Die Lilien-Serie: Das Herz der Lilie (Alle Bände in einer E-Box!) - Sandra Regnier - E-Book
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Die Lilien-Serie: Das Herz der Lilie (Alle Bände in einer E-Box!) E-Book

Sandra Regnier

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Beschreibung

**Die Bestseller-Reihe endlich als E-Box!** Ein ungewollter Zeitsprung an den Versailler Hof des 17. Jahrhunderts wirft das Leben der sechzehnjährigen Julia komplett aus der Bahn. Plötzlich muss sie sich nicht nur mit einer völlig überholten Etikette auseinandersetzen, sondern sich auch in einer Welt undurchschaubarer höfischer Intrigen zurechtfinden. Gut, dass ihr zumindest der junge Graf von Montsauvan als Obhut zur Seite steht. Nur dass seine Gegenwart ihr Leben schließlich noch um einiges verkompliziert… //Textauszug: Montsauvan hob spöttisch eine Augenbraue. »Wenn Ihr mit ihm tanzt, könnt Ihr nur mühsam Euren Ekel verbergen.« Ach herrje, war das so offensichtlich? »Bei mir dagegen lächelt Ihr«, fuhr er selbstzufrieden fort. »Bestimmt nicht«, sagte Julia schnell – zu schnell. Montsauvan grinste. Breit. Und mit einem Mal sah er wieder so jung aus, wie er tatsächlich war. Vielleicht sogar noch jünger. »Ich fange an zu glauben, Mignonne«, sagte er und seine Stimme war noch etwas tiefer und samtiger als sonst, »dass Ihr mir zu verfallen beginnt.«// //Die E-Box zur Lilien-Reihe enthält folgende Romane: -- Die Lilien-Reihe 1: Die Stunde der Lilie -- Die Lilien-Reihe 2: Die Nacht der Lilie//

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In diesem E-Book befinden sich eventuell Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Im.press Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2014, 2015 Text © Sandra Regnier, 2014, 2015 Lektorat: Pia Cailleau, Evi Draxl Coverbild: shutterstock.com / © Jackie Stukey / © Nella / © VectoRay / © Nailia Schwarz Covergestaltung: formlabor Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund ISBN 978-3-646-60184-8 www.carlsen.de

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Im.press Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2014 Text © Sandra Regnier, 2014 Lektorat: Pia Trzcinska Redaktion: Evi Draxl Coverbild: shutterstock.com / © Jackie Stukey / © Nella Covergestaltung: formlabor Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck Schrift: Alegreya / Juan Pablo del Peral, Architects Daughter / Kimberly Geswein Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund

In Erinnerung an eine Fahrt im roten Manta nach Versailles.☺

Prolog

Mit Kraft umfasste der Mann das Handgelenk der Frau. Hinter sich konnte er das Jagdhorn hören. Es war wesentlich näher als beim letzten Mal. Er wurde noch schneller.

Die Frau hinter ihm stolperte. Er wusste, sie war am Ende ihrer Kräfte. Doch er wusste auch, wenn sie jetzt anhielten, wären sie verloren.

Beider Arme, Hände und Gesichter waren von den Zweigen gezeichnet, die gegen sie peitschten. Als habe sich sogar die Natur gegen sie verschworen. Das Gestrüpp schien dichter zu werden. Er bewunderte die Frau, die barfuß hinter ihm herlief. Seit Tagen hatte sie keine Schuhe mehr getragen. Ihre Füße waren blutig und wund. Doch sie klagte nicht.

Es knackte im Unterholz.

Auf einmal vernahm er noch etwas anderes. Etwas wesentlich Beunruhigenderes.

Verdammt! Er hatte nicht aufgepasst.

Angestrengt lauschte er auf das Geräusch und hoffte sich getäuscht zu haben. Doch er täuschte sich nicht. Es waren Hunde. Und sie kamen auf ihn zu. Abrupt drehte er um und zerrte die Frau wieder in die Richtung, aus der sie gekommen waren, noch schneller als zuvor. Sie mussten einen Bach finden, einen Fluss. Wasser, um die Tiere zu verwirren und Zeit zu gewinnen.

Die Frau verlangsamte und löste sich aus seinem Griff.

»Dort hinten war ein Abhang«, rief sie dem Mann zu und rannte bereits in die Richtung.

Er folgte ihr widerspruchslos, war dicht hinter ihr. Sie konnte seinen Atem hören.

»Irgendwo hier muss es …« Den Satz brachte sie nicht mehr zu Ende, sie stolperte über eine Wurzel. Der Mann rief etwas, aber sie fiel bereits den Abhang hinunter …

***

Julia richtete sich entsetzt im Bett auf. Ihr Pyjama war schweißnass und das Herz pochte ihr bis zum Hals. Das war der realistischste Traum, den sie je gehabt hatte. Sie stand auf, spritzte sich im Bad Wasser ins Gesicht und zwang sich, ruhig zu atmen. Sie musste den feuchten Pyjama ausziehen. Während sie ein Nachthemd mit Spaghettiträgern überstreifte, versuchte sie sich genau zu erinnern, was sie geträumt hatte. Aber die Erinnerung verblasste bereits. Ein Mann und eine junge Frau auf der Flucht – mehr wusste sie nicht mehr. Die Gesichter waren schon wieder verwischt, sosehr sie auch versuchte, sie sich vor Augen zu rufen.

»Es war nur ein Traum«, sagte sie sich. Langsam beruhigte sich ihr Herz und sie kuschelte sich in die Decken. Müdigkeit überfiel sie.

Doch noch während sie langsam wegdämmerte, ging ihr auf, was der Mann kurz vor dem Fall gerufen hatte. Ihren Namen. Sie war die Frau gewesen.

1. Kapitel

LÄSTIGER ALLTAG

Fassungslos starrte Julia auf die Fünf ihrer Französischarbeit. Wieso hatte sie nur Französisch gewählt? Sie hätte es ihrer Freundin Nina nachmachen und Hauswirtschaftskunde nehmen sollen.

»Wieso hast du eigentlich Französisch gewählt?«, fragte ihre Banknachbarin Melanie und starrte auf die in roter Tinte geschriebene Note. »Das senkt deinen kompletten Durchschnitt.«

Als ob Julia das nicht selbst wüsste. »Ich wollte dir was gönnen. So bist du wenigstens in einem Fach besser als ich«, antwortete sie. Leider klang es mehr betreten als schnippisch.

Eingeschnappt packte Melanie ihr Heft zusammen, natürlich so, dass Julia noch ihre Note sehen konnte: Sehr gut. Dann zeigte sie einer Freundin zwei Reihen weiter vorn eine Hand mit fünf abgespreizten Fingern und deutete mit dem Kopf auf Julia.

Na bravo. Spätestens zur vierten Stunde wüsste es die ganze Realschule sowie ein paar Schüler vom benachbarten Gymnasium.

Zum Glück läutete es in diesem Moment zum Ende der Französischstunde. Julia warf alle Bücher achtlos in ihre Schultasche und spurtete aus der Klasse. Bloß schnell weg von Melanie.

Weshalb gab es an ihrer Schule keinen Monster-Slush-Getränkeautomaten wie bei Glee? Gedanklich kippte sie Melanie den Becher nicht nur aufs T-Shirt, sondern auch gleich über den Kopf.

Auf dem Weg zum Geschichtsunterricht stieß Nina zu ihr. »Und?«

»Frag nicht«, sagte Julia düster. »Ich hätte besser Hauswirtschaftskunde gewählt. Immerhin hat meine Mutter mir das Kochen beigebracht.«

»So schlimm?« Nina legte mitfühlend eine Hand auf Julias Arm.

In diesem Moment kam eine Gruppe Jungen an ihnen vorbei. Einer von ihnen rempelte Julia an, der Gurt ihrer Tasche rutschte ihr von der Schulter und der gesamte Inhalt verteilte sich auf dem Boden.

Die Jungen lachten laut auf. Mit zusammengebissenen Zähnen bückte sich Julia und begann die Bücher, Stifte und Hefte wieder einzusammeln. Nina half ihr – und zu ihrer Überraschung auch Niklas, einer der Jungen.

»Tut mir leid«, sagte er und reichte ihr das Blatt mit der Französischarbeit. Sein Blick blieb an der Note hängen.

Ärgerlich riss Julia ihm das Blatt aus der Hand. »Alles gesehen?«, fauchte sie ihn an.

Niklas warf ihr einen unergründlichen Blick zu, stand auf und ging seinen Freunden hinterher.

»Musstest du ihn so anschnauzen?«, fragte Nina und starrte ihm hinterher.

»Wegen ihm und seinen Freunden kommen wir jetzt zu spät und du weißt genau, wie streng der Schmidt ist.«

»Aber«, sagte Nina, immer noch den Jungs nachblickend, »er hat sich doch entschuldigt.«

»Bewahrt uns auch nicht vor einem Nachsitzen.« Aber diesmal klang Julia nicht mehr so streng. Sie hatte den verträumten Blick ihrer Freundin bemerkt, der immer noch an Niklas' Rücken klebte.

***

Der Tag schien sich nicht zu bessern – im Gegenteil. Obwohl Geschichte eigentlich ein spannendes Fach sein sollte, wenn man an all die aufregenden Kämpfe und Kriege dachte, brachte Herr Schmidt es immer wieder fertig, daraus eine endlose Auflistung von Daten und Fakten zu machen, die stur auswendig gelernt werden mussten.

Für ihn war die Schule wohl eine Art Kaserne, denn sein Unterricht hatte etwas von soldatischem Drill. Gepaart mit seinem Hang zu preußischer Pünktlichkeit machte ihn das nicht zum beliebtesten Lehrer der Schule.

Als Julia und Nina die Klasse betraten, saßen alle ihre Mitschüler schon auf ihren Plätzen und Herr Schmidt stand am Pult.

Prompt quittierte er ihr Zuspätkommen mit einem Klassenbucheintrag und der Order, nach Schulschluss den Pausenhof zu säubern. Dadurch würden sie erst einen Bus später nach Hause nehmen können und der Nachmittag wäre so gut wie gelaufen. Doch die beiden Mädchen nickten ergeben (Widerstand war zwecklos) und wollten sich schnell auf ihre Plätze setzen.

»Stehen bleiben!«

Auch das noch, dachte Julia und unterdrückte ein Augenrollen.

»Bevor ihr euch setzt, nennt mir die Gründe für das Edikt von Nantes und dessen Auflösung.«

Nina begann zu schwitzen, Melanie in der zweiten Reihe grinste schadenfroh. Aber Julia seufzte nur erleichtert und übernahm diese Aufgabe. Wenigstens konnte er ihr auf diesem Gebiet nichts anhaben. Ihre Hausaufgaben hatte sie gemacht.

Völlig ausgepowert saßen sie weit nach Schulschluss im Bus. Julia hatte die Augen geschlossen, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt und war kurz davor einzunicken. Nina und sie hatten das riesige Schulgelände mit einem Eimer und einer Müllzange abgegrast. Wer hätte gedacht, dass so viel Dreck in den Hecken liegen könnte? Zu ihrer großen Überraschung hatte Niklas ihnen geholfen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Das rechneten ihm beide Mädchen hoch an.

»Das Edikt von Nantes«, murrte Nina. »Wer zum Teufel braucht so was? Das ist über dreihundert Jahre her und für Religion interessiert sich heute kein Mensch mehr. Wieso kannst du dir so was merken?«

Julia zuckte unbeteiligt die Schultern. Ihr war nicht nach Plaudern, denn im Moment graute ihr vor dem enttäuschten Gesicht, das ihre Mutter machen würde, wenn sie von der verpatzten Französischnote erfuhr.

Sie war so stolz auf Julia gewesen, als die auf der weiterführenden Schule innerhalb kürzester Zeit zur Klassenbesten aufstieg. Und ihrer jüngeren Schwester Jennifer ging alles noch leichter von der Hand. Sie besuchte seit zwei Jahren das Gymnasium und glänzte dort, ohne sich anstrengen zu müssen. Beide liebten sie ihre Mutter sehr. Sie hatte es als Alleinerziehende schwer gehabt. In dem Dorf, in dem sie lebten, war es besonders schwierig, denn Kindergartenplätze waren dort Mangelware und nur dank der Unterstützung durch ihre Eltern hatte Marita Willwer es geschafft, ihre zwei Mädchen allein großzuziehen.

Leider waren die Großeltern mittlerweile alt und bedurften selbst der Pflege. Vor drei Jahren waren sie in ein Altenheim umgesiedelt. Zum Glück in das, in dem Julias Mutter arbeitete. Julia wusste nicht, was schlimmer war: zu sehen, wie die bettlägerige Großmutter immer weniger wurde, oder den demenzkranken Großvater zu erleben, der seine eigene Tochter nicht mehr erkannte.

Deswegen strengten sich Julia und Jennifer ganz besonders an unnötigen Kummer von ihrer Mutter fernzuhalten. Blöderweise war das für Julia unmöglich, wenn es um Französisch ging.

Wie nicht anders erwartet huschte ein Schatten über Marita Willwers Gesicht, als Julia ihr die Klassenarbeit hinhielt. Doch wie immer verbarg sie ihre Gefühle sofort und umarmte ihre Tochter.

»Ich weiß, beim nächsten Mal wirst du es besser machen.«

»Ach, Mama«, sagte Julia traurig. »Ich glaube, mir fehlt ein gewisses Enzym im Gehirn, um Französisch zu lernen. Ich sollte es abwählen und was anderes machen.«

»Ich weiß, du schaffst das«, sagte ihre Mutter voller Überzeugung. »Erinnere dich doch einfach daran, warum du das Fach gewählt hast. Vielleicht gibt dir das wieder etwas Ansporn.«

Julia wusste sofort, was ihre Mutter meinte. Bei der Klassenfahrt letztes Jahr nach Paris war sie sich völlig hilflos vorgekommen, weil sie nicht einmal den Preis für eine Cola hatte in Erfahrung bringen können. Und als sie in einem Laden nach einem bestimmten Souvenir gefragt hatte, hatte man sie kurzerhand rausgeworfen. Ihre Französischlehrerin hatte ihr später erklärt, sie habe sich dort als Prostituierte angeboten, statt die hübsche kleine Ente zu erwerben. Ente hieße nicht pute und das französische Wort für Pute sei dinde.

Damit war Julia die Lachnummer der Klassenfahrt gewesen.

Das hatte sie so sehr frustriert, dass sie augenblicklich die Sprache lernen wollte und sich für dieses Unterrichtsfach eingetragen hatte.

Ihre Mutter schien ihren Gedanken gefolgt zu sein, denn sie sagte ruhig: »Es reicht, wenn du dich nach dem Weg erkundigen kannst und verstehst, was die Leute dir antworten. Mehr braucht es doch nicht. Und überleg nur, wie praktisch es ist, wenn du wieder mal nach Frankreich kommst.«

Julia und Marita Willwer konnten ja nicht ahnen, wie bald genau das der Fall sein würde.

***

»Er schaut wieder zu dir.«

Ninas Flüstern hätte jeden ICE-Zug übertönen können. Sie und Julia saßen in der Pause zusammen auf dem Schulhof. Sollte Nina jemals versuchen »laut« zu flüstern, würde es auch der Rest der sechstausendköpfigen Bevölkerung der Kleinstadt mitbekommen. Wenn nicht sogar die ganze Eifel. Rundherum auf dem Schulgelände standen Gruppen von Jugendlichen, die nun alle zu ihnen herübersahen.

Julia sah genervt von ihrem Buch auf. »Wer?«

»Na, wer schon? Niklas!«

Julia drehte sich um und sah, wie Niklas ihr kurz zulächelte, dann errötete und sich abwandte.

»Warum?«, fragte Julia, nun doch etwas neugierig.

Nina sah sie ungläubig an. Ehe sie allerdings antworten konnte, stand Niklas auf und kam direkt auf sie zu.

Jetzt war es Nina, die rot wurde. »Ich … äh … ich muss noch zu Linda.« Sie sprang auf und ließ eine verblüffte Julia allein zurück.

Niklas – noch immer rot im Gesicht – nahm Ninas Platz ein und lächelte Julia an. »Hi«, sagte er leise.

Beide waren sich bewusst, dass sie der halbe Schulhof anstarrte, dank Ninas lautem Organ.

»Hi«, antwortete Julia deshalb nicht sonderlich freundlich. Sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen.

»Hast du schon die Hausaufgaben für Geschichte gemacht?«, fragte Niklas.

Hatte sie es doch geahnt, dass er so etwas von ihr wollte.

»Ja«, antwortete sie knapp.

»Oh.«

Schweigen.

»Äh, kannst du mir sagen, wer den Spiegelsaal in Versailles entworfen hat?«

»Die, die auch das Schloss entworfen und ausgestattet haben.« Wieso konnte Niklas das nicht einfach in seinem Geschichtsbuch nachschlagen und sie ihren Roman weiterlesen lassen? In ihrem Buch ging gerade der Ascheregen nieder und Glaukus suchte inmitten der Panik in der Stadt nach seiner geliebten Ione. Da juckte der Maler des Spiegelsaals sie genauso viel, wie wenn in München eine Bratwurst platzte. Was fand Nina nur an ihm?

»Wie hieß der noch?«, hakte ihr Mitschüler nach.

»Le Brun.«

Niklas gab immer noch nicht auf. »Findest du es nicht auch übertrieben, dass wir so einen Mist auswendig lernen müssen? Erbauungsdaten von einem Schloss? Wofür soll das gut sein?«

»Es begründete nun mal einen Stil in der europäischen Kunstgeschichte. Frankreich hatte sich dadurch als Nabel der Welt etabliert.«

Niklas sah sie groß an. »Wie kannst du dir das alles merken?«

Jetzt wandte Julia ihm wieder das Gesicht zu. Seine Frage erstaunte sie. Vor allem weil Nina erst gestern das Gleiche gefragt hatte. »Ich weiß nicht«, sagte sie zögerlich. »Ich hab es halt gelesen.«

»Du liest viel, nicht wahr? Was liest du im Moment?«

Julia reichte ihm das Buch.

»›Die letzten Tage von Pompeji‹«, las Niklas laut vor. »Und? Ist es gut?«

Julia, die sonst nie nach ihren Büchern gefragt wurde, war begeistert und begann sofort ausführlich zu berichten, bis die Schulglocke das Ende der Pause einläutete und sie sich wieder trennen mussten.

»Was wollte er von dir?« Nina fing Julia auf dem Weg zum Klassenraum ab. Peinlicherweise wieder in der typischen Nina-Lautstärke. Nina war ein echtes Herz, aber manchmal glaubte Julia, der liebe Gott habe ihr bei der Geburt einen Verstärker mit eingebaut.

Also zog sie die Freundin kurzerhand ins Mädchenklo. »Er wollte was wegen der Geschichtshausaufgaben wissen«, antwortete Julia.

»Sonst nichts?«, fragte Nina überrascht.

»Doch, er hat sich für meinen Roman interessiert. Er will ihn geliehen haben.«

Julia warf einen Blick in den Spiegel. Aus ihrem blonden Pferdeschwanz hatten sich ein paar Strähnen gelöst und die Sommersprossen auf der Nase waren durch die Sonne etwas dunkler geworden. Direkt unter ihr linkes Auge hatte sich ein kleiner Wimperntuschefleck hinverirrt. Erstaunt bemerkte Julia, dass er ihre Augen besonders betonte und sie dadurch blauer wirkten als sonst. Sie wischte ihn trotzdem weg. Jetzt war alles wie immer.

Nina dagegen hüpfte aufgeregt neben ihr her. »So ein Unsinn. Der steht auf dich! Das sind alles Ausreden, um mit dir ins Gespräch zu kommen. Was hast du ihm geantwortet?«

»Ich habe ihm vom Untergang von Pompeji erzählt.«

»Du hättest ihn fragen können, was er in seiner Freizeit macht. Hoffentlich hast du ihn mit deiner endlosen Schwafelei über Bücher nicht verschreckt. Er ist doch wirklich süß. Hast du sein niedliches Grübchen gesehen, wenn er lächelt? Er hat mich schon zweimal zu dir befragt und dann die Aktion gestern! Das sagt doch sch  …« Abrupt hielt Nina inne.

Eine Spülung hinter ihnen rauschte und Melanie trat aus einer Kabine. Die hochnäsige Ziege hatte Julia gerade noch gefehlt.

Sie grinste boshaft. »Glaub nicht, dass ein Typ wie Niklas was von einem Bücherwurm wissen will. Nur weil dein Busen endlich wächst, heißt das nicht, dass Jungs sich für dich interessieren.«

Nina und Julia starrten sie mit offenem Mund an, unfähig zu einer Erwiderung.

Melanie grinste ein letztes Mal verächtlich und verließ die Toilette.

»Blöde Kuh«, maulte Nina zu der geschlossenen Tür.

»Ekelhaft.« Julia schüttelte sich und verschränkte instinktiv die Arme vor der Brust.

»Nein, dein Busen ist schon okay. Sie ist nur neidisch auf deine Körbchengröße B. Ihrer hat sie nämlich mit Tempos nachgeholfen«, versuchte Nina sie aufzumuntern.

»Das meine ich nicht. Sie hat sich nicht die Hände gewaschen.«

Leider stellten beide fest, dass Melanie ihre Unterhaltung auf der Mädchentoilette in einer WhatsApp-Gruppe eins zu eins wiedergegeben hatte.

Allerdings so, als wäre Nina in Niklas verliebt und Julia würde versuchen ihn ihr auszuspannen.

Nina kochte vor Wut.

Und nachdem die Wut verflogen war, fühlte sie sich todunglücklich, weil verantwortlich für all die hämischen Gesichter und Zurufe, die sie für den Rest des Vormittags verfolgten, und jammerte Julia damit zu. Niklas ging an ihnen vorbei, ohne zu grüßen. Julia war das relativ egal – A) weil er vorher auch nie sonderlich auf sie geachtet hatte, und B) weil er in dem Moment an seinem Handy herumspielte. Aber Nina glaubte, er nehme es ihnen übel.

Zum Glück wusste Julia genau, wie sie Nina aufmuntern konnte. Sie versprach ihrer Freundin, am Nachmittag mit ihr auszureiten. Nina besaß zwei Pferde – der Traum der meisten zwölfjährigen Mädchen an der Realschule. Dummerweise hatte Julia die Zwölf seit vier Jahren hinter sich gelassen und seit jeher eine gewisse Angst vor den Tieren gehabt. Genau genommen seit sie im Alter von sechs Jahren von einem Pony überrannt worden war. Und dabei waren Ponys die kleinere Variante von Pferd. Nur Nina zuliebe überwand sie ungefähr zweimal im Jahr ihre Furcht.

Nina selbst war eine hervorragende Reiterin und nahm sogar regelmäßig an Jugendturnieren teil. Julia ihrerseits war froh, wenn sie sich im Sattel halten konnte. Deswegen bekam sie immer die kleine, gutmütige Stute namens Isobel, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr wegen tief fliegender Flugzeuge oder vorbeibrausender Lkws seitlich ausbrach.

Allerdings war das Wetter heute so schön, dass Julia den Ausritt ein wenig genießen konnte. Es war ein wunderschöner Herbsttag voll Sonnenschein und sie hatten sogar einen Fuchs im Unterholz gesehen. Das Laub im Wald, durch den sie gerade ritten, färbte sich bereits rot und gelb und das eine oder andere Blatt segelte langsam zu Boden. Hin und wieder stahl sich ein Sonnenstrahl durch das noch dichte Blätterdach der Buchen und Eichen, und Julia war regelrecht verzaubert.

»Wirkt es auf dich auch wie ein Wald aus den alten Sagen?«, fragte sie Nina.

»Siehst du schon wieder Neunhollen, Raubritter und Maarhexen?«, erwiderte Nina lachend.

»Ich denke eher an Kelten, Opfersteine und Eichenhaine«, erwiderte Julia und pflückte vom Pferderücken aus einen Zweig über sich. »Ich finde es unglaublich faszinierend, dass man erst vor zwei Monaten diese bronzezeitliche Kultstätte hier in der Nähe gefunden hat. Ist es nicht unglaublich, dass sie nie zuvor geöffnet wurde?« Aufgeregt fuhr sie fort: »Stell dir nur vor, dort haben vielleicht weiß gewandete Männer Tiere oder sogar Menschen geopfert.«

»Hör auf. Ich bekomme eine Gänsehaut.«

»Hast du noch nie davon geträumt, dass die Vergangenheit lebendig wird?«, spann Julia weiter, ohne Ninas Einwand zu beachten. »Stell dir doch mal vor, Melanie hätte die Zahnlücke behalten, weil es keinen Kieferorthopäden gibt, der ihre Zähne richten kann.«

»Ja, die Vorstellung gefällt mir«, sagte Nina und grinste breit. »Leider gäbe es dann auch kein WhatsApp, wo man Fotos von ihr mit den Biberzähnen zeigen könnte.«

»Ich würde ja behaupten, Gott sei Dank gäbe es kein WhatsApp. Überleg nur, was aus Europa geworden wäre, wenn Napoleon per Handy den Kontinent hätte erobern können. Dann sprächen wir jetzt französisch, und zwar nicht nur in den Schulstunden.«

»Da bist du selbst schuld. Du hättest Hauswirtschaft wählen sollen, dann bliebe dir dein persönliches Waterloo erspart«, entgegnete Nina gnadenlos.

Julia seufzte. »Aber ich würde trotzdem gern mal sehen, wie es früher war. Nur einen Moment lang. Wäre bestimmt spannend. Was würde ich wohl nach drei Abenden ohne Fernseher tun?«

»Vermutlich lesen.«

»Ja, wahrscheinlich. Aber die Vorstellung von einer keltischen Kultstätte finde ich wirklich aufregend. Sollen wir an der Ausgrabungsstätte vorbeireiten?«

»Ich weiß nicht«, überlegte Nina zögernd. »In dem Teil des Waldes war ich noch nicht oft.«

»Hast du Angst, wir könnten uns verirren?«

»Ich habe eher Bedenken, dass wir Ärger mit dem Förster bekommen, wenn wir die offiziellen Wege verlassen.«

Aber Julia schwenkte schon den Arm mit Zügel, als wolle sie ein Fahrrad lenken.

»Ach, komm schon. Er wird uns wohl nicht auf dem Altarstein opfern und unser Blut zur Abschreckung auf die umliegenden Baumstämme verteilen.«

Nina warf ihr einen Blick zu, der deutlich machte, dass sie an dem Verstand ihrer Freundin zweifelte.

Tatsächlich wurde der Wald in diesem Bereich düsterer. Zwar schafften es noch ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen durch das Laub, aber die Bäume waren höher, die Stämme dicker und der Boden von Efeu und Brombeerhecken übersät.

»Können wir umdrehen?«, fragte Nina nach einer Weile und verjagte eine Stechmücke vom Ohr ihres Wallachs.

»Ist es dir zu unheimlich?«, neckte Julia. »Wir sind gleich da. Ich sehe schon die Absperrbänder der Ausgrabung.« Sie waren genau vor ihr, zwischen den Stämmen zweier uralter Eichen hindurch konnte sie links und rechts rot-weiße Plastikbänder hängen sehen.

Deren Geäst begann auf der exakt gleichen Höhe. Und an beiden Eichen wuchs der gleiche Ast in verwinkelter Form nach links. Zwillingseichen, fuhr es Julia durch den Kopf.

»Das sind aber seltsame Blumen«, sagte Nina und Julia entdeckte am Fuß der Eichen handgroße weiß-blaue Blüten. Das waren Lilien in einer ganz unüblichen Farbe. Nicht einmal beim Blumenhändler, der zweimal wöchentlich Lieferungen aus Holland und aus Gewächshäusern bekam, hatte sie solch außergewöhnliche Lilien gesehen.

»Hörst du das?«, fragte Julia auf einmal und zügelte ihr Pferd.

»Nein, was denn?« Nina verscheuchte eine weitere lästige Pferdebremse von ihrem Kopf.

»Das sind doch Stimmen!«

»Verdammt. Der Förster.« Nina wurde blass.

»Nein. Mehrere Stimmen«, korrigierte Julia.

Nina horchte angestrengt.

»Ich höre ein Jagdhorn!«, rief Julia aufgeregt und steuerte auf die Öffnung zwischen den Eichen zu, wo kein rot-weißes Absperrband gespannt war.

»Eine Treibjagd? Schnell weg hier!«

Es raschelte einmal im Gebüsch, und aus dem Unterholz, genau zwischen den Zwillingseichen, sprang ein riesiger Keiler hervor. Ninas Pferd machte einen Satz.

»WEG HIER!«, schrie Nina noch und preschte im Galopp fort.

Julia musste nichts tun. Ihre Stute folgte Ninas Pferd in einem Tempo, in dem Julia noch nie geritten war.

Sie bogen um zwei Rechtskurven, ihr Pferd strauchelte dabei. Julia hatte Angst zu stürzen und klammerte sich mit beiden Händen in der Mähne des Pferdes fest. Die Zügel hatte sie komplett vergessen. Mit mörderischer Geschwindigkeit jagten sie durch den Wald. Ninas Wallach war wesentlich schneller und nach der nächsten Kurve hatte Julia beide aus den Augen verloren.

Stattdessen tauchten die Zwillingseichen wieder vor ihr auf. War sie etwa im Kreis geritten? Und genau zwischen den Stämmen stand immer noch der Keiler. Julia sah die wunderschönen weiß-blauen Lilien zertrampelt zu seinen Füßen liegen.

Die Stute schien das andere Tier nicht wahrzunehmen. Sie galoppierte direkt darauf zu. Sie würde doch wohl nicht versuchen zwischen den beiden eng gewachsenen Eichen hindurchzulaufen? Nicht mit dieser Geschwindigkeit! Außerdem würden sie mit dem Wildschwein kollidieren! Julia versuchte die Stute zu bremsen. Sie zerrte an der Mähne, aber das Pferd reagierte nicht. Die Baumstämme waren nur noch ein paar Meter entfernt. Sah das Tier das Wildschwein denn immer noch nicht? Es würde gleich mächtig poltern und sie konnte es nicht verhindern.

Julia schlang ihre Arme um den Hals des Tieres, schloss die Augen und schrie.

2. Kapitel

EIN SELTSAMES ERLEBNIS

Der Knall. Wo blieb der Knall? Hätte sie nicht vor ein paar Sekunden mit einem riesigen Schwein zusammenprallen müssen? Julia blinzelte. Kein Wildschwein. Das war eine Erleichterung. Aber nur eine geringe, denn ihre Stute war durchgegangen.

Unfähig etwas dagegen zu unternehmen krallte sie sich einfach weiter an Sattel und Mähne fest und betete, das riesige Pferd möge bald von alleine anhalten – und das hoffentlich nicht erst am Rande eines Abgrundes.

So viel zu Ninas Behauptung ›fromm wie ein Lamm‹.

Nach einer Ewigkeit, wie es Julia vorkam, wurde Isobel langsamer und blieb schließlich schnaubend stehen.

Julia versuchte ihre verkrampften Hände zu lösen und ließ sich – ziemlich unelegant – vom Sattel gleiten. Am Boden versagten ihr die Beine. Sie knickten einfach weg wie die Grashalme unter ihren Füßen. Julia hatte ihren Haargummi verloren und strich sich nun mit einer Hand die strähnigen Locken aus dem Gesicht. Mit der anderen griff sie nach Isobels Zügeln. Beide Hände zitterten stark. Ihre Finger waren total verkrampft.

Offensichtlich war der Keiler weit genug entfernt, denn Isobel hatte zu grasen begonnen. Lammfromm. Mistvieh.

Julia horchte, hörte aber nichts. Keine Stimmen, kein Jagdhorn, nichts war mehr zu hören außer Vogelzwitschern und Laubrascheln. Wald, Bäume und Hecken überall, wohin man sah. Sogar die Grabungsstätte mussten sie weit hinter sich gelassen haben. Sie erkannte von der Umgebung nichts wieder. Umständlich, weil ihr die Finger noch immer nicht richtig gehorchten, suchte sie in ihrer Jackentasche nach dem Handy. Na bravo! Sie hatte es bei Nina vergessen.

Doch dann hob Isobel den Kopf, wieherte und begann unruhig zu tänzeln. Julia fasste die Zügel fester und spürte das Adrenalin zurückkehren, denn sie konnte aufstehen und sich sogar in den Sattel schwingen. Zu ihrer Erleichterung rannte Isobel nicht los.

Julia horchte noch mal. Es näherte sich ein anderes Pferd. Nina?

Ein Reiter kam in scharfem Galopp um das Gebüsch geritten.

Er hatte sie nicht gesehen und sein Pferd scheute erschrocken, stieg mit den Vorderhufen kurz in die Luft. Julia bemerkte neidisch, dass das dem Reiter nichts weiter auszumachen schien. Er hielt sich sicher im Sattel und beruhigte das Pferd so weit, dass es stehen blieb. Dann erst sah er den Grund für das Scheuen seines Hengstes.

Er starrte sie mit offenem Mund an. Ein paar Sekunden lang. Dann fasste er sich.

»Qu'est-ce que vous faites ici?«, fragte er in einem recht strengen Ton.

Julia hatte sich nicht so schnell im Griff. Sie starrte immer noch verblüfft zurück. Nicht weil er französisch sprach (das war doch Französisch gewesen, oder? Er hatte so schnell gesprochen …), sondern vor allem wegen seiner Aufmachung. Er war mit einem großen, federbesetzten Hut, Kniehosen, Stiefeln und einem Rock mit Rüschenbesatz bekleidet. Sein Pferd hatte einen silberbeschlagenen, aufwendigen Zaum und das Leder des Sattels war ziseliert. Ein elegantes Pferd, wie die Pferde in der Spanischen Hofreitschule. Genauso strahlend weiß gestriegelt, die Mähne und der Schweif sorgfältig eingeflochten.

»Nous vous avons demandé quelque chose!«

Ja. Definitiv Französisch. So ein Mist.

Julia klappte schnell den Mund zu und versuchte einen Satz zu formen. »Pardon«, setzte sie an, »je cherche le chemin vers Saxrath.« Verdammt, verdammt, verdammt. Sogar sie selbst konnte ihren deutschen Akzent deutlich heraushören. Aber wenigstens hatte der Mann erkannt, dass sie keine Französin war.

»Le chemin vers où?«, fragte er, nicht mehr streng, sondern verblüfft.

»Saxrath. Ähh … Dans le Eifel?«

Er sah sie an, als ob sie sich vor seinen Augen in einen Frosch verwandelt hätte. Dann begann er groß und breit irgendetwas zu erzählen und Julia musste sich eingestehen, dass ihr Französisch doch wesentlich miserabler war, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Irgendwann hörte er auf und sah sie erwartungsvoll an.

»Je n'ai pas compris quelque chose. Ich habe kein Wort verstanden«, erklärte sie hilflos mit den Achseln zuckend.

Das entlockte ihm einen missmutigen Laut.

»Suivez-nous«, sagte er, wandte sein Pferd und verschwand im Dickicht einiger Hecken.

Julia war unsicher, was sie jetzt tun sollte. Auf keinen Fall wollte sie in diesem düsteren Wald alleine und ohne Handynetz bleiben. Also folgte sie ihm. Sie ritten etwa zehn Minuten hintereinander, ohne ein Wort zu wechseln, ehe sie endlich den Waldrand erreichten. Erstaunt sah Julia, dass es sich nicht nur um eine Lichtung handelte. Sie kamen zu einem Becken in einer Allee, die zu einem Schloss führte. Das Schloss selbst war von Gerüsten umstellt.

Mal abgesehen von der Größe hätte es Versailles sein können. Sogar das riesige Wasserbecken in Form eines Kreuzes sah aus wie der Grand Canal.

Der Schulausflug nach Paris letztes Jahr hatte auch eine Tagestour nach Versailles beinhaltet. Zwischen Hunderten von asiatischen Touristen waren Julia und ihre Mitschüler durch den Park gewandert und hatten die Standardführung (Großes Gemach, Spiegelsaal, Schlafzimmer des Königs und der Königin) mitmachen müssen.

Während sich die meisten ihrer Mitschüler lediglich für die hohen Hecken und Haine interessierten, die sie zum Üben französischer Küsse genutzt hatten, war Julia von dem Prunk des Schlosses zutiefst beeindruckt. So viel Gold und Stuck und Opulenz. Sie war so begeistert gewesen, dass sie sich in den drei Stunden Aufenthalt so viel wie möglich angesehen hatte.

Die Schüler, die nicht knutschten, hatten eine kleine Tretboottour auf dem Grand Canal unternommen. Und dieses Becken hier direkt vor ihnen sah dem Grand Canal erstaunlich ähnlich. Zwar gab es keine Tretboote auf dem Wasser, aber eine … War das tatsächlich eine Galeere?

Jetzt hörte sie ganz eindeutig Stimmen. Männer und Frauen, die aufgeregt miteinander redeten. Sie folgte dem Reiter um akkurat angepflanzte Hecken.

Als die Menschenmenge endlich in Sicht kam, klappte Julia wieder der Unterkiefer runter. Etwa hundert oder mehr Personen – sie war sehr schlecht im Schätzen – warteten dort zu Pferd versammelt, und alle – wirklich alle – waren genauso gekleidet wie der Mann, der ihr voranritt. Die Damen trugen lange Kleider, ebenfalls befiederte Hüte und manchen hingen lächerliche Kringel über den Ohren bis auf die Schultern.

Die drehen einen Film!, überlegte Julia. Das war die Erklärung! Der Kanal war also künstlich angelegt, diese absonderlichen Klamotten Kostüme und die Degen, die alle Männer – einschließlich ihres Begleiters – an der Hüfte trugen, Requisiten. Und somit war das Schloss im Hintergrund, das kleiner war als Versailles – dem aber wirklich ähnelte –, eine Kulisse. Deswegen auch die Gerüste. Vielleicht war es nur eine Pappwand, die sie nachher mit Hilfe von Computergrafik echt aussehen ließen.

Die riesige Menschenansammlung vor ihr wurde nun auf sie aufmerksam und ein gespanntes Schweigen machte sich breit.

Julia wartete angespannt darauf, dass der Regisseur »Cut!« schreiend hinter irgendwelchen Kameras oder Strahlern herausgerannt kam, weil sich eine absolut unorthodoxe Person zwischen seine Darsteller geschlichen hatte. Sie sah an sich herab. Staat machte sie wahrhaftig nicht mit ihren dreckigen Jeans, den mit Matsch bedeckten Turnschuhen und einer vom Pferdestriegeln schmutzigen Daunenjacke in knalligem Pink, die aber die aufkommenden kühlen Herbstwinde wundervoll abhielt. Auf die Reitkappe hatte sie verzichtet. Was für ein Glück. Damit sah sie extrem albern aus.

Reitkappe hin oder her, alle starrten sie an. Noch nicht einmal wütend, weil sie die Dreharbeiten unterbrochen hatte, sondern eher fassungslos, als wären Julia Hörner gewachsen oder sie säße nackt auf dem Pferd. Schnell überzeugte sie sich, dass alles an Ort und Stelle und der Reißverschluss ihrer Jeans geschlossen war. Alles in Ordnung, stellte sie erleichtert fest und sah sich wieder um.

Die Kameras waren wirklich gut versteckt. Sie konnte nichts entdecken. Nicht einmal ein Kabel.

Ihr Begleiter hielt bei der Gruppe an und wandte sich dort an einen großen, dunkelhaarigen Mann. Sie sprachen auf Französisch miteinander und es war nicht schwer zu erraten, dass es in dem Gespräch um sie ging. Endlich drehte er sich wieder zu ihr um, und sie erriet mehr, als dass sie es verstand, dass sich nun der andere Mann weiter um sie kümmern würde. Dann teilte sich die Menge auffällig ehrfürchtig vor ihrem Begleiter und er ritt auf die Kulisse von Versailles zu, alle bis auf den dunkelhaarigen Mann im Tross.

Julia saß unschlüssig auf ihrem Pferd. Hatte sie ihn doch missverstanden und sollte folgen? Was wollte dieser andere Mann, der zurückgeblieben war, nun mit ihr tun? Er musterte sie unverhohlen. Julia starrte zurück.

Er war nicht unbedingt als gut aussehend zu bezeichnen. Eine feine Narbe zog sich quer über die linke Wange bis hin zum Kinn. Seine Kleidung war dezenter als die der anderen, wirkte aber dadurch wesentlich eleganter als die ihres anfänglichen Begleiters, die protziger und auffallender gewesen war. Dieser Mann hier hatte dunkle, füllige Haare, die unter dem ebenfalls federbesetzten Hut im Nacken zu einem Zopf geflochten waren. Bestimmt handelte es sich dabei um eine Perücke. So volles Haar war bei Männern äußerst selten. Julia wusste wegen dieser Perücke auch sein Alter nicht wirklich einzuschätzen. Dem Gesicht mit der Narbe nach hätte sie ihn auf dreißig geschätzt, aber seine Augen blitzten aufmerksam und lebendig wie bei einem Zwanzigjährigen. Sein blauer Rock stach von der cremeweißen, blitzsauberen Hose hübsch ab und seine Füße steckten in Stiefeln, die bis zu seinen Oberschenkeln reichten und aussahen wie das Schuhwerk der drei Musketiere.

Julia musste sich ein Lächeln verkneifen, als sie überlegte, was wohl ihre Mitschüler sagen würden, wenn sie diese seltsame Erscheinung so vor sich hätten. Der Mann verlagerte sein Gewicht ein wenig nach vorn, indem er sich mit einer Hand auf dem Bein ein wenig abstützte und mit der anderen die Zügel locker festhielt. Ein amüsiertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er sie weiterhin betrachtete.

»Seine Majestät findet wirklich die seltsamsten Dinge«, sagte er schließlich.

Julia fiel zum dritten Mal an diesem Tag die Kinnlade herunter.

Er hatte perfekt Deutsch gesprochen!

3. Kapitel

FRANKREICH

»Sie sprechen Deutsch?«, war das Einzige, was sie unsinnigerweise herausbrachte, als sie sich endlich wieder einigermaßen gefangen hatte.

»Ja, Mademoiselle. Ich nehme doch an, dass Ihr deutsch seid?« Er hatte eine markante Stimme. Ungewöhnlich tief und seltsam weich. Er musterte ihre Aufmachung nochmals von oben bis unten, ehe sein Blick an ihren Beinen hängenblieb.

»Für eine Madame bin ich wohl noch zu jung«, antwortete sie ohne die geringste Ahnung, worauf er hinauswollte. Er lachte und sie wusste immer noch nicht, woran sie war. War das eine Theateraufführung? Probten die Menschen hier für ein Stück? Das würde zwar die fehlenden Kabel erklären, aber immer noch nicht das Ausbleiben des zeternden Regisseurs.

»Folgt mir!«, unterbrach der Mann ihre Gedanken. Er trieb sein Pferd an und lenkte zum Schloss.

Und weil ihr nichts Besseres einfiel, ließ sie ihre Stute folgen.

***

Sie hatte Ninas Pferd einem Stallknecht überlassen müssen, der alles andere als vertrauenswürdig aussah. Er trug einen schmutzigen Frack, ein fleckiges, ehemals vielleicht weißes Hemd und Kniehosen mit Strümpfen und Holzpantinen. Aber was sie am meisten verwunderte, und es kostete sie eine Menge Selbstbeherrschung, es nicht zu zeigen: Der Stallknecht, der auf den Namen Lucien hörte, hatte schulterlange, ungepflegte Haare und ihm fehlten drei Schneidezähne. Das schien ihn aber keineswegs zu stören, denn er hatte sie frech angegrinst, als er ihre Stute beim Zügel packte und fortführte. Sie sah ihm unsicher nach.

»Sollte ich nicht …«

»Er wird sich gebührend um das Tier kümmern. Lucien ist einer der zuverlässigsten Knechte in ganz Versailles«, sagte der Mann mit dieser unverwechselbaren Stimme und ging vorweg. »Wenn nicht, hätte ich ihn längst entlassen«, fügte er hinzu.

Julia beeilte sich mit ihm Schritt zu halten. Auf dem Weg (wohin gingen sie eigentlich?) fiel Julia auf, dass es viele seltsam gekleidete Menschen gab. Die Frauen trugen lange, bis zum Boden reichende Röcke, Mieder über ihren Blusen und – Hauben, wie man sie aus dem Fernsehen in Die Hexen von Salem kannte. Manche hatten ein Schultertuch umhängen.

Ein Stück weiter entfernt fuhr eine Kutsche über einen großen gepflasterten Platz. Vierspännig und mit einem Wappen auf dem edlen schwarzen Holz der Tür; der Kutscher und der Lakai auf dem Bock in Livree.

Es gab junge Mädchen und Burschen, Mütter, die mit ihren Kindern an der einen Hand und einem Korb unter dem anderen Arm über den Platz eilten, Männer zu Pferd, vornehm gekleidete Herren, alte Greise, die einen Heuwagen lenkten, und jeder von ihnen schien genau zu wissen, wohin er ging. Und hier sah sie auch zum ersten Mal eine alte Frau mit Kropf. Ihr Biologielehrer hatte im Unterricht vor langer Zeit einmal erklärt, dass neue Medikamente für die Schilddrüse solche Missbildungen heutzutage nicht mehr aufkommen ließen. Zumindest nicht in Deutschland. Wo um Himmels willen war sie?

Wenn das ein Film war, war er sehr realistisch.

Der Mann, der die ganze Zeit vor ihr hergegangen war, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, erklärte unterwegs, der König wolle sie später wiedersehen, wenn sie anständig gekleidet war. Er habe noch ein paar Fragen an sie.

Obwohl der Mann Deutsch sprach, verstand sie nicht ein Wort. »Der König? Welcher König?«

Der Mann warf ihr einen skeptischen Blick zu und betrat durch ein Portal auf der rechten Seite das Schloss.

Eindeutig keine Kulisse, dachte Julia und klopfte prüfend auf die verkleidete Marmorwand, ehe sie ihm die Treppe hinauf folgte.

Er hatte ihre Bewegung gesehen.

»Die Treppe der Botschafter?«, überlegte Julia laut und versuchte irgendwo eine Steckdose auszumachen. Nichts. Sogar im Kronleuchter steckten Kerzen und keine Glühbirnen.

Jetzt drehte er sich zu ihr um und zog eine Augenbraue hoch. »Ihr wart schon einmal in Versailles?«

»Na klar. Aber beim letzten Besuch hatte die Touristeninformation geöffnet«, murmelte sie gedankenverloren, während sie die hübschen Wandmalereien betrachtete. Irgendetwas irritierte sie. Es dauerte mindestens die halbe Treppe, ehe ihr aufging, dass die Farben extrem frisch und viel bunter aussahen als letztes Jahr.

Sie folgte dem Mann weiter nach oben. Trotz der schweren Stiefel hatte er einen sehr schnellen Schritt. Er schien regelmäßig Sport zu treiben.

Eine Treppe, ein Gang, wieder eine Treppe, nochmals ein Korridor, um die nächste Ecke, ein Gang. Ständig begegneten ihnen Menschen in Kostümen. Manchmal waren die Kostüme einfach wie die der Komparsen unten im Hof, manchmal etwas aufwendiger und sauberer. Und einmal kam ihnen eine Dame entgegen, in weit ausladenden Röcken aus einem schillernden Stoff, wie ihn Julia nie zuvor gesehen hatte. Sie lächelte den Mann sehr zuvorkommend an und musterte Julia mit großen Augen. Julia betrachtete die aufwendige Frisur der Dame. Garantiert eine Perücke. Sie blieb stehen und sah ihr nach, bis die andere um eine Ecke verschwunden war. Dann beeilte sie sich den Mann wieder einzuholen.

Julia war außer Puste, als sie endlich vor einer Tür haltmachten. Sie mussten direkt unter dem Dach des Schlosses sein.

Das nächste Mal nehme ich den Fahrstuhl, dachte sie, als er die Tür öffnete und sie mit einer Handbewegung bat vor ihm einzutreten. Das Zimmer war größer, als Julia erwartet hatte. Ein großes französisches Bett (was auch sonst?), zwei Sessel, ein kleiner runder Tisch, ein schön verzierter Sekretär und ein Paravent, hinter dem eine riesige Truhe nur halbwegs verdeckt wurde, bildeten die gesamte Einrichtung. Es handelte sich um schöne antike Möbel, für die man mittlerweile wohl ein Vermögen bezahlte.

»Das gefällt mir«, sagte Julia mit aufrichtiger Bewunderung und strich über den zart gewebten und bestickten Stoff des Paravents.

»Vielen Dank, Mademoiselle«, sagte der Bewohner des Zimmers. »Ich glaube, wir haben uns noch nicht vorgestellt: Mein Name ist Etienne Camille Laurent Flémont, Graf de Montsauvan.« Dabei zog er seinen Hut und schwenkte ihn dreimal elegant vor ihr. Die lange Feder wippte dabei lustig.

Julia war unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Also hielt sie ihm die ausgestreckte Hand hin. »Julia Willwer. Sehr erfreut.«

Seine Augen funkelten belustigt, als er ihre Hand ergriff und diese galant küsste. Julia konnte spüren, wie sie rot wurde. Als sie ihm die Hand wieder entziehen wollte, hielt er sie fest und betrachtete – erneut stirnrunzelnd – ihre Finger.

»Ich glaube, ein Bad wäre jetzt genau das Richtige.«

Julia wurde noch heißer im Gesicht in Anbetracht der offensichtlichen Rüge. Was glaubte er denn, wie man aussah, wenn man ein Pferd gestriegelt und gezäumt hatte? Seiner sauberen und peniblen Kleidung nach zu urteilen hatte er noch nie die Hufe eines Pferdes ausgekratzt – und es immer diesem Lucien überlassen. Der hatte allerdings so ausgesehen, als schlafe er auch bei den Pferden.

Doch bevor sie Einwände erheben konnte, ließ er sie los, öffnete die Tür und sagte etwas zu jemandem im Flur. Dann wurde die Tür geschlossen und es geschah erst mal nichts. Sie musterten sich gegenseitig und Julia war das Schweigen ziemlich unangenehm.

»Wie soll ich Sie nennen? Etienne oder Laurent, und wie war der andere Name?«, versuchte sie ein Gespräch zu beginnen.

»Ihr werdet mich Montsauvan nennen«, korrigierte er sie.

Sie sollte ihn mit seinem Nachnamen anreden? Nur Montsauvan, oder wie?

So alt war er doch gar nicht. Höchstens dreißig. Nein, noch nicht einmal. In diesem schummrigen Licht, in dem die Narbe nicht so deutlich sichtbar war, wirkte er deutlich jünger.

»Herr Montsauvan?«, versuchte sie es zaghaft.

»Monsieur de Montsauvan«, stellte er richtig. »Wie hat Seine Majestät Euch gefunden?«

Seine Majestät? Schon wieder diese Anspielung auf einen Monarchen. Langsam hatte sie das Gefühl, veräppelt zu werden. Und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Die Schauspieler übertrieben ihre Rollen hier gewaltig.

»Wenn es der König war, der mich gefunden hat, wieso ist er alleine im Wald unterwegs gewesen? Müsste er nicht ein paar Bodyguards um sich haben?«, versuchte sie ihn auflaufen zu lassen. Leider zuckte Monsieur de Montsauvan nur unbeteiligt die Schultern.

»Ludwig XIV. ist ein passionierter Jäger. Kaum einer kann mit ihm mithalten. Bodyguards? Ihr sprecht auch Englisch?«

Julia war wie vor den Kopf geschlagen.

Ludwig XIV.?

Ludwig XIV.!

Versailles. Jagd. Und keine Lichtschalter, sondern Kerzenleuchter auf dem Nachttisch. Keine Fotos, sondern Gemälde und zwei kleine Miniaturen neben dem Bett an der Wand.

Das war kein Film.

Das war ein Traum.

Sie träumte. Ohne Zweifel. Genau wie der Traum letztens, als sie gejagt worden war. Aber das hier war besser. Nicht so hektisch und wesentlich angenehmer. Von dem peinlichen Moment vorhin, wie sie einer Horde Menschen in eleganten Kostümen vorgeführt wurde, mal abgesehen. Sie würde diesen Traum auskosten, so lange es ging. Mal sehen, was als Nächstes geschehen würde.

Montsauvan öffnete eine kleine Tapetentür, die sie bislang übersehen hatte. Noch ehe sie ihm folgen konnte, kam er wieder heraus und hielt ein Laken über dem Arm.

An der Tür zum Gang hin klopfte es.

»Entrez«, rief Montsauvan. Herein kam ein Diener in einer schwarzen, silberbestickten Livree. Er verbeugte sich und betrachtete Julia verstohlen. Der Lakai erhielt ein paar kurze französische Anweisungen (Julia verstand einzig das Wort bain, was so viel wie »Bad« bedeutete, meinte sie sich zu erinnern) und verschwand wieder.

»Was genau passiert denn jetzt mit mir?«, fragte sie, sobald sich die Tür geschlossen hatte.

»Ihr werdet gebadet, anständig gekleidet und frisiert und dann werden wir essen gehen. Und morgen soll ich Euch beim König vorstellen.«

Morgen? Dann wäre der Traum ja längst zu Ende. Sie wollte den König heute sehen!

»Können wir das Meeting nicht noch heute abhalten? Morgen werde ich doch wieder zu Hause sein.«

»Ach, Ihr wohnt in der Nähe?« Er zog überrascht eine Augenbraue hoch.

Julia war sich nicht sicher, ob er sich nicht schon wieder über sie amüsierte. Ein seltsamer Traum. »Ich weiß nicht«, antwortete sie kleinlaut. »Eigentlich nicht, wenn das hier Versailles ist.«

»Nun, offensichtlich seid Ihr doch aus Deutschland, nicht wahr?«, stellte er ohne große Kunst fest.

Sie nickte.

»Dann würde ich sagen, Ihr habt einen recht langen Weg hinter Euch und einen ebenso langen Weg wieder vor Euch. Bis dahin könnt Ihr Euch ausruhen und als Gast Seiner Majestät in Versailles bleiben. Das ist mehr, als manch einem Franzosen widerfährt. Ich gestatte Euch, hier in diesem Appartement zu übernachten, bis sich eine andere Bleibe für Euch findet. Zurzeit herrscht noch Platzmangel, wie Ihr Euch denken könnt. Und ein junges, hübsches Mädchen wie Ihr wäre sicherlich nicht gut beraten, auf den Treppen im Flur zu nächtigen.«

Damit war für ihn die Diskussion beendet. Julia wollte widersprechen. Sie sollte im Zimmer eines fremden Mannes übernachten? Eines Mannes, der so aussah? Und damit war nicht einmal sein Kostüm gemeint. Niklas wirkte gegen ihn wie Nils Holgersson gegen Clark Kent.

Melanie, dieses Flittchen, hätte mit Sicherheit nichts dagegen einzuwenden, das Zimmer mit einem solchen Mann zu teilen. Und wer sagte, dass die Treppen nicht tatsächlich sicherer waren? Was wusste sie schon über diesen Mann? Er konnte Deutsch sprechen. Punkt. Abgesehen davon hatte er eine Narbe im Gesicht, die alles andere als vertrauenerweckend aussah. Ihm fehlte nur noch ein Tattoo am Hals und er wäre die ideale Besetzung für jeden weiteren Fluch der Karibik-Film. Wer weiß? Vielleicht hatte er sogar eines unter diesem Jabot oder wie auch immer diese flauschigen Krawatten hießen.

Doch ehe sie etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür und hintereinander betraten zehn Lakaien in unterschiedlichen Livreen mit Eimern voll heißen Wassers den Raum. Sie gingen einer nach dem anderen in den Nebenraum und kamen mit leeren Eimern wieder heraus. Als die Männer alle verschwunden waren, klopfte es erneut und ein Mädchen, das in etwa in Julias Alter war, betrat die Kammer. Monsieur de Montsauvan wechselte ein paar Worte mit ihr, dann wandte er sich wieder an Julia.

»Das ist Sophie. Sie wird Euch beim Baden behilflich sein und Euch frisieren. Ich werde in der Zwischenzeit versuchen ein Kleid für Euch aufzutreiben.« Er musterte ihre pinke Daunenjacke.

»Die ist sehr …«

»Warm?«, half ihm Julia weiter, als er den Satz nicht vollendete.

»Schmutzig, wollte ich eigentlich sagen, suchte aber nach einem schmeichelhafteren Wort. Möchtet Ihr sie Sophie zum Waschen überlassen?«

Julia zögerte und schämte sich bereits für ihre Aufmachung. Der Mann war trotz Ausritt nicht nur sauber, nein, nicht einmal seine Haare waren windzerzaust oder seine Stiefel beschmutzt – trotz des vielen Strohs und Unrats im Hof. Sie blickte auf ihre Turnschuhe. Ehemals weiß, jetzt braun und grau, und am linken Fuß stachen Grashalme hervor. Wie peinlich.

Sie hatte sich für die schmutzige Arbeit im Stall alte, abgetragene Kleidung angezogen und teilweise waren die Sachen auch schon etwas klein, da ihr Brustumfang im letzten Jahr erheblich zugenommen hatte. Dementsprechend hatte sie ein zu enges Shirt an, unter dem sich ganz genau ihre Brüste abzeichneten.

Ohne sie vorzuwarnen, zerrte Montsauvan an ihrer dicken Daunenjacke und die Druckknöpfe sprangen auf. Montsauvans Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, als er sie von oben bis unten musterte.

Endlich sagte er mit dieser tiefen, samtigen Stimme: »Wisst Ihr, Mignonne, Ihr habt wahrhaft verborgene Reize«, dann ließ er sie mit dem Mädchen, das er Sophie genannt hatte, allein.

***

Kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war, begann die vorhin noch so stille Sophie zu plappern. Nur leider auf Französisch und Julia verstand kein einziges Wort. Aber das war anscheinend auch nicht so wichtig, denn Sophie verlangte keine Antwort. Julia wurde in den Baderaum geschoben und Sophie begann Julia zu entkleiden, ohne ihr Geschnatter zu unterbrechen.

Dann aber verschlug es Sophie plötzlich die Sprache. Sie begutachtete mit offenem Mund die Jacke und strich immer wieder über den Stoff (beziehungsweise die Synthetik). Vor allem die Knöpfe hatten es ihr angetan: Sie drückte sie auf und zu und auf und zu. Mindestens zehn Mal, ehe sie sich wieder Julia zuwandte und ihr das Shirt ausziehen wollte.

Sogar in diesem merkwürdigen Traum genierte sich Julia und bedeutete ihr, sie würde das alleine erledigen.

Der Baderaum war klein, aber geräumig genug für eine Gussbadewanne, einen Lehnstuhl mit Ledersitz, ein Lavabo und ein kleines Tischchen mit Spiegel, auf dem sich Rasierutensilien und diverse Fläschchen, Seife und Tiegelchen befanden. Die Französin entkorkte einige der Fläschchen und roch daran, bis sie sich schließlich für eines entschied, das einen blumigen Duft enthielt. Davon schüttete sie etwas ins Wasser.

Julia hatte bis auf die Unterwäsche alle Kleidungsstücke abgelegt und stand ratlos und etwas beschämt neben der ungemütlich aussehenden Wanne. Als Sophie sich umdrehte und ihr Blick auf Julias Unterwäsche traf, drohten ihr die Augen aus dem Kopf zu fallen. Ihr entfuhren nur zwei Worte und dieses Mal verstand Julia sie.

»Mon Dieu!«

Endlich fasste sich das Mädchen wieder und bedeutete ihr in die Wanne zu steigen, ehe das Wasser kalt wurde. Julia kam ihrer Aufforderung, wenngleich ein wenig zögernd, nach. Die Badewanne war wesentlich bequemer, als sie von außen aussah. Das Wasser war allerdings nur lauwarm. Wenn Julia an all die Treppen dachte, die die Lakaien mit den Eimern hatten laufen müssen, war das nicht weiter verwunderlich. Aber dafür duftete das Rosenöl sehr gut. Sophie begann ihr die Haare zu waschen. Dafür hatte sie ein weiteres Tiegelchen vom Frisiertisch genommen.

Wenn das hier ein Traum war, so war dieser Teil wirklich sehr gut. Der könnte noch etwas länger dauern. Julia entspannte sich ein wenig und schloss die Augen.

Doch schon nach wenigen Minuten war die Erholung vorbei. Sophie begann ihr die Augenbrauen zu zupfen. Das war sehr unangenehm, ziepte und Julia nieste zweimal. Sollte sie nicht langsam aufwachen?

Aber nein, der Traum ging weiter, sogar als Sophie ihr gnadenlos kaltes Wasser über den Kopf kippte, um die Seife auszuwaschen. Julia hatte die Bemühungen, ein Gespräch zu führen, aufgegeben. Ihr Französisch war so unzureichend, sie verstand nichts von dem Geplapper – und Sophie verstand nichts von dem, was Julia zu sagen versuchte.

Die Tür in der Nebenkammer öffnete sich und schwere Schritte waren zu vernehmen, die nur einem Mann gehören konnten, höchstwahrscheinlich dem Bewohner dieser Räumlichkeiten.

Entsetzt sah Julia auf. Würde er hier hereinkommen? Immerhin war das sein Appartement. Die Rasiersachen zeigten das ganz deutlich.

Zu ihrer Erleichterung blieb er draußen und rief etwas auf Französisch durch die geschlossene Tür. Dann entfernten sich seine Schritte wieder. Das Mädchen drängte Julia, aus der Wanne zu steigen. Sie wurde in ein Leinentuch gewickelt, das bei weitem nicht so kuschlig war wie ein Frotteehandtuch und auch nicht so warm. Mittlerweile war ihr sogar richtig kalt und eine Gänsehaut überzog ihren Körper.

Als Sophie das sah, ließ sie kurz von ihr ab, kniete sich vor einen Kamin, der Julia bisher noch nicht aufgefallen war, und machte Feuer. Wenige Minuten später brannte es schon. Julia trocknete sich ab und Sophie bürstete anschließend ihre Haare vor dem Feuer, bis sie fast trocken waren. Dann steckte sie sie kunstvoll auf. Zum Glück ohne diese lächerlichen Kringel um die Ohren. Daraufhin verschwand die junge Dienerin im Nebenraum, um kurz darauf mit Kleidungsstücken wiederzukommen, die sich dermaßen hoch auf ihren Armen türmten, dass sie nicht darüber hinwegsehen konnte.

Und so geschah es, dass Julia zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Mieder geschnürt wurde. Was ihr gar nicht behagte, denn sie bekam kaum Luft. Jede weitere Bewegung ließ etwas knacken, hoffentlich waren das keine Rippen, die gerade brachen. Zumindest sämtliche Organe mussten sich verschoben haben.

Aber als sie wenige Minuten später in das wunderschöne Kleid aus dunkelgrünem Brokat mit Silberstickerei am Mieder und weißer Spitze an den Ärmeln passte, vergaß sie das angestrengte Atmen. Es sah wundervoll aus. Prachtvoll, traumhaft und sehr majestätisch. Julia erkannte sich in dem Spiegelbild nicht wieder. Ihre blonden Haare waren fast zur gleichen Frisur gesteckt, wie die Dame vorhin im Korridor sie getragen hatte. Diese Frisur schmeichelte ihrem herzförmigen Gesicht. Und die nun in schön geschwungene Bögen gezupften Brauen brachten ihre grauen Augen richtig zur Geltung.

Zum ersten Mal, seit ihre Figur sich weiblich verändert hatte, war sie froh darüber. Dank dem eng geschnürten Mieder hatte sie eine schmale Taille und das Dekolleté wirkte zwar sehr damenhaft, aber zum Glück nicht zu freizügig. Melanie hätte in das Korsett ein ganzes Handtuch stopfen müssen, um so auszusehen.

Schade, dass es ein Traum und kein Film war. In dieser Aufmachung hätte Julia die DVD später in Endlosschleife laufen lassen. Sie nahm sich vor, diesen sonderbaren und zugleich wunderschönen Traum aufzuschreiben, sobald sie wach war. Hoffentlich konnte sie sich an alle Details erinnern.

***

Monsieur de Montsauvan hatte in der Schlafkammer in einem Sessel gelesen, als Julia eintrat. Als er sie erblickte, sprang er sofort auf.

Ein Graf!, schoss es Julia durch den Kopf. Ein echter Graf. Dieser junge Mann mit der entstellten Wange war ein Aristokrat. Sie hatte noch nie jemanden mit blauem Blut kennengelernt.

»Ihr seht hinreißend aus, Mademoiselle«, sagte er, ergriff ihre rechte Hand und küsste die Fingerspitzen. Julia wurde rot. Seit sie ein Teenager war, hatte niemand mehr zu ihr gesagt, sie sähe gut aus, geschweige denn ihr die Hand deswegen geküsst. Sie konnte sich auch schwerlich einen ihrer Klassenkameraden vorstellen, der ihr eine solche Geste zukommen lassen würde. Allenfalls würden die sagen: »Coole Aufmachung.«

Die Aufmerksamkeit eines so attraktiven Mannes machte sie verlegen. Und wieder überlegte sie, wie alt er sein mochte.

»Ich sehe eigentlich nie besonders gut aus«, murmelte sie, den Blick zu Boden gesenkt.

Doch Montsauvan unterbrach sie mit strenger Miene: »Eine der Regeln im Leben einer Dame ist es, niemals einem Kavalier ein Kompliment abzuschlagen. Wenn Euch einer der Edelmänner schmeichelt, dürft Ihr lächeln, Schüchternheit vortäuschen und Euch artig bedanken. Und erzählt mir nicht, es sei Euch unangenehm, in dieser Aufmachung bewundert zu werden. Jede Frau liebt Komplimente und möchte bestätigt bekommen, dass der Aufwand ihrer stundenlangen Toilette sich auch gelohnt hat. Das Kleid steht Euch wunderbar und hebt die Schönheit hervor, die unter den Hosen und dem Stallschmutz kaum zu erkennen war.«

Julia errötete noch mehr. Aber aus Scham. Mit zusammengebissenen Zähnen und deutlich ironischem Unterton sagte sie: »Danke, Monsieur.« Dann sah sie ihn direkt an. »Monsieur de Montsauvan, ich habe eine Frage. Welches Jahr haben wir?«

»Ihr müsst lange unterwegs gewesen sein, wenn Ihr nicht einmal mehr das Datum wisst«, bemerkte der Graf lächelnd.

»Wahrscheinlich länger, als ich selber angenommen habe«, murmelte sie. »Also?«

»Wir haben den 18. Oktober im 25. Regierungsjahr Seiner Majestät.«

Ratlos runzelte Julia die Stirn. »Und was heißt das genau? Ich meine, welches Jahr nach dem gregorianischen Kalender?«

»1677.«

4. Kapitel

1677

Julia holte tief Luft– soweit das in diesem Mieder möglich war.

»1677. Dann ist das Edikt von Nantes noch intakt. Und Versailles ist…« noch lange nicht fertig gebaut, hatte sie sagen wollen, konnte es aber im letzten Moment zurücknehmen. Sie stellte fest, dass ihr Geschichtsunterricht sich gelohnt hatte. Sämtliche Daten und Personen von jetzt und der unmittelbaren Zukunft gingen ihr durch den Kopf. Schließlich blieb ihr Blick an dem Mann vor ihr hängen: die perfekte Verkörperung eines Edelmannes im absolutistischen Frankreich. Die Schnallenschuhe mit den roten Absätzen, die blauen Strumpfhosen in Kniebundhosen, eine Weste und drüber ein langer Gehrock in einem passenden blauen Farbton.

Ungläubig betrachtete sie den Grafen nun mit anderen Augen. Im Gegensatz zu den verklärt romantisierten Gemälden war das hier ein Mensch aus Fleisch und Blut. Er hatte blaue Augen, die sie durchdringend ansahen und im Kontrast zu den dunkelbraunen Haaren standen, einen schön geschwungenen, sinnlichen Mund und eine lange Nase, die aufgrund der leichten Krümmung wohl einmal gebrochen gewesen war. »Aristokratenrüssel«, hatte ihr Geschichtslehrer einmal zu dem Bildnis eines Mannes mit einer ähnlichen Nase gesagt. Die von der Narbe versehrte Gesichtshälfte lag im Schatten. Er sah aus wie ein ganz normaler Mensch. Nicht wie eines der faltenfreien und idealisierten Porträts aus dieser Zeit.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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