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„Wollen wir es wirklich tun?“, fragte Childebert mit düsterer Miene. – „Dein Einfall war es!“, erwiderte Chlothar schroff. „Hast du mich deshalb nicht hergerufen? Nein, es muss Dolch oder Schere heißen für die beiden, aus denen Mutter Könige machen will.“ Das Frankenreich zu Beginn des 6. Jahrhunderts. Viele Jahre sind vergangen, seit der große Frankenkönig Chlodwig starb – und immer noch schwelt der Konflikt zwischen seinen Erben. Blut mag dicker sein als Wasser, aber es wird ebenso schnell vergossen, wenn es um die Macht im Reich geht. Während die Königswitwe Chlotilde nichts unversucht lässt, um weiteres Unrecht zu verhindern, haben zwei ihrer Söhne ganz andere Pläne: Sie wollen das Reich von Orléans an sich reißen. Und sie sind bereit, dafür über die Leichen ihrer Verwandten zu gehen, auch wenn diese noch Kinder sind … Die fesselnde Familiensaga über eine der mächtigsten Familien der Spätantike, die mit Blut und Schwert Geschichte schrieb: die Merowinger. Jetzt als eBook: „DIE MEROWINGER – Sechster Roman: Tödliches Erbe“ von Robert Gordian. dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 219
Über dieses Buch:
Das Frankenreich zu Beginn des 6. Jahrhunderts. Viele Jahre sind vergangen, seit der große Frankenkönig Chlodwig starb – und immer noch schwelt der Konflikt zwischen seinen Erben. Blut mag dicker sein als Wasser, aber es wird ebenso schnell vergossen, wenn es um die Macht im Reich geht. Während die Königswitwe Chlotilde nichts unversucht lässt, um weiteres Unrecht zu verhindern, haben zwei ihrer Söhne ganz andere Pläne: Sie wollen das Reich von Orléans an sich reißen. Und sie sind bereit, dafür über die Leichen ihrer Verwandten zu gehen, auch wenn diese noch Kinder sind …
Die fesselnde Familiensaga über eine der mächtigsten Familien der Spätantike, die mit Blut und Schwert Geschichte schrieb: die Merowinger.
Über den Autor:
Robert Gordian (1938–2017), geboren in Oebisfelde, studierte Journalistik und Geschichte und arbeitete als Fernsehredakteur, Theaterdramaturg, Hörspiel- und TV-Autor, vorwiegend mit historischen Themen. Seit den neunziger Jahren verfasste er historische Romane und Erzählungen.
Robert Gordian veröffentlichte bei dotbooks bereits die Romane ABGRÜNDE DER MACHT, MEIN JAHR IN GERMANIEN, NOCH EINMAL NACH OLYMPIA, XANTHIPPE – DIE FRAU DES SOKRATES, DIE EHRLOSE HERZOGIN und DIE GERMANIN sowie drei historische Romanserien:
ODO UND LUPUS, KOMMISSARE KARLS DES GROSSEN
Erster Roman: »Demetrias Rache«
Zweiter Roman: »Saxnot stirbt nie«
Dritter Roman: »Pater Diabolus«
Vierter Roman: »Die Witwe«
Fünfter Roman: »Pilger und Mörder«
Sechster Roman: »Tödliche Brautnacht«
Siebter Roman: »Giftpilze«
Achter Roman: »Familienfehde«
DIE MEROWINGER
Erster Roman: »Letzte Säule des Imperiums«
Zweiter Roman: »Schwerter der Barbaren«
Dritter Roman: »Familiengruft«
Vierter Roman: »Zorn der Götter«
Fünfter Roman: »Chlodwigs Vermächtnis«
Sechster Roman: »Tödliches Erbe«
Siebter Roman: »Dritte Flucht«
Achter Roman: »Mörderpaar«
Neunter Roman: »Zwei Todfeindinnen«
Zehnter Roman: »Die Liebenden von Rouen«
Elfter Roman: »Der Heimatlose«
Zwölfter Roman: »Rebellion der Nonnen«
Dreizehnter Roman: »Die Treulosen«
ROSAMUNDE, KÖNIGIN DER LANGOBARDEN
Erster Roman: »Der Waffensohn«
Zweiter Roman: »Der Pokal des Alboin«
Dritter Roman: »Die Verschwörung«
Vierter Roman: »Die Tragödie von Ravenna«
Ebenfalls erschien bei dotbooks die beiden Kurzgeschichtenbände EINE MORDNACHT IM TEMPEL und DAS MÄDCHEN MIT DEM SCHLANGENOHRRING sowie die Reihe WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN mit kontrafaktischen Erzählungen über berühmte historische Persönlichkeiten:
WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Caesar, Chlodwig, Otto I., Elisabeth I., Lincoln, Hitler
WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Napoleon, Paulus, Themistokles, Dschingis Khan, Bolívar, Chruschtschow
WÄREN SIE FRÜHER GESTORBEN: Karl der Große, Arminius, Gregor VII., Mark Aurel, Peter I., Friedrich II.
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Überarbeitete eBook-Neuausgabe März 2014
Die komplett überarbeiteten und erweiterten Neuausgaben der Merowinger-Romane von Robert Gordian, die bei dotbooks erscheinen, beruhen auf einer Tetralogie, die zwischen 1998 und 2006 in verschiedenen Verlagen veröffentlicht wurde. Teile des vorliegenden sechsten Romans der Serie erschienen erstmals 2006 in »Die Heilige und der Teufel«, veröffentlicht im Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin.
Copyright © der Originalausgabe 2006 Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, Berlin
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock.com/Olemac
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95520-553-9
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Robert Gordian
DIE MEROWINGER
Tödliches Erbe
Sechster Roman
dotbooks.
Ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches anno 476 ist das von Caesar über ein halbes Jahrtausend zuvor für Rom eroberte Gallien (das heutige Frankreich) fest in der Hand germanischer Völker und Stämme. Den Süden (heute Provence) beherrschen die Burgunden unter ihren Königen Gundobad und Godegisel, den Südwesten (Aquitanien) die Westgoten unter Alarich II.
Der Mächtigste aber ist Chlodwig, König der salischen Franken, der den letzten römischen Statthalter in Gallien besiegt, vertrieben und schließlich getötet hat. Unaufhaltsam eroberte er zunächst das Gebiet zwischen Somme und Seine und drang dann Schritt für Schritt bis zur Loire vor. Als er 496 in einer Schlacht gegen die Alamannen den Gott der Christen als Sieghelfer zu erkennen glaubt, schwört er dem Heidentum ab und lässt sich taufen. Die katholische Kirche betrachtet ihn seitdem als Retter und Vorkämpfer.
Frauen sind es, die Chlodwigs Eroberungsdrang nutzen und ihn in neue Kriege verwickeln, vor allem seine strenggläubige, energische, wesentlich jüngere Gemahlin Chlotilde, eine Burgundin. Eifrig unterstützt wird sie dabei von den Oberhirten der katholischen Kirche Remigius (Reims) und Avitus (Vienne). Deren Kampf gilt dem »Ketzerglauben« des Arianismus, dem fast alle germanischen Völker und Stämme anhängen und den sie mit Chlodwigs Hilfe ausrotten wollen.
Ein erstes Unternehmen gegen die Burgunden mit fragwürdigem Kriegsgrund (angeblich hat König Gundobad Chlotildes Eltern ermordet) endet erfolglos – doch es gelingt Chlodwig, das kleine Reich der Rheinfranken nach einer niederträchtigen Verwandtenintrige, die zwei Könige der Merowinger das Leben kostet, unter seine Herrschaft zu bringen. Schließlich besiegt er auch die Westgoten und dehnt sein Reich bis weit über die Loire aus. Nur schmale Landstriche im Süden Galliens bleiben gotisch.
Gegen Ende seines Lebens genießt der König der Franken – ein skrupelloser Machtmensch und Eroberer, der sich aber auch als Erbe der Römer fühlt und als Staatslenker deren Tradition zu wahren sucht – sogar die erstrebte Anerkennung des Kaisers von Ostrom als dessen »Konsul«. Doch die Kämpfe, Verwundungen und Krankheiten seiner letzten Jahre zehren seine Lebenskraft auf.
Er stirbt im Jahr 511, fünfundvierzig Jahre alt. Das Frankenreich, das seine vier überlebenden Söhne erben, soll als Ganzes erhalten bleiben; Chlodwigs Nachfahren sollen in ihrem jeweiligen Königreich trotzdem selbständig regieren.
Der Älteste, Theuderich, aus der ersten Ehe Chlodwigs, erhält das östliche Reich, das auch rechtsrheinisches Gebiet umfasst. Seine Halbbrüder, alle drei Söhne Chlotildes und noch nicht zwanzig Jahre alt, werden Könige der Teilreiche von Orléans, Paris und Soissons.
Chlodomer, der älteste Sohn Chlotildes, fällt 524 bei einem fränkischen Überfall auf das Königreich Burgund. Sein Bruder Chlothar heiratet seine verwitwete Schwägerin Chunsina. Die beiden unmündigen Söhne Chlodomers werden von ihrer Großmutter Chlotilde in Tours aufgenommen.
Chlotilde wird siebzig Jahre alt werden und ihren Gemahl, den sie mit kluger Beherrschung beeinflusste und lenkte, um viele Jahre überleben. Doch auch auf ihre Söhne sucht sie Einfluss zu nehmen, und so begegnet man ihr von Zeit zu Zeit an deren Höfen. Zum Beispiel an Childeberts in Paris – an einem Tag des Jahres 524, der zu den schrecklichsten in der Familiengeschichte der Merowinger zählt …
Chlotilde, Witwe des Reichsgründers Chlodwig
Theudowald, ihr Enkel, 10 Jahre alt
Gunthari, ihr Enkel, 7 Jahre alt
Chlothar, Chlotildes Sohn, König der Franken (Soissons)
Baudin, Palastgraf, Ratgeber König Chlothars
Dacco, Kommandant der Leibwache Chlothars
Childebert, Chlotildes Sohn, König der Franken (Paris)
Theuderich, Sohn Chlodwigs, König des Ostreichs
Theudebert (Dracho), dessen Sohn
Willachar (Atum), Palastgraf, Freund Theudeberts
Animod (Blic), Bischof, Freund Theudeberts
Huodo (Kinnizan), Graf, Freund Theudeberts
Magnovald, Ratgeber König Theuderichs
Berthe, Gutsherrin, Enkelin Chlodwigs
Arne, ihr Sohn
Amalaberga, Königin der Thüringer
Answald, ihr Stallmeister
Radegunde, thüringische Königstochter, Gefangene
Irmfried, deren Bruder
Melanius, Lehrer Radegundes und Irmfrieds
Liutger, sächsischer Burggraf
Eggo, thüringischer Krieger
Grippo, berittener fränkischer Krieger
Waldo, Diakon
Huwo, Spielmann
Simiolus, ein Zwerg, Spielmann
Modestus, Eremit
Celsa, Lagerhure
Crispa, Lagerhure
Bozo, Scherge und Henker
Die beiden Jungen spielten im Hof des Pariser Palastes mit ihren Tonfigürchen.
Der Ältere hieß Theudowald. Der Zehnjährige hatte blaue Augen, und seine blonde Mähne fiel in glänzenden Wellen bis zum Gürtel. Der Jüngere mit der Stupsnase war erst sieben und hieß Gunthari. Sein Haar hing fast bis an die Kniekehlen und war rötlich und ein bisschen gekräuselt. So sah jeder gleich, dass sie Merowinger waren.
Langes Haar trugen alle männlichen Mitglieder der Familie. Nach einem uralten Glauben war es das Zeichen ihres königlichen Heils, ihres Herrscherglücks.
Die alte Königin Chlotilde saß auf einer Bank und freute sich über ihre Enkel. Was waren sie doch für reizende Knaben – so lieb, so klug! Bald würden sie junge Männer sein, mutig, stark und von allen bewundert.
Mit zwölf Jahren war ein Merowinger volljährig, da konnte der Ältere schon seinem Vater nachfolgen, dem König Chlodomer, ihrem herrlichen Sohn, dem Helden. Der war im Kampf gegen die Burgunden gefallen, aber er lebte weiter in seinen Kindern. So friedlich, wie sie dort in der Sonne spielten, sollten sie später gemeinsam herrschen. Dafür wollte die alte Königin sorgen.
Am Tor gab es Lärm, und Bewaffnete ritten herein. Das waren die beiden anderen Söhne Chlotildes, die Könige Childebert und Chlothar, mit ihrem Gefolge. Childebert residierte in Paris, Chlothar knapp siebzig Meilen entfernt in Soissons.
Chlothar war zu Besuch gekommen, die beiden luden einander manchmal ein, zur Jagd oder zu einem Festmahl. Die alte Königin hing an ihnen, ihren jüngeren Söhnen, wenn auch nicht so sehr, wie sie an dem gefallenen Ältesten gehangen hatte. Ihr größter Wunsch war, dass das schöne Einvernehmen der Brüder bestehen bliebe und dass sie als gute Onkel den beiden Neffen den Thron des Reiches von Orléans bewahrten.
Die Könige saßen ab und kamen lachend und plaudernd näher. Beide waren noch jung, keine dreißig Jahre alt. Die beiden Neffen rannten ihnen entgegen, warfen sich ihnen in die Arme.
»Habt ihr schon auf uns gewartet, ihr Racker?«, fragte König Childebert.
»Ja! Ihr wolltet doch mit uns üben.«
»Was denn?«
»Na, die Franziska schleudern!«
»Später, später! Erst einmal müssen wir uns ausruhen.«
Die Könige grüßten ihre Mutter respektvoll und umarmten sie.
»Wie schön«, sagte sie, »dass ihr die beiden so liebhabt. Sie sind meine größte Freude, das Glück meiner alten Tage.«
»Das ist dir zu gönnen, Mütterchen«, sagte Childebert.
»Sie machen sich ja auch prächtig«, fand Chlothar.
»Meint ihr nicht auch, dass sie ihrem Vater immer ähnlicher werden? Theudowald hat schon so schönes welliges Haar, und Guntharis Löckchen schimmern ein bisschen rötlich, wie bei ihm.«
»Ach, Mütterchen, sprich nicht von unserem toten Bruder, du brichst uns das Herz«, sagte Chlothar seufzend.
Die beiden stützten die alte Frau links und rechts und führten sie die Marmortreppe hinauf. In der Halle war es bei der Julihitze angenehmer.
Childebert, der Hausherr, ließ gut gekühlten Wein kommen. Auch die alte Königin trank gern einen Becher.
»Ich hoffe, Mütterchen, du fühlst dich hier wohl«, sagte Childebert, »hier in Paris, wo du noch mit unserem Vater Chlodwig gelebt hast. Wir sind sehr froh, dass dir der Weg von Tours hierher nicht zu weit war, dass du uns mit den Kindern besuchst.«
»Eigentlich gehörten die beiden ja zu dir, Chlothar«, sagte die alte Königin zu ihrem jüngsten Sohn. »Das heißt, zu ihrer Mutter Chunsina. Recht eilig hattest du es, die Witwe deines gefallenen Bruders zu heiraten. Die Kinder sind eurem jungen Glück wohl im Wege.«
»Aber nein«, entgegnete Chlothar. »Wir haben sie in deine Obhut gegeben, damit sie eine fromme Erziehung erhalten. Damit sie gute Christen werden. Wer könnte sie besser betreuen als du. Im ganzen Frankenreich giltst du als Heilige.«
»Aber die beiden werden bald Könige sein. Deshalb wäre es besser, sie wüchsen an einem Königshof auf. Wie sollen sie sich auf ihre künftigen Aufgaben vorbereiten?«
Die Brüder tauschten einen Blick, und Childebert sagte, die Worte dehnend: »Ihre künftigen Aufgaben … ja, es ist wichtig, dass sie sich darauf vorbereiten. Doch gerade deshalb sind sie bei dir am besten aufgehoben, Mütterchen.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte die alte Königin. »Kann denn ich ihnen beibringen, wie sie ihr Reich regieren und ihr Heer führen sollen?«
»Das wird ja nicht nötig sein«, sagte Chlothar.
»Wie? Nicht nötig? Was heißt das?«
»Das heißt, mit Regieren und Krieg führen werden sie sich nicht herumplagen müssen.«
»Was sagst du? Das verstehe ich nicht.«
»Sieh einmal, Mütterchen«, nahm wieder Childebert das Wort, »es ist besser, wenn wir beide, Chlothar und ich, das Reich unseres Bruders unter uns aufteilen. Jeder nimmt eine Hälfte und fügt sie seinem eigenen Reich an. So ist es vernünftig. Zu diesem Zweck haben wir uns diesmal getroffen.«
Die alte Königin blickte ungläubig von einem zum anderen. Ihre Hände begannen zu zittern, ihre Stimme wurde schrill. »Wie? Höre ich recht? Ihr wollt den Kindern ihr Erbteil nehmen? Das Reich ihres Vaters? Ihr wollt sie um ihren Thron betrügen?«
»Ein hartes Wort, Mutter!«, sagte Chlothar. »Die Reiche der Franken müssen erhalten bleiben, das ist das Wichtigste. Zwei schwache Knaben, auch wenn der eine bald volljährig sein wird … Wie könnten sie sich behaupten? Sie würden zur Beute von Thronräubern werden. Und wenn sie gemeinsam herrschten, würden sie sich bald gegenseitig an die Kehle fahren. Das kann nicht gutgehen.«
»Ah! Und deshalb habt ihr also beschlossen …«
»Noch nicht beschlossen«, sagte Childebert sanft, um die schroffen Worte des Bruders zu mildern. »Es ist wirklich noch nichts entschieden. Wir wollten dich auch erst um Rat fragen.«
»Überflüssig! Ihr kennt meine Meinung.«
»Nein, warte doch. Denke noch einmal nach. Chlothar hat recht, es würde schlimm für die beiden ausgehen. Deshalb …«
»Deshalb?«, fragte die alte Frau mit funkelnden Augen.
»Deshalb werden wir sie davor bewahren und ihnen die Haare scheren«, erwiderte Chlothar. »Als Geschorene sind sie gerettet.«
»Niemals!«, rief sie. »Niemals lasse ich das zu. Die Haare – ihren Merowingerstolz? Die Garantie ihres Heils? Ihren Anspruch auf Herrschaft? Nein, niemals!«
»Aber bedenke doch, Mütterchen«, sagte Childebert. »Wenn sie sich scheren lassen, werden sie leben. Sie werden Priester oder Bischöfe sein und fromme Werke tun.«
»Sie werden Könige sein. Könige! Könige!«
»Du willst also, dass sie sterben«, sagte Chlothar kalt.
»Ich will, dass sie herrschen! Es wäre besser für sie zu sterben, als nicht zu herrschen und ihre Locken zu verlieren!«
Die alte Königin stand auf, stieß zweimal heftig den Stock auf und schrie: »Habt ihr verstanden? Habt ihr verstanden?«
»Wir haben verstanden«, sagte Chlothar. »Es ist besser für sie zu sterben. Besser, als nicht zu herrschen und ihre Locken zu verlieren.«
»Ich bin müde. Ihr habt mich aufgeregt.«
»Ruh dich aus, Mütterchen, man wird dich in deine Gemächer bringen«, sagte Childebert und winkte einer wartenden Kammerfrau.
Die Könige verließen die Halle und traten hinaus auf die Freitreppe. Die beiden Jungen, Theudowald und Gunthari, stürmten ihnen entgegen.
»Onkel Childebert! Habt ihr jetzt Zeit für uns?«
»Onkel Chlothar! Üben wir mit der Franziska?«
»Ja«, sagte Chlothar. »Aber steigen wir in das Kellergewölbe hinab. Dort ist es kühl, man schwitzt nicht so sehr. Als Zielscheibe suchen wir uns einen Balg, den heften wir an einen der Pfeiler.«
Die beiden Jungen nahmen gleich zwei, drei Stufen auf einmal, als sie die Treppe hinuntersprangen. Die Könige folgten ihnen langsam.
»Wollen wir es denn wirklich tun?«, fragte Childebert mit düsterer Miene.
»Dein Einfall war es!«, erwiderte Chlothar schroff. »Warst du nicht beunruhigt, weil unsere Mutter unbedingt Könige aus ihnen machen will? Hast du mich deshalb nicht hergerufen?«
»Aber haben wir denn das Recht …?«
»Mütterchen gibt es uns. Dolch oder Schere! Wir wollten die beiden nur scheren lassen. Sie aber meint: Besser Dolch als Schere!«
»Ich weiß nicht … ich weiß nicht … Kann man das wirklich so auslegen? Sie ahnte ja nicht, wie es gemeint war.«
»So schweig doch! Was nützt das Gerede jetzt noch? Je schneller wir handeln, desto besser!«
Sie stiegen die letzten Stufen hinab.
Theudowald kam ihnen entgegen. Er schwenkte einen Ziegenbalg, den man schon so oft an Bäume genagelt hatte, dass die vier Enden ausgefranst waren.
»Onkel Chlothar! Hier! Ich hab etwas!«
»Bring’s her, mein Junge, bring’s her! Los, los, komm her zu mir, komm doch!«
König Chlothar griff in die langen Haare des Zehnjährigen und drehte sie hinten so zusammen, dass der Hals frei wurde.
»Au! Lass mich los!«, schrie der Knabe.
»Was hast du denn?«
»Du tust mir weh! Lass mich los!«
»Sei ruhig. Gleich spürst du nichts mehr.«
Auch Gunthari rannte herbei, in der Hand eine kleine, für Kinder gefertigte Wurfaxt.
»Onkel Childebert! Guck mal, ich habe schon meine Franziska … Aber …«
Theudowald schrie auf.
Doch ein Blutschwall, der aus seinem Mund schoss, erstickte jeden weiteren Laut.
»Aber was macht ihr mit ihm?«, rief Gunthari. »Er blutet ja! Theudo! Theudo! Onkel Childebert, was macht ihr mit ihm?«
»Nichts, nichts, sieh nicht hin!«
»Er macht ihn ja tot!«
König Childebert packte den heulenden Knaben und zerrte ihn weg.
»Sieh nicht hin! Nichts für dich … Lass den hier am Leben, Bruder! Lass ihn am Leben! Er ist doch erst sieben Jahre alt, was kann er tun …«
Chlothar schleuderte den Leichnam von sich und stürzte herbei.
»Her mit ihm!«
»Nein, nein!«, rief Childebert. »Diesen nicht!«
»Lass ihn los!«, kreischte Chlothar.
»Wirf erst den Dolch fort!«
»Her mit dem Teufelsbraten! Oder du selber bist dran!«
»Sei doch vernünftig! Sei barmherzig!«
»Zu meinem Schaden? Loslassen, sage ich!«
»Ich will nicht, Onkel!«, schrie Gunthari. »Warum denn? Warum denn? Was hab ich getan? Nein, ich will nicht! Nicht sterben!«
»Stoß ihn weg! Lass ihn los, du Jammerlappen, oder …«
»Da hast du ihn. Was für ein Rohling du bist! Ein Scheusal, ein Ungeheuer! Ein Teufel!«
König Childebert wandte sich ab, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte.
Der kleine Gunthari sank tot neben seinem Bruder Theudowald hin.
König Chlothar wischte seinen Dolch sorgfältig an dem Ziegenbalg ab und steckte ihn wieder an den Gürtel.
***
In diesem Augenblick des Jahres 524 vergrößert jeder der beiden Frankenkönige sein Territorium um etwa die Hälfte. Das Reich von Orléans, das Chlodomer von seinem Vater Chlodwig geerbt hatte, teilen die beiden Kindermörder nach jahrelangen Streitereien um Burgen, Städte, Dörfer, Klöster, Flüsse, Seen und Wälder unter sich auf. Ihrer Mutter bleibt nur der verzweifelte Rückzug nach Tours in den Schutz des heiligen Martin.
Sieben Jahre vergehen.
Diesmal verbündet sich Chlothar, land- und beutegierig wie je, mit seinem Halbbruder Theuderich, dem Ältesten der vier Erben Chlodwigs. Gemeinsam reiten sie im Jahre 531 gen Osten – gegen das Reich der Thüringer …
Von weitem hatte der Mann am Ausguck die drei für Bauern gehalten. Einer zog, ein Zweiter schob den Wagen mit dicken Scheibenrädern, die in dem weichen Boden die schon von anderen solchen Wagen gezogene Spur vertieften und verbreiterten. Den Dritten entdeckte der Wächter erst, als er den Kopf aus dem Stroh erhob, mit dem das Gefährt beladen war. Seine Stirn war mit einem Tuch umwunden, vielleicht zum Schutz gegen die Sonne. Die beiden Männer, die den Wagen bewegten, waren fast nackt. Der eine trug nur ein zerrissenes Hemd, der andere eine bis knapp zu den Knien reichende Hose.
Es war ein Sommertag. Die Luft hier am südlichen Rande des großen Sumpfes war feucht, schwer und heiß.
Bald erkannten aber die scharfen Augen des Wächters, dass die drei nicht nur Landvolk mit einer Fuhre Stroh waren. Das Tuch um den Kopf des Mannes auf dem Wagen war voller dunkler Flecke, das musste Blut sein. Der an der Deichsel hinkte stark und schleppte sich kaum noch vorwärts. Alle Augenblicke hielten sie an, um zu verschnaufen. Größte Mühe bereitete ihnen jedes Mal, die mit fauligem Wasser gefüllten Erdmulden zu umgehen.
Der Schiebende schien noch am ehesten bei Kräften zu sein, und bald war auch auszumachen, dass er am Gürtel, der seine Hose hielt, ein kurzes Schwert trug. Und als sie jetzt wieder anhielten und er sich aufrichtete und mit einer ruckenden Kopfbewegung das Haar zurückwarf, erschrak der Wächter.
»Eggo«, murmelte er. »Es ist Eggo!«
Der Wächter hockte hoch oben im Gebälk des Herrenhauses, an der westlichen Giebelwand, wo der Ausguck errichtet war. Er warf einen raschen Blick hinter sich und nach unten.
»Herrin!«, rief er der dunkelhaarigen Frau zu, die in dem großen, kahlen Raum im Kreis ihrer Dienerinnen beim Spinnen saß. »Da kommt Eggo! Ich erkenne ihn gut – er muss es sein. Ja, er ist es!«
Die Frau blickte auf und schrie zurück: »Wer, sagst du? Eggo? Ist es der Schieler?«
»Nein, der andere, sein Vetter. Der große! Der die aus dem Harzgebirge anführt!«
»Kommt er mit Beute? Mit Gefangenen?«
»Er kommt allein.«
»Wie? Ganz allein?«
»Mit zwei Verwundeten. Ich erkenne sie nicht, aber es müssen Unsrige sein.«
Die Frau erschrak, und ohne sich lange zu bedenken, erklomm sie die Leiter und stand im nächsten Augenblick auf der schmalen, von drei Bohlen gebildeten Plattform des Ausgucks.
Angestrengt spähte sie in die Richtung, die ihr der Wächter wies, konnte aber im ersten Augenblick nichts erkennen, weil die Gruppe mit dem Wagen hinter Erlengesträuch verschwunden war. Der Weg nach Westen, der sich nach einer Meile im Wald verlor, folgte den Windungen der Aller und führte auf die von zwei Armen des Gewässers umflossene Sumpfburg zu. Auf einem flachen Hügel, den der angeschwemmte Sand des Flusses gebildet hatte, stand diese Grenzfestung der nördlichen Thüringer, ohne Mauern, doch gut gesichert durch Graben, Wall und Palisadenzaun. Man nannte sie Ovesfeld, weil in der Sprache der Germanen eine Wieseninsel mit ove bezeichnet wurde und feld eben oder flach hieß.
Als die drei Männer hinter den Erlensträuchern auftauchten, schrie die Frau an der Seite des Wächters auf.
»Eggo! Wahrhaftig, er ist es! Aber warum … Was bedeutet das? Was ist da passiert?«
»Das muss noch gar nichts bedeuten, Herrin«, sagte der Wächter. »Vielleicht wurde er abgesprengt und zur Flucht genötigt.«
»Er ist nicht mal zu Pferde.«
»Das haben sie ihm vielleicht weggeschossen. Oder es ist in diesem verdammten Morast versunken.«
Die drei Männer mit dem Wagen waren auf knapp zweihundert Schritte an die Wallburg herangekommen. Der Hinkende klammerte sich an die Deichsel, und plötzlich knickten seine Knie ein, und er fiel hin. Der Wagen rutschte in eine Mulde. Der mit dem blutdurchtränkten Kopfverband wurde herausgeschleudert.
Die Frau und der Wächter vernahmen den Schrei und sahen nun, dass dem Mann ein Arm fehlte. Der Große, den sie Eggo nannten, beugte sich erst über ihn, dann über den Gestürzten. Schließlich blickte er herüber zur Wallburg und maß die Entfernung. Er entschied, die Verwundeten erst einmal zurückzulassen und das letzte kurze Stück Weges allein zu machen.
»Er wird uns Schlimmes verkünden«, flüsterte die Frau. »Ich fühle es, das bedeutet Unheil. Bei Wodan und Frigg, es ist alles verloren!«
»Beruhige dich, Herrin«, sagte der Wächter. »Unser Heer ist unschlagbar. Dein Gemahl, unser tapferer König …«
»Er hat alles verdorben!«, schrie sie. »Ich wusste, dass er alles verderben wird!«
Der Wächter wollte noch etwas sagen, aber sie hatte schon den Rücken gewandt. So behende, wie sie heraufgekommen war, kletterte sie die hohe Leiter hinab. Unten raffte sie ihr Kleid und lief aus dem Hause. Betroffen blickten die Frauen ihr nach. Sie hatten die Frau Königin Amalaberga noch niemals die Röcke raffen und rennen sehen. Auch die Wächter, die am Tor dösten, rissen die Augen auf, als sie die Königin mit wehenden Haaren auf sich zueilen sahen.
»Öffnen!«, schrie sie. »Den Riegel zurück! Schlaft ihr Kerle? Seht ihr denn nicht, wer dort kommt?«
Die Männer beeilten sich. Sie stürmte hinaus. In der Hast trat sie in ein Wasserloch. Schlamm spritzte auf. Sie hatte sich den Fuß vertreten, fluchte, humpelte ein paar Schritte beiseite und lehnte sich an einen Birkenstamm. So erwartete sie den Mann, der sich näherte. Er tauchte wankend, beide Fäuste auf die keuchende Brust gepresst, hinter einem Ufergebüsch der Aller auf.
»Eggo!«, schrie sie. »Wo kommst du her? Warum bist du allein? Wie siehst du aus? Rede! Rede doch endlich! Wo sind deine Leute? Wo ist mein Gemahl? Was ist passiert?«
Der Mann stand vor ihr und versuchte, sich trotz seines kläglichen Zustands eine respektvolle Haltung zu geben. Über seine nackte Brust lief der Schweiß in Bächen, Strähnen des grauen Haars klebten in seinem wettergebräunten Gesicht.
»Alles aus, Herrin, alles aus!«, brachte er schwer atmend hervor. »Das Heer … aufgerieben, vernichtet. Wer sich noch retten kann, rettet sich. Der Franke hat seine Rache bekommen.«
»Und der König? Wo ist er?«
»Da unten irgendwo, nach Süden zu«, sagte Eggo, wobei er mit Anstrengung den Arm hob und vage in eine Richtung deutete. »Er wird wohl versuchen, die Reste zu sammeln … was überlebt hat, es sind nicht viele …«
»Und warum kommt er nicht her?«
»Vielleicht geht es nicht mehr, ich weiß es nicht … der Feind ist schon überall … Ich habe ihn aus den Augen verloren … Er wird versuchen, sich in unsere Stammlande durchzuschlagen … in die Berge …«
»In die Berge?«, schrie sie. »Aber er weiß doch, dass ich hier bin! Will er mich in dieser Ödnis verkommen lassen? Soll ich den Franken in die Hände fallen?«
»Das will er bestimmt nicht, Herrin … aber die Umstände … das Beste wird sein, du brichst sofort auf und folgst ihm … sie können ja morgen … vielleicht heute Abend schon hier sein!«
»Heute schon? O Götter, womit habe ich so viel Unglück verdient! Und meine Kinder … was wird aus den Kindern? Ich habe ihm niemals vertraut, und nun lässt er uns grausam im Stich!«
»Glaub mir, Herrin, der König hat alles getan, was in seiner Macht stand … die Franken waren weit in der Überzahl … auf einen von uns kamen drei von denen … Dahinten liegen zwei Verwundete, tapfere Krieger … Befiehl, dass ihnen geholfen wird … Ich bin todmüde, Herrin, kann mich kaum aufrecht halten … Erlaube …«
Eggo ließ sich ins trockene Gras sinken.
Die Königin Amalaberga brach in Tränen aus. Mit aufgelöstem Haar, im von Schlamm bespritzten Kleid, lehnte sie noch immer an dem Birkenstamm. Sie weinte hemmungslos, mit zuckenden Schultern.
Von der Wallburg her liefen Leute herbei, Männer und Frauen, Alte und Kinder, und drängten sich in einem Kreis um die beiden. Ein Graubart rief: »Was ist nun? Ist Thüringen jetzt verloren? Werden uns nun die Franken und Sachsen beherrschen?«