Die Marschallin - Zora Buono - E-Book

Die Marschallin E-Book

Zora Buono

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Beschreibung

DAS SCHILLERNDE PORTRÄT EINER MÄCHTIGEN FRAU IN MÖRDERISCHEN ZEITEN

Zora del Buono hat von ihrer Großmutter nicht nur den Vornamen geerbt, sondern auch ein Familienverhängnis, denn die alte Zora war in einen Raubmord verwickelt. Diese Geschichte und ihre Folgen bis heute erzählt dieser große Familienroman.

Die Slowenin Zora lernt ihren späteren Ehemann, den Radiologieprofessor Pietro Del Buono, am Ende des Ersten Weltkriegs kennen. Sie folgt ihm nach Bari in Süditalien, wo sie, beide überzeugte Kommunisten, ein großbürgerliches und doch politisch engagiertes Leben im Widerstand gegen den Faschismus Mussolinis führen. Zora ist herrisch, eindrucksvoll, temperamentvoll und begabt, eine Bewunderin Josip Broz Titos, dem sie Waffen zu liefern versucht und dem ihr Mann das Leben rettet. Sie will mehr sein, als sie kann, und drückt doch allen in ihrer Umgebung ihren Stempel auf. Ihr Leben und das Leben ihrer Familie, ihrer Kinder und Enkelkinder, vollziehen sich in einer Zeit der Kriege und der Gewalt, erbitterter territorialer und ideologischer Kämpfe, die unsere Welt bis heute prägen. In einem grandiosen Schlussmonolog erzählt die alte Zora Del Buono ihre Geschichte zu Ende, eine Geschichte der Liebe, der Kämpfe, des Hasses und des Verrats. «Die Marschallin» ist ein farbiger, lebenspraller Roman über eine unvergessliche Frau und ein tragisches Familienschicksal.

  • Ein farbiger Familienroman über eine starke Frau, politische Kämpfe und ein großes Verhängnis
  • Eine Zeit der Kriege und der Gewalt, der Liebe und des Verrats

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Zora del Buono

DIE MARSCHALLIN

Roman

C.H.BECK

Zum Buch

Zora del Buono hat von ihrer Großmutter nicht nur den Vornamen geerbt, sondern auch ein Familienverhängnis, denn die alte Zora war in einen Raubmord verwickelt. Diese Geschichte und ihre Folgen bis heute erzählt dieser große Familienroman.

Die Slowenin Zora lernt ihren späteren Ehemann, den Radiologieprofessor Pietro Del Buono, am Ende des Ersten Weltkriegs kennen. Sie folgt ihm nach Bari in Süditalien, wo sie, beide überzeugte Kommunisten, ein großbürgerliches und doch politisch engagiertes Leben im Widerstand gegen den Faschismus Mussolinis führen. Zora ist herrisch, eindrucksvoll, temperamentvoll und begabt, eine Bewunderin Josip Broz Titos, dem sie Waffen zu liefern versucht und dem ihr Mann das Leben rettet. Sie will mehr sein, als sie kann, und drückt doch allen in ihrer Umgebung ihren Stempel auf. Ihr Leben und das Leben ihrer Familie, ihrer Kinder und Enkelkinder, vollzieht sich in einer Zeit der Kriege und der Gewalt, erbitterter territorialer und ideologischer Kämpfe, die unsere Welt bis heute prägen. In einem grandiosen Schlussmonolog erzählt die alte Zora Del Buono ihre Geschichte zu Ende, eine Geschichte der Liebe, der Kämpfe, des Hasses und des Verrats. «Die Marschallin» ist ein farbiger, lebenspraller Roman über eine unvergessliche Frau und ein fatales Familienverhängnis.

Über die Autorin

Zora del Buono,

geboren 1962 in Zürich, lebt in Berlin und Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift «mare». In der Reihe «Naturkunden» bei Matthes & Seitz veröffentlichte sie den Band «Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen» (2015). Bei C.H.Beck erschienen ihre Novelle «Gotthard» (2015) und der Roman «Hinter den Büschen, an eine Hauswand gelehnt» (2016).

www.zoradelbuono.de

INHALT

Prolog

I

Bovec, Mai 1919

Berlin, November 1920

Neapel, Dezember 1923

Ustica, August 1927

Bari, November 1932

Bari, November 1935

Bovec, August 1938

Im Zug, Mai 1939

Bari, Juni 1940

Bari, April 1942

Bovec, Oktober 1943

Bari, Juni 1944

El Shatt, Februar 1946

Castel del Monte, Mai 1947

Bari, April 1948

Monopoli, Juli 1948

Bari, September 1948

II

Nova Gorica, Februar 1980

Epilog

Dank

«Kommunismus ist Aristokratie für alle»

Ramón María del Valle-Inclán

«Era difficile, ma lo rifarei»

Pietro Del Buono

Personenverzeichnis

Zora Del Buono, geborene Ostan

Ihre Eltern: Marija und Cesaro Ostan

Die vier Brüder: Franc, Ljubko, Boris, Nino

Ehemann: Prof. Pietro Del Buono

Schwiegervater: Giuseppe Del Buono

Die drei Söhne: Davide, Greco, Manfredi

Die Schwiegertöchter: Fiammetta, die Schwedin, Mila, Marie-Louise

Enkelinnen: Elena, Zora, Zora

Cousine: Otilija Ostan

Freundinnen und Freunde in Bovec: Pepca, die lange Ana, Goran der Serbe

Pietros Freunde in Berlin: Dr. Adelsberger, Prof. Oskar Blank, Dr. Emmi Bloch

Freunde in Bari: Colonello Neldo, die Codas, die Grandolfos, die Gebrüder Lombardi, Avvocato Basso, die Russos mit Tochter Zora, Angelo Zappacosta

Weitere Figuren: Cinzia la capricciosa, Michele Zanoni, Pavle Perić, Polonca Perić, Agata Giordanelli, Schwester Branka Blatnik

Opfer: Valdemaro Tedesco, Franco Lardi, Massima Lardi, Giovanna Lardi

Hausangestellte in Bari: Emma, Dragica, Giacomina, Josipina, Clara, Schwester Aloisia, Francesca, Silva

Und: Antonio Gramsci, Josip Broz Tito

Prolog

Vergiss nicht, du trägst ihren Namen, hatte Tante Mila gewarnt. Man solle Geheimnisse dort belassen, wo sie hingehörten: im Reich des Schweigens. Vor allem dürfe niemand die Wahrheit über das Ereignis erfahren, zu gefährlich, der Schauplatz des Geschehens immerhin tiefstes Süditalien, es könne zu Racheakten kommen, darüber zu schreiben sei geradezu fahrlässig. Cousine Elena war anderer Meinung. Sie betrachtet die Angelegenheit allerdings mehr aus metaphysischer Warte. Verborgenes würde sich auf nachfolgende Generationen übertragen und großen Schaden anrichten, so lange, bis das Geheimnis gelüftet sei. Transgenealogie heiße das. Denk an unsere Toten, hatte sie gemahnt. Ja, unsere Toten. Der Familienfluch, wie man früher gesagt hätte, als man noch an Geister glaubte und Spukgeschichten schrieb. Es ist das, was uns Cousins und Cousinen von klein auf verband: die Gewissheit, einer Unglücksfamilie anzugehören. Wir wuchsen mit unguten Ahnungen auf. Wir erwarten den Tod jeden Moment. Eigentlich wundern wir uns täglich, dass wir noch am Leben sind. Ja, ich kenne sie, unsere Toten, alle fünf. Jeder von ihnen starb bei einem Autounfall, jeder vor der Zeit. Ich sagte, das seien tragische Zufälle, es stürben täglich Menschen bei Autounfällen. Elena glaubt nicht an Zufälle, sie glaubt an höhere Gewalt. So wie meine Großmutter auch.

Sie sei für ihre Sünden bestraft worden, hatte Elena gesagt, ihr Ende sei bitter gewesen. Tante Mila hatte hinzugefügt: Sie haben sie ins Jenseits befördert.

Dass Zora Del Buono eines unnatürlichen Todes starb, ist nicht verbürgt. Doch vieles spricht dafür. Sie war eine Persönlichkeit, die Widerworte nicht duldete, sie aber provozierte. Man hat diese Frau gefürchtet und bewundert, viele haben sie verehrt. Ich habe sie einfach nur geliebt. Unsere Großmutter habe einen starken Charakter gehabt, hieß es immer. Sie sei feurig gewesen. Großzügig. Starrsinnig. Oder auch: herrisch. Wenn man über sie sprach, warf über kurz oder lang jemand ein: Wäre sie ein Mann gewesen, sie wäre Major geworden, eher noch Marschall, vielleicht sogar Staatspräsident. So wie er. Wie Josip Broz Tito. Sollte sie vergiftet worden sein, dann seinetwegen. Man hätte auf die Autopsie nicht verzichten sollen.

I

Bovec, Mai 1919

Wann hatte sie angefangen, ihre Mutter zu hassen? An dem Tag, als die Mutter sie verließ? Als der Vater sie frühmorgens anherrschte, sie solle sämtliche Schuhe, die nicht der Mutter gehörten, in die Stube bringen, ihre eigenen, die von den Brüdern und auch seine, und zwar zackig!, um dann mit ausgreifenden, rhythmischen Bewegungen die glatten Sonntagsschuhe, die feinen und die weniger feinen Stiefeletten, die Pantoffeln, die Landarbeitsschuhe und die Fellstiefel mit dem Besen aus dem Hausflur auf die Straße zu fegen und immer weiter zu fegen, auch als längst kein Krümel mehr auf dem Boden zu entdecken war? Zwölf Damenschuhe lagen zwischen plattgefahrenen Pferdeäpfeln vor ihrer Haustür, damit alle sehen konnten, dass Marija mehr Schuhe besaß als jede andere Frau im Dorf, was sowieso jeder wusste. Damit alle sehen konnten, was Marija aufgegeben hatte. Zwölf weggefegte Schuhe bedeuteten aber auch: Mutter war mit kleinem Gepäck gegangen.

Oder begann der Hass an dem Tag, als die Mutter zu ihnen zurückkehrte, mit dem Kind eines Fremden im Bauch, gedemütigt zwar, aber mit jener Aura der Verwegenheit, die sie fortan umgeben sollte, vom Sitz des Fuhrwagens steigend, der sie nach Hause gebracht hatte, wissend, dass Cesaro sie wieder aufnehmen würde? War es überhaupt Hass? Es war schließlich nicht so, dass Zora ihre Mutter ununterbrochen hasste, manchmal vergaß sie das brennende Gefühl, dem sie überhaupt einen Namen hatte geben müssen, was erst im Alter von vierzehn Jahren der Fall gewesen war, als sie die Mutter dabei beobachtete, wie sie einen Blumenstrauß in der Vase drapierte und dabei versonnen die Blütenblätter eines Rittersporns streichelte, mit einem Blick, den Zora nicht deuten konnte, doch der sie verstörte, weil er aus einer anderen Welt zu kommen schien, einer, die Zora verschlossen war. Da dachte sie zum ersten Mal: Ich hasse dich. Vorher hatte sie nur diesen Unmut gespürt, ein Unbehagen in der Anwesenheit ihrer Mutter, vor allem ein körperliches, als ob aus dem einst urvertrauten Mutterleib ein fremder geworden wäre, ein mächtiger Frauenkörper, der ihr bei unzähligen Gelegenheiten zu nahe kam und den sie nicht wegzustoßen wagte.

Fünf Monate war Marija weggeblieben. Vom ersten Tag an hatte Cesaro seiner Tochter klargemacht, dass jetzt sie die Frau im Hause sei, was das achtjährige Mädchen fraglos akzeptierte, der Vater hatte deutlich gesagt, man wisse nicht, ob die Mutter jemals wieder zurückkehre, und nein, sie habe ihm nicht erzählt, wohin sie gehe. Nur tot, das hatte er den drei Kindern eingebläut, tot sei sie nicht, das wisse er mit Sicherheit. Tot ist sie nicht, hatten Franc, Zora und Ljubko einander immer wieder zugeraunt, wenn ihre Sehnsucht nach der Mutter zu groß wurde. An diese hoffnungsfrohen, im Laufe der Monate verzagter werdenden Flüstereien erinnerte Zora sich, als sie jetzt auf der Brücke an Ljubko vorbeifuhr, der kein wimmerndes Kind mehr war, das nachts in ihr Bett geschlichen kam, um bei der älteren Schwester Trost zu suchen. Manchmal hatte er nach Honig gerochen, morgens klebte ihr Haar, weil er seinen Honigmund darin vergraben hatte. Irgendwann hatte sie beim Putzen (die Frau im Haus!) einen Honigtopf unter seinem Bett gefunden und gemerkt, dass es im Leben des kleinen Ljubko eine Reihenfolge des Getröstetwerdens gab und sie am Ende der Rettungsleiter stand: Daumen nuckeln, Hasenfell streicheln, Honig naschen, zu Zora kriechen. Groß war er geworden, dachte sie, und stark, wie er da neben der mit Steinbrocken gefüllten Schubkarre stand, lässig eine Zigarette rauchend, ein Jüngling mit kastanienbraunem Haar, bergbachklaren Augen und kräftigem Knochenbau, wie alle in der Familie – oder fast alle. Obwohl sie nur drei Jahre älter war, verspürte sie eine mütterliche Zuneigung zu ihm, und die hatte nicht zuletzt mit dem Honigtopf zu tun; betrachtete sie Ljubko, roch sie Honig, noch heute. Sie beschleunigte. Der Blick aus dieser Höhe war herrlich. Wenn sie etwas liebte, dann das: die totale Übersicht. Und dank der Vollgummireifen fuhr sich der neue Lastkraftwagen weitaus besser als der alte mit den Eisenrädern. Auch die Windschutzscheibe war eine feine Erfindung: weniger Staub im Gesicht, kaum noch tränende Augen. Der Krieg hatte der Lastwagentechnik zahllose Neuerungen beschert, immerhin das.

Zora wusste viel vom Krieg. Jeder im Sočatal wusste viel vom Krieg. Dreisprachig sogar, die schweren Worte gingen den meisten geschmeidig über die Lippen: Soške bitke. Battaglie dell’ Isonzo. Isonzoschlachten. Zora fiel das Deutsch leichter als den anderen; die zwei Jahre im Mädchenpensionat in Wien hatten sie nicht nur mit der deutschen Sprache vertraut werden lassen, sondern ihr eine gewisse großstädtische Noblesse eingehaucht, die im Dorf nicht jedem gefiel (oder genauer gesagt: fast keinem). Auch den Dorfnamen gab es in drei Varianten: Bovec. Plezzo. Flitsch. Als Kind hatte sie je nach Laune mal dieses, mal jenes gesagt, am liebsten aber Flitsch. Flitsch klang lustig, wie glitsch; sie und ihre Brüder hatten Reime gesungen, sich den Hang zur grün schillernden, eiskalten Soča hinunter glitschen lassen und einander mit Glitsch beworfen, ihrem Familienwort für Schlamm und überhaupt allem, was eklig war, Schnecken zum Beispiel, Schnecken waren auch glitsch.

Der Fluss hatte sogar vier Namen. Soča. Isonzo. Lusinç. Sontig. Zwar sagte kein Mensch mehr Sontig, nicht einmal die hartgesottensten k. u. k. Monarchisten; Sontig war heimlich verloren gegangen. Aber man hatte noch die Wahl zwischen der slowenischen Soča, dem furlanischen Lusinç und dem italienischen Isonzo. Doch seit die Italiener die Herren im Tal waren …

Sie bremste, als sie in die Dorfstraße einbog. Dass Teile der Fracht, die sie auf dem Wagen transportierte, gefährlich waren, wusste sie natürlich. Doch irgendjemand musste schließlich den Schrott zur Deponie bringen, all die Munitionshülsen, Patronen, Bajonette, viele davon für das M1895, die Feldspaten, zerbrochenen Keramik-Stielhandgranaten, Stücke von österreich-ungarischen Repetiergewehren, manchmal auch ganze italienische Carcanogewehre und Stahlhelme natürlich; an vielem klebte Blut. Zwischenzeitlich hatte sie ganz vergessen, was da in den Holzkisten lag. Als sie die Passstraße hinuntergerollt war, hatte sie kurz an ihre Mutter gedacht, an das, was sie beide trotz allem verband und wovon sie dachte, dass es der eigentliche Grund war, warum die Mutter damals zurückgekehrt war: die Liebe zu diesem Flecken Gebirgslandschaft, die ungeheure Weite der Ebene, umrahmt von Bergen, die sich wie kantige Brocken um das Hochplateau lagerten, darin die smaragdgrüne Soča; eine erhabene Landschaft, vom zehntausendfachen Soldatentod gänzlich ungerührt.

Sie erhaschte einen Blick auf ihr Elternhaus, bevor sie abbog. Es sah gut aus, so kompakt. Und weniger zerstört, als sie erwartet hatte, als sie Franc’ Telegramm in den Händen hielt: «BOVEC FREI ABER ZERSTÖRT KOMMT».

Fast alle waren zurückgekehrt. Die Armen, die man ins Flüchtlingslager nach Bruck an der Leitha verfrachtet hatte, weil sie nicht wussten, wohin sonst. Die Glücklichen, die bei Verwandten fernab der Sočafrontlinie hatten unterschlüpfen können. Und dann sie, die Familie Ostan, die einfach umgezogen war, in ein Haus in Ljubljana, das der Vater nach Kriegsbeginn gekauft hatte. Man hatte sich an jenem 24. Mai 1915 kaum voneinander verabschieden können, als der Dekan Vidmar in der Morgenmesse die Nachricht überbrachte: Die Italiener haben uns den Krieg erklärt, sie greifen an. Ihr müsst weg, jeder Einzelne von euch! Packt nur das Nötigste, einen Handkoffer für jeden. Eine Wolldecke. Proviant für drei Tage. Versammelt euch morgen früh auf dem Platz. Geht jetzt! Gott behüte euch. Amen.

Sie wussten nicht, wie lange sie wegbleiben würden, viele glaubten, man kehre nach kurzer Zeit zurück, einige mauerten Kostbarkeiten im Keller ein, Hühner und Gänse wurden freigelassen, Ziegen auch, Kühe trieb man mit. Bürgermeister Jonko verstaute die wichtigsten Gemeindedokumente in einem Fass und ließ es im Garten vergraben, das Fass war nach Kriegsende verschwunden, nur Reste verbrannter Dokumente fand man noch vor, wahrscheinlich von den Italienern zum Heizen benutzt.

Natürlich war die Flucht nicht einfach gewesen, ohne Lastkraftwagen, den hatte die Armee bei Kriegsbeginn beschlagnahmt. Aber immerhin besaßen sie Pferde und Karren, der Vater betrieb nicht nur eine Herberge, sondern auch ein Fuhrunternehmen. Franc war schon vor Wochen eingezogen worden, Zora das älteste der Kinder auf der Flucht. Ljubko lenkte das hintere Gespann, Zora das vordere. Boris rannte vor und zurück, doch meistens ging er allein, pfiff variationsreiche Melodien, der drahtige Neunjährige. Den kleinen Nino hatten sie auf die vollgepackte Ladefläche von Zoras Karren gesetzt, manchmal weinte er, dann wiederum lugte er wie ein quirliger Gnom mit zerzaustem Haar zwischen all den Taschen, Mänteln und Decken hervor, hüpfte auf ihnen, strauchelte und kippte lachend weg, Boris alberte mit ihm herum, bis Zora sie zurechtwies, das hier war schließlich keine Vergnügungsreise. So zogen sie im Schritttempo über die Berge, Zora und ihre drei Brüder. Die Eltern waren mit dem leichten Gespann am Tag der Bekanntmachung vorgefahren, in der Herberge von Onkel Milo in Kranjska Gora fanden die Kinder eine Notiz von ihnen, man hatte ein Zimmer für sie vorbereitet. Die restlichen Nächte kamen sie bei Bauern in Scheunen unter, wie die anderen Flüchtlinge auch. Sie trafen schmutzig, aber gesund in Ljubljana ein, zwei Wochen hatte die Flucht gedauert. Der Anfang war das Schlimmste gewesen, der Predil ein steiler Pass, in der Höhe lag noch Schnee; sie hatten sich hinaufgequält, die Pferde und Maulesel und Kühe, aber auch die Menschen, Familie hinter Familie, und ein paar Hunde, die sich nicht hatten verscheuchen lassen, noch dazu. In der Ferne das Donnern der italienischen Artillerie. Im Rückblick schien alles nicht mehr so arg, aber im Rückblick sah ohnehin das meiste besser aus, das hatte Zora mit ihren einundzwanzig Jahren bereits verstanden; das Gedächtnis ging milde mit der Vergangenheit um. Wäre es anders, könnte sie ihre Mutter nicht ertragen, diese Verräterin.

Zwei Jahre waren die Bewohner weggeblieben, ein ganzes Dorf, an einem Montagmorgen auf die Straße gefegt wie einst Marijas Schuhe. Und dann in alle Welt verstreut. Die verwaisten Häuser blieben monatelang leer, nur Spinnen und anderes Kleingetier zogen ein (vielleicht auch das ein oder andere Huhn). Dann füllten sie sich mit Fremden auf, lauter Männer, lauter Italiener. Gesunde, verwundete, kranke, schmutzige Männer, die dafür kämpften, dass Österreich dieses Tal und die Berge nicht zurückerobern würde. Bovec, ein Männerdorf. Als die Bewohner aus ihren Exilen zurückkehrten, waren aber nicht nur ihre Häuser lädiert, sondern auch sie selbst.

Zora fuhr an der Kirche vorbei zur Deponie hoch. Sie war an jenem Montagmorgen nicht in der Messe gewesen, Frühmessen waren etwas für die Alten. Stattdessen hatten Pepca und sie im Speiseraum Gläser poliert und darauf gewartet, dass der einzige Gast aus der oberen Etage heruntergestiegen kam, damit sie sein Zimmer herrichten konnten, ein Händler aus Triest, das wusste sie noch.

Pepca war ihre beste Freundin, vielleicht ihre einzige, eine Waise aus dem Nachbarort, die Cesaro als Magd aufgenommen hatte, ein koboldhaftes, dunkeläugiges Mädchen, das viel lachte und ihr nichts übel nahm. Anders als die lange Ana, Ana mit den geraden Beinen, wie Zora sie seufzend nannte. Sie selbst hatte krumme Beine. Das behauptete sie zumindest, auch wenn Pepca ihr immer wieder versicherte, ihre Beine seien keineswegs krumm. Ana mit den geraden Beinen verhielt sich nach ihrer Rückkehr zugeknöpft, kühl geradezu. Vor dem Krieg waren sie engste Freundinnen gewesen, sie drei; jetzt nicht mehr. Zora konnte sich an den Moment während der Flucht erinnern, als sie die Passhöhe bereits hinter sich gelassen hatten und mit den Pferden nach Tarvis hinuntertrotteten. Zuerst hörte sie den Lastkraftwagen, der sich von hinten näherte und sie dann knatternd überholte. Dann sah sie Ana, eingemummelt auf der Ladepritsche, zwischen Tante und Mutter gequetscht, alle drei mit einem Kind auf dem Schoß, Ana hielt den kleinen Istok umschlungen, dessen blonde Locken sich mit ihren zu einer einzigen überbordenden Haarwildnis zusammenzukringeln schienen, Anas jüngster Bruder; gut dreißig Frauen und Kinder hockten dicht gedrängt auf dem Lastwagen, Gepäck hatten sie kaum dabei, sie hatten alles angezogen, was sie besaßen, Schicht über Schicht. Ana und sie winkten einander zu, erst freudig, dann zurückhaltend, beide ahnten, dass sich zwischen ihnen etwas verändert haben würde, sollten sie einander jemals wiedersehen. Anas Zukunft lag in einem Flüchtlingslager irgendwo hinter Wien, Zoras in einem Wohnhaus mit Garten in Ljubljana. Gerecht war das nicht.

Gerecht war auch nicht, was sie nach ihrer Rückkehr vorfanden. Das Haus der Ostans stank infernalisch, ansonsten war es ziemlich intakt, sogar der Putz hatte gehalten. Anas Haus stank nicht. Anas Haus bestand aus zweieinhalb rohen Wänden mit Löchern drin, kein Dach mehr, kein Boden, kein Kamin. Fast alle Häuser im Dorf waren Ruinen, Backsteinfragmente in bizarren Formen. An der Hauptstraße westlich des Platzes das lang gezogene Ostan-Haus, dessen Stattlichkeit vor dem Krieg wenig aufgefallen war, weil es mit seinen zwei Stockwerken nicht höher war als die anderen, sondern nur tiefer und sehr viel länger. Jetzt, so unversehrt, sah es unverschämt imposant aus. Warum es nicht zerschossen worden war – kein Mensch wusste es.

Ungerecht war zudem, dass Anas Bruder tot war und Zoras Brüder nicht. Ljubko, Boris, Nino, alle putzmunter. Auch Franc hatte den Krieg als Offizier überlebt, verletzt zwar und von den Engländern in Gefangenschaft genommen, aber eben nicht tot. Ana hatte Pepca geschildert, was im Lager vorgefallen war. Pepca wiederum erzählte Zora alles weiter, sprach von den Dutzenden Holzbaracken, die in Reih und Glied dastanden, weiß getüncht und flach, in jeder Baracke zwanzig Zimmer, in jedem Zimmer acht Menschen. Von den fünftausend Slowenen, die in der Barackenstadt wohnten, und den sechstausend Bruckern, die die Slowenen zu verteufeln anfingen, als es mit den schlimmen Krankheiten losging und das Sterben begann, die sie als Schmarotzer beschimpften, als Schwarzhändler, die die Preise hochtrieben. Sie erzählte kichernd, dass Ana im Lager-Mädchenchor mit ihrer Glockenstimme den Kantor bezirzt hatte, der sie daraufhin mit Lebensmitteln aus der Stadt versorgt und ihr sogar einen blausamtenen Umlegekragen geschenkt habe, und sie erzählte mit Tränen in den Augen von der Nacht, in der der kleine Istok starb, so plastisch, als sei sie dabei gewesen: dass Istok statt zu wachsen immer mehr zu schrumpfen schien, bis er kaum mehr vorhanden war, dass der verliebte Kantor dem Jungen vom Schwarzmarkt Eier und eine dunkle Melasse mitgebracht habe, die Ana nicht kannte, wohl etwas Niederösterreichisches, das dem Kleinen aber schmeckte und das er selig mit den Fingern in den Mund stopfte, bis ihn plötzlich ein Krampfanfall überfiel, der ihn schüttelte und schüttelte, bis er starb. Im Lager gingen Gerüchte um, die Melasse sei vergiftet gewesen, weil die Einwohner von Bruck die Slowenen ausmerzen wollten. Der Kantor sei noch ein paar Tage um Ana herumgeschlichen, bevor er niedergeschlagen das Lager verlassen habe.

Je mehr Zora erfuhr, desto sehnlicher wollte sie mit Ana sprechen und sie trösten oder ihr etwas Süßes backen, so wie früher, doch Anas Kälte schien sich täglich noch zu steigern und irgendwann gab Zora einfach auf. Sie betrachtete Pepcas und Anas anhaltende Freundschaft mit Argwohn, machte hin und wieder eine knurrige Bemerkung, bis sich Pepca schließlich von der langen Ana fernhielt (immerhin war Pepca im Haus der Ostans untergekommen, sie kannte ihre Rolle und würde nichts überreizen).

Vor der Kriegsgerätesammelstelle am oberen Ende des Dorfes standen zwei Lastwagen mit Anhängerkarren, die Zufahrt war schief und voller Löcher, es ruckte, Zora stellte ihr Lastauto neben die anderen. Sie schloss das Faltverdeck, raffte ihre Röcke und sprang vom Führerhaus, ging um den Camion herum, löste die hinteren Verschlüsse der Plane und rief zur Deponie hoch: «Ich bin zurück!» Sie wartete nicht auf die Männer, Schrott abladen war weiß Gott nicht ihre Aufgabe.

Die Schnürsenkel ihrer Stiefeletten hatten sich gelöst, sie bückte sich, um sie zu binden. Als sie aufblickte, sah sie auf der Hofmauer zwei rothaarige Italiener sitzen, die einander zufeixten, beide trugen Uniform, beide rauchten. Was es alles gibt, dachte sie. Italiener mit roten Haaren! Und gleich zwei davon! Sie warf ihnen einen frechen Blick zu und ging nach Hause.

Der Serbe stand in der Tordurchfahrt auf der Leiter und ölte ein Scharnier. Den Serben hatten sie im Haus vorgefunden, als sie aus Ljubljana zurückgekehrt waren, ein Kriegsfaktotum. Er kam sanft lächelnd aus der Dachkammer heruntergestiegen, als sie ihr Haus betraten, begrüßte sie mit nobler Zurückhaltung, als sei er der langjährige Diener, nahm Mutter und Tochter die Handköfferchen ab und trug sie in ihre Zimmer, die er richtig zuordnete, obwohl kaum mehr etwas darin stand. Fehlt nur der Handkuss, hatte Marija erfreut gemurmelt. Zora hatte sie von der Seite angeblickt. Wieder dieses quälend dunkle Gefühl.

Der Serbe war schweigsam und glutäugig. Selbstverständlich hatte er einen Namen, Goran, den man in der direkten Ansprache auch verwendete, aber ansonsten nannten ihn alle nur den Serben. Dass er Serbe war, spielte durchaus eine Rolle. Bosniaken waren viele für Österreich-Ungarn ins Feld gezogen, Franc hatte eine bosniakische Kompanie geführt, aber doch nicht die Serben, die waren der Feind. Ein Serbe, der auf ihrer Seite gekämpft hatte, musste verrückt oder ein anständiger Kerl sein. Zudem war er klein und etwas unförmig, mupf, wie der Geheimcode der Kinder für dick lautete. Mupfe Menschen konnten nicht böse sein, weil sie ja mit Essen beschäftigt waren, fanden die Ostans, die nicht dick, sondern kräftig waren, mit Ausnahme von Boris, der war spindeldürr und sah mit seiner aristokratischen Nase sowieso anders aus als der Rest, kein Wunder, dachte Zora.

Ein dumpf platschendes Geräusch, ein Schrei. Der Serbe war von der Leiter gefallen. «Goran!», rief Zora. Ein Hosenbein war zerrissen, Goran humpelte durchs Tor und hockte sich auf die Holzbank, die er gestern erst getischlert hatte. Zora setzte sich neben ihn, die Hauswand im Rücken, von der Sonne gewärmt. Sie schloss für einen Moment die Augen. Goran stöhnte leise auf, Zora blinzelte und dann sah sie die Narbe. Nicht die blutende Wunde, die der Serbe mit seinem Taschentuch trocken tupfte. Die Narbe, die darunter lag und sich wie eine Natter über den Oberschenkel kringelte, übers Knie womöglich auch, vielleicht bis zum Fuß hinab.

«Wann?», fragte Zora und zeigte darauf.

«24. Oktober», antwortete der Serbe.

Mehr gab es nicht zu sagen. 24. Oktober sagte alles. 24. Oktober bedeutete Eisregen und Schneestürme, bedeutete Einsatz der Deutschen, bedeutete Granaten mit blauen und grünen Kreuzen, darin neuartiges Gas, Blaukreuz und Grünkreuz zusammen ergaben den Buntkreuzbeschuss, hunderttausend solcher Granaten in den Stellungen der Österreicher, die auf die ahnungslosen Italiener niederprasselten. 24. Oktober bedeutete die totale Vernichtung von Mensch und Tier, ein ganzer Landstrich erstickt, nur Leichenfelder, die übrig blieben, und die schweigenden Berge. Elf Schlachten hatten die Österreicher verloren, die zwölfte gewannen sie dank deutschem Gas, Wunder von Karfreit nannten sie den Schlag gegen die Italiener, obwohl dieser Sieg kein Wunder war, Wunder hatten mit Gott zu tun und nicht mit alles tötendem Gas, zudem verloren die Österreicher am Ende doch noch den Krieg.

Zora blickte zum Rombon hoch, die Buchen am Fuß der steilen Hänge trieben in zartem Hellgrün aus, darüber der Nadelbaumwald, dann nackter Fels, auf der Höhe lag Schnee, schön, so wie früher. Und nie wieder wie früher. Ein Berg, gespickt mit Kavernen, Löchern und Unterschlüpfen, wie ausgehöhlte Augen, die leer auf die Ebene hinabglotzten; darin hatten sie monatelang gesessen, die Österreicher wie auch die Italiener mit ihren Gewehren und Kanonen, und nicht nur auf dem Rombon, auch auf dem Polounik und den anderen Bergen rund um die Ebene, ganze Nester hatten in dem Gestein geklebt, Felsbatterien, vollgepfercht mit Männern, wie jenen von Punkt 13/13, dem berüchtigten Elitestützpunkt, die manchmal ins Tal hinabstiegen, um das Bordell zu besuchen, das die österreichische Armee für die Soldaten der Front eingerichtet hatte, mit wechselnden Dirnen, damit die Männer sich nicht an sie banden, hatte Zora gehört, Wienerinnen vor allem, was sie nicht verwunderte, sie hatte die leichten Mädchen gesehen damals in Wien; ein Steinhäuschen am Wegesrand, weit von allem entfernt, auf der Straße zum Pass hoch, auf der Flucht waren sie daran vorbeigekommen, damals eine Unterkunft für Ziegenhirten, wie heute wieder. Die Front, das klang unwirklich. Die Front war sonst weit weg, vorne irgendwo, bei anderen Menschen; diese Front war bei ihnen gewesen, direkt neben dem Dorf, zwanzig Meter zum Isonzo hinunter, dann der Fluss, dahinter die Schützengräben und Unterkünfte der italienischen Reserven, die Front eben, nicht nur für ein paar Tage, bis die Gefechtslinie sich verschoben hatte, sondern monatelang; Bovec, ein Dorf für die Geschichtsbücher.

«Francesco», sagte der Serbe plötzlich.

«Francesco?», fragte Zora.

«Er war ein hübscher Junge», sagte der Serbe.

Zora betrachtete Goran von der Seite. Sie hatte ihn nie gefragt, was er im Krieg getan hatte. Man fragte Männer nicht danach, das hatte ihr die Mutter eingebläut, sie taten eben, was sie tun mussten, also frag nicht. Es gab dieses Männerkriegsschweigen, das auch Franc beherrschte, mit anderen Soldaten sprach er wahrscheinlich über das Erlebte, mit seinen Geschwistern nicht, bis auf lustige Anekdoten über die Essgewohnheiten der Bosniaken in seinem Regiment, woraufhin Franc so sentimental wurde, dass er tagelang mit seinem Fez aus rotem Filz durchs Dorf lief und die Überreste der Moschee besuchte, die auf Geheiß der österreichischen Heeresleitung für die muslimischen Bosniaken erbaut worden war, was wiederum den Pfarrer zu Kopfschütteln veranlasste, mehr aber auch nicht. Franc’ Liebe zum Feztragen wurde als Kriegsbeschädigung abgetan, andere hatten in den Jahren seltsamere Marotten angenommen, Anas Großmutter etwa strickte ohne Unterlass Blumenvasenhüllen, weil Blumen Wärme bräuchten, was niemand verstand, sie aber nicht vom Weiterstricken abhielt, zumal Anas Mutter heimlich die fertigen Hüllen auflöste und die kostbare Wolle zu neuen Knäueln wickelte, ein ewiger Kreislauf.

«Francesco», fragte Zora, «wer war er?»

Goran ging nicht auf die Frage ein. «Das Schlimmste war die Stille», sagte er. «Drei Stunden dieser Höllenlärm. Punkt zwei Uhr in der Früh bekamen wir den Schießbefehl, aus allen Stellungen wurde gleichzeitig gefeuert, von den Bergen hinunter, im Tal selbst, bis fünf Uhr morgens, der ganze Talkessel hat unter den Explosionen gebebt, rundum zischte das Eisen durch die Luft.»

Zora hatte von dem Lärm gehört, tausend Donner im Flitscher Becken nannten ihre Brüder und sie diese Stunden.

«Der Hall brüllte zu uns hoch, schlug an die Felswände und wieder zurück, es war, als ob die Berge auseinanderkrachten. Wir verfeuerten alle Granaten und Minen, die wir den Berg hochgeschleppt hatten, eine nach der anderen. Verschlussschrauben gegen scharfe Zünder austauschen, Rohr laden, zünden, Rohr in Stellung bringen, scharfe Zünder einschrauben, laden, zünden, immer wieder, bis die Rohre glühten. Wir hörten unsere eigenen Abschüsse nicht, so ohrenbetäubend hämmerte der Lärm durchs Tal, es stampfte und tobte, als ob der Teufel höchstpersönlich die Feuertrommel schlagen würde. Die Italiener schossen anfangs zurück, wir sahen die Aufschlagsflammen im Nebel aufflackern, ihre Scheinwerferlichter irrten sinnlos umher. Dann war plötzlich Schluss. Alles verebbte. Nur noch Dunkelheit. … Und Stille. Die Stille war das Schlimmste. Wir verstanden nicht, warum es so still war da unten, kein Knall mehr, keine Explosion, nichts. Wir nahmen die Gasmasken ab. Einer brühte Kaffee auf. Wir tranken und rauchten. Dann kam das Morgengrauen, wir suchten mit den Feldstechern nach Bewegung, doch die Ebene war vom Nebel und Rauch verhüllt, ein Schleier hatte sich wie ein Tuch über sie gelegt. Was darunter war … man konnte ja nicht wissen … natürlich wusste ich … aber doch nicht so …» Er brach ab. Steckte sich eine Zigarette an.

«Das Gas hat sich durchs Tal gefressen», sagte Zora.

«Die Vergasung sei perfekt gewesen, haben die Patrouillen des Gaswerferbataillons gemeldet. Krimmer und ich haben gesehen, was die Deutschen mit perfekt meinten. Krimmer war mein Leutnant, wir sind zusammen hinabgestiegen.»

«Nach Čezsoča», sagte Zora.

«Ja, Čezsoča.»

«Du warst drin.»

Sie wusste, was in Čezsoča geschehen war. Das Dorf lag auf der anderen Seite der Soča, war kleiner als Bovec und genauso zerstört. Vor dem Dorf hatten die Italiener ein weitverzweigtes System an Wällen, Unterkünften, Höhlen und Verschlägen in die Erde und auch in die Schlucht gebaut, durch die sich eine Straße wand, die beide Dörfer verband. In der Schlucht wütete das Gas am grausamsten, kroch in jede Ritze, wurde zur Falle für achthundert Männer, die elend verreckten, so hatte der Vater gesagt, elend verreckt, eine ganze Kompanie.

«Ja, ich war drin.»

«In der Schlucht.»

«In der Schlucht, in der Kaverne. Krimmer und ich waren überall. In der Baracke dann … da stand dieser Junge … also Francesco stand da … er lehnte an einem Holzpfeiler … rund um ihn herum hockten die Toten an den Wänden, mit ihren blau aufgequollenen Gesichtern, wie Wachsfiguren, sicher vierzig Mann, die Gewehre zwischen den Knien, als ob sie bald aufbrechen wollten. Draußen hatten Gefallene am Boden gelegen, unsere Granaten hatten sie getötet. Sie lagen nebeneinander, übereinander, zerfetzte Körper, rundum Helme, Tornister, Betonbrocken und Holzpfähle, Strohmattenfetzen bedeckten sie, alles wüst durcheinander, dazwischen tote Ratten, alle viere von sich gestreckt. Aber drinnen, in der Baracke drin … da …»

Zora wartete geduldig. Goran hatte in den letzten zehn Minuten mehr gesprochen als während der drei Monate, die sie ihn jetzt kannte.

«… da war es anders. Die waren nicht verletzt. Sie sahen ganz normal aus, nicht einmal Gasmasken trugen sie. Die wussten gar nicht, wie ihnen geschah, so schnell ging das. Mit Gas hat doch keiner gerechnet. Vor allem nicht mit solchem Gas! Und dieser Junge stand da und spähte zwischen den Brettern hindurch nach draußen. Ich dachte wirklich, er lebt. Ich tippte ihn an und er kippte einfach um. Ich weiß nicht, warum er da stand, irgendetwas muss ihn gestützt oder eingeklemmt haben, Holz vielleicht. Krimmer winkte mir zu, schnell raus hier! Ich kniete neben dem Jungen, er hatte ein ganz glattes Gesicht … so fein … Zuerst sah ich den Briefumschlag. Dann entdeckte ich das Taschentuch. Wahrscheinlich hatte er es sich vors Gesicht gehalten, als das Gas reinzog. Ich habe beides genommen und bin Krimmer hinterhergelaufen, raus aus dieser Gruft. Ich strauchelte und stürzte über einen Blindgänger, der mein Bein zerriss.»

Zora lehnte sich zurück. Goran faltete das blutbefleckte Taschentuch in immer kleinere Quadrate, nach jeder Faltung strich er es glatt. Erst da sah sie, dass der Stoff nicht nur umhäkelt war, sondern eine Stickerei die Ecke zierte, ein bunter Blumenstrauß, um den sich eine Zeile wand, vier Wörter, vier Farben. Dal tuo padre amorevole. Francescos Taschentuch. Das, was von einem Jungen übrig blieb, der in den Krieg gezogen war: ein Stück Stoff mit einer vielfarbigen Stickerei – Von deinem liebenden Vater.

Ein lang gezogener Schrei. Zora sprang auf. Der Schrei war in ein anschwellendes Brüllen übergegangen, das ihr vertraut war, Nino! Sie rannte zum Platz, der Serbe hinkte hinterher, und da stand Nino und brüllte und heulte, das Gesicht blutverschmiert. Seine Freunde drückten sich an der Häuserwand entlang, schuldbewusst, ein ganzer Haufen Jungen, keiner älter als zehn. Zora prüfte Ninos Gesicht, dann die Hände. Die linke Hand war blutig, Hautfetzen baumelten herab, darunter offenes Fleisch, Nino wimmerte, schrie nicht mehr, drängte sich verschreckt an sie. Goran fasste dem Kleinen in die Hosentaschen, sie standen weit ab, waren prall gefüllt.

«Munition», sagte der Serbe.

«Herrgott, Nino!», schimpfte Zora, blickte zu den Kindern hinüber, die eilends in einem Hauseingang verschwanden, und rief: «Ihr sollt nur Patronenhülsen einsammeln! Nichts anderes, das wisst ihr doch! Wollt ihr alle sterben?»

Nino schluchzte. Am liebsten hätte Zora weitergeschimpft und die ganze Bande an das Drama von letztem Monat erinnert. Die Kinder hatten kleinkalibrige Granaten im Wald gefunden, sie wie einen Patronengürtel um einen Baumstamm gebunden und die Zündschnüre angesteckt, eine nach der anderen ging hoch, die Buche begann zu brennen, die Kinder johlten vor Freude, bis sie merkten, dass weitere Bäume Feuer fingen, diese vom Krieg malträtierten Bäume mit ihren verkohlten Ästen und Stümpfen, sie loderten und knisterten, man konnte das Feuer von Bovec aus sehen. Die Dorfbewohner mussten unten an der Soča Löschwasser schöpfen und die Kinder ein Donnerwetter über sich ergehen lassen, manche auch Schläge, aber Nino war noch tagelang mit leuchtenden Augen durchs Dorf stolziert, wie ein Hund, der ein Reh gerissen hatte und im Blutrausch blieb.

«Los, zur Ambulanz! Zu dem Arzt, dem Italiener», kommandierte der Serbe. Zora hob Nino hoch und trug ihn über den Marktplatz bis zur Ambulanz hinauf, seinen Kopf an ihre Schulter gelehnt, die Beine über ihrem rechten Arm baumelnd, ihr schien, als habe er das Bewusstsein verloren. Er war schwer, doch sie wehrte Goran ab, als er ihr den Jungen abnehmen wollte: «Ich kann das.»

Die Kinder folgten ihnen in einer größer werdenden Traube, auch Mädchen hatten sich dazugesellt. Neugierige Blicke aus den Fenstern; halb Bovec sah dabei zu, wie Zora Ostan durch den Ort schritt, einen ohnmächtigen Achtjährigen im Arm, den Serben im Schlepptau, eine Horde Kinder hinter sich.

Durch den Garten kam ihnen eine Krankenschwester entgegen, diese resolute alte Furie, die man oft durchs Dorf eilen sah, auffällig allein schon wegen ihres weißen Kittelkleids und der gestärkten Haube auf dem gescheitelten Haar. «Hierher», die Furie wies Zora eine Pritsche neben dem Eingang zu, auf die sie Nino legen sollte, dann scheuchte sie Goran und die Kinder weg. «Sieht schlimmer aus, als es ist», sagte sie, nachdem sie die Hand des Knaben inspiziert hatte, der wach und brav auf der Pritsche lag, «aber der Doktor muss nähen.»

Zwei Männer in Felduniformen kamen den Flur herunter, beschwingter Gang, schmale Silhouetten, eng geschnittene Jacken mit hoher Taille, Pluderhosen in den schwarzen Stiefeln, in diesem mausgrauen Stoff des italienischen Heers, dem verhassten. Die beiden Rothaarigen! Der eine bog um die Ecke und ging davon, der andere trat zu ihnen. Sommersprossen, dünner Schnauz und eine kreisrunde Brille, grün funkelnde Augen dahinter. Feiner Trick, dachte Zora, der junge Offizier trug die Brille sicher nur, um seriöser auszusehen. Er beugte sich über Nino, da entdeckte sie das rote Kreuz an seiner Uniform. Der Rothaarige war Sanitätsoffizier, wie schön.

«Wann kommt endlich der Doktor?», fragte sie die Schwester, die in wachsamer Furienmanier hinter ihnen stand.

«Ich bin das!», antwortete der Brillenträger keck und musterte Zora ungeniert.

«Ach, Sie schwindeln doch!», entschlüpfte es ihr. «Sie sind viel zu jung!»

«Dreiundzwanzig», triumphierte der Rothaarige strahlend, «der jüngste Arzt Italiens!»

Sie betrachtete sein schmales, sommersprossiges Gesicht: «Und wie heißt der Herr Doktor denn?»

«Del Buono», antwortete er, «Pietro Del Buono.» Und fügte feierlich hinzu: «Sizilianer.»

Da musste Zora lachen.

Berlin, November 1920

Mater dolorosa, dachte er immer als Erstes, wenn er an sie dachte, und er dachte oft an sie. Eigentlich passte der Begriff nicht, mater dolorosa klang zu aufopferungsvoll. Das war jeweils sein zweiter Gedanke: zu aufopferungsvoll. Aufopfern würde sie sich gewiss nicht. Was passte besser? Er suchte gern nach treffenden Begriffen. Das Bild stimmte zudem nur halb: leidende Frau mit womöglich totem Kind im Arm, eine Art lebendig gewordene Pietà, wobei Marien gemeinhin saßen, sie hingegen schritt. Wie sie mit dem Kleinen in den Armen zu der Villa hochgeschritten kam, in der die Ambulanz untergebracht war, das war eindrucksvoll gewesen, eine soror dolorosa, aber eine besonders prachtvolle, geradezu sizilianisch anmutende. Wem hatte die Villa eigentlich vor dem Krieg gehört? Er hatte es vergessen, ach, unwichtig. Er sollte sich zusammenreißen, Kienböcks letzter Artikel zur Diagnostik der Lunatummalazie lag vor ihm, hochinteressant, aber nicht einfach zu lesen auf Deutsch. Wenn ihm nur nicht immer dieses Bild vor Augen stünde. Und der Begriff dazu fehlte. Er könnte die Staatsbibliothek aufsuchen und nachschlagen, ob jemand eine schreitende Pietà gemalt hatte, aber wahrscheinlich würde er nicht fündig werden. Es quälte ihn, wenn er sich nicht konzentrieren konnte, seine Arbeit war ihm wichtig. Er würde diese Frau heiraten. An ihrer Seite zum Altar schreiten. Schreiten konnte er gut, jeder Süditaliener konnte schreiten, das sollten die Norditaliener erst einmal lernen, die konnten marschieren, was etwas anderes war, das hatte er im Krieg gesehen, schreiten hatte mit Würde und Gelassenheit zu tun, ein verinnerlichter, majestätischer Gestus, der standesunabhängig war, jeder sizilianische Fischer schritt würdevoll, und sei es nur die Quaimauer entlang.