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Pragmatisch und visionär entwirft Amos Oz einen neuen Nahen Osten, der für die Zukunft die Lehren der Vergangenheit aufnimmt. Im Dezember 2018 ist der bedeutendste israelische Autor gestorben und hat uns sein Vermächtnis hinterlassen: Der Mensch ist seiner Natur nach offen. Darum wird es auch im Nahen Osten eine Lösung geben – bei gutem Willen aller.
Im Juni 2018 trat Amos Oz das letzte Mal öffentlich auf, an der Universität von Tel Aviv hielt er seine letzte Rede, dies ist sein politisches Vermächtnis. Darin plädiert er leidenschaftlich für einen jüdischen wie für einen palästinensischen Staat im Nahen Osten, er mahnt, er warnt und er gibt Hoffnung. Nach allem, was passiert ist, möchte er nie wieder als jüdische Minorität leben. Der israelisch-palästinensische Konflikt müsse geheilt werden. Aber eine Wunde kann man nicht mit einem Stock heilen. Die Heilung brauche Zeit und erfordere zuallererst »eine Sprache der Heilung«, keine der Unterwerfung.
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Seitenzahl: 40
Amos Oz
Die letzte Lektion
Ein Leitfaden für die Zukunft
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Suhrkamp
Amos Oz hielt die hier abgedruckte Rede am 22. Juli 2018 in der Universität Tel Aviv. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt, seine letzte Rede.
Feuer züngelte im Ofen. Und die alte Hinda ging hinaus und trug das Blech mit den Fladenkuchen wie eine Araberin auf dem Kopf. Das Blech sah aus wie ein schönes Beet voll Sesamsamen und machte Hoffnung. Es gab Hoffnung, dass ihr auch das Brot, das richtige Brot, das sie am Nachmittag für die ganze Woche backen würde, gelingen würde. Der Kopf des kleinen Amram lag noch immer im Schoß von Arje Lapidot, und diese Anhänglichkeit strahlte etwas Trauriges, Einfaches, Mitgefühlerregendes aus und gleichzeitig etwas Geheimnisvolles, unendlich Wichtiges und Wertvolles. Reste von Dornen hingen an ihren abgetragenen Kleidern und an ihren Köpfen. Da rief die Brotbäckerin sie zur Hilfe, und beide standen auf und standen da. Und in ihren Dornen wie in ihrem Dastehen lag dasselbe große Geheimnis. Sie standen da und hielten Wache, Lebenswache. Lebenswache hielten der Alte und das Kind, dornengekrönt. Die Sonne schien wie vor dem Regen. Die Existenz war eine dornige Existenz. Noch war die Rechnung nicht gemacht.
Josef Chajim Brenner, Von hier und von dort (1911)
Einen schönen guten Abend, einen angenehmen Sommerabend.
Jedes Mal, wenn ich zu diesen letzten Zeilen aus Josef Chajim Brenners Von hier und von dort zurückkehre, durchläuft mich ein Zittern. Und hin und wieder muss ich mir die Frage stellen: Ist die Rechnung wirklich noch nicht gemacht?
Ehrlich gesagt, ich habe Ihnen heute Abend gar nicht besonders viel zu bieten. Vor ein paar Monaten veröffentlichte ich ein kleines Büchlein: Liebe Fanatiker. Und ich habe versucht, ihm die Schlussfolgerungen eines ganzen Lebens aufzubürden. Das habe ich vor allem für meine Enkel getan. Ich habe ihnen gesagt: Euer Opa hat in der Publizistik und auf Demonstrationen viele Jahre lang in der ersten Reihe gekämpft, jetzt kämpft ihr in der ersten Reihe. Opa ist jetzt in der Logistik, verantwortlich für die Munition. Hier, dieses kleine Büchlein, das soll eure Munition sein. Ich wollte darin wirklich kurz und knapp darstellen, was ich hier und nicht nur hier für die schlimmste Seuche des 21. Jahrhunderts halte, und nicht nur des 21. Jahrhunderts: den Fanatismus. Darüber hinaus, was ich über das Judentum – nicht nur als Religion, nicht nur als Nation – denke, und auch meine Gedanken über den Staat Israel, wohin er sich entwickelt und wohin er sich noch immer entwickeln kann, weil die Rechnung in der Tat noch nicht gemacht ist.
Von den Dingen, die ich in Liebe Fanatiker schrieb, möchte ich hier drei erwähnen.
Erstens. Die schon über hundert Jahre andauernden Auseinandersetzungen zwischen uns und den Palästinensern sind eine blutende Wunde, nicht nur eine blutende Wunde, sondern eine infizierte Wunde voller Eiter. Sie ist inzwischen schon zu einem Abszess geworden. So eine Wunde heilt man nicht so leicht. Das funktioniert nicht. Man kann nicht auf eine Wunde immer wieder einschlagen und ihr einbläuen, dass sie aufhören soll, Wunde zu sein, und aufhören soll, zu bluten. Ich bin nicht gegen den Stock. Ich bin kein Pazifist. Im Gegensatz zu meinen Kollegen in Europa und Nordamerika, die mich manchmal, nur leider meist aus den falschen Gründen in ihre Arme schließen – du bist einer von uns, make love not war –, im Gegensatz zu ihnen habe ich nie gedacht, dass Gewalt das schlechthin Böse in der Welt ist. Ich habe mein Leben lang gedacht und denke bis heute, dass das ultimativ Böse in der Welt die Aggression ist. Und der Aggression muss man nicht selten mit Gewalt Einhalt gebieten. Man braucht einen großen Stock, um sie zu stoppen und niederzuzwingen. Die Aggression ist die Mutter aller Gewalt auf der Welt. Deshalb habe ich nie an make love not war und all you need is love geglaubt. Und glaube auch nicht daran, die zweite Wange hinzuhalten.
Zwei entfernte Verwandte von mir, Jüdinnen aus Deutschland, haben im Alter von etwa zwanzig viele Jahre in Konzentrationslagern der Nazis verbracht. Befreit wurden sie dort nicht etwa von Friedensdemonstranten mit schönen Parolen, Ölzweigen und Tauben, sondern von Soldaten der Alliierten mit Helmen und Maschinengewehren. Das werde ich nie vergessen. Deshalb bin ich nicht gegen einen großen Stock. Hätte der Staat Israel, hätte das jüdische Volk keinen solchen, wäre keiner von uns jetzt hier. Entweder lägen wir tot unter der Erde oder wir wären zumindest mit Brachialgewalt von hier vertrieben worden. Wir sind hier, weil wir einen großen Stock haben.