plastiksäcke austeilten, damit wir uns gegen die Elemente, unseren gemeinsamen Erzfeind, schützen konnten. Tatsächlich wurden die Ordnungskräfte und Kräfte der Unordnung immer nasser und ununterscheidbarer, sodass, als jemand in seine Trillerpfeife blies und wir den Rückzug antraten, der Inspektor zum Pfarrer meinte, er hätte sich keinen netteren Haufen von Demonstranten wünschen können, und ob er nicht auch gottfroh sei, in einem Großbritannien zu leben, wo man an verregneten Sonntagnachmittagen freundlich Meinungsverschiedenheiten austragen könne? Ich für meinen Teil hatte insgeheim gehofft, die Familienehre wiederherstellen zu können, indem ich Miss Braceburn zeigte, dass wenigstens ein Birtwisle-Herz am richtigen Fleck schlug. Aber daraus wurde nun nichts. Bestimmt hatten weder sie noch Mustafa feige vor dem Sturzregen die Waffen gestreckt, und daher war ich mir sicher, dass weiter vorn ein furchtloses Paar im Schlamm lag und das Tor zur Tyrannei versperrte.
Mariana in ihrem umhegten Gehöft5
Um mir ein Alibi zu verschaffen, schaute ich bei Polly vorbei, oder eben bei »Mariana« in ihrem »Gehöft«, denn so wollte sie und sollte ihr Zuhause genannt werden, seit sie, viel zu früh, den Versen Tennysons ausgesetzt gewesen war. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, und nachdem ihr Vater gebrochenen Herzens nach Australien geflohen war (wo sein Schiff auf einen Felsen auflief), lebte sie bei ihrem greisen Großvater, Major Horbling.
Ich traf sie in seinem Armsessel lümmelnd an, Alfred Tennysons Ausgewählte Gedichte im Schoß, der Fernseher und das Radio laut aufgedreht. Und als ich sie daran erinnerte, dass Robert Browning der Dichter sei, der in der Abschlussprüfung abgefragt werde, meinte sie, sie wisse das auch. »Browning. Kein Herz, nur Verstand«, fuhr sie gereizt fort. »Allein schon sein Name! Klingt wie eine Instant-Bratensoße. Da finde ich sogar Polly ›Horbling‹ weniger abstoßend.«
Während sie das sagte, klappte sie betont beiläufig das Buch zu. Zu spät. Ich hatte bereits einen Blick auf die Seite erhascht und gesehen, dass sie ihre Zeit mit der Lektüre von SirGalahad vertan hatte. »Du solltest Ronnie aus deinem Leben verbannen«, sagte ich. »Ich bin mir sicher, du hast selbst erkannt, was für ein hoffnungsloser Fall er ist.«
»Mag sein«, sagte sie seufzend, »aber ich bin trotzdem verrückt nach ihm – er ist einfach umwerfend. Wenn er seine großen blauen Augen auf mich richtet, wird mir hier ganz mulmig.« Sie berührte kurz ihren Unterbauch. »Er ist ’ne Wucht … Eine Zeit lang in seinen Armen liegen, das wär’s.«
Ich fragte sie, ob nach dem Sportunterricht schon einmal ein Schwall seines Achselschweißes in ihre Richtung geweht sei, und äußerte meine Zweifel, dass sie es allzu lange in seinen Armen aushalten würde. Aber sie hatte offenbar gar nicht zugehört. »Was meinst du, Hetty«, fuhr sie fort, »wie es wohl ist, eine ganze Nacht lang in den Armen eines Mannes zu liegen? So behaglich und köstlich, ohne wegen des kleinsten Geräuschs von draußen hochzuschrecken. Ich habe das Gefühl, so etwas in der Art könnte meine raison d’être sein – falls du mir folgen kannst.«
Und sie setzte diesen schwärmerisch-abwesenden Blick auf und fuhr sich mit den pummeligen Fingern durch die unnatürlich blonden Locken. Ich lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Kavalleriesäbel ihres Großvaters, der bedrohlich über dem Kamin hing, und fügte hinzu: »Ich glaube nicht, dass Ronnie dieser Aufgabe gewachsen wäre. SirGalahad und er – das passt wie die Faust aufs Auge.«
»Ach, du willst einfach kein gutes Haar an Ronnie lassen – und an Tennyson auch nicht!«, rief sie aus. »Seit wir die Braceburn in Englischer Literatur haben, hast du nur noch sie und Browning im Kopf.«
»Na ja, Alf Tennysons Sir Galahad kann nun einmal nicht mit Robert Brownings Childe Roland mithalten«, sagte ich kühl.
»Ach, Unsinn!«, widersprach sie heftig. »Was ist zum Beispiel damit:
›Hart und sicher ist sein Lanzenstoß.
Seine Stärke ist wie die Stärke von zehn,
Denn sein Herz ist rein und groß.‹
»Puh! Der alte dümmliche Speichellecker muss Queen Victoria versprochen haben, dass er sich ihren eigenen Galahad, Albert, zum Vorbild nimmt, wenn sie ihn im Gegenzug in den Adelsstand erhebt.«
Dabei hatte ich durchaus das Gefühl, dass mein Urteil ein wenig zu streng war. Ronnie sah in der Tat gut aus – wenngleich auf lasche Art. Damit meine ich, dass sich die einzelnen Teile an ihm – goldene, sanft gewellte Haare, porzellanblaue Augen, energisches Kinn, schmale Taille, lange Beine –, jedes für sich über jede Kritik erhaben, nicht zu einem atemberaubenden Ganzen zusammenfügten. Irgendetwas fehlte. Man musste ihn nur ansehen, um zu erkennen, dass er es nicht draufhatte, mit seinem Mädchen davonzulaufen (wie Shelley einst) oder Guinevere nachzujagen statt dem Heiligen Gral.
Inzwischen war Mariana so genervt und sauer auf mich, dass sie mich anfuhr: »Musst du eigentlich immer so geschraubt daherreden?«
»Ich fürchte, daran ist der Lateinunterricht schuld«, sagte ich kleinlaut. »Du weißt ja, dass ich es bis zum großen Latinum getrieben habe, für die Hochschulreife. Aber ich werde versuchen, mich zu bessern.«
Doch damit ließ sie sich nicht beschwichtigen.
»Nun, du kannst ja nichts dafür, dass du so hochgeschossen, dünn und farblos bist; schließlich ist es nicht deine Schuld, dass dir deine Mutter dieses mickrige Essen vorsetzt, jedenfalls war es mickrig, als ich vor einer Ewigkeit mal bei euch zum Abendbrot war. Und wie hat sie diese kümmerlichen Rippchen angepriesen, an denen man sich die Zähne abgeschabt hat, und wie hat sie damit geprahlt, wie günstig sie sie beim Metzger ergattert hatte (›Nicht wahr, Dad?‹). Spricht sie eigentlich immer so? Allerdings würde ich nicht sagen, dass du ihr nachschlägst, geschweige denn ihm. Vielleicht einer deiner Großmütter? Von irgendwem musst du deine roten Haare und die flache Brust ja haben. Erblasst du nicht vor Neid beim Anblick der Brüste von Rubens Juno in Miss Witherpens Kunstraum? Oder von meinen …«
Ich sei sehr zufrieden, wie die Dinge seien, erwiderte ich spitz. Das sei allemal besser, als sich anhören zu müssen, man sähe aus, als würde man jeden Morgen mit der Fahrradpumpe aufgeblasen. Und schloss (um weiterer Missstimmung vorzubauen) mit der Feststellung, ich müsse mich sputen, rechtzeitig nach Hause zu kommen, wenn ich vor der Inquisition verschont werden wolle.
»Großvater ist auf einem Geländemarsch!«, rief sie mir hinterher. »Falls du ihm über den Weg läufst, halte ihn bitte nicht auf, es ist höchste Zeit, dass der Eintopf vom Herd kommt. Versuche ihm zu erklären, dass die Feuerbohnen längst in den Topf gewandert sind. Dann wird er ein bisschen schneller nach Hause tapsen.«
Während ich mich auf den Nachhauseweg machte, hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass das Leben doch mehr in petto haben musste, als fünfzig treue Ehejahre lang Nacht für Nacht von Männerarmen eingeschnürt zu werden, dreimal am Tag eine Mahlzeit aufzutischen und am nächsten Tag denselben Trott von vorn zu beginnen. Oder, falls ich einer Heirat entging, wie eine bebänderte Puppe mit großen Brüsten herumgereicht zu werden. Was für eine entsetzliche Lebensperspektive!
Als ich beim Entwässerungskanal ankam, sah ich, wie sich der Major, die Tweedkappe stramm über die Ohren gezogen, gegen den garstigen Ostwind am gegenüberliegenden Ufer entlangkämpfte. Er stapfte auf die Brücke, und als wir auf derselben Höhe waren, duckten wir uns beide nach Lee.
»Was muss ich tun«, schrie ich gegen den Wind an, »um ein glückliches Leben zu führen? Aber kein allzu glückliches? Um mich zu verwirklichen?«
»Hä?«, schrie er.
»Rat, ich brauche Ihren Rat!«, schrie ich. »Wie es mir gelingt, ein ausgefülltes Leben zu führen.«
»Heirate einen tüchtigen Mann!«, schrie er zurück. »Einen gottgläubigen, guten Mann!«
»Also, zu heiraten habe ich eigentlich nicht vor, Major. Jedenfalls nicht in den nächsten Jahren. Zuerst möchte ich mein Potenzial ergründen. Meiner Berufung gerecht werden. Wenn Sie mir folgen können. Ach ja, und Polly meint, die Bohnen seien im Topf.«
»Heirate einen tüchtigen Mann, Hetty!«, rief er. »Einen gottesfürchtigen, der von frommen Mitgliedern der Church of England großgezogen wurde. Einen konfirmierten Mann! Einen dem Anglokatholizismus zugeneigten! Einen Mann, der eine Bibel auf dem Nachttisch liegen hat. Einen guten Mann!« Er winkte mit seinem Stock und stapfte, sich gegen die steife Brise stemmend, weiter.
Derweil hatten sich die Friedensmarschierer in gastlichere Klimazonen zurückgezogen, und Jordans Bank zeigte wieder sein gewohntes Antlitz – eine Ansammlung von Häusern, die aus bei Insolvenzverkäufen ergatterten Ziegeln zweiter Wahl hochgezogen worden waren, dazwischen hie und da ein verzagter Baum und ein halbes Dutzend Bauernhöfe, eingesunken im Torf. Ich konnte mich dennoch nicht dazu durchringen, eine Abneigung gegen das Dorf zu hegen. Ich kannte nichts anderes, denn auch wenn Dad einen ältlichen Morris Minor besaß, hielt er absolut nichts davon, weiter zu fahren als bis nach Peterborough in der einen Richtung und bis nach Wisbech in der anderen. Und so beschränkte sich mein Wissen über alles, was jenseits davon lag, auf das, was ich in Romanen gelesen und beim Major und Mariana im Fernsehen gesehen hatte. (Auch davon hielt Dad absolut nichts.)
Als ich am Pub vorbeikam, entdeckte ich ein kürzlich angebrachtes Postscriptum – KRIEGSTREIBER WILLKOMMEN – neben dem bekannten Wahlspruch des Inhabers: FRIEDENSCAMPER WERDEN NICHT BEDIENT, und ich blieb stehen, um die Postkarte in Augenschein zu nehmen, die ein auswärtiger Witzbold unter der Türklingel befestigt hatte:
HIER DRÜCKEN FÜR EINEN KOSTENLOSEN ZEHNMINÜTIGEN VORTRAG VON MRS THATCHER
Dann eilte ich weiter und war beim Anblick der Verwüstung im Treibhaus heilfroh, Mariana nicht erzählt zu haben, wie ich den Nachmittag verbracht hatte: Sie neigte zu schwatzhafter Indiskretion.
Miss Braceburn
Mariana und ich waren zwei Leuchten an der Waterland High, einer Bildungseinrichtung, die bislang selbstvergessen vor der gefürchteten Gesamtschulbewegung verschont geblieben war. Der Rektor, MrF. Spendlow, B.Sc., hatte sein Leben in verschiedenen Erziehungsinstitutionen gefristet, seit seine Mutter ihn an einem lange zurückliegenden Morgen mit der Schubkarre in eine hineinbefördert hatte, wobei er zweifelsohne um sich getreten und geschrien haben musste, als er die lebenslängliche Strafe erahnte, die er würde absitzen müssen. Längst war er zur Harmlosigkeit institutionalisiert, und man konnte ihn getrost vergessen.
Der Lehrkörper war ohnehin im Großen und Ganzen ein farbloser Haufen. Die meisten Zugehörigen waren schon vor so langer Zeit in unserer Bildungseinrichtung zur Ruhe gebettet worden, dass sie sich wie Zombies bewegten und redeten, so öde Sätze vor sich hin murmelnd wie: »Nun notiert euch, was ich selbst vor dreißig Jahren notiert habe«, »Wo waren wir letztes Mal stehen geblieben?« oder »Mädchen, wir müssen uns für das drohende technologische Zeitalter wappnen«. Hin und wieder verschwand ein Lehrer oder wurde, nachdem er oder sie das fünfundsechzigste Lebensjahr erreicht hatte, mit einer gravierten Armbanduhr als Symbol für die unerbittlich voranschreitenden Jahre in den Ruhestand verabschiedet. Sie wurden durch unstete junge Frauen ersetzt, die auf der Suche nach passenden Ehemännern waren und, nachdem sie lediglich betrunkene Rugby-Clubmitglieder vorfanden oder sich hingebungsvoll um ihre betagten Mütter kümmernde Bankangestellte, das vertraglich vereinbarte Jahr abarbeiteten und dann das Weite suchten.
Was Miss Braceburn dazu bewogen hatte, hier zu verweilen, entzog sich meiner Vorstellungskraft. Offenkundig hatte sie schon bessere Tage gesehen; tatsächlich enthüllte sie uns, sie habe Philip Larkin als »Phil« gekannt und bei einem literarischen Lunch einmal mit Stevie Smith gescherzt. Und was jene Geistesgrößen betraf, denen sie gar nicht begegnet sein konnte, weil sie zu ihrer Zeit bereits tot waren, so enthielten ihre erstaunlichen Behauptungen über sie dermaßen vertrauliche Details, dass wir ihr bereitwillig abnahmen, sie gekannt zu haben, womöglich in einem früheren Leben. Wenn sie aus tiefster Seele loslegte, sah man vor sich, wie sich die Altvorderen heftig im Grab herumwarfen, wenn nicht gar daraus hervorschossen. Selbst der dröge alte Matthew Arnold …
»Ach Liebste«6, stöhnte sie etwa, »lass uns aufrichtig Zueinander sein …!«
In Momenten wie diesen schien sie tatsächlich in großer Bedrängnis zu sein, so wie sie die mageren Knöchel gegen die Rippen presste und hauchte:
»… denn die Welt, die wie ein
Land der Träume vor uns liegt,
…
Birgt weder Freude, Liebe noch Licht.«
Mariana und ich rätselten über dieses Phänomen. »Klöße!«, verkündete sie. »Wenn ich die Großvater abends aufgewärmt auftische, stöhnt er auch immer so. Aber bei ihm reicht eine Alka Seltzer, damit er sich wieder beruhigt.«
So absurd der Vergleich war, ich widersprach ihr nicht. Da Miss B. die Hoffnung hegte, ich würde eines der wenigen Oxbridge-Stipendien, die an die Waterland High gingen, ergattern, förderte sie mich besonders. Daher kannte ich sie gut genug, um zu wissen, dass sie eine unbestechliche Idealistin war. Als solche geboren, würde sie bis zum Lebensende eine bleiben. Für sie war englische Literatur kein Broterwerb, sondern Lebensinhalt. Eine private Sitzung bei ihr konnte sich zum Beispiel folgendermaßen abspielen:
»Was hältst du von Robert Browning, Hetty? Ein kritisches und wohlüberlegtes Urteil, wenn ich bitten darf. Robert Browning – der Mensch, nicht seine Reputation.«
»Oh«, sagte ich dann möglicherweise, »das lässt sich leicht beantworten, Miss Braceburn. Das letzte Jahr mit ihm war eine absolute Offenbarung. Seither vergleiche ich jeden anderen Mann mit ihm. In der Abschlussklasse gibt es jedenfalls keinen, der ihm auch nur annähernd das Wasser reichen könnte. Wobei das natürlich eine persönliche oder vielleicht sogar eine Minderheitsmeinung ist; jedenfalls wird sie nicht von jemandem geteilt, der benannt werden könnte.«
»Nein, bitte nicht«, könnte sie erwidern. »Aber Hetty, versprich mir, dass du künftig ein bisschen wählerischer im Gebrauch von Adjektiven bist. Frag dich immer, ob sie die Aussagekraft des Substantivs verstärken oder nicht. Hätte, zum Beispiel, ›Offenbarung‹ nicht genügt? Und das Wort ›absolut‹ – ich würde dich bitten, dass du nachschlägst, was das Shorter Oxford English Dictionary zu ›absolut‹ zu sagen hat. Es hat eine schwankende Bedeutung, ein Wort, das mit äußerster Vorsicht gehandhabt werden will.
In Bezug auf Robert Browning teile ich in jedem Falle deine Begeisterung: Er ist ein Freigeist. Seit meiner Zeit in Cambridge bedeutet er alles für mich. Mein Tutor, Professor Massinger, hatte (abgesehen von seinem Haar, das vom gleichen rötlichen Farbton war wie deines, Hetty) große Ähnlichkeit mit dem Dichter, so wie die frühen Porträts ihn zeigen. Ach, und wie er Brownings Verse vortrug! Man hatte das Gefühl, R.B. persönlich zu lauschen. Genau wie ich und genau wie du, Hetty, war Professor Massinger ein intellektueller, ein literarischer Mensch. (Nicht nur literarisch gebildet, wohlgemerkt, sondern tatsächlich literarisch.) Und nun wollen wir uns mit Abt Vogler, ein Monolog, Seite 167, beschäftigen.
›Alles Gute, das wir uns erwünscht7, erhofft oder erträumt haben, wird sein …‹
(Vergiss das niemals, liebe Hetty – auch nicht, vor allem nicht in Momenten der Verzweiflung.)
›Die Leidenschaft, die von der Erde in den Himmel steigt,
Ist Musik, die der Dichter und Liebende an Gott sandte.
Es reicht, dass Er sie einmal gehört hat: Wir werden sie hören zu gegebener Zeit.‹
Und beachte den Doppelpunkt, das am meisten missbrauchte Satzzeichen. Hier sehen wir einen vorbildlichen Gebrauch – es kennzeichnet eine abrupte Folgerung aus einer vorausgegangenen Aussage.
Nun ja, für oberflächliche Gemüter ist Robert Browning nichts.« (Konnte sie etwa zufällig meine Unterhaltung mit Mariana mitgehört haben?) »Browning ist nur etwas für starke, eigenwillige Menschen, für solche, die entschlossen sind, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen. Und mit ihm! Ganz besonders (nun, da die Abschlussprüfung uns bevorsteht) mit ihm!
Und nun wieder zurück zu Abt Vogler. Es ist eines von Brownings ganz großen Werken. Wie Beethovens späte Quartette, wie die Gemälde von Goya in seinem sogenannten Alterswahnsinn. Wie William Shakespeares König Lear, mit dem er den Zenit seines Schaffens erreichte. Und jetzt zu Seite 168, Zeilen 19 und 20. Sieh dir diese letzte Kadenz an.
›Und das, horcht, habe ich gewagt und getan,
denn mein Ruheplatz ist gefunden.
Das C-Dur dieses Lebens: Und nun will ich
zu schlafen versuchen.‹
Hoffnung! Klammere dich an die Hoffnung, will uns R.B.s Abt Vogler sagen: Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, ist alles verloren. Um kurz abzuschweifen – versprich mir, dass du dich (ganz allgemein gesprochen) stets an die Hoffnung klammern wirst, Hetty.«
»O ja, o ganz bestimmt, Miss Braceburn. Das mach ich. Und (wenn irgend möglich) in C-Dur.«
»›Mach ich‹ ist umgangssprachlich. Sag ›Das werde ich‹ – das ist eleganter. Vielleicht solltest du dich auch an Folgendes klammern: Bis zu den Abschlussprüfungen sind es nur noch wenige Tage.«
So oder so ähnlich war es, von Miss B. privat unterrichtet zu werden.
Aber jetzt zurück zu den aktuellen Geschehnissen …
»Hetty«, sagte sie, »vor zwei Tagen in Jordans Bank … Dieser Herr … war das dein Vater?«
Ich bejahte es.
»Ah!«, sagte sie. »Ah ja! Hilf mir doch bitte auf die Sprünge – was macht MrBirtwisle beruflich noch einmal?«
Ich antwortete, er sei Finanzdirektor.
Auch wenn ihr Hauptaugenmerk den Dichtern galt, war sie gewieft genug, zu wissen, dass das nicht stimmte; die Kugelschreiber, die an seine Brusttasche geklemmt waren, hatten ihn als Steuereintreiber verraten.
»Hat sich ihr Hond vom Regenguss am Samstag wieder erholt?«, fragte ich. »Und wie ist er zu seinem ungewöhnlichen Namen gekommen?«
»Oh, es geht ihm ganz gut, danke, Hetty«, antwortete sie lächelnd. »Er ist kein empfindlicher Hond; er hat eine robuste Konstitution und ist nicht nachtragend. Ach ja … sein Name? Mustafa war ein türkischer Jagdhund in irgendeinem Krieg, der, als fast die ganze Einheit tot war oder im Sterben lag, sich eine brennende Fackel schnappte und (wie es heißt) die Lunte an der geladenen Kanone entzündete, um eine Schneise in die Linien der vorrückenden Franzosen (ein heruntergekommenes Volk) zu schlagen. Wenn ich heute Abend in meine Wohnung zurückkehre, werde ich ihm ausrichten, dass du dich nach ihm erkundigt hast.«
Dann sah sie mich lange und forschend an, nahm mein Kleid und meine Bücher in Augenschein und eilte davon. Und nach unserem Treffen war ich mir mindestens für zehn Minuten sicher, dass alles Gute, wovon wir träumten, existierte, dass am Ende das Erhabene obsiegen würde. Und dass meine Zeit kommen würde.
Im Schulbus sprach ich mit Mariana darüber, aber die hatte trotz der bevorstehenden Abschlussprüfungen nichts als Sex im Kopf. »Erkennst du denn nicht Brownings intellektuelle Überlegenheit gegenüber Tennyson, diesem beschränkten Geist, der allenfalls kleinliche, unbefriedigte sinnliche Neigungen hegte? Ich möchte ihm nichts unterstellen: Es ist nur so, dass seine Verlobung mit Emily Sellwood sechzehn Jahre gedauert hat, und er war ein Mann, der gut aß.«
»Es ging ihm nicht um Sex«, antwortete sie und spähte schmachtend zu Ronnies goldenem Haupt ein paar Sitze weiter vorn. »Sondern um Liebe!«
»Aufgrund diverser Bücher, die ich in meiner Freizeit gelesen habe – keine Schullektüre –, bin ich schon früh zum Schluss gekommen, dass das für Männer ein und dasselbe ist«, gab ich zurück. »Wenn sie über das Herz reden, haben sie Brüste und Hinterteile im Sinn.«
»Na und?«, sagte sie unumwunden. »Mir gefällt es, wenn sie von meinen Titten fantasieren. Weißt du noch, wie Miss Livesay dieses Bullenherz sezierte, das sie beim Metzger geschnorrt hat, und wie die beiden, die am nächsten beim Vorführtisch standen, in Ohnmacht fielen und Lucy Gill sich sogar übergeben hat? Im Übrigen würde ich darauf wetten, dass sich Lord Tennyson bestimmt nicht klammheimlich mit Liz Barrett davongestohlen hätte wie dein Browning mit seiner Geliebten. Er wäre mutig die Wimpole Street hinuntermarschiert, hätte die Tür ihres Elternhauses eingetreten und mit seinen Hosenträgern ihren grässlichen Vater ans Treppengeländer gefesselt.«
»Was haben das Bullenherz und Lucy Gill damit zu tun?«, fragte ich irritiert. Doch nachdem sich Ronnie umgedreht und unsere Existenz gnädig zur Kenntnis genommen hatte, war Mariana völlig durch den Wind. Also ließ ich ihre lächerliche Mutmaßung unwidersprochen. Traurigerweise war Englands literarisches Vermächtnis an sie verschwendet. Sie war ein famoser Kumpel, immer zur Stelle, wenn man in Not war, hatte aber diese derbe Ader, ganz im Gegensatz zu ihrem Großvater, der trotz seiner Besessenheit von früheren Kriegen ein empfindsamer Mensch war.
(Ich beschloss, ihr nicht zu erzählen, dass mich Ronnie auf dem Weg aus dem Speisesaal mit seiner großen heißen Hand angefasst und gemurmelt hatte: »Treffen wir uns am Samstag in der Disko in Dads Pfarrgemeinderaum?«)
»Gehst du in die Disko?«, frage Mariana.
»Du weißt doch, dass es zwecklos wäre, zu Hause überhaupt zu fragen. Dad würde nur wissen wollen, wo die fünfzig Pence herkommen sollen, und es als Gelegenheit nutzen, mir zu unterstellen, ich würde den Abend im Gebüsch verbringen wollen und mit einem Baby im Bauch zurückkommen.«
»Du lieber Himmel, ich hoffe wirklich, du kriegst dieses Unistipendium und kommst von hier weg. Das sind jetzt die besten Jahre deines Lebens, und schau dir an, wie du sie vertust. Wenn deine Noten nicht gut genug sind, was glaubst du, wird dann aus dir werden?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Wobei Dad garantiert klare Vorstellungen davon hat – wenn es nach ihm geht, werde ich vermutlich in einem öden Büro in der Bezirksverwaltung landen.«
»Glaubst du, Männer spielen irgendeine Rolle im Leben von Miss B.?«, fragte Mariana und lenkte unser Gespräch wie so oft wieder in eine ganz andere Richtung.
»Nun, sie muss jedenfalls einen Vater gehabt haben.«
»Du weißt genau, was ich meine«, sagte sie beharrlich. »Irgendwann einmal muss auch sie bei einem Kerl einen Funken in der Brust entzündet haben. Erschütternd, welche Vorlieben manche Männer haben. Erstaunlicherweise scheint es für jeden Menschen jemanden zu geben. Im Übrigen, wie kann sie immerzu von der Liebe reden, wenn sie sie niemals erfahren hat?«
»Vielleicht ist ihr Liebster im Krieg gefallen?«, mutmaßte ich (hatte ich doch gehört, dass dies häufig als Grund für Ehelosigkeit vorgebracht wurde).
»In welchem Krieg denn?«, rief sie abfällig aus. »Es hat seit ewig und drei Tagen keinen richtigen Krieg mehr gegeben.«
Da ich das vage Gefühl hatte, Miss B. zu hintergehen, wenn ich hinter ihrem Rücken über sie sprach, lenkte ich Marianas Aufmerksamkeit auf eine einsame Gestalt, die auf einer grasbewachsenen Uferböschung hockte und in den Graben sah.
»Ach, das ist der dumme Dick«, sagte sie wegwerfend. »Er interessiert sich nicht für Mädchen: nur für Aale. Angeblich taucht er unter Wasser nach ihnen und fängt sie mit den Zähnen, um sie dann roh zu verschlingen.«
Der Bus hielt an der Postnebenstelle. Wir stiegen aus und trennten uns, und während ich in Richtung unseres Hauses mit dem kuscheligen Namen Osokosie trottete, fragte ich mich noch immer, was Miss Livesays seziertes Bullenherz mit Alfred Tennyson oder Robert Browning zu tun haben sollte, geschweige denn mit Miss Braceburns verlustig gegangenem Liebsten.
Das Problem mit John Donne
Kaum hatte ich die Wohnzimmertür aufgemacht, wurde mir mulmig zumute. Dunkle Wolken hatten sich hier zusammengeballt, und die Luft knisterte vor nicht entladener Gehässigkeit. Sonny, dessen vorstehende graue Augen glänzten und der die Fühler erwartungsvoll kreisen ließ, tat so, als klebte er einen Airfix-Bomber zusammen, dabei hatte er den Bausatz schon vor einer Woche fertiggestellt; Mum ließ eine linke Masche nach der anderen fallen, und ihre Gesichtsmuskeln zuckten wild. Ich vermied es, Dad anzusehen, und während ich auf die Treppe zusteuerte, hörte ich mich selbst mit einem Zittern in der Stimme sagen: »Hallo. Ich mach mich gleich mal ans Büffeln. Hab keinen Hunger, Mum. In der Schule gab es heute Klöße mit zwei verschiedenen Beilagen.«
»Komm zurück!«, befahl Dad.