Seinetwegen - Zora Buono - E-Book

Seinetwegen E-Book

Zora Buono

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Beschreibung

Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die große Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld? „Seinetwegen“ ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in dunkle, abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiß über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

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Zora del Buono

Seinetwegen

C.H.Beck

Zum Buch

«So, wie Literatur sein soll. Was del Buono macht, ist Kunst» Michael Maar

Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die große Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?

«Seinetwegen» ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in dunkle, abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiß über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?

Wie kann jemand der fehlt, ein Leben dennoch prägen? Der viel zu frühe Unfalltod eines Vaters — und was er für das Leben der Tochter bedeutet hat Das neue Buch von Zora del Buono nach dem Bestseller «Die Marschallin» Zeitgeschichte als Familiengeschichte erzählt Roman einer Recherche: Detailgenau, raffiniert komponiert, so präzise wie poetisch Für Leser:innen von Monika Helfer, Annie Ernaux und Tove Ditlevsen «Eine brillante Erzählarchitektin.» Julia Stephan, Schweiz am Wochenende

Vita

Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, lebt in Berlin und Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift mare. Bei C.H.Beck Literatur sind erschienen: «Gotthard» (2015), «Hinter Büschen an eine Hauswand gelehnt» (2016) und «Die Marschallin» (2021).

Inhalt

TEXTBEGINN

IM KAFFEEHAUS 1 (über das Morden):

IM KAFFEEHAUS 2 (über Deformationen):

IM KAFFEEHAUS 3 (über Vaterlosigkeit):

IM KAFFEEHAUS 4 (über den Tod):

IM KAFFEEHAUS 5 (über das Erinnern und Urnen):

IM KAFFEEHAUS 6 (über das Reden und Handeln):

IM KAFFEEHAUS 7 (über Schuld und Sühne):

IM KAFFEEHAUS 8 (über frühe Bindungen):

IM KAFFEEHAUS 9 (über das Schweigen):

«Nie mehr, nie mehr!»

Und doch ist da ein Widerspruch: dieses «Nie mehr» ist nicht ewig, weil man selbst eines Tages stirbt. «Nie mehr» ist das Wort eines Unsterblichen.

Roland BarthesTagebuch der Trauer

TEXTBEGINN

Hügelige Landschaft, herrliches Wetter, ein Maitag, alles grünt. Auf dem Weg in die Berge auf Straßenschildern plötzlich die vertrauten Ortsnamen, Uznach, Näfels, Kaltbrunn, immer wieder gehört, unwiderruflich eingegraben ins Kinderhirn, aber nie richtig zugeordnet: Wo ist der Unfall passiert, wo war das Krankenhaus, in das man die Verletzten überführt hat, wo fand der Gerichtsprozess statt? Wenn die Namen früher auftauchten, auch in Gesprächen anderer Leute, die nicht das damit verbanden, was wir damit verbanden, zuckte ich zusammen, Uznach, Näfels, Kaltbrunn; hoffentlich hört Mutter die schlimmen Wörter nicht.

Seit Jahren denke ich, wenn ich eines dieser Ortsschilder passiere: Ob E. T. wohl noch lebt? Er müsste Mitte achtzig sein. Wie hat er die letzten sechzig Jahre verbracht, mit seiner Schuld? Und dann der Gedanke: Ich muss ihn suchen, ihn aufsuchen. Den Töter meines Vaters.

Ich kenne nur seine Initialen: E. T.

Als Kind fantasierte ich oft, dass ich ihn finde und zur Rede stelle und damit Mutter räche. Es waren melodramatische innere Filmchen, die ich da produzierte, ich hatte die Dimension des Geschehens überhaupt nicht erfasst. Mit zehn versteht man die Endgültigkeit von Tod noch nicht (falls man sie überhaupt jemals versteht). Später verflog der Gedanke.

Erst in letzter Zeit taucht er wieder auf.

Vaters Schwager, mein Patenonkel, Besitzer und Lenker des VW Käfers, sagte im Alter einmal, es sei das Drama seines Lebens, das ihn nie losgelassen habe. Hundertfach, vor allem nachts, die Überlegungen, hätte ich nicht das Steuer rumreißen können, habe ich etwas übersehen, hätte ich schneller reagiert, wären wir später losgefahren oder früher, nur eine Minute später oder früher, es wäre nicht passiert. Er, der Unschuldige, machte sich Gedanken über seine Schuld, während der Schuldige sich Gedanken um seinen Ruf machte.

Lindgrüne VW Käfer gab es viele. Da saßen Menschen drin, die nichts von unserer persönlichen Käfer-Tragödie wussten. Es ist ein Auto, das man gern anschaut, fröhlich, ein brummendes buntes Tier, für viele war es ihr erstes Auto überhaupt, ein Freiheitsversprechen; für uns war es der Tod. Im Herbst 1938 gingen die ersten Exemplare in Betrieb, es war das Auto, das sich Adolf Hitler für sein Volk gewünscht und bekommen hat. Bis 2002 war der Käfer das meistverkaufte Auto überhaupt, dann wurde er abgelöst vom VW Golf.

Wie viele Menschen starben seit 1938 in einem VW Käfer? Man ist überfordert mit dieser Frage. Es werden Abertausende sein.

1963 besaßen nur wenige Autos Kopfstützen, obwohl schon 1921 ein Amerikaner namens Benjamin Kratz ein Patent für sein headrest erhielt (Kopfruhe, ein schönes Wort). Hätte das Auto des Patenonkels (Onkel klingt so alt, er war dreiundzwanzig, als ich zur Welt kam, und vierundzwanzig, als der Unfall geschah) Kopfstützen gehabt, hätte Vater, den ich bestimmt papà genannt hätte, wahrscheinlich überlebt. Der Aufprall brach ihm das Genick. Das ist auch etwas, was sich der Patenonkel vorwarf: Hätte der Wagen doch Kopfstützen gehabt.

Ein Karl Meier aus dem Saarland, der dort das Kfz-Handwerk gelernt hatte und dann in die Schweiz zog, um Faltdächer für Cabriolets zu entwickeln, kehrte 1936 nach Deutschland zurück, ging zu Opel nach Rüsselsheim, wo er den Kadett von seinem letzten Stück Holz befreite. Dann der Schritt zur Gesellschaft zur Vorbereitung des deutschen Volkswagens, die Ferdinand Porsche leitete. Meier sollte sich um die Innenausstattung der Autos kümmern, für 430 Reichs-Mark monatlich, achtzehn Patente sind ihm zuzuschreiben. Der Käfer wurde sein Paradestück. Nach dem Krieg verließ er VW, eröffnete in einer Holzbaracke eine Werkstatt, erfand den bunten Schonbezug für Autositze, VW übernahm die Idee. 1952 gründete er die Firma Kamei (Karl Meier), es folgte seine vielleicht bahnbrechendste Erfindung nebst dem Körperformsitz: die aufsteckbare Schlummerrolle, die auch als Kissen oder Armlehne verwendbar war. Die Kritik war groß, Autofahrer könnten einschlafen, hieß es. Meier entgegnete: Ein «Autofahrer muss es bequem und komfortabel haben, umso entspannter kann er sich auf den Verkehr konzentrieren. Außerdem schützt die Rolle das Genick bei einem Unfall.» Aus dieser Schlummerrolle wurde die erste Sicherheitskopfstütze der Welt, im September 1969 von der TU Berlin geprüft: «Die Belastungen im Kopf und in der Halswirbelsäule werden deutlich herabgesetzt, und Schleuderbewegungen des Kopfes werden weitgehend verhindert.»

Immer, wenn ich Oldtimer ohne Kopfstützen sehe, erschrecke ich, fantasiere das Schlimmste, sehe den Aufprall vor mir, den nach hinten und wieder nach vorne geschleuderten Schädel, höre ein knackendes Geräusch, möchte an die Scheibe klopfen und die Insassen warnen und tue es doch nicht.

Der allererste Kinofilm, den ich geschaut habe, war Bambi. Tante Anni nahm mich mit ins Kinderkino am Bellevueplatz in Zürich, so hieß es auch: Kino Bellevue. Heute ist es ein für seine kitschige Dekoration berühmtes Café. Fast jedes Zürcher Kind dürfte dort seinen ersten Kinofilm gesehen haben, 1921 war das Lichtspielhaus eröffnet worden. Wenn man aus dem Kino trat, war da gleich die Riviera, eine Treppenanlage an der Limmat, die in den 1980ern berühmt wurde, wir, die linke, gern kiffende Jugend hockte dort stundenlang auf den Stufen herum; gegenüber waren, so hat man später erfahren, Kameras installiert, der Staat bespitzelte seine Kinder, wir waren Teil des Fichenskandals, der Jahrzehnte dauerte und 1990 endete. Im Laufe der Zeit hatten sich 900.000 Aktennotizen des Staatsschutzes angesammelt. Unvergesslich ein Auszug aus der Fiche von Max Frisch: «Reiste am 23.8.48 nach Polen zur Teilnahme am Weltkongress der Intellektuellen für die Sache des Friedens».

Bambi ist mir in Erinnerung als ein Ereignis, bei dem ich viel weinte und am Ende trotzdem glücklich war. Ich weinte um die totgeschossene Mutter des kleinen Hirschs, ich weinte darum, dass er nun auch Halbwaise war (so wie ich), ich weinte, weil Bambi so viele Freunde hatte, die sich kümmerten, das Kaninchen Klopfer, das Stinktier Blume und Freund Eule. An jenem Kinotag habe ich angefangen, Jäger zu verachten, und es hat nichts genützt, dass ich Jahrzehnte später Die Leidenschaft des Jägers des großen Psychoanalytikers Paul Parin gelesen habe, der selbst Jäger war, worin er von ritualisierter Gewalt spricht, von Gier und Wollust, er schreibt, dieser Trieb sei dem Menschen angeboren, was ich erstaunlich finde, wo doch nur 0,3 Prozent der Bevölkerung Jäger sind.

Im selben Kino habe ich auch Herbie – Ein toller Käfer gesehen, der 1969 in die deutschsprachigen Kinos kam. Im Original heißt er: The Love Bug. Der weiße VW Käfer führt ein Eigenleben, entscheidet Dinge, fährt über Wasser, ist ein sympathisches Wesen, eine beseelte Maschine. Herbie wird im Film zum Rennwagen, auf seiner Kühlerhaube thront die Nummer 53. Ein richtiggehender Herbie-Kult setzte ein, VW Käfer überall, auf Plakaten, in Zeitungen, in Spielwarenläden. 1953 ist das Jahr, in dem sich meine Eltern kennenlernten, die 53 ihre Schicksalszahl. Ich stelle mir Mutter vor, wie sie überall von Herbie verfolgt wird, der so munter Unfällen entkommt, sich mehrfach überschlägt, quer über Straßen rast, ein richtiggehender Rowdy mit Herz ist dieser Wagen, nichts kann ihn töten.

Später, die Vorbereitung auf die Firmung. Der Pfarrer vom Nachbarort (in unserem gab es nur eine protestantische Kirche, ich war aber katholisch) dreht mit uns über mehrere Wochenenden einen Kurzfilm. Gruppengefühl, Gemeinschaftserlebnis. Wir sind vierzehn Jahre alt. Ich spiele die Hauptrolle. Die Erinnerung an den Film ist weg, aber die zentrale Szene habe ich nicht vergessen, den plot point. Ich sitze am Steuer des VW Käfer (!) des Pfarrers, auf dem Schoß (!) dieses Mannes, dessen Arme mich auf Hüfthöhe umschlingen, um möglichst unsichtbar den Wagen zu steuern, während ich tue, als führe ich. Ich erinnere mich an ein Engegefühl, an Atmen hinter mir, aber auch an die freudige Aufregung, am Steuer sitzen zu dürfen. Und an Ketchup auf meinem Gesicht. Ein Unfall sollte simuliert werden, es ist mir bis heute ein Rätsel, wie in Gottes Namen dieser Pfarrer auf die Idee kam, ausgerechnet mich als Überlebende eines Autounfalls zu casten. Wissend, dass meine Mutter sich den Film ansehen würde? Jeder kannte unsere Geschichte. Mutter war die attraktivste junge Witwe weit und breit. War der Pfarrer ein Sadist? Gedankenlos? Oder einer mit einem verqueren therapeutischen Ansatz?

IM KAFFEEHAUS 1 (über das Morden):

Also bitte, die Sache mit dem Pfarrer ist ja allerhand, entrüstet sich Isadora.

Klarer Fall: ein Sadist, sagt Henri.

Isadora ist Psychiaterin – nicht Psychologin, ein entscheidender Unterschied, wie sie betont. Sie trägt gern bunte Kleidung, roten Lippenstift, Fingerringe in täglich wechselnder Zusammenstellung, ihre Wohnung sieht aus wie die einer Studentin, Kleider und Schuhe in wildem Durcheinander auf dem Dielenboden. Sie redet schnell und viel, ein hellwacher Geist, eine deutsche Intellektuelle alter Schule. Auf sie trifft zu, was die Satirikerin Fanny Müller in einem wunderbaren Dialog ihre Figur Frau K. sagen ließ: «Frau M.: ‹Ich nehme an, Sie haben in Ihrem Leben schon alles gesehen?› Frau K.: ‹Zweimal.›» Isadora hat alles mindestens zweimal gesehen, nichts Menschliches ist ihr fremd.

Henri hat einst die Kunstschule besucht, ist Raumgestalter und Autor, ein eleganter schwuler Mann mit markantem Gesicht, wie geschnitzt, ein Gesicht zum Verweilen. Beide sind über siebzig, sie treffen sich samstags nach dem Markt in einem Café, gelegentlich geselle ich mich dazu.

Vielleicht ein Frauenhasser, sagt Isadora, eine frühe Form des Incels, so wie damals dieser Pommerenke.

Pommerenke?, frage ich.

Ein Vergewaltiger und Frauenmörder, sehr bekannt, ein Serienkiller, saß ewig im Gefängnis, erklärt Henri.

Kam aus der DDR, floh nach West-Berlin, wohnte später in Zürich und Schaffhausen, sagt Isadora.

Und dann eben bei uns.

Wo, bei uns?, frage ich.

Im Schwarzwald, da hat er mit der Morderei angefangen. Wir kommen doch beide daher, das war nicht weit von uns. Man hat immer über ihn gesprochen. Er hat die ganze Gegend in Angst und Schrecken versetzt, sagt Henri.

Er hat einen Monumentalfilm im Kino gesehen, in Karlsruhe, ’59 muss das gewesen sein, sagt Isadora.

Die zehn Gebote.

Genau! Die zehn Gebote. Da hatte er eine Art Erweckungserlebnis bei einer Szene mit spärlich bekleideten Frauen. Sah sie ums Goldene Kalb tanzen und fand, die Frauen seien die Ursache allen Übels dieser Welt, man müsse sie vernichten. Er müsse sie vernichten.

Hat noch in dieser Nacht die erste Frau umgebracht.

Er ging aus dem Kino und ermordete eine Frau?, frage ich.

Vergewaltigte sie, schlitzte ihr die Kehle auf, sehr übel.

Er war auf einer Mission.

Was ihr da erzählt! Das ist ja grauenhaft!

Incels sind überall, nickt Isadora.

Hattest du schon einen Mörder als Patienten?, frage ich.

Nicht bewusst. Aber weiß man’s?

Wir bestellen eine weitere Runde Tee.

Ich trage Mutters Ring. Sie hat ihn zu meiner Geburt von ihren Schwiegereltern geschenkt bekommen, ein Diamant in Weißgold, von dem es immer hieß, er sei unglaublich teuer, kostbar wie ein Maserati (!), eine Art Notreserve für Krisenzeiten, besser noch als Gold (wenn alles schiefgeht, fantasierte ich als Kind, verkauft Mama ihn und wir zwei fangen in Amerika ein neues Leben an). Drum trug sie ihn immer, Tag und Nacht, Jahr für Jahr. Ein Ring ist am sichersten am Finger, sagte sie.

Der Ring und ich fahren im Zug nach Antwerpen, unsere erste gemeinsame Reise. Antwerpen als Diamantenstadt scheint mir ein passendes Reiseziel. Dass ich Mutter den Ring abgenommen habe und ihn jetzt selbst trage, hat Überwindung gekostet. Wenn ich sie besuche, werde ich ihn nicht tragen, sie könnte ihn erkennen und denken, ich sei eine Fremde, die sie bestohlen hat.

Letzten Monat hatte sie ihn verlegt, wir mussten lange suchen, bis wir ihn wiederfanden: in einer zerknautschten Medikamentenschachtel. In jenem Moment beschloss ich, ihn ihr nicht zurückzugeben. Sie weiß nicht mehr, dass sie einen Ring besitzt, einen Brillanten, so teuer wie ein Auto. Sie erinnert sich auch nicht an ihre süditalienischen Schwiegereltern und nicht an ihren Mann, um den sie fast ein Leben lang getrauert hat.

Zweimal ging der Diamant verloren, hatte sich aus der Fassung gelöst, die wie ein hässliches Stahlgerüst an Mutters Finger klaffte; da war ich noch ein Kind. Das eine Mal fanden wir ihn im Kaninchenstall im Stroh wieder, das andere Mal in der Holzskulptur eines zeitgenössischen Bildhauers in dem Museum, das meine Mutter leitete. Beide Male hatte helle Aufregung geherrscht.

Nichts in unserem Leben verkörpert die Aura des Familiären so wie dieser Ring. Und jetzt trage ich ihn. Mutter hat die schöneren Hände als ich, an ihr sah er elegant aus, stimmig, an mir wirkt er leicht deplatziert. Ich denke, jeder erkennt sofort, dass ich ein Auto am Finger trage. Etwas, das ich nicht verdiene. Ich fühle mich gleich in dreifacher Hinsicht schuldig: weil es Mutters Ring ist (aber soll ich ihn in einen Safe legen, bis sie tot ist?), weil ich ahne, unter welchen Bedingungen der Diamant in den 1950ern in Südafrika abgebaut wurde, und weil ich denke, was man mit dem Erlös Gutes tun könnte. Doch mir widerstrebt es, diesen Stein an der Hand einer fremden Frau zu wissen. Eher werfe ich ihn ins Meer, als ihn zu Geld zu machen, denke ich. Das Symbol der Liebe meiner Eltern. Ich die Frucht davon. Die Goldschmiedin, die ihn geprüft und gereinigt hat, sagte: Du wirst dich dran gewöhnen. Ihr werdet zusammenwachsen.

In Antwerpen will ich ein schmales Ringlein kaufen, das sich vor den Brillanten schieben lässt, einen Stopper, sagte die Goldschmiedin, gegen die Verlustangst. Hinter dem Bahnhof liegt das Diamantenviertel, ein Geschäft neben dem anderen, es funkelt und glitzert überall. Schätzungen werden angeboten, Ankauf, Verkauf, schnelles Geld winkt. Manche Geschäfte sehen suspekt aus, andere bieder, zweimal gehe ich unverrichteter Dinge wieder raus. Der dritte Laden ist der richtige, die Inhaberin angenehm, ein Kommen und Gehen, goedendag, goedendag, shalom, shalom. Die Chefin sieht sich den Diamanten genauer an, sie schätzt ihn auf knapp 2 Karat, Farbe k, Reinheit vs. Der Gatte kommt, sagt, der Stein sei jack. Was das bedeute, frage ich. Viel kostbarer als k, sagt sie, 50.000 mindestens. Er legt den Ring auf ein Gerät, das alles vermisst. Man hätte das Gerät nicht gebraucht, die Chefin hatte recht, 1.9 Karat, vs, aber kein jack, nur k, 9000 ungefähr. Ich bin erleichtert, es ist nur ein gebrauchter Kleinwagen, den ich am Finger trage. Und gleich fühlt er sich leichter an.

Im Zug zurück eine seltsame Szene. Ein Kleinkind, ein blondgelocktes Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt, zieht protestierend seine Hose aus und sitzt in der Windel mitten auf dem Gang des ICE. Sie zetert und schreit. Die Mutter fragt, ja, was willst du denn? Der Vater sagt, vielleicht ist die Windel voll. Die Mutter fragt, soll ich dir die Windel wechseln? Das Kind verstummt. Der Vater hebt die Kleine auf den Nebensitz, sie sitzt mir nun schräg gegenüber. Sie verschränkt die Daumen ineinander und legt sie in den Schoß, sie fängt an, das Daumenpaar am Windelhöschen zu reiben, drückt rhythmisch darauf, es dauert ein wenig, bis ich merke, was sie tut. Sie streckt die nackten Beine aus, lehnt sich zurück, drückt fester, schneller, ihr Blick wird glasig und fern, sie schnauft. Ihr Gesicht sieht aus wie das einer erwachsenen Frau, gekrauste Stirnfalten darin. Dann plötzlich ist sie fertig, schüttelt sich wie ein Hündchen und ist wieder ganz im Hier. Ich bin erstarrt, habe ihr im intimsten Moment zugeschaut, mich währenddessen gefragt, ob ich die Eltern ansprechen soll, warum um Himmels willen sie ihre masturbierende Tochter der Öffentlichkeit preisgeben, ob sie sich nicht schuldig fühlen, aber ich wollte niemanden in Verlegenheit bringen, also habe ich geschwiegen und in dieses erschütternd alte Gesicht geblickt und mich nicht gut gefühlt dabei.

Ihr Bruder, erzählt mir eine junge Frau bei einem Abendessen, sei von einem Auto angefahren worden, sein Leben habe sich dadurch wenig verändert, er sich hingegen schon. Es war an einem Volksfest in der Solothurner Provinz, eine Gruppe junger Leute zog von einer Kneipe zur nächsten, das mache man an diesem speziellen Wochenende so, es sei lustig gewesen, und alle betrunken, als sie auf dem Trottoir nach Hause gingen. Ein Auto raste auf sie zu, fuhr über die Bordsteinkante, riss den Bruder mit, der zu Boden fiel und schwerverletzt liegen blieb. Das Auto fuhr weiter, Fahrerflucht, der Schuldige wurde nie gefunden. Der Bruder, keine dreißig Jahre alt, musste zahllose Operationen über sich ergehen lassen, am Rücken vor allem, aber auch im Gesicht. Kieferknochen mussten neu gestaltet werden, die Stirn auch, er sieht jetzt anders aus. Wenn sie an ihren Bruder denkt, hat sie noch das alte Gesicht im Kopf, und wenn er dann auf sie zukommt, denkt sie, ach stimmt, so sieht er heute aus. Sie hat sich an den fremden Ausdruck noch immer nicht gewöhnt.