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Es ist wirklich nicht leicht, die Auserwählte der Elfenwelt zu sein, wie Felicity Morgan täglich feststellen muss. Statt der erwarteten Lobeshymnen steht sie jetzt plötzlich unter Mordverdacht und der Elfenkönig ist persönlich hinter ihr her. Da hilft es auch nicht wirklich, Leander FitzMor, den bestaussehendsten Typen Londons, an seiner Seite zu haben, vor allem nicht, wenn man sich seiner Absichten nie ganz sicher sein kann. Wie gut, dass Felicity ihr Herz ohnehin schon an den attraktiven Filmstar Richard Cosgrove verloren hat. Nur leider kann er ihr nicht weiterhelfen, als sie plötzlich im Versailles des achtzehnten Jahrhunderts erwacht… //Alle Bände der erfolgreichen Elfen-Reihe: -- Die Pan-Trilogie 1: Das geheime Vermächtnis des Pan -- Die Pan-Trilogie 2: Die dunkle Prophezeiung des Pan -- Die Pan-Trilogie 3: Die verborgenen Insignien des Pan -- Die Pan-Trilogie: Band 1-3 -- Die Pan-Trilogie: Die Pan-Trilogie. Band 1-3 im Schuber -- Die Pan-Trilogie: Die magische Pforte der Anderwelt (Pan-Spin-off 1) -- Die Pan-Trilogie: Das gestohlene Herz der Anderwelt (Pan-Spin-off 2) -- Die Pan-Trilogie: Der Sammelband der Anderwelt-Dilogie (E-Box des Pan-Spin-offs)//
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Im.press Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2013 Text © Sandra Regnier, 2013 Betreuendes Lektorat: Pia Trzcinska Redaktion: Evi Draxl Umschlagbild: shutterstock.com / © Melpomene (Mädchen)/ © melis (Versailles)/ © Madlen (Flügel) Umschlaggestaltung: formlabor Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck Schrift: Alegreya / Juan Pablo del Peral
Für Andreas.
Ohne deine Unterstützung und Geduld wären Lee und Felicity nie so weit gekommen.
Ich hatte ihr Unrecht getan.
Mein erster Eindruck von Felicity Morgan war nicht der beste gewesen. Bei unserer ersten Begegnung trug sie ein T-Shirt mit der Aufschrift »Sexgott« und ihre Haare hatten ausgesehen, als hätte sie ein Griff in die Steckdose geföhnt. Die Zahnspange, zehn Kilo zu viel und das vorlaute Mundwerk hatten auch nicht wirklich attraktiv gewirkt.
Aber sie war die Retterin der Elfen, die Prophezeite. Meine zukünftige Braut. Deswegen wollte ich sie besser kennenlernen.
Tatsächlich bot Felicity Morgan mehr Facetten als ein Fabergé-Ei.
Sie war faszinierend und ich verstand nach einer Woche sehr gut, warum ihre Freunde sie so sehr schätzten. Ihr Humor war subtil und nie verletzend, ihre Loyalität unerschütterlich.
Genau wie ihr Mut. Bei einem plötzlichen Zeitsprung ins achte Jahrhundert wäre jeder andere Teenager zusammengebrochen. Egal aus welcher Epoche er stammte. Ich hatte viele Menschen kennengelernt, seit ich auf der Welt war. Aber Felicity hatte nicht nur stoisch den Zeitsprung ertragen, sondern sich behauptet. Sie war entführt worden und hatte das Vertrauen Karls des Großen erlangt.
Den Mord, den man ihr anhängte, als wir zurück im einundzwanzigsten Jahrhundert waren, konnte sie unmöglich begangen haben. Nicht Felicity. Ich würde ihn eher jedem anderen am Horton College in London zutrauen, aber niemals Felicity.
Deswegen musste ich den Mörder finden und Felicity in Sicherheit bringen. Prophezeite hin oder her, wenn König Oberon von ihrer Schuld überzeugt war, würde er das Buch der Prophezeiung ignorieren.
Das Buch der Prophezeiung war wie das Orakel von Delphi – ungewiss. Man musste seine Seiten interpretieren, was in der Vergangenheit schon zu Fehlentscheidungen geführt hatte. Nein, auf das Buch der Prophezeiung würde König Oberon nichts geben.
Ich musste den tatsächlichen Mörder entlarven.
Aber erst musste ich Felicity in Sicherheit bringen. Sie war zu kostbar und tausendmal mehr wert als jede Nymphe, der ich in meinen dreihundertzwanzig Jahren begegnet war.
Richard Cosgrove, der attraktivste Schauspieler der Welt, sah mich mit seinen wunderschönen, grauen Augen an. Er strich mir eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Anschließend zog er seine Hand nicht zurück, sondern streichelte mit zarten Fingern mein Haar, dann meinen Nacken und sagte: »Wer hätte gedacht, dass du schnarchst.«
Ich schlug die Augen auf. Eisblaue Augen mit einem markant dunklen Rand sahen mich verschmitzt an.
»Na, endlich. Ich dachte schon, du wärst ins Koma gefallen.«
Lee! In meinem Bett? Neben mir? Ruckartig setzte ich mich auf.
»Was tust du hier?«
»Wir sind geflüchtet, weißt du noch?«
Das war nicht mein Schlafzimmer. Eine rosafarbene Blümchentapete schmückte die Wände und wir lagen in einem dazu passenden stoffbezogenen Bett. Lee und ich.
Und sein Oberkörper war nackt.
Entsetzt sah ich an mir hinunter. Ich trug nichts außer meiner Unterwäsche. Sofort zerrte ich die Decke hoch.
»Verdammt! Ich kann mich an nichts mehr erinnern.« Das stimmte. Das Letzte, was ich noch wusste, war … Ja, was?
Lee hatte mich nicht aus den Augen gelassen. Er fuhr sich durch seine dichten, blonden Haare und ich sah seine spitzen Ohrmuscheln. Schlagartig fiel mir wieder alles ein: Lee war ein Elf. Ein Halbelf, um genau zu sein. Und er konnte in der Zeit springen, um Kriminalfälle zu lösen. Ich war mit ihm gesprungen. Zumindest ins Mittelalter. Das hier war definitiv nicht mittelalterlich. Nicht mit der verstaubten Lampe und Wasserrändern auf der Rigipsdecke.
»Das ist nicht der Hof von Karl dem Großen«, stellte ich fest und fühlte den synthetischen Stoff der Bettdecke.
»Nein. Wir sind in einem Bed & Breakfast in Yorkshire. Bist du beim Aufwachen eigentlich immer so neben der Spur?« Lee zog sich hoch und lehnte sich lässig an das bezogene Bettoberteil.
Wie schaffte er es nur, auf einem rosa geblümten Stoff so männlich und sexy zu wirken? »Willst du mir nicht endlich erklären, was wir in Yorkshire tun? Und wie wir hierherkommen? Und weshalb du neben mir im Bett liegst!?« Ich sah mich auf dem Boden neben dem Bett nach meinen Klamotten um. Wo hatte ich mich ausgezogen? Wieso wusste ich nichts mehr davon?
»Ich habe dich ausgezogen. Du warst so gut wie bewusstlos. Die Sachen liegen dort hinten auf dem Stuhl.«
Ich drehte mich zu Lee um. Er bemühte sich wenigstens um ein unschuldiges Gesicht. Aber es gelang ihm nicht ganz. Um seine Augenwinkel zwinkerte es verdächtig. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. Lee hatte mich in die geheime Welt der Elfen eingeweiht, die kein Mythos war. Leider. Und irgendwas ist danach passiert. Irgendwas Wichtiges … Ich schlug die Augen wieder auf. Die Botschaft. Ich war des Mordes angeklagt worden! Die Elfen suchten nach mir. Lee war mit mir geflüchtet.
»Verdammt, wir müssen weg.« Es war mir egal, was Lee sah, ich sprang aus dem Bett und begann hektisch meine Hose auf rechts zu drehen.
Gerade als ich aus der Tür huschen wollte, schnellte ein Arm vor meine Nase und stoppte mich abrupt.
»Mach langsam, Fay«, sagte Lee. »Wir sind hier momentan in Sicherheit. Auf alle Fälle haben wir Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Vielleicht können wir sogar noch ein oder zwei Tage bleiben.«
»In Yorkshire? Was sollen wir hier?«, fragte ich entsetzt.
Lee beugte sich über mich. Mit seiner Größe und seiner Ausstrahlung machte er damit nicht wenig Eindruck. »Nachdenken und den nächsten Schritt planen.«
Ich schluckte und nickte, gab mich geschlagen. Lee umfasste meine Schultern und ich roch seinen würzigen, unverwechselbaren Duft. Aber gleichzeitig durchzuckte mich ein leichter Stromschlag. Sofort ließ er mich los.
»Okay. Dann lass uns frühstücken. Ich habe Hunger … Oh, oh. Ich glaube, das muss warten. Ich bekomme soeben eine Nachricht.« Nur mit Boxershorts bekleidet ging er zum Tisch an seiner Bettseite. Dort lag das kleine goldene Instrument. Sein Karfunkel. Eine Art Elfenhandy. Es blinkte. Lee sah mich an. Seine Augen waren groß, sein Mund zusammengekniffen. »Sie wissen Bescheid.«
Ich sackte am Türrahmen zu Boden.
Zwei Wochen zuvor
Ich sah Lee sofort. Kein Wunder. Er überragte nicht nur sämtliche Schüler, seine Aura ließ auch alle anderen im Schulflur ehrfurchtsvoll zur Seite weichen.
Ich hatte ganz vergessen, wie Lee auf seine Umgebung wirkte. In den letzten drei Wochen waren wir so oft zusammen gewesen, dass ich gegen seine engelhafte Schönheit praktisch immun geworden war. Seit unserem unfreiwilligen einwöchigen Ausflug ins achte Jahrhundert hatten wir die ganzen Weihnachtsferien hindurch quasi Tag und Nacht aufeinandergehockt. Von meiner Seite aus nicht unbedingt immer freiwillig. Nachdem mich der Hof des Elfenkönigs Oberon des Mordes an einem ihrer Wachmänner verdächtigt hatte, war Lee mir kaum mehr von der Seite gewichen. Vor zwei Tagen war er dann aufgebrochen, um den Kronrat der Elfen von meiner Unschuld zu überzeugen. Ausgerechnet zu Schulbeginn.
Die ersten beiden Tage nach den Weihnachtsferien hatte ich also allein auf unserer Schulbank gesessen. Das würde heute anders sein. Ich war schon nervös aufgewacht. Das Wissen, Lee heute wieder zu treffen und die Entscheidung des Kronrates zu erfahren, hatte alles andere aus meinem Gehirn verdrängt.
Verdrängt hatte ich also auch, dass Lee auf die meisten Menschen weiblichen Geschlechts eine ganz besondere Anziehungskraft ausübte. Ich sah, wie ihm die Mädchen aus den oberen Jahrgängen sehnsüchtig nachstarrten. Einer anderen rutschte die Tasche von der Schulter. Zwei rempelten Passanten an, weil sie nicht mehr nach vorne schauten. Die Schulschönheit Felicity Stratton warf geübt ihre wallende Mähne nach hinten und das Dekolleté nach vorn. Ich wusste, dass Lee das alles um sich herum sehr wohl registrierte, aber ignorierte. Er sah nur mich an.
War das peinlich!
Wahrscheinlich dachte nun jeder, wir wären in irgendeiner Form liiert. Wenn ich nicht so brennend auf seine Neuigkeiten gespannt wäre, würde ich mich umdrehen und davonrennen. Ich sah sein breites Grinsen und seine weißen, gleichmäßigen Zähne aufblitzen. Er hatte meine Gedanken aus sieben Metern Entfernung lesen können.
»Morgen, Morgan! Ich sehe, du bist hin und weg mich zu sehen.« Er legte jovial einen Arm um mich und berührte meinen Hals.
Sofort sprangen wir beide erschrocken auseinander.
»Entschuldige. Ich hab’s vergessen.«
Wie immer, wenn Lee mich berührte, hatte uns beide eine Art Stromschlag getroffen.
»Wow!«, sagte Phyllis neben uns. »Ich hab einen Funken gesehen.«
»Ja, aber irgendwie scheint der bei Felicity noch nicht übergesprungen zu sein«, meinte Jayden trocken.
»Das trifft mich tief«, sagte Lee und legte theatralisch eine Hand auf seine Brust. »Vielleicht könnte ich dich überzeugen, wenn du mal schnell mit mir in die Toilette verschwindest?«
Seine Dreistigkeit kannte wirklich keine Grenzen.
»Das ist nicht sonderlich romantisch, Lee.« Ruby schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Nimm lieber den Lagerraum vom Kunstsaal.«
Wir starrten sie alle gleichermaßen groß an. Aber die kleine, zartgliedrige Ruby lächelte nur unschuldig und zuckte unbekümmert mit den Schultern.
»Guter Tipp.« Lee fasste sich als Erster und ergriff meine Hand. Er ließ sie trotz des leichten Impulses, der uns wieder durchzuckte, nicht los und riss mich mit sich.
Ich warf einen Hilfe suchenden Blick auf meine Freunde – Phyllis, Ruby und Corey sahen uns grinsend nach, Jayden und Nicole stirnrunzelnd.
»Du kannst mich doch nicht vor versammelter Mannschaft in einen abgelegenen Raum zerren!«, widersprach ich und versuchte mich aus seinem Griff zu winden. Keine Chance. Ich wusste, er setzte Magie ein, um seine Kraft zu verstärken.
»Es wäre wesentlich unauffälliger, wenn du dich nicht so sträuben würdest«, erklärte er gelassen und ging weiter, als merke er nicht, dass ich alles daransetzte freizukommen.
Wir hatten den Lagerraum erreicht und Lee schloss die Tür hinter uns. Ruby hatte Recht: Für ein romantisches Stelldichein war das hier der perfekte Ort. Überall stapelten sich Papiere in allen Farben, bunte Girlanden und Lichterketten hingen von der Decke und eine riesige Kiste quoll über von Schaumstoff und Pappe. Sogar ein paar Papppalmen und –bäume zierten die hintere Wand.
Ich stellte mich in die gegenüberliegende Ecke.
Lees Grinsen wurde breiter.
»Ehrlich, Fay, ich werde hier doch nicht über dich herfallen. Dazu hatte ich doch jede Gelegenheit, als du noch bei mir gewohnt hast.«
Das stimmte. Ich entspannte mich ein wenig.
»Obwohl du zu der Zeit noch nicht so hübsch warst wie jetzt.« Er musterte mich von oben bis unten.
Sofort ging ich wieder in Habachtstellung. Das war mir äußerst unangenehm. Auch wenn ich in der letzten Zeit durch regelmäßiges Joggen und die von den vielen Ereignissen verursachte Appetitlosigkeit schmaler geworden war und meine Zahnspange endlich hatte abgeben können, mochte ich diese Art von Blick immer noch nicht.
»Komm zurück auf den Boden, FitzMor!«, fauchte ich und umfasste den Träger meines Rucksacks fester. »Ich denke, wir haben ernstere Dinge zu besprechen.«
Sofort verschwand sein jungenhaftes Grinsen. »Stimmt. Fürs Erste konnte ich dich vor dem Kronrat verteidigen. Immerhin geschah der Mord, während du mit mir gemeinsam im achten Jahrhundert warst.«
Ich fühlte, wie sich mir der Magen umdrehte. »Aber du warst nicht die ganze Zeit bei mir«, wandte ich ein.
»Connor starb, als wir im achten Jahrhundert waren. Zeitsprünge so gezielt über einen so großen Zeitraum hinweg durchzuführen ist ein kompliziertes Unterfangen und bedarf jahrelanger Übung. Und du hattest überhaupt keine Ausbildung.«
»Aber wir waren dort nicht die ganze Zeit über zusammen«, beharrte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Was mich viel mehr stutzig macht, ist, dass Connor kurz vor seinem Mord in Versailles gewesen war, kurz vor der Revolution. König Oberon und der Kronrat haben andere Kommissare dorthin geschickt, um herauszufinden, was der Wachmann dort wollte. Hoffen wir, dass sie etwas herausfinden.«
Ich atmete tief ein. »Also bin ich nicht ganz aus dem Schneider.«
»Nein. Aber nur keine Bange«, versuchte Lee mich zu beruhigen. »Das bekommen wir schon hin.«
»Wie? Ich habe angeblich einen Elfen brutal zerstückelt. Er hat, bevor er starb, meinen Namen mit seinem Blut geschrieben und ich habe kein Alibi. Wie willst du das hinbekommen? Hast du die Anwälte von O. J. Simpson engagiert?«
»Meine Güte, Fay, beruhige dich. Auch wenn du kein Alibi hast, wissen sie doch, dass du zu der Tatzeit im achten Jahrhundert in Germanien warst. Sie sind sich unschlüssig, wie jemand Untrainiertes es überhaupt schafft, in der Zeit hin und her zu springen. Ich habe dir schon einmal erklärt, dass es mich jahrelange Übung gekostet hat.«
Unter diesen Gesichtspunkten würden sie mir vielleicht glauben. Ich war nicht nur untrainiert, ich schlug komplett aus der Art. Vor mir hatte noch kein Mensch die Zeit überwunden. Sogar Elfen konnten nur begrenzt durch die Jahrhunderte springen. Genau genommen bis zum Tag ihrer Geburt. Das war bei Lee das Jahr 1692. Ich hatte ihn weitere achthundert Jahre zurückkatapultiert. Leider wusste niemand, wie. Ich war ein Präzedenzfall. Darauf hätte ich gut verzichten können. Vor allem, weil ich ein Mensch war und kein Elf mit magischen Fähigkeiten.
»Sag mal, hast du schon ein Ballkleid?«
Ich sah Lee verständnislos an. »Wieso? Reisen wir auch nach Versailles, um nachzuforschen?«
Er rollte die Augen. »Nein. Das können andere übernehmen. Du erinnerst dich doch hoffentlich daran, dass in drei Wochen der Schneeflockenball an der Schule stattfindet? Ich käme mir ziemlich blöd vor, wenn meine Begleitung mich versetzen würde. Soll ich Flo beauftragen?«
Flo alias Florence war eine Stylistin und sie hatte mich bereits zweimal auf Lees Anweisung hin ausstaffiert.
»Nicht nötig«, sagte ich schnippisch. »Es ist zwar nicht Valentino, aber es passt.« Mit Genugtuung sah ich Lees Augen ängstlich zucken. Glaubte er wirklich, ich würde mich in rosa Tüll kleiden? Und dann neben ihm, dem ungekrönten König des Horton Colleges, so auftreten? Schnell dachte ich an ein scheußliches, senfgelbes Kleid mit Goldpailletten, dessen giftgrüner Rock in kitschigen Rüschen zu Boden fiel.
Jetzt wurden Lees Augen riesig. Ich sah ihn schwer schlucken.
Ich lachte. »Das hast du davon, wenn du ständig in meinen Gedanken rumhängst. Vertrau mir doch einfach.«
»Fay, es ist noch nicht zu spät. Du weißt, ich könnte …«
Ich ließ ihn einfach stehen.
»Fay, bitte … Gelb und Grün sind nicht unbedingt deine Farben.«
Ich drehte mich noch einmal zu ihm um und hob unschuldig eine Augenbraue. »Aber ich fand, es harmoniert mit deiner blonden Mähne.« Damit ließ ich ihn stehen. Ehe die Tür endgültig ins Schloss fiel, hörte ich ihn noch rufen: »Das ist ein Scherz, nicht wahr?« Aber die Verzweiflung war deutlich zu hören.
Ich hatte Lee in seiner Eitelkeit gekränkt. Als ich nach einem Umweg über mein Schließfach den Unterrichtsraum betrat, saß er bereits an unserem Tisch. Felicity Stratton hockte auf seinem Schoß und kraulte ihm genießerisch den Nacken. Lee sah aus wie ein schnurrender Kater. Der Blick, den er mir zuwarf, wirkte ein wenig hämisch.
Ich dachte an seine spitzen Ohren und Felicitys rot geschminkte Lippen, die kurz davor waren, in sein Ohrläppchen zu beißen. Was, wenn ihre Nase seine sorgsam gekämmten Haare von den Ohrspitzen schob?
Sofort verfinsterte sich sein Blick und er schob Felicity entschlossen von seinem Schoß. »Bei dir würde ich stillhalten«, flüsterte er, als sie außer Hörweite war.
»Könnt ihr nicht Menschen mit dem Blick manipulieren? Dann kann sie weitermachen, du verpasst ihr anschließend eine Gehirnwäsche und sie weiß nichts mehr«, raunte ich ihm zu, als Mrs Weston das Klassenzimmer betrat.
»Du hast zu viele amerikanische Serien gesehen.« Er klang amüsiert.
»Oh, schade. Einen Damon Salvatore würde ich nehmen.«
»Nimm meinen Cousin. Der war das Vorbild für Damon.«
»Mr FitzMor, Miss Morgan, ich erwarte bis nächste Woche einen zehn Seiten langen Aufsatz über die Entstehung der Großmacht China.«
Lee und ich sahen uns betroffen an.
Das bedeutet wohl, dass wir noch mehr Zeit miteinander verbringen müssen stand auf dem kleinen Zettel, den Lee mir kurz darauf unter die Mappe schob. Sag mir, wenn du die nächste Stunde schwänzen willst, um einen Kaffee mit mir trinken zu gehen.
Ich seufzte. So verlockend es war – Lee kannte ein paar ausgezeichnete Cafés –, ich hatte immer noch den Wunsch, Lehrerin zu werden. Dafür musste ich die A-Levels schaffen und anschließend studieren. Im Gegensatz zu Lee hatte ich nicht unbegrenzt Zeit und Geld zur Verfügung. Ich war ein Mensch mit einer Lebenserwartung von siebzig bis achtzig Jahren; und meine Mutter betrieb einen schlecht gehenden Pub, der uns kaum über Wasser hielt.
Wie wär’s, wenn du beide Aufsätze schreibst? Dadurch sparst du dir das Geld für den Kaffee, schrieb ich auf dem Zettel zurück.
Langweilig, setzte er mit seiner schwungvollen Handschrift darunter.
Das Thema China soll ganz spannend sein, vermerkte ich wieder.
Nicht China, DU bist langweilig. Wo bleibt deine Abenteuerlust, Morgan?
Letzteres hatte er nicht geschrieben. Ich hörte seine Stimme in meinem Kopf, als hätte er zu mir gesprochen. Ich starrte ihn erschrocken an. Er starrte genauso erschrocken zurück.
Das war unheimlich.
Der Gong zur Mittagspause rettete mich vor einer weiteren Antwort.
Ich war darauf bedacht, nicht alleine mit Lee zur Cafeteria zu gehen, und richtete es so ein, dass Phyllis und Jayden uns begleiteten. Auf dem Weg über den Schulhof mischte sich Schnee in den Regen.
Die dicke Küchenfrau Matilda mit ihrem Häubchen und der fettigen Haut lächelte ein breites Zahnlücken-Lächeln, als sie Lee erblickte.
»Ich verstehe immer noch nicht, dass ein Mann wie du kein Fleisch isst«, sagte sie und reichte Lee einen Teller mit einem riesigen Omelette, Salat und Fritten. Zum Glück war mein Teller genauso üppig gefüllt.
»Mrs Weston war heute wohl ein wenig gereizt«, sagte Corey, als wir alle am Tisch saßen. »Bestimmt spielen ihre Hormone verrückt. Ist bei Schwangeren ja so.«
Wir sahen ihn überrascht an.
»Mrs Weston ist schwanger?«, fragte Phyllis nach.
»Ich hab’s aufgeschnappt, als ich im Sekretariat das Anmeldeformular für Cheryl abgeholt habe.«
»Cheryl? Deine Schwester ist doch erst dreizehn. Sie kann noch nicht aufs College«, wandte Nicole ein.
Corey zuckte die Schultern. »Ich weiß. Aber sie will unbedingt hierher.« Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf Lee.
»Du bist einfach zu gutmütig, Kumpel«, sagte Jayden mitleidig. »Was tust du, wenn sie die Absage erhält?«
»Du könntest Lee mit vorgehaltener Pistole zum Altar führen«, kicherte Phyllis.
»Oder Cheryl auf ein reines Mädcheninternat einweisen«, schlug Nicole vor.
»Oder wir bringen sie zu diesem Medium in der Scrutton Street. Die kann eine Gehirnwäsche an ihr vornehmen und ab sofort interessiert sie sich dann wieder für Jungs, die ihrem Alter entsprechen.« Ruby hüpfte vor Aufregung auf dem Stuhl auf und ab.
Ich sah das nachsichtige Lächeln auf den Gesichtern meiner Freunde, das Rubys obskuren Ideen immer folgte.
»Oder wir verweisen Lee des Landes, Kalifornien zum Beispiel. Damit wäre er weit genug weg, denn ohne Ausweis käme Cheryl niemals in die USA«, warf ich im gleichen euphorischen Tonfall ein.
Ich dachte, es wäre lustig. Aber alle sahen mich entsetzt an. Nur Lee grinste.
»Anscheinend war der Besuch im Kunstlager nicht ganz so erfreulich«, stellte Jayden trocken fest.
Nicoles Gesicht hellte sich auf.
»Wir haben gleich Mrs Crobb. Hat jemand eine Idee für ein Spiel?«, fragte Corey.
Das war eine unserer kleinen Schulfreuden: Bei besonders langweiligen Lehrern dachten wir uns ein Spiel aus, um vom langweiligen Unterricht abzulenken.
»Sollen wir Mrs Crobb dazu bringen, ein unanständiges Wort zu sagen?«, schlug Nicole vor.
»Nein, das ist jetzt ausgelutscht. Außerdem ist nur Lee so wortgewandt, dass er das schaffen kann«, wehrte Jayden ab.
Ich betrachtete ihn neugierig. Er wirkte irgendwie … eifersüchtig. Das hatte ich noch nie bei Jayden erlebt.
»Wie wäre es mit Wörterbingo?«, fragte Lee und verzehrte sein letztes Salatblatt. Ob er Jaydens Missbilligung nicht wahrnahm oder sie ignorierte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen.
»Wörterbingo?«, fragte Corey stirnrunzelnd.
»Jeder von uns erstellt eine Reihe mit, sagen wir, neun Wörtern. Jedes Mal, wenn Mrs Crobb eines davon nennt, streichst du eines von deiner Liste. Der Erste, der alle Wörter weggestrichen hat, hat gewonnen und muss laut Bingo rufen.«
»Aber damit bestraft sich derjenige doch«, wandte Phyllis ein. »Du glaubst doch nicht, dass Mrs Crobb das Verhalten durchgehen lässt ohne eine Strafe?«
»Das nicht, aber alle Teilnehmer machen so lange weiter, bis ihre Liste ebenfalls voll oder die Stunde zu Ende ist, und der Gewinner wird ins Kino eingeladen.«
»Ich weiß nicht …« Ausgerechnet Nicole zögerte, obwohl sie sonst auf alles, was Lee vorschlug, ansprang.
»Okay, wären Karten für die Fashion Show von Jon George nächste Woche ein größerer Anreiz?«
Wir starrten ihn an.
»Ich bin dabei.« Ruby sah so entschlossen aus, als ginge es um ihre Abschlussklausur.
»Hat jemand noch einen anderen Vorschlag?«, fragte ich und sah Lee direkt in die Augen. Du bist ganz klar im Vorteil. Du kannst Gedanken lesen.
Er lächelte mich zuckersüß an. »Setzen wir einen drauf: Jeder erstellt die Wörterliste für seinen Banknachbarn. Dann kann niemand behaupten, er habe geschummelt.«
Ruby sah irritiert aus. Genau wie Phyllis. Nicole, Jayden und Corey begannen dagegen bereits in ihren Taschen nach Papier und Stift zu kramen.
»Weshalb sollten wir das tun?«, fragte Ruby.
»Weil wir uns seit Ewigkeiten Spiele für den langweiligen Unterricht ausdenken«, antwortete Corey, den Kopf noch immer im Rucksack vergraben.
»Nein, ich meine, eine Liste für den anderen erstellen. Ich will auf diese Fashion Show, aber wenn Corey die Liste erstellt, sind meine Chancen zu gewinnen gleich null.« Ruby hatte einen ihrer seltenen wachen Momente und fixierte Lee.
Lee lächelte sie gewinnend an. »Ich glaube, Felicity weiß, dass ich Mrs Crobbs Unterlagen schon gesehen habe. Sie möchte mir keinen Vorteil einräumen.«
»Du hast ihre Unterlagen gesehen? Wann?« Coreys Kopf tauchte aus dem Rucksack auf.
Lee warf mir einen verzweifelten Blick zu. Ich dachte: Selber schuld, half ihm aber aus der Bredouille: »Das Kunstlager liegt neben dem Geschichtssaal. Ihr Ordner lag aufgeschlagen auf dem Pult.«
Lees Mundwinkel zuckte.
»Ich erstelle meine Liste selber. Wenn Lee und Felicity tauschen möchten, bitte sehr«, erklärte Nicole unumwunden. »Wenn Corey meine Liste erstellt, stehen bestimmt ganz absurde Dinge darauf, die mit Geschichte überhaupt nichts zu tun haben.«
Corey zwinkerte frech.
Zwanzig Minuten später schob mir Lee seine Liste zu. Neugierig sah ich darauf. Natürlich alles Wörter, die mit unserem aktuellen Thema zu tun hatten. Der Sieg war mir sicher.
»Ich will nicht gewinnen, damit das klar ist«, raunte ich ihm zu.
Lee lächelte mich schmeichelnd an. »Komm schon, Fay. Wir beide gemeinsam beim Nachsitzen, denk nur an die unendlichen Möglichkeiten.«
Ich grinste. Er war einfach unverbesserlich. »Wenn ich mich dazu entschließe, dich einen weiteren Nachmittag zu ertragen, kostet das aber was.« Ich lächelte genauso charmant zurück. Zufrieden sah ich, dass ich ihn aus dem Konzept gebracht hatte.
Er blinzelte ein paarmal und schluckte hart. »Äh, die Karten für Jon George reichen nicht?«
»Ich bitte dich, seit wann interessieren mich Fashion Shows?« Ich deutete auf meinen ausgeleierten Pulli und die Used-Look-Jeans. So modisch sie auch waren, sie waren tatsächlich so fadenscheinig, weil sie bereits meiner Schwester gehört hatten, dann meinem Bruder und jetzt an mich übergegangen waren. Es war nicht ausgeschlossen, dass sie noch aus Mums Jugend in Cornwall stammten.
Meine Mutter hatte kein Geld. Ihr Pub brachte keinen Gewinn, und das Collegegeld, das ich von meinem Großvater geerbt hatte, hatte sie dem Finanzamt geben müssen. Wir waren restlos pleite und ich musste mir schnellstmöglich einen Job suchen, damit ich nach meinen A-Levels studieren konnte. Natürlich hoffte ich auf ein Stipendium, aber weil ich bis vor kurzem oft zu spät zum Unterricht erschienen war, standen die Chancen dafür sehr schlecht. Trotz meiner ausgezeichneten Leistungen. Ich hatte in Mums Pub oft ausgeholfen und das bis spät in die Nacht. Und wie hatte sie es mir gedankt? Sie hatte mein Collegegeld genommen, um ihre Steuerschulden zu bezahlen. Seit ich das wusste, hatte ich keinen Fuß mehr in den Pub gesetzt. Mum hatte kein einziges Wort darüber verloren, aber ich sah ihren bekümmerten Blick, sobald sie mich anschaute.
»Erde an Felicity?«
Ein elektrischer Schlag ließ mich zusammenzucken. »Musst du mich ständig unter Strom setzen?«
»Vergiss deine Mutter für einen Moment und verrate mir, was du dir wünschst«, sagte er unerbittlich.
Verflixt. Er war meinen Gedanken gefolgt. Warum hatte ich nicht einfach aus dem Fenster gesehen? Wieso vergaß ich immer, dass er meine Gedanken lesen konnte, wenn er mir in die Augen schaute? »Weil du im Grunde dankbar bist, dass du jetzt morgens pünktlich rauskommst. Also?«
»Lee, ich will nur ein Stipendium. Du weißt genau, dass ich nichts anderes brauche.«
Er warf einen Blick auf meinen Pulli mit all seinen Ribbeln und gezogenen Fäden.
Ich rollte die Augen. »Ganz bestimmt brauche ich keine neuen Klamotten.«
»Bist du sicher? Ein engeres Shirt würde dir viel besser stehen.« Jetzt war sein Blick definitiv auf meinem Dekolleté.
»Komm zurück auf den Boden, FitzMor.« Ich schubste ihn.
»Miss Morgan, sind Sie und Mr FitzMor bald fertig oder möchten Sie uns an Ihrem Flirt teilhaben lassen?«
Mir wurde schlagartig heiß und ich rückte sofort von Lee ab.
Er grinste nur. Sobald Mrs Crobb sich zur Tafel umdrehte, raunte er mir zu: »Nummer acht.«
Ich zog die Liste unter meinem Heft hervor und rollte die Augen. An achter Stelle stand Flirt.
Ruby war tatsächlich inmitten von Mrs Crobbs Erklärungen über den Untergang der spanischen Armada aufgesprungen und hatte Bingo gerufen. Wir kugelten uns vor Lachen. Mrs Crobb konnte sich noch so bemühen, der Rest der Stunde war gelaufen. Ständig sprang wieder jemand auf und rief Bingo. Mrs Crobb raufte sich regelrecht die Haare, bis sie in alle Richtungen standen, und wir bekamen so viele Hausaufgaben auf, dass ich bezweifelte bis zu den Osterferien damit fertig zu werden. Die Laune konnte uns das jedoch nicht vermiesen und wir kicherten alle für den Rest des Tages. Mit seinem Humor hatte Lee einmal mehr an Ansehen gewonnen.
»Feiern wir Rubys Sieg mit einem Eis im Café La Ville?«, schlug er vor.
Meine Freunde sagten begeistert zu. Ich dachte an meinen leeren Geldbeutel, in den ich jeden Morgen nur den abgezählten Betrag fürs Mittagessen in der Cafeteria steckte.
»Ich muss nach Hause«, log ich und schulterte meine Tasche.
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Lee und nahm mir die Tasche einfach ab. Allerdings ohne mich zu berühren.
Ich stemmte beide Fersen in den Boden. Lee blieb stehen und sah mich an.
»Ich will heim. Ich muss mir einen Job suchen.« Das war zumindest nicht gelogen. Ich hatte mich in einem Pub vorgestellt, aber dort hatte man mich natürlich nicht genommen, nachdem ich einen Probetermin verpasst hatte. Aber wie hätte ich ihn einhalten können – im achten Jahrhundert? In Germanien. Im College lagen immer Exemplare des Stadtmagazins Time Out aus. Ich wollte zu Hause in Ruhe auf Jobsuche gehen.
»Das kannst du später immer noch.« Lee ließ nicht locker.
»Wenn du mich jetzt gehen lässt, verrate ich dir, was ich zum Ball anziehe.«
Sofort ließ er meine Tasche los.
Ich sah ihm in die Augen und dachte an das blaue Taftkleid meiner Schwester.
Ein zufriedenes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. »Okay. Wir sehen uns morgen, ja?«
Ich nickte, winkte meinen Freunden noch einmal zu und machte mich auf den Heimweg.
Der Januar zeigte sich von seiner schlechtesten Seite. Es regnete jetzt noch stärker. Den ganzen Tag über war es nicht richtig hell geworden. In Cornwall hatte ab und an schon mal einen Tag Schnee gelegen und die ganze Landschaft in eine weiß gepuderte Disneywelt verwandelt. In London nie. Wenn hier Schnee lag, dann so dünn, dass man noch den Asphalt erkennen konnte.
Auf dem Heimweg klingelte mein Handy. Das konnte eigentlich nur Lee sein, der doch nicht aufgab.
»City? Hier ist Philip.«
Das fehlte mir gerade noch. »Nenn mich nicht so«, sagte ich barsch. Mein Bruder kam mir jetzt wirklich ungelegen. Die nassen Haare nervten und meine Laune war auf dem Tiefpunkt.
Er stutzte einen Moment. »Ich dachte, alle nennen dich so.«
»Nein. Nur die, die mich nicht leiden können«, erklärte ich bestimmt.
»Entschuldige. Das wusste ich nicht.«
Woher auch? Wir hatten so gut wie keinen Kontakt. Es sei denn, er wollte was von mir. »Was willst du?«, fragte ich deshalb prompt.
»Meine Güte, bist du schlecht gelaunt. Kann ich nicht mal meine Schwester anrufen?« Er klang eingeschnappt.
»Doch, natürlich. Nur tust du das selten, wenn nicht irgendein Grund vorliegt.«
Ich hörte ihn seufzen. »Okay, okay.« Gab er zu. »Ich habe eine Bitte. Kannst du mir zweihundert Pfund oder etwas mehr leihen?«
Ein Passant, der ebenfalls vor dem Wetter flüchtete, rempelte mich an und ich musste mich festhalten.
»’tschuldigung«, rief er und verschwand. Aber auch ohne das Anrempeln hätte ich mich festhalten müssen. Zweihundert Pfund? »Wofür?«, fragte ich fassungslos.
»Ich habe Mist gebaut. Da war dieser Kerl, der hat mir versprochen, der Gaul würde hundertprozentig gewinnen, und dann hätte ich das Vierfache von meinem Einsatz. Er hat mir Geld geliehen, damit ich eine runde Summe … ach, Scheiße, ich habe jedenfalls alles verloren. Und jetzt verlangt er eine sofortige Anzahlung von zehn Prozent und den Rest plus Zinsen dann nächsten Monat. Ich bekomme erst übernächste Woche mein Gehalt und bin jetzt blank. Und wenn ich nicht wenigstens die Anzahlung leiste, will er … Ach, verdammt, ich hab keine zweihundert Pfund – geschweige denn zweitausend.« Philip stockte.
Ich ging mit wackeligen Knien weiter. Zweitausend Pfund! »Was ist, wenn du nicht zahlst?«, fragte ich nach.
»Jemand aus meiner Familie würde es bereuen«, sagte Philip mit erstickter Stimme.
»Er foppt dich«, sagte ich, aber mein Herz pochte schneller.
»Nein, Felicity. Er wusste, wo Mum und du wohnt, er kannte Annas Adresse und wusste sogar die Zeiten von Jeremys Schichtdienst.«
Ich lehnte mich an die nächste Wand. Meine Beine drohten wegzusacken.
»Felicity, er meinte, er würde mit dir anfangen«, sagte Philip und schluchzte. Weinte er etwa? Wegen mir? Und warum ich zuerst? Obwohl … wenn jemand von uns, dann wohl am besten ich. Anna hatte den kleinen Jacob, Jeremy musste für beide sorgen. Und Mum für mich. Ich musste für niemanden sorgen. Ich war überflüssig. Natürlich ich.
»Nur zweihundert Pfund für die Anzahlung. Um ihn zufriedenzustellen.« Sein Tonfall war flehend. »Dann fällt mir schon was ein.«
»Geh zur Polizei, Philip«, sagte ich endlich.
»Das kann ich nicht! Er behauptet, er hat dort gute Freunde, die ihn darüber informieren, wenn ich auftauche.« Philip schnäuzte sich. »Hör mal, Felicity. Kannst du mir das Geld leihen? Du hast doch für dein Studium was auf die Seite gelegt.«
»Mum hat damit das Finanzamt bezahlt. Ich bin total blank«, sagte ich kalt. Nie hatte ich sie mehr gehasst als in diesem Moment.
»Scheiße«, hauchte Philip am anderen Ende der Leitung.
Lange sprach keiner von uns ein Wort. Endlich sammelte sich Philip wieder. »Pass auf dich auf, ja?« Dann legte er auf.
Ich starrte sprachlos geradeaus, ohne etwas wahrzunehmen. Danke, Philip. Das half mir enorm. Philip hatte tatsächlich geweint, sonst hätte ich gesagt, es wäre ein schlechter Scherz von ihm. Wie damals, als wir gerade nach London gezogen waren und er mich in den Keller gelockt hatte – und dann dort für zwei Stunden einsperrte.
Was sollte ich tun? Wo konnte ich auf die Schnelle zweihundert Pfund auftreiben? Sollte ich Mum bitten? Aber Mum hatte selber nichts. Ich hatte gestern wieder ein paar Rechnungen auf dem Küchentisch liegen sehen.
Ich musste mir etwas einfallen lassen.
Oder untertauchen.
Eine Stunde später – ich saß gerade vor Toast, Käse und Marmelade – meldete mein Handy den Eingang einer SMS. Lees umwerfendes Lächeln strahlte mich an. Wann hatte er das denn eingestellt? Und wie? Mein Handy hatte nicht mal eine Fotofunktion. Seine Elfenmagie wirkte anscheinend auch auf altmodische elektronische Geräte. Ich grinste und öffnete die Nachricht.
National Gallery sucht Aushilfskräfte, las ich dort.
Das klang interessant. Ich hatte gehört, die suchten ständig jemanden für die Beaufsichtigung der einzelnen Räume, die Garderobe oder das Café und den Souvenir-Shop.
Allemal besser, als in einem Pub zu kellnern. Vor allem in einem Pub, in dem das Trinkgeld gänzlich entfiel. Ich räumte den Rest Käse in den Kühlschrank und packte das Brot weg. Gerade als ich die Krümel zusammenfegen wollte, tauchte Mum in der Küchentür auf.
»Felicity, ich gehe jetzt in den Pub.« Sie hatte ihre Haare sorgfältig frisiert, ein wenig Make-up aufgetragen und ihre gute Bluse gebügelt.
»Ist was Besonderes?«, fragte ich überrascht.
»Nein, wieso?« Sie kramte in ihrer Handtasche.
»Du siehst so hübsch aus.«
»Oh, heute Abend ist der Verein der Kaninchenzüchter wieder da und ich möchte später nicht ganz so abgehetzt aussehen. Also beuge ich vor.«
Falls sie versuchte mir damit ein schlechtes Gewissen einzureden – es funktionierte. Ich holte tief Luft. In meinem Gehirn rivalisierten der Drang zu helfen und der Frust über ihren Verrat. Konnte ich meine Mutter im Stich lassen? Sie arbeitete hart fürs Überleben. Eine bezahlte Arbeitskraft konnte sie sich nicht leisten. Der Pub war ihr Leben. Ohne mich würde …
Mein Handy klingelte erneut.
»Mum …« Sie sah auf. Ihre warmen, braunen Augen leuchteten. Das Handy klingelte weiter. Lees Gesicht strahlte über das ganze Display. Was zum Teufel …?
»Ja, Felicity?« Mum sah mich erwartungsvoll an.
Der Klingelton nervte. Ich schloss einen Moment die Augen. »Sekunde, Mum.« Ich drückte die grüne Taste und fauchte. »Was willst du?«
»Untersteh dich nachzugeben.«
Perplex starrte ich auf das Display, als könnte ich ihm damit in die Augen sehen. Mir ging auf, dass es nur ein Foto war. Ich hielt das Handy wieder ans Ohr.
»Felicity, du wirst doch deiner Mutter nicht aushelfen, nachdem sie dir so wehgetan hat?« Lee klang wütend.
»Woher …?«
»In der National Gallery bezahlen sie zehn Pfund die Stunde. Und du bekommst die Arbeitskleidung gestellt. Du arbeitest höchstens freitags bis halb zehn, ansonsten ist um sechs Uhr Feierabend. Du wärst sogar für den Französischkurs noch immer früh genug fertig.«
Ich sprang auf und rannte an Mum vorbei in mein Zimmer.
»Woher weißt du, was hier gerade vorgeht?«, zischte ich und tastete mit der freien Hand sämtliche Taschen an mir ab.
»Ich habe dir keine Wanze untergejubelt, wenn du das meinst«, sagte Lee und klang beleidigt.
»Wieso weißt du dann davon?«
Er zögerte und ich wusste, er suchte nach Ausreden.
»Ist das wieder so ein Elfending?«, flüsterte ich in den Hörer.
»Ja. Genau. So ein Elfending.«
Weshalb klang das gelogen?
»Bitte, Fay, denk doch an das Geld, das du im Museum verdienen kannst. Du kannst nicht zu einer Kugel Eis mitgehen und willst dich nicht einladen lassen. Möchtest du nicht manchmal unabhängig sein?« Jetzt flehte er beinahe.
Er hatte ja Recht. Ich konnte und wollte meinen Freunden nicht auf der Tasche liegen.
»Felicity?« Mum öffnete meine Zimmertür einen Spalt.
»Fay …«, hörte ich Lees Stimme am Telefon.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte Mum und ihr Blick war so hoffnungsvoll.
»Ich komme dich gleich abholen. Dann bringe ich dich zum Trafalgar Square.«
Innerlich zerrissen. Mit einem Mal verstand ich den Spruch.
»Felicity?«
Ich dachte an Mums müdes Gesicht abends. Ich dachte an ihren schweren Stand hier in London. Und dann dachte ich an diesen dunklen, ungemütlichen Pub und die drei Stooges, die allabendlich an der Theke saßen. An meinen Traum, zu studieren, und dass ich es wahrscheinlich sowieso nicht konnte, weil ich keinen Penny besaß.
»Ich muss auf Lee warten«, sagte ich leise. Wie erwartet verzog sich Mums Gesicht. Der Glanz in ihren Augen erlosch und sie schloss die Tür.
»Fay, ich bin schon unten«, hörte ich Lee. Ich legte auf und begann zu weinen.
Ich weiß nicht, wie er ins Haus kam – wahrscheinlich wieder so ein Elfending –, aber zwei Minuten später fühlte ich Lees Arme um mich. Trotz des leichten Stromschlags zuckte er nicht zurück, sondern zog mich auf seinen Schoß.
Er sagte nichts, hielt mich einfach nur fest. Eine kleine Ewigkeit saßen wir so eng umschlungen da. Irgendwann nahm ich wieder seinen zarten Duft wahr und seine elfenhafte Temperatur. Außerdem noch etwas anderes. Ich spürte seine Muskeln und seinen festen Körper. Sein männliches Kinn und die fein geschwungenen Lippen waren ganz dicht vor meinen Augen. Lippen, die Felicity Stratton so geküsst hatten, dass die ihm seither verfallen war. Lippen, um deren Mundwinkel manchmal niedliche kleine Lachfältchen lagen, ähnlich zarten Narben. Um die Augen hatte Lee keine Falten. Nicht einmal, wenn er lachte. Nur die Stelle zwischen seinen Augen kräuselte sich dann. Und sein Kinn wirkte den ganzen Tag über, als wäre er frisch rasiert.
»Musst du dich eigentlich nicht rasieren?«, fragte ich, ohne nachzudenken. Da waren sie: diese süßen Lachfalten um seine Mundwinkel.
»Nur, wenn ich mir einen Bart wachsen lasse und ihn dann nicht mehr will.«
»Habe ich das tatsächlich laut gesagt?«, stöhnte ich und schloss für einen Moment die Augen.
»Ist auch so ein Elfending.« Lees Hände strichen weiter über meinen Rücken.
»Dumme Äußerungen seiner Mitmenschen hervorlocken?«
Lees Brust bebte vor Lachen. »Nein. Bartwuchs. Ich finde, so ein Dreitagebart steht mir. Und die Frauen finden’s auch gut.«
Ich knuffte ihn. Da war er wieder, der arrogante Macho. Aber sein süffisantes Grinsen verblich zu einem aufrichtigen Lächeln. »Es gehört auch dazu: Ich kann den Bartwuchs aussetzen lassen, wann ich möchte.«
Ich dachte an den Bruder meines Großvaters, Onkel Edward, dessen Nasenhaare richtige Büsche waren. Im Winter verlängerte Eiszapfen. Dem hätte so eine Fähigkeit auch gutgetan.
Lees Lippen kräuselten sich wieder. Er sah mir noch immer in die Augen. Und ich ihm. Diese unglaublichen Augen mit dem dunklen Außenring um die zartblaue Iris. Sein Gesicht kam noch näher. Sein Kopf veränderte den Winkel. Ich wusste, er wollte mich küssen. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich fühlte seinen Atem auf meiner Wange, erkannte jede einzelne Bartstoppel und mir schoss durch den Kopf, dass er sie allein wachsen ließ, um Frauen zu verführen. Er war über dreihundert Jahre alt! Wie viele Frauen hatte er wohl verführt? Ich wäre bestimmt Nummer sechshundertvierzig. Falls das reichte. Zwei Frauen pro Jahr waren für einen Mann wie Lee bestimmt noch zu wenig. Im letzten Moment machte ich einen Rückzieher.
Also legte ich meinen Kopf wieder an seine Schulter, aber ich wagte es, eine Hand auf seine Brust zu legen. Sie war fest und lauwarm. Ich fühlte die Muskelstränge durch sein Shirt. Er roch zudem wieder nach Moos und etwas leicht Blumigem. Etwas, das an Frühling erinnerte. Irgendwann würde ich schon draufkommen. Ich atmete tief ein, um diesen Duft festzuhalten.
»Na, komm schon, Fay. Ich bringe dich zur National Gallery.« Lees Stimme hörte sich mit einem Mal genauso belegt an wie meine vorhin.
Ich bekam den Job. Lee hatte mich ins Museum begleitet. Mit ihm an meiner Seite konnte der Personalchef gar nicht anders als mich einstellen. Lees Ausstrahlung war äußerst einnehmend und sein Charme trug das Übrige dazu bei.
Anschließend waren wir beide gemeinsam noch durchs Museum geschlendert.
»Ich habe außerhalb der Schule mit niemandem so viele Sehenswürdigkeiten besichtigt wie mit dir«, erklärte ich, als wir uns Ewigkeiten später in unserem Treppenhaus voneinander verabschiedeten.
»Wir waren bislang doch nur im Tower und in der National Gallery.« Er schien verlegen.
Ich hätte gern seine Hand genommen, aber alle weiteren Berührungen nach unserem intimen Moment hatten Funken schlagen lassen. Deshalb lächelte ich ihn warm an. »Danke, Lee. Ich freue mich auf meinen Job.« In drei Tagen konnte ich anfangen Geld zu verdienen. Vielleicht könnte ich Philip sogar helfen …
Letzteres las Lee in meinen Augen. »Philip?«, fragte er verblüfft.
Ich erzählte ihm von Philips Anruf. Daraufhin verdüsterte sich seine Miene. »Ich kümmere mich darum. Du wirst ihm nicht einen Penny von deinem Geld geben. Hast du verstanden?«
Ich atmete auf. Natürlich würde Lee sich damit befassen. Er war Agent. Außerdem kümmerte er sich immer um alles. Vertrauensvoll schaute ich ihn an. Vielleicht wäre ein Kuss …
Lee zuckte zusammen. Er fasste in seine Tasche und zog diesen kleinen goldenen Gegenstand heraus, der wirkte wie ein alter Kompass, aus Gold und mit Edelsteinen besetzt. Sein Karfunkel, ein Telemedium. Lee konnte das Aufblitzen der Edelsteine lesen, wie ich eine SMS auf meinem Handy. Sein Gesicht wurde blass.
»Was ist los?«, fragte ich erschrocken.
Er sah mich an. »Der Kronrat hat deine Verhaftung ausgesprochen. Sie wollen dich holen. Ein Trupp ist auf dem Weg hierher.«
Schlagartig war um mich herum jedes Geräusch doppelt so laut. Ich hörte Autotüren schlagen, Schritte auf dem Trottoir. Kamen sie auf unser Haus zu? Ich stürzte hektisch zum Treppengeländer. Waren sie schon da? Kamen sie die Treppe hoch? Sie wussten, wo ich wohnte! Jeder meiner Bekannten wusste, wo ich wohnte. Und unsere Wohnung, die vom Treppenhaus nur mit einer schäbigen, schlecht schließenden Tür getrennt wurde, bot keinen Panic Room.
»Wir fliehen.« Lee sah auf sein Telemedium. »Sie haben es nicht eilig, weil sie dich nicht fürchten. Uns bleiben ungefähr zehn Minuten. Komm her.«
Ich zögerte nur eine Sekunde, dann warf ich mich in seine ausgestreckten Arme.
Es zuckte, als hätte er mir mit einem Elektro-Teaser einen Schlag verpasst. Erschrocken schloss ich die Augen. Als ich sie wieder öffnete, befanden wir uns in einer dunklen Halle. Buntes Licht drang gedämpft durch die Glasscheiben.
»Eine Kirche?«, fragte ich und löste mich aus Lees Umarmung.
»Genau genommen sind wir im Doncaster Münster. Wir werden jetzt warten, bis es dunkel ist, und dann verschwinden.«
Ich folgte Lee in einen kleinen dunklen Raum.
»Die Sakristei wird nicht vor morgen benutzt. Hier dürften wir ein paar Stunden sicher sein«, erklärte Lee. Er öffnete nacheinander sämtliche Schranktüren, bis er eine Decke fand. Er legte sie neben den Wandheizkörper auf den Boden, setzte sich darauf und klopfte auffordernd mit der Hand auf den Platz neben sich.
Es war dunkel, kalt und abgestandener Weihrauch kitzelte in meiner Nase. Erschöpft ließ ich mich neben Lee sinken. Wenn auch Lee nur die elfenhaften fünfundzwanzig Grad Körpertemperatur besaß, so war doch wenigstens die Heizung angenehm warm. Ich schlug mir die Decke um die Beine und lehnte meinen Kopf zurück.
»In welchem Jahr sind wir?«, fragte ich Lee.
»1966«, antwortete er.
Ich glotzte. »Cool. Können wir uns ein Konzert der Beatles anschauen gehen?«
Lee rollte die Augen. »Jetzt denkst du an ein Rockkonzert?«
»Nein. Das war Ironie. Warum sitzen wir hier und hauen nicht sofort ab? Wenn dieses Münster ein Elfenhügel ist, werden sie doch auch hier landen.«
»Es ist nur ein Gefühl, aber ich traue den Raben nicht.«
Ich öffnete meine Augen, aber Lee sah nicht mich an, sondern auf die Prismen, die von der Sonne auf die gegenüberliegende Wand geworfen wurden.
»Ist dir noch nicht aufgefallen, dass du ständig von zwei Raben verfolgt wirst?«, fragte er.
Ich überlegte. Jetzt, wo er es sagte … Raben waren bei meinem ersten, unfreiwilligen Zeitsprung in der Nähe gewesen. Raben waren in letzter Zeit ständig auf dem Schuldach und im Park oder am Berkeley Square bei Lees Haus. »Sind das Irrwische?«, wollte ich wissen.
»Irrwische?« Lees blaue Augen sahen mich fragend an.
»Na ja, Gestaltwandler. Tiere, in die man seine Seele verpflanzen kann.«
Lee gluckste. »Nein. Es sind Mittler. König Oberon erfährt durch sie alles, was sie wahrnehmen, so eine Art Videoüberwachung. Magst du ein wenig schlafen? Ich werde dich wecken, wenn wir aufbrechen können.«
Er stopfte noch ein wenig Decke um mich und tatsächlich schlief ich eine Stunde später ein.
»Fay! Wach auf! Wir können gehen.«
Ich blinzelte und sah … nichts. Um mich herum war alles dunkel und voller Schatten. Ich wollte mich tiefer in die Decke kuscheln, aber sofort fühlte ich den harten Boden unter mir. Das ließ mich schlagartig wach werden.
Lee half mir auf. »Es ist dunkel genug. Lass uns gehen.«
Wir verließen die Kirche. Hier herrschte richtiger Winter. Die Puderschicht Schnee, die alles bedeckte, glitzerte im Mondlicht. Es war eisig und ich war für meine dicke Jacke dankbar. Lee drängte mich, auf seinen Rücken zu klettern. Ich wusste, was das bedeutete: Er würde mit seiner elfenhaften Geschwindigkeit laufen und uns innerhalb von Sekunden aus der Stadt bringen.
»Könnte dich eine Verkehrskamera blitzen?«, fragte ich ihn, als ich meine Arme um seinen Hals schlang, und fühlte sein Lachen.
»Nur wenn ich irgendwann so breit wie ein Porsche bin.«
Dann lief er los. Ich sah nur Schlieren von Lichtern an mir vorbeirauschen und mir wurde innerhalb kürzester Zeit bitterkalt. Meine dicke Winterjacke nützte überhaupt nichts mehr. Ich spürte die Kälte alles durchdringen, den Rücken hochziehen, und nahm mir fest vor, bei nächster Gelegenheit ein paar Handschuhe zu kaufen. Der »Fahrtwind« trug ein Übriges dazu bei. Weshalb musste mir so etwas im Januar passieren? Wieso konnten wir nicht im Sommer flüchten? Dann wäre mir die Zugluft willkommen. Wieso mussten wir überhaupt flüchten? Meine Gedanken drehten sich im Kreis und irgendwann war mir zu kalt zum Denken.
Wie lange er lief, konnte ich nicht sagen, ich fühlte meine Hände nicht mehr oder so etwas wie Oberschenkel.
»Hoppla.«
Lee hielt abrupt an und umfasste meine Arme fester. Ich rutschte von seinem Rücken.
»Du meine Güte, Fay, das tut mir leid.« Er kniete vor mir, rieb meine Arme, hauchte in meine Hände, aber ich fühlte nichts mehr außer Kälte. »Fay? Fay! Nicht einschlafen. Ich bringe dich wo hin, wo es warm ist.«
Ich konnte nicht mehr nicken. Mir wurde schwarz vor Augen.
Erst in dem Zimmer mit der Blümchentapete wachte ich wieder auf.
»Sie wissen Bescheid. Sie wissen, wo wir uns aufhalten. Und sie wollen mit uns reden.«
Ich sah Lee ängstlich an. Sein Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er hatte völlig vergessen, dass er halb nackt vor mir stand.
»Keine Bange. Ich rede mit ihnen. Ich werde ihnen einen Deal vorschlagen.«
»Was für einen Deal? Hast du noch einen weiteren Verdächtigen in petto?«
Lee zog sich mit elfengleicher Geschwindigkeit die Hose über.
»Nicht wirklich. Das weißt du genau. Aber du bist die Prophezeite. Sie können dich nicht einfach hinrichten.«
Ich horchte auf. »Hinrichten?«, quiekte ich. Meine Blase drückte mit einem Mal erschreckend fest.
Lee holte tief Luft und sagte langsam und überdeutlich wie zu einem kleinen Kind: »Sie werden dich nicht hinrichten. Nicht nach den neuesten Ereignissen.«
»Was für Ereignisse?« Ich musste aufs Klo. Dringend. Ansonsten würde ich mir gleich in die Hose machen.
Lee hielt mitten in der Bewegung inne. Sein Hosenstall war noch offen und gab den Blick frei auf seine Boxershorts. »Na ja, der tote Wachmann Connor war nicht alles. Die Seher auf Avalon haben einen Kampf vorausgesagt. Das Buch der Prophezeiung behauptet, dieser Kampf sei der Auslöser eines Krieges.«
»Was für ein Kampf?«
Lee seufzte. »Eigentlich hat er schon stattgefunden. Ein Kampf zwischen zwei … ich weiß nicht genau, wer der andere ist. Der eine war der Wachmann, dessen Tod uns überrascht hat. Er ist nicht heimtückisch ermordet worden, er hat gekämpft. Aber mit wem, wissen wir nicht. Das können uns auch die Druiden von Avalon nicht sagen.«
»Was wissen die überhaupt?«, fragte ich sarkastisch.