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Vom Nihilismus zum Postnihilismus. Mit diesem Buch soll der wahnwitzige Versuch unternommen werden, einen Begriff samt dahinterstehender Philosophie zu rehabilitieren, welcher in Menschen beinahe ausschließlich negative und destruktive Assoziationen hervorruft. Ein Begriff, der sowohl in fachspezifisch-philosophischen als auch allgemein-gesellschaftlichen Kreisen am häufigsten missverstanden und diskreditiert wird. Die Rede ist vom Nihilismus. Wir Menschen sind bewundernswerte Geschöpfe. Jeden Tag bieten wir der Sinnlosigkeit des Ganzen respektive einem kollektiven Schicksal die Stirn. Wissentlich oder unwissentlich. Mit welchen Sinn- sowie Unsinnskonstrukten wir uns präventiv vor dem Hintergrund von Tod und Unendlichkeit narkotisieren, wie uns der Wettlauf mit unserem eigenen Verfall zu sowohl konstruktiven als auch destruktiven Meisterleistungen verleitet und warum der Nihilismus nicht das böse Ungeheuer darstellt, für das er in der Regel gehalten wird, davon handelt dieses Buch.
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Seitenzahl: 481
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Philipp Anton Mende wurde 1983 in Ansbach geboren. Seit seinem Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie ist er als Lehrer, Lektor und freier Autor tätig. Er lebt und arbeitet in Peking.
Der Sinn des Lebens besteht nicht im Tod. Zwickmühlenartigerweise besteht er aber auch nicht im Leben.
Prolog: Wo sind Sie da nur hineingeraten?
I. Die Achterbahnfahrt
Station 01: Worüber wir sprechen bzw. nicht sprechen
Station 02: Der "kosmische Betrachter“
Station 03: Egal
Station 04: Über Wahrscheinlichkeiten, Unendlichkeit und Sinnleere
Station 05: Einstellungen zum Tod
Station 06: Das Stockholm-Syndrom der Sinnlosigkeit
Station 07: Der Gott in unseren Köpfen
Station 08: Nihilisten und Christen
Station 09: Über materielles Allwissen und Wahrnehmung
Station 10: Über destruktive Sinnkonstrukte
Station 11: Weinen?
Station 12: Von der Disziplin über Kanalratten hin zum Egoismus
Station 13: Konstruktive Sinnkonstrukte: Formen der Liebe
Station 14: Noch mehr destruktive Sinnkonstrukte
Station 15: Geschwüre
Station 16: Die Leser
Station 17: Religiöse Indoktrination: Unfreiwillig und sinnkonstruiert
Station 18: Die destruktivste aller Religionen
Station 19: Werte- und Normensysteme als unumgängliche Beschäftigungsmaßnahmen
Station 20: Gott vor Gericht – Er ist Sadist
Station 21: Entfesselter Nihilismus – Welch Provokation!
Station 22: Der Zeitgott
Station 23: Limitierte Wissenschaft vs. limitiertes Wissen?
Station 24: Glauben heute oder: Lieber Staub statt Glanz
Station 25: Religionen - Philanthropische Beglückungskonstrukte?
Station 26: Unbeschwert leben im Einheitsbrei der Lemminge?
Station 27: Über Wert und Unwert der Philosophie
Station 28: Das "Elend“ (in) der Philosophie
Station 29: Philosophie auf Zeit - Bewusstsein auf Zeit
Station 30: Sinnlosigkeit und Depressionen.
Station 31: Langeweile und die Frage nach Leben
Station 32: Sinnlosigkeit und Selbstmord
Epilog: Wir können nicht aussteigen - Auch gut!
II. Aphorismen im Licht des Nichts
III. Lyrik im Licht des Nichts
Der Sog der Wege
Augen nach innen
Der Wille zur Stille
Diabolo im System
Hier
Entwicklung der Allheit
Hyänen der Neuzeit
Innerer Bruch
Spurlos
Kopfreise
Camus
Von fern ein Licht
Die Revolution der Freiheit
Ein Stück Zeitgeschichte
Niemals mehr
Abgehoben
Die Tragik des Rechts
Einsamer Abgang
Heine im Regen
Kreislauf des Menschen
Schizophren
Am Richard-Wagner-Platz
Der Nerv des Drachens
Zwei Kreise
Friedhofsgespräch
Federvieh
Nachts daheim
Angriff auf das bellende Schaf
Unter lebenden Toten
Die Sehnsucht
Ein einjähriges Trauerspiel
Ungewisses Gewisses
Licht und Staub
Die Fremden
Das Wagnis
Armer, glücklicher Tropf
Schmerz Komma Schmerz Periode
Bronchienballett in der Oper
Melancholie des kleinen Mannes
Verloren im letzten Tag
Die Sintflut in mir
Der Schwimmer
Das traditionelle Ritual
Der Heuchler
Ein Stück Schulunkultur
Versagen
Im Vakuum
Stille
Gebrochen
Frühlingsmorgen
Gesittete Hölle
In der Maschinenhalle
Der Dummschwätzer
Die Wüste des Schwachen
Einer dieser Tage
Fragen der Verdammnis
Kunstfahrt
Ein Bekenntnis
Das Todesparfüm
Die siegreiche Schlacht
Was dir der Spiegel verrät
Zerstört
Zirkelschluss
Weltuntergang
Schicksalsgaben der Geduld
IV. Namensverzeichnis
V. Anmerkungen zur Achterbahnfahrt
Der ursprüngliche, jedoch niemals veröffentlichte Titel dieses Buches lautete „Von der Sinnlosigkeit des Ganzen“. „Soso“, hatten und hätten sich da – wie es die ersten Reaktionen vermuten ließen – wohl die meisten Leser nach Betrachten der Titelseite gedacht, „nachdem wir sozusagen täglich neue Ratschläge aus allen nur erdenklichen Richtungen erhalten – seien sie nun geisteswissenschaftlicher, politischer, soziologischer oder spiritueller Art – kommt nun zwischendurch eben auch einer daher, der aufgrund seiner durch Gesellschaftsdruck und Chaos entstandenen Resignation kurzerhand einfach einmal alles in die Tonne tritt.“
Oder negiert. Oder ablehnt. Kurzum: Schon wieder irgendein pauschalisierender Möchtegerndogmatiker, der meint, seinen (diesmal wohl destruktiven) Senf zum Besten geben zu müssen.
Und was soll ich sagen? Womöglich hatten bzw. hätten sie sogar recht. Irgendwie. Irgendwo. Dieser Eindruck drang sich offensichtlich zunächst einmal auf. Was ist nun aber, wenn ich Ihnen sage, dass es sich s o keineswegs verhält? Was ist, wenn ich Ihnen sage, dass wir uns aus unserer Sucht nach Hoffnung und Sinngebung heraus zu narkotisieren gelernt haben? Mein lieber Vater war einst irritiert, als ich als Fünfjähriger nachts zu ihm lief und ihm mitteilte, bedrückt zu sein bzw. nicht schlafen könne, da diese noch viel destruktiver anmutende Begebenheit namens „Tod“ (die irgendwie überhaupt nicht in mein Bild eines zu genießenden Lebens passte), seiner auf ihr basierende Ungewissheit und unser wiederum daraus resultierender, fragwürdiger Lebensinhalt an sich alles andere als fröhlich stimme? Was, wenn ich behaupte, dass wir wie Protagonisten gleich denen aus Samuel Becketts Stücken verkehren und auf Godot warten, da wir gar nicht anders können? Oder doch? Was, wenn ich sage, dass dieses Buch nichts anderes ist, als die letztendlich kulminierende Schriftwerdung von dem, was, soweit ich zurückdenken kann, stets in mir spukte (hier und da natürlich mit Erweiterungen versehen), darüber hinaus jedoch von(m) (N)nichts getrieben wurde – im wahrsten Sinne des Wortes.
„Nun“, denken Sie vielleicht, „was soll dann schon sein?“ Eben. Nichts. Womöglich haben Sie persönlich auch gar nichts dergleichen gedacht. In diesem Falle ignorieren Sie einfach alles bisher Geschriebene. Merci.
Entstand der darauffolgende und in der ersten Auflage verwendete Titel „Im Licht des Nichts. Eine Achterbahnfahrt, die halb so wild ist“ zunächst aus Bequemlichkeit, da ich es leid war, immer wieder darauf hinzuweisen, der ursprüngliche Titel habe nichts mit irgendwelchem „Ich-hasse-mich,-euch,-das-Leben-und-die-Menschheit“-Quark zu tun, so traf er letztlich den „Kern“ meiner Aussage noch mehr, hatte aber, wie sich herausstellte, auf Dauer den Nachteil, fälschlicherweise „esoterische Inhalte“ vermuten zu lassen. Von daher liegt nun mit „Die Nihilismus-Party. Eine Achterbahnfahrt im Licht des Nichts“ die endgültige Version vor, die bereits allein anhand des Titels etwaigen Klischees und Missdeutungen hinsichtlich der mit Nihilismus assoziierten Philosophie entgegensteuern soll. Dennoch wird Ihnen der ursprüngliche Titel immer wieder begegnen – so viel Spaß muss sein.
„Dieses Buch gehört den Wenigsten“, lautete 1895 Friedrich Nietzsches erster Satz seines „Antichristen“1, den er an wen auch immer richtete. Ich formuliere seine Eingangsworte für dieses Buch geringfügig um: Dieses Buch gehört wenigstens Wenigen. Leider muss es damals wie heute dieselben Parallelen auf unterschiedliche Weise gegeben haben, die für das gezüchtete Desinteresse der sich ihrer eigentlichen Hilflosigkeit nicht bewussten Menschen am Wesentlichen – es klingt dramatischer als es ist – unseres Existierens verantwortlich zu machen sind. Damals, als der werte Friedrich schrieb (und natürlich schon lange zuvor und noch lange danach) war es primär die Macht der Kirche und in erster Linie natürlich deren Verfechter, die zumeist proportional entgegengesetzt das Gegenteil von dem, was sie versprachen, postulierten, nämlich die (absichtliche) Blindheit, blinden Gehorsam und blinde Unterwerfung; den Zwang, anstatt Offenheit, Ungezwungenheit und Toleranz. Abstrakte Begriffe also, mit denen die Freiheit wohl am ehesten zu bewerkstelligen sein könnte bzw. welche für eine Ungebundenheit des Geistes einen adäquaten Nährboden zu bieten imstande wären. Nicht, dass es im 21. Jahrhundert nicht immer noch so wäre, allerdings wurde die Machtstellung der Kirche weitestgehend eingedämmt – in judikativer, vertrauensmissbrauchender und geistesunterdrückender Hinsicht. Ich sage eingedämmt - und abgelöst. Und heute? Einflussgebiete haben sich verschoben. Zu den „klassischen“ Religionen gesellen sich vermehrt Ersatzreligionen wie Etatismus in allen nur erdenklichen Schattierungen sowie „religiös“ verfechtete Unterkategorien davon, z.B. grüner Ökowahnsinn, Klimahysterie, Marktfeindlichkeit usw. Unkritischer Medienkonsum2 folgt auf das stetig expandierende Konglomerat immer noch trivialer werdender Medien, die ihre Macht rigoros gebrauchen oder zu Propagandazwecken missbrauchen. Man darf sich fragen, inwieweit noch gedacht wird. Dass gedacht wird, steht außer Frage, aber worüber? Dass es selbstverständlich auch Perlen innerhalb der Massenmedien gibt, möchte ich gar nicht abstreiten3, jedoch muss man sich bereit erklären, auf dem Weg und der Suche nach den Nadeln, den stinkenden Heuhaufen zu ertragen. Dringen wir in die tiefsten Tiefen unseres Bewusstseins, unseres Denkvermögens vor? Wagen wir uns in die dunkelsten, in die schaurigsten Gefilde unseres Geistes? Trauen wir es uns? Auch wenn ich vom prozentual wesentlich höheren „Nein“ als Antwort eben genannter Fragen bisher empirisch überzeugt wurde (und voraussichtlich auch weiterhin werde) und gleichsam verstehen wie auch nicht verstehen kann, werde ich die jeweiligen Umstände und Gründe dafür hinterfragen, rege in diesem Buch allerdings auch nur dazu an, sich diese Fragen letzten Endes selbst zu stellen. Sollte dabei der eine oder andere ernsthaft ins Grübeln geraten, würde mich das selbstverständlich freuen. Wenn nicht, bringt es die Achterbahn jedoch auch nicht zum Einsturz. Vielleicht ist die in einer bedeutungslosen Welt entstandene Tendenz zur scheinbaren Dekadenz auch nur kühl berechnete Taktik mit System, Zeichen höchster Intelligenz und Wertschätzung für das Leben. Im Nihilisten jedoch, so wie ich ihn verstehe, einen schmerzenden oder gar überholten Klotz am Bein des Lebens auszumachen, zeugt meines Erachtens von der leibhaftigen Existenz zwei der größten und gefährlichsten Partner, quasi einer Art Über-Ich des Menschen:
Furcht und aus ihr hervorgehend: Verdrängung. Furcht vor dem, was er in einem wecken könnte. Verdrängung als Selbstschutz. Es geht mir zwar nicht im Entferntesten darum, mit diesem Buch apathische, resignierende oder gar misanthropische Verhaltensweisen heraufzubeschwören oder zu implizieren, es ist mir jedoch (mittlerweile) auch egal, sollte ich in jene Richtungen interpretiert werden.
Das Genie bedingt den Wahnsinn und nicht umgekehrt. Der Wahnsinn wiederum resultiert zwangsläufig aus nihilistischen Überlegungen und sich stetig rasanter drehender, gedanklicher Spinnräder, die immer weniger Raum für (bequeme) Ausflüchte bieten. Zu Ihrer Beruhigung (oder Empörung) beziehe ich mich in diesem Buch nicht nur auf die Ausdeutung der Welt durch reinen Nihilismus. Konstruktive wie destruktive Errungenschaften des menschlichen Geistes sollen hinterfragt, durchleuchtet, aufgedeckt, vernichtet, klassifiziert, umgewertet oder gewürdigt werden. Im Kontext ihrer allgegenwärtigen Sinnlosigkeit. Im Licht des Nichts.
Da ich geistige Individualität beinahe für ein Ding der Unmöglichkeit halte, jedoch stets den Versuch diesbezüglich begrüße und befürworte, muss ich in diesem Vorwort darauf hinweisen, dass es mir ebenfalls egal ist, welche meiner Gedanken bereits gedacht wurden; zumindest nicht in vorliegender Kombination, was jedoch nicht heißen soll, keine Querverweise zu Denkern, die mir hier und da zwangsläufig in den Sinn gekommen sind, anzuführen. Im Gegenteil: Anderen Denkern kann man wenigstens dankbar sein, da sie insofern Arbeit abnehmen, das durch uns „Nachfolger“ vollzogene eigenständig Gedachte, aber bereits Niedergeschriebene, nicht wieder und wieder bloß in eigenen Worten wiedergeben zu müssen, was freilich nur auf diejenigen Gedanken bezogen werden kann, von denen man durch jene andere Denker Bescheid weiß. Oftmals wurden wohl die meisten „einzigartigen“ Gedanken irgendwo von irgendwem bereits irgendwie gedacht. Auf was es ankommt, ist – wie Goethe richtig feststellte – sie nochmals zu denken (denn so entstehen Dinge und entwickeln sich), doch auch die Tatsache jener Evidenz soll im Zuge dieses Buches erläutert werden, da sie gleichsam als Teil eines „philosophischen Elends“ verstanden werden kann.
Ich wünsche mir stets zwei Dinge von meinen Lesern: Offenheit sowie das zugegebenermaßen sehr schwierige Kunststück, sich selbst zu erlauben. Die Bedingung der Möglichkeit dafür steckt am Ende ausschließlich in den Köpfen der Leser selbst. Zusätzlich möchte ich ebenfalls gleich zu Beginn anmerken, dass sich der „Rote Faden“ in diesem Buch immer wieder verfärben, verkrümmen und wieder ausstrecken wird, was einzig und allein darin begründet liegt, dass ich Überraschungen für unterhaltsamer erachte als sture Konzepte und Abläufe (erst recht bei einer Achterbahn), die vorhersehbar, maschinell und monoton anmuten. Wir begeben uns auf eine nihilistische und epikureistisch-hedonistische, eine optimistische und pessimistische, eine fröhliche und traurige, eine wütende und gelassene, eine liebevolle und hasserfüllte, eine vernichtende und erschaffende, eine verheerende und begehrende Achterbahnfahrt, eine Achterbahnfahrt innerhalb einer Philosophie des Egalen. Eine Achterbahnfahrt, die gleichwohl aber auch halb so wild ist, wie es augenblicklich womöglich den Anschein haben mag. Was bedeutet Nihilismus fernab der „gängigen“ Vorstellung? Welche mittelbaren wie unmittelbaren, welche bewussten wie unbewussten Konsequenzen zogen und ziehen die Menschen aus dem Tod sowie der Sinnlosigkeit? Zu welchen fantastischen, sinnkonstruierten Kunststücken oder (Un)Taten wurden und werden sie (zwangsweise) „dank“ ihm und ihr getrieben? Was hat es mit Religionen und Ersatzreligionen auf sich und aus welchen Gründen halten Menschen verbissen an ihnen fest? Wie und warum konstituiert sich eine Philosophie des Egalen inmitten unseres Daseins und weshalb hat sie nicht das Geringste mit misanthropischem oder lebensverneinendem Unfug zu tun? Antworten darauf werden im Zuge und gleichermaßen in der Gesamtheit dieser Lektüre ersichtlich. Wir werden Sinnkonstrukte (innerhalb) unseres Geistes, (innerhalb und „außerhalb“) unseres Lebens, Alltags und zuletzt unserer Gesellschaft befahren, um letztlich doch wieder am Anfang bzw. am Ende zu stehen. Mehr nicht. Sollten Sie nun erheitert, gelangweilt oder angewidert genug sein, aber dennoch interessiert, betrachte ich das als gutes Zeichen. Schreiten wir in medias res. Gurte anlegen. Tief durchatmen. Ruhe bewahren. Die zu durchrauschenden Stationen warten. Die Achterbahnfahrt beginnt.
Philipp Anton Mende, Beijing 2014
Rein verstandlich betrachtet erscheint das Leben nicht anders als eine sinnvolle Sinnlosigkeit.
(Paul Bertololy)
Erkunden sich Interessierte über den Begriff „Nihilismus“ und wenden sich diesbezüglich an Wikipedia (2013), so können sie dort Folgendes lesen:
„Der Begriff Nihilismus (lat. nihil – „nichts“) bezeichnet allgemein eine Orientierung, die auf der Verneinung jeglicher Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung basiert. Er wurde in der abendländischen Geschichte auch polemisch verwendet, so etwa für die Ablehnung von Kirche und Religion. Umgangssprachlich bedeutet Nihilismus die Verneinung aller positiven und negativen Ansätze.“
In der Tat ist es so, dass es unterschiedliche Formen und Auslegungen des Nihilismus gibt. Und so viel sei bereits gesagt: So gut wie keine trifft das hier dargelegte Verständnis von ihm voll und ganz. In der Regel ist der Nihilismus negativ konnotiert, Gegenstand des Spottes oder der Attacke, u.a. exakt aufgrund von Beschreibungen wie der obigen. Es kann nicht die Rede davon sein, dass der Nihilismus jegliche „Seins-, Erkenntnis-, Wert- und Gesellschaftsordnung“ verneinen könne oder würde (diese angebliche Verneinung wird nicht einmal etymologisch bzw. durch den Begriff „Nihil-ismus“ impliziert), denn solche Ordnungen sind bzw. manifestieren sich konkret. Wenn ich das Haus verlasse und mich mit dem Auto auf die Straße begebe, kann ich auch nicht die Straßenverkehrsordnung „verneinen“ (was immer das überhaupt aussagen soll), denn diese besteht schlicht und ergreifend und manifestiert sich (zumindest normalerweise) in der durch allgemeinen Konsens erfolgenden, konkreten Befolgung ihrer konkreten, ge-setzten Regeln. Auch wenn die Bezeichnung „verneinen“ als Synonym für „ablehnen“ gebraucht werden sollte, trifft es den Kern der Sache nicht, da eben nicht grundsätzlich alle sich manifestierenden Ordnungen, Werte oder auch Religionen „verneint“ bzw. „abgelehnt“ werden, sondern – und das ist der eigentliche Kern des Nihilismus – deren (angeblich natürliche) Sinngehalte, die über den bloßen Umstand hinaus gehen sollen, mehr als dem psychischen wie physischen Schmerz (im besten Fall) entgegenwirkende, irdische Konstrukte darzustellen und gleichzeitig aus dem Umstand hervorgegangen sind bzw. immer noch hervorgehen, sich als Mensch im Laufe der Evolution zwangsläufig mit irgendetwas beschäftigen zu müssen, um nicht wahnsinnig4 zu werden. Stellen wir uns die Frage, weshalb wir uns mit X oder Y beschäftigen, so oder so handeln, dies oder jenes erreichen wollen etc., so liegt es nahe, jene Frage derart zu beantworten, indem wir beispielsweise „individuelles Interesse“ als Teil der jeweiligen Persönlichkeit angeben. Dadurch können wir zwar die Tatsache unterschiedlicher Interessen unter Menschen erklären oder feststellen, nicht aber die Frage, warum der Mensch in seiner Gesamtheit überhaupt Interessen hat; was man wiederum insoweit beantworten könnte (und dies auch tut), „Interes-se(n)“ als Teil der dem Menschen immanenten „Natur“ ausfindig zu machen. Allmählich nähern wir uns einem „kritischen Punkt“, nämlich dann, wenn wir fortan weiterfragen: Warum liegt dem Menschen denn diese Natur zugrunde? Warum fährt gleichsam mit unserem Heranwachsen jenes „Programm“ hoch? Eine der naheliegend(st)en und bequem(st)en Antworten besteht hierbei in „Gott“: „Gott will es so.“ Auf den Umstand, dass diese „Erklärung“ unzureichend ist und darüber hinaus weitere Ungereimtheiten mit sich bringt, wird im Verlauf noch näher einzugehen sein, für das erste Verständnis an dieser Stelle möchte ich jedoch auf einen anderen Punkt abzielen: Die Frage in Form des Hinweises nämlich, was dem Menschen übrigbliebe, würden ihm die „natürlichen Begebenheiten“ wie z.B. „Interesse(n)“, „Wille“, „Gott“ (kurz: Sinn-konstrukte) u.v.m. entzogen werden! Die Antwort dürfte ziemlich klar ausfallen: Früher oder später eintretender Wahnsinn. Können Sie sich vorstellen, auch nur einen einzigen Tag lediglich auf einem Stuhl zu sitzen und die Wand anzustarren? Geschweige denn ein Leben lang?
Doch wenden wir uns wieder konkret Werten, Zwecken und Sinn zu. Unser beliebig vermehrbares, aufgezwungenes Papiergeld beispielsweise besitzt an sich keinen Wert, sondern lediglich den, der ihm „künstlich“ beigemessen oder zugeteilt wird. Somit erfüllt es einen irdischen Zweck (wenn auch mehr als stümperhaft und verheerend). Genauso verhält es sich mit „Sinn“. Dieser wird künstlich gefüllt bzw. aufgewertet, um dem irdischen Dasein nicht (völlig) nackt gegenüber treten zu müssen. Vereinfacht gesagt: Jenes Missverständnis, beispielsweise das zwischen einem Wert und dem (übergeordneten) Sinn eines Wertes, gilt es zu erkennen, denn andernfalls ergeben selbst Sätze wie die folgenden des begnadeten Albert Camus keinen Sinn: „Von dem Augenblick an, wo man die Unmöglichkeit der absoluten Verneinung [Hervorhebung des Autors] anerkennt (und man erkennt sie dadurch an, dass man lebt), ist das Leben des anderen das erste, das sich nicht verneinen lässt.“5 Die „absolute Verneinung“ für sich ist hier selbstverständlich noch unplausibel, da sie keinen Bezugspunkt hat. Fächern wir einige Varianten des Nihilismus nach dem obigen Verständnis auf, so kann festgehalten werden, dass er in ontologischer Hinsicht eben nicht etwa Leugnung des Seins bedeutet, dem das Nichts als letztgültige Wahrheit entgegengesetzt wird, sondern Leugnung des Sinns von Sein. (Es ist schon reichlich albern, Sein zu leugnen – nun gut, Philosophen schaffen alles.)
In ethisch-moralischer Hinsicht bedeutet er eben nicht, wie oben bereits beschrieben, dass prinzipiell alle moralischen Grundsätze, Normen und Werte verneint oder abgelehnt werden, da die Begriffe „gut“ und „schlecht“ nach nihilistischer Weltsicht angeblich objektiv6 nicht unterschieden werden könnten. Hier liegt der wesentliche Kern nicht im Nichtunterscheiden-können, sondern im Nicht-unterscheiden-wollen, worauf wir aber ebenfalls noch zu sprechen kommen werden, wenn wir erfahren, worauf der Nihilismus zusteuert. Auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht bedeutet er nicht die grundsätzliche Verneinung der Möglichkeit einer Erkenntnis der Wahrheit. Nihilismus ist kein universeller Skeptizismus. Wenn weitere Kritiker darüber hinaus von einem „moralischen Nihilismus“ sprechen, zielen sie in der Regel entweder auf den Rechtspositivismus oder sie sog. „Konsensethik“ (welche bisweilen auch „moralischer Positivismus“ genannt wird) ab, die im Groben besagt, dass das, was die Mehrheit für recht oder richtig hält, auch rechtens und richtig ist. Freilich ist diese Einschätzung Unfug und auch nach meinem Dafürhalten abzulehnen, nur hat das nichts mit Nihilismus zu tun, da sich jener nicht um die Belange irgendwelcher Kollektivmoraleinschätzungen schert. Wenn Kritiker auf den Tischen tanzen, da sie irrigerweise annehmen, einen erkenntnistheoretischen Irrtum, z.B. die These „Entweder ein Satz ist letztbegründbar oder es gibt keine Erkenntnismöglichkeit“, mit einem „moralischen Nihilismus“ in Verbindung zu bringen, sitzen sie leider einer Themaverfehlung auf. Der „Kern“ dieses „moralischen Nihilismus“ lautet ihrer Auffassung wie folgt: „Entweder moralische Normen oder Wertsetzungen können letztgültig oder absolut begründet werden – oder Nihilismus.“ Soso. Nochmal: Was juckt es „den Nihilismus“, ob moralische Normen oder Wertsetzungen „letztgültig oder absolut begründet werden“ können oder nicht? Der Nihilismus selbst wird hier im Zuge unabdingbarer Beschäftigungsmaßnahmen (die wiederum ja überhaupt erst wegen ihm entstanden und entstehen!) in ein Ablenkungs-Szenario gezerrt. Das Gegenteil ist sogar der Fall, wie wir ebenfalls noch vertiefend erfahren werden: Trotz und wegen des Nihilismus und der mit ihm einhergehenden Verlorenheit entstehen sinnkonstruierte (und damit –stiftende) Normen und/oder Wertsetzungen (s. Station 19). Korrekterweise müsste die „Kernthese“ demnach lauten: Obwohl moralische Normen oder Wertsetzungen letztgültig oder absolut begründet werden können oder auch nicht: Nihilismus. Auch ich als Nihilist bin eine Person, die sich vor dem Hintergrund der Sinnlosigkeit des Ganzen und der von ihr allgegenwärtig ausgehenden Gefahr des Wahnsinns mit Moral als sinnkonstruierter Beschäftigungsmaßnahme auseinandersetzt, um Schmerz (in doppelter Hinsicht) einzudämmen. Um diesbezüglich gleich zu Beginn Stellung zu beziehen, keine Missverständnisse aufkommen zu lassen und klar zu stellen, dass selbstverständlich auch Nihilisten „moralisch ticken“ (können), erlauben Sie mir einen - auch für den weiteren Verlauf wichtigen - ethisch-moralischen Exkurs, der dies verdeutlicht:
Für meine persönliche, sehr kurz zur Verfügung stehende Lebenszeit, in der ich vor dem Hintergrund nihilistischer Existenzstrukturen möglichst schmerzfrei und harmonisch mit mir selbst und meinen Mitmenschen leben möchte, handle ich mit sogenannten voluntaristischen „Werkzeugen“. Ich verstehe unter Moral7 „universell bevorzugbare Handlungen“ (Station 24 wird sich u.a. mit der Frage beschäftigen, wozu es hierfür irgendeiner Religion bedürfen sollte), die untrennbar mit individueller Selbstbestimmung einhergehen, die sich aber gleichzeitig auch erst dann konkret in Form von Prinzipien, „Rechten“ oder Verträgen manifestieren, nachdem man für sich selbst die freiwillige Kooperation gewählt hatte und im Zuge dessen deren implizite Normen anerkennt, worunter Aggressionsfreiheit das wichtigste Merkmal ist. Nicht irgendein wie auch immer geartetes, positivistisches „Recht“, aber auch kein „Naturrecht“ oder „Vernunftrecht“ geht der freiwilligen Kooperation voraus, sondern umgekehrt die freiwillige Kooperation allen dann folgenden ethischmoralischen Prinzipien oder „Rechten“. Warum ist das so? Weil es für die Akzeptanz einer Moral keinerlei Rolle spielt, ob diese logisch, d.h. widerspruchsfrei begründet ist. Sie ist und bleibt optional. Ob etwas als moralisch richtig oder falsch erachtet wird, hängt vom jeweiligen Handlungsmuster (Moral) ab. So ist es beispielsweise im Jemen nicht unmoralisch, kleine Mädchen zu beschneiden, in Deutschland hingegen sehr wohl. Der Mensch hat also immer die Wahl, wie er mit einem anderen Menschen umgeht (im Folgenden als „Metawahl“ bezeichnet, weil sie Handlungen vorgelagert ist.) Er kann also wählen, ob er den Anderen ignoriert, ihn erschlägt oder mit ihm kooperiert. Zunächst steht also stets das Wollen. Ein Sollen gibt es bei dieser Metawahl nicht, denn Sollen ist immer eine Norm, die in der Realität nicht existiert. Ein Sollen ist immer ein Produkt menschlichen Denkens. Jetzt zu sagen, der Mensch solle kooperieren, ist bei der Metawahl nicht zulässig, da es ja keinen kategorischen Unterschied zwischen den Menschen gibt. Sagt einer „Du sollst!“, kann der andere sagen: „Nein, ich soll nicht!“ Beide Meinungen wären gleichwertig. Erst wenn sich der Mensch sich bei der Metawahl für die Kooperation und gegen die Aggression entscheidet, wohlgemerkt freiwillig, also seinem eigenen Willen folgend, dann entstehen Normen durch etwaige Selbstverpflichtungen. Erst dann können Konzepte (Denkprodukte) wie „Recht“, ethisch-moralische Prinzipien etc. relevant werden.
Auf dieser Grundlage nun können wir uns weitere Gedanken zu Ethik und Moral machen. Es gibt schon seit Jahrtausenden immer neue Versuche, Regeln für das Verhalten von Menschen mit dem Anspruch aufzustellen, dass sie für alle gelten sollen. Handlungen, die als moralisch gut gelten (d.h. für alle und immer), sollen von den Menschen gewählt und solche, die als moralisch schlecht angesehen werden, sollen von allen unterlassen werden. Könige, Regierungen oder sonstige Herrscher machen diese Regeln dann durch Gesetze verbindlich und bestrafen Zuwiderhandlungen. Der Bevölkerung wird dabei immer vor Augen geführt, dass der Inhalt der jeweiligen Regel wahr ist. Da dies wohl die nächsten tausend Jahre auch noch so weitergehen wird, d.h. die Gesellschaftssysteme der Zukunft auf moralischen Theorien beruhen und diese Theorien als bindend und verpflichtend betrachtet und unter Umständen sogar erzwungen werden, wäre es empfehlenswert, sich ganz besonders mit diesem Thema auseinandersetzen, um nicht Opfer von Manipulation zu werden. Es ist wichtig, überprüfen zu können, ob moralische Aussagen, die so weitreichende Folgen haben, überhaupt gültig sind, um dann zu jeder Zeit von allen Menschen bevorzugt zu werden. Bei Ethik und Moral geht es immer um Theorien über Handlungen, niemals um Handlungen selbst. Es wird demzufolge nicht bewertet, ob es gut oder schlecht ist, wenn ein Mann einem anderen ein Messer in die Brust sticht, da dies ist eine juristische Frage darstellt, zumal die spezifischen Variablen erst am einzelnen Fall geklärt werden können. Handelt es sich beispielsweise um Notwehr, um eine medizinische Operation, wobei das Messer in Wirklichkeit ein Skalpell ist, oder hat der Täter einen Gehirntumor oder einen epileptischen Anfall und ist deshalb vielleicht gar nicht fähig, gut und schlecht voneinander zu unterscheiden? All diese Fragen spielen in der Moralphilosophie keine Rolle, denn es geht ausschließlich um Theorien und darum, ob diese korrekt oder inkorrekt sind. Menschen, die moralische Theorien aufstellen, erheben per Definition den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, für alle Menschen, an jedem Ort und zu jeder Zeit. Eine Moraltheorie kann nur dann korrekt sein, wenn sie die Kriterien einer korrekten Moraltheorie erfüllt. Damit eine Moraltheorie überhaupt überprüfbar ist, bedarf es einer allgemeingültigen Formulierung, die höchstmöglich simpel und abstrakt gehalten werden muss. Es dürfen keinerlei subjektive oder unsachliche Einschränkungen in der Formulierung enthalten sein.
Das erste Kriterium einer Theorie über universell bevorzugbare Handlungen ist ihre Universalisierbarkeit. Daher gilt als Grundregel, dass moralische Theorien universelle Aussagen machen müssen. „Freitags soll man Fisch essen“, ist also als moralische Aussage ungeeignet, denn den Dienstag betrifft sie nicht. Jeder Handlung geht eine individuelle Handlungsentscheidung voraus. Mit Moral will man Menschen sagen, wie sie sich aus freien Stücken entscheiden sollen. Moral wird also einerseits mit einer Art der „kollektiven Verpflichtung“ und andererseits mit „individueller Entscheidung“ verbunden. Ich glaube, dass dieser Zwiespalt der Hauptgrund für das gestörte Verhältnis ist, das philosophisch interessierte Menschen hinsichtlich der Akzeptanz einer objektiven Moral oftmals haben. Wie kann etwas objektiv sein, das doch auf individuellen Entscheidungen beruht? Die vor dem Hintergrund der Sinnlosigkeit des Ganzen und von daher für ein möglichst unbeschwertes und schmerzlinderndes Leben wichtige Frage ist unter anderem, ob das „kollektiv Verpflichtende“ Vorrang vor der „individuellen Entscheidung“ hat oder nicht. Bei einer „kollektiven Verpflichtung“, die letztendlich erzwungen werden kann, handelt es sich um eine Festlegung von Handlungsnormen, die zwar jedes Individuum betreffen, aber nicht von jedem Individuum selbst getroffen werden. Einer Pflicht, die mir jemand anderes auferlegt, habe ich mich nicht selbst unterworfen. Es ist eine Form der Fremdbestimmung. Jede individuelle Entscheidung hingegen findet selbstbestimmt statt. Wir haben also einen Konflikt zwischen zwei sich widersprechenden Konzepten: Selbstbestimmung gegen Fremdbestimmung. Da wir moralische Theorien über Handlungen dadurch evaluieren wollen, dass wir sie auf ihre universelle Bevorzugbarkeit überprüfen, müssen wir uns zuerst folgende Frage stellen: Ist Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung universell bevorzugbar? Wie immer, wenn es um Moral geht, unterscheiden wir nur zwischen „wahr“ und „nicht wahr“. Ein „manchmal“ gibt es nicht, da es sich sonst nicht um eine moralische Aussage handelte. Die Aussage „Es ist manchmal besser, selbstbestimmt zu sein, und manchmal besser, fremdbestimmt zu sein“, hat keinen anderen Wert als bzw. ist vergleichbar mit der Empfehlung, manchmal Schokolade zu essen. Sie hat keinen Wahrheitswert, da sie Subjektivität beinhaltet. Ein Subjekt müsste das „Manchmal“ bestimmen. Wir müssen daher aus der Frage eine allgemeingültige Aussage machen, um zu prüfen, ob sie überhaupt widerspruchsfrei universalisierbar ist. Dabei prüfen wir zuerst die Gegenthese, dann die Hauptthese.
Wir beginnen mit der Gegenthese, um diese zu widerlegen und somit als gültige Moraltheorie auszuschließen. Gegenthese: „Fremdbestimmung ist universell bevorzugbar.“ Das wäre eine Formulierung nach unserer Moraldefinition. Überprüfen wir das. Wenn wir Fremdbestimmung als objektiv besser bewerten würden und der Handlungsempfehlung, die sich aus der Gegenthese ergibt, folgen wollen, müssten wir die Fremdbestimmung vernünftigerweise bevorzugen wollen. Um diese Entscheidung zu treffen und das Bevorzugen als Handlung einzuleiten, müssten wir jedoch Selbstbestimmung ausüben. In diesem Moment wäre Fremdbestimmung nicht bevorzugt, sondern Selbstbestimmung. Wir haben hier also einen internen logischen Widerspruch. Jedes Mal, wenn wir nach der moralischen Aussage, Fremdbestimmung sei immer zu bevorzugen, handeln wollen, müssen wir Selbstbestimmung ausüben. Fremdbestimmung ist also nicht widerspruchsfrei universell bevorzugbar. Die Konsequenz ist, dass unsere Gegenthese als moralische Theorie ungültig ist. Wenn wir also Ethik und die daraus resultierende Moraltheorie als Entscheidungshilfe nutzen wollen, ist mit diesem Wollen immer Selbstbestimmung verbunden. Die Herleitung einer vernünftigen Begründung, frei von subjektiven Vorlieben, kann niemals fremdbestimmt geschehen, da die Fremdbestimmung eine subjektive Präferenz einer anderen Person darstellt. Umgekehrt haben wir dieses Problem nicht. Wir können objektiv immer Selbstbestimmung bevorzugen. Selbstbestimmung ist also widerspruchsfrei universell bevorzugbar. Daher ist unsere Hauptthese („Selbstbestimmung ist universell zu bevorzugen“) eine gültige Moraltheorie. Wie verhält es sich aber mit der Aussage, dass Fremdbestimmung manchmal besser ist als Selbstbestimmung und manchmal nicht? Worin läge die Bedeutung einer solchen Aussage? Ich habe zu Beginn unsere Methode erläutert, dass wir keinerlei subjektive Vorlieben zur Begründung von Moraltheorien akzeptieren wollen. Genau das passiert aber, wenn wir ein „Manchmal“ in einer moralischen Aussage tolerieren. Das „Manchmal“ schließt eine ausschließlich sachliche und objektive Begründung der Theorie aus, da es von einer subjektiven Begründung abhängt, wann das „Manchmal“ eintritt. Jede „Manchmal-Theorie“ müsste zuerst allgemeingültig formuliert sein und dann widerspruchsfrei universell bevorzugbar sein, um als Moraltheorie gelten zu können.
Sie müsste lauten: „Subjektive Präferenzen sind universell bevorzugbar.“
Nach dieser Theorie wäre meine subjektive Präferenz, subjektive Präferenzen nicht universell zu bevorzugen, gleichwertig mit der subjektiven Präferenz, subjektive Präferenzen universell zu bevorzugen. Keine Aussage ist zur selben Zeit wahr und nicht wahr (= logisches Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch, das jede „Manchmal-Theorie“ als logisch inkorrekt nachweist). Keine einzige „Manchmal-Theorie“ ist eine universalisierbare und korrekte Moraltheorie. Der moralischen Regel, Fremdbestimmung immer anzustreben, kann also nicht entsprochen werden. Da Selbstbestimmung die einzige Alternative mit Allgemeingültigkeitsanspruch zur Fremdbestimmung ist, haben wir somit ein erstes moralisches Prinzip gefunden: Wenn demnach selbstbestimmtes Handeln aus moralischer Sicht alternativlos ist, gibt es keinen logisch begründbaren und vernünftigen Grund, Regeln aufzustellen, die allgemeingültigen Charakter haben und gegen die Selbstbestimmung der Menschen gerichtet sind. Dies führt automatisch zum Kern der voluntaristischen Ethik8.
Das zweite sich innerhalb einer kooperativen Ordnung manifestierende Prinzip besteht im sogenannten Nicht-Aggressions-Prinzip, wonach Handlungen gegen die Selbstbestimmung eines anderen Menschen nicht universell bevorzugbar sind. Eine Ablehnung dieser beiden Prinzipien kann ausschließlich selbstwidersprüchlich begründet werden. Als Handlungen gegen die Selbstbestimmung eines anderen Menschen verstehe ich als Voluntarist zum Beispiel das Töten, Vergewaltigen, Verletzen, Stehlen und Betrügen. Sie werden unter dem Oberbegriff „initiierende Gewalt“ zusammengefasst. Initiierend bedeutet in diesem Zusammenhang, mit der Gewalt zu beginnen. So eine initiierende Gewalt ist klar abzugrenzen von antwortender Gewalt, die als Selbstverteidigung bezeichnet wird. Begegnet mir jemand gewalttätig und läuft mit einem Hackebeil auf mich zu, um mich zu erschlagen, ist das ein Eingriff in meine Selbstbestimmung, der einen sachlichen Grund darstellt, auch Gewalt anzuwenden. Der Angreifer nimmt mir quasi die Alternativen und damit die Entscheidung ab. Selbstverteidigung ist aus moralischer Sicht also legitim und stellt keine subjektive Ausnahme der Moral, sondern eine rein sachliche dar und widerspricht somit nicht den Ansprüchen an eine gültige Moraltheorie, sie möge frei von subjektiven Präferenzen begründet sein. Nach vo-luntaristischer Definition von Moral sind also Handlungen wie Diebstahl, Mord, Vergewaltigung, Prügel, Betrug, aber auch Besteuerung, Kriegsführung und Inhaftierung ohne eine vorhergehende Gewalt des Inhaftierten unmoralisch. Alle Argumente und Gesetze, wie Besteuerung, der Einsatz von Militär zum Führen eines Angriffs und das Einsperren von zum Beispiel Drogensüchtigen, sind lediglich subjektive Präferenzen einer Gruppe von Menschen, um über alle anderen zu herrschen und sich zu bereichern. Die voluntaristische Ethik als Methode, moralische Theorien zu bewerten und die Erkenntnis über Moral bilden die Basis des logisch konsistenten Wertesystems, das einerseits die Voraussetzung für die Entstehung einer freien Gesellschaft ist und andererseits ein wirksamer Schutz gegen eine Verführung durch „falsche Philosophen“ darstellt. Ohne dass diese Werte von einer kritischen Masse akzeptiert und gelebt werden, kann ein Loslösen von einem von Herrschaft geprägten System nicht erfolgen. Menschen, die voluntaristische Werte als erstrebenswert ansehen, werden Gewalt als Möglichkeit der Konfliktlösung ablehnen. Stattdessen werden sie Freiwilligkeit als Basis des gesellschaftlichen Miteinanders wünschen.9Station 19 wird die Thematik nochmals aufgreifen und beleuchten.
An dieser Stelle sollte schlüssig illustriert werden, dass Nihilismus nichts mit der Negation, der Ablehnung oder gar „Vernichtung“ von Ethik und Moral zu tun hat – schon gar nicht zwingend oder prinzipiell –, sondern vielmehr Ethik und Moral aufgrund nihilistischer Existenzaxiome hervorgehen (müssen). Doch auch mit anderen Begebenheiten hat Nihilismus nichts am Hut bzw. nur sehr peripher, so beispielsweise mit der Frage, ob Gott tot sei (Nietzsche) oder nicht. Dabei handelt es sich um Kindereien. Es interessiert, sofern ich an dieser Stelle ein modernes Verständnis von Nihilismus postulieren darf, „ihn“ nicht, ob eine übergeordnete, ewige Instanz existiert oder nicht, da beide Fälle für sich – und vor dem Hintergrund der Unendlichkeit – sinnlos sind und sein werden, was im Verlauf ebenfalls noch Gegenstand einer näheren Betrachtung sein wird. Wenn wir noch einen Augenblick bei Nietzsche verweilen, so muss ich auch hinsichtlich dessen Nihilismus-Begriff (besser: Deutung) anmerken, dass ich ihn nicht teile. Zunächst stellt sich die Frage, wie man sich die nach Nietzsches Auffassung ursprünglich unabhängig vom Menschen gedachten Werte vorstellen soll, die ihre Geltung und Gültigkeit verloren? Wer, wenn nicht der Mensch, ist denn die Quelle eines „Wertes“? Wer, wenn nicht der Mensch, füllt einen „Wert“ überhaupt erst mit Inhalten? Wer, wenn nicht der Mensch, interagiert mit „Werten“ und ist somit logischerweise das Bezugssubjekt, das „Werte“ an Sinnkonstrukte und Objekte „weiterdelegiert“ bzw. diesen überhaupt erst zukommen lässt? Werte können demzufolge nicht „unabhängig vom Menschen“ gedacht werden (weder ursprünglich noch im Zuge der nietzscheanischen Verfallsgeschichte des Abendlandes), schon deswegen nicht, da sie der Mensch selbst denkt. Nietzsches Nihilismus, der einerseits die Entwertung der bis zu seiner Lebenszeit vorherrschenden obersten Werte meint und andererseits die „Umwertung aller bisherigen Werte“ mit einschloss, hat ebenso wenig etwas mit Nihilismus zu tun wie bereits zuvor genannte Ansätze, da Nihilismus nicht konkrete, für das Leben unabdingbare „Werte“ (Sinnkonstrukte) entwertet oder umwertet, sondern den – um es zu wiederholen – Sinn oder „Plan“ dahinter, der über das bloße (aber lebensnotwendige!) Sinn- oder Beschäftigungskonstrukt hinausgeht. Für die Entwertung einer „Sklavenmoral“ (ob sie sich meinetwegen anhand Religion xy oder Politik xy äußert) bedarf es keines Nihilismus, sondern lediglich der Logik sowie des gesunden Menschenverstandes, welcher, wie Schopenhauer richtigerweise konstatierte, fast jeden Grad von Bildung zu ersetzen vermag, aber umgekehrt kein Grad von Bildung den gesunden Menschenverstand. Erfreulicherweise finden sich mindestens genauso viele korrekte, nihilistische Begebenheiten in den Zeilen großer Denker (nicht zuletzt bei denselben, die bereits erwähnt wurden, sei es beispielsweise Camus' genialische Philosophie des Absurden oder Nietzsches „ewige Wiederkehr des Gleichen“), in denen jedoch stets deutlich wird, dass Nihilismus eben nicht nach Gutdünken auf jeden nur erdenklichen Umstand und jede Situation aufpfropfbar ist (wie es, wie wir oben bereits sehen konnten, nicht selten geschieht). So bezieht sich beispielsweise Hartmut Lange in seinem „Entwurf eines positiven Nihilismus“ auf Martin Heidegger, indem er schreibt: „Ist Heideggers Seinsverständnis nihilistisch? Ich würde sagen, ja. Es ist ein Nihilismus, der das Absurde an der Seinsstruktur offenlegt und in dem Heidegger alles Sein den Bedingungen der Verständigkeit unterwirft. Seinserfahrung ist bewusstseinsabhängig und nur im Dasein, dem bewussten Sein, kann sich so etwas wie Sein phänomenal konstituieren. Festzuhalten wäre ferner, dass sich Heideggers Begriff des Nihilismus nur auf die Unwiederholbarkeit der einzelnen Existenz beziehen kann. Jedes Dasein ist grundlos geworfen und muss in dieser Geworfenheit dafür sorgen, dass es bleibt, was es ist, nämlich ein Sein, das sich die eigene Vorhandenheit nicht plausibel machen kann. Wo Mythologien oder Religionen der Existenzstruktur durch einen gesetzten Grund das Nichts ausdrücklich entziehen, kann sich das grundlos geworfene Dasein nur bis zum Widerruf seiner Existenz halten. Das Wesentliche an dieser Existenz wäre also die Nichtigkeit, die es einzugestehen gilt.“10
Sofern Sie schon einmal in einem Flugzeug saßen und dabei einen Fensterplatz ergattern konnten, hat Sie unter Umständen bereits ebenfalls dieses „ganz gewisse“ Gefühl heimgesucht, als Sie sich gen Himmel erhoben und sich somit immer weiter von der Erde und dem dortigen Treiben distanzierten, bis Sie irgendwann schließlich nur noch vereinzelte, farbige Flecken wahrnahmen. Bei mir stellt sich dieses Gefühl vor allem dann ein, wenn ich auf sehr belebte Autobahnen herabblicken kann und dabei für mich bemerke, wie „verrückt“, „enorm“ und beinahe schon unwirklich dieser maschinell-lemmingartig anmutende Anblick wirkt. Sollte man dieses „ganz gewisse“ Gefühl näher beschreiben müssen, so könnte man es insofern versuchen, dass es sich neben Zuständen wie beispielsweise Mitleid, Belustigung und respektvollem Staunen schließlich in besonderem Maße durch Gleichgültigkeit in jenem Moment auszeichnet. Gleichgültigkeit gegenüber dem bunten Treiben, über welches man im wahrsten Sinne des Wortes den „totalen Überblick“ hat, welche gleichzeitig logischerweise aber auch aus der in jener Phase „erzwungenen“ Teilnahmslosigkeit hinsichtlich des entfernten Geschehens resultiert. Das sich immer weiter distanzierende Treiben wird zunehmend unwichtig, moralisch „fragwürdige“ (aber ehrliche) Gedanken ergreifen Besitz: „Was auch immer da unten auf der Autobahn geschehen mag, hier oben spielt es überhaupt keine Rolle, es kann mir völlig egal sein. Ich will einfach nur heil ans Ziel gelangen.“ Umgekehrt sind derlei Gedanken eher unwahrscheinlich, zumal beispielsweise ein Flugzeugabsturz direkte und gefährliche Auswirkungen auf die am Boden Gebliebenen haben kann, umgekehrt aber kein Autounfall auf die Flugzeuginsassen. Wir erkennen also bereits hier, dass die Integration (und nicht die Abkoppelung) des eigenen Seins – welche evident ist, ob wir nun wollen oder nicht – die notwendige Prämisse für unsere Interaktion bzw. Auseinandersetzung mit allen nur erdenklichen Entitäten darstellt. Um etwaigen Gutmenschen präventiv sogleich etwaigen Schaum vor dem Mund zu ersparen, sei gesagt, dass die Freiheit der Gedanken noch lange keine Sehnsüchte herbeiwünscht, den Denkenden zum „Täter“ macht oder gar ein Indiz für „Gewissenlosigkeit“ bedeutet. Darüber hinaus muss erklärt werden, dass, wie die Stationsüberschrift sowie die bisherigen Zeilen durchaus vermuten lassen könnten, nicht wir Menschen den „kosmischen Betrachter“ verkörpern. Zumindest nicht direkt. Vielmehr fungiert dieser als personifizierte Metapher für die nüchtern-neutrale Ent- und Bewertung irdisch zwar notwendiger, aber letztlich hilfloser Sinnkonstrukte. Eine Denke also, die die beiden Modi eines dialektischen Ansatzes von Heidegger nicht etwa gesondert betrachtet, sondern durchaus als sich gegenseitig beeinflussend oder gar bedingend. Grob gesprochen geht es bei diesem Ansatz um den Unterschied zwischen „wie die Dinge sind“ und „dass die Dinge sind“. Heidegger sprach von zwei Existenzzuständen: Zum einen vom „alltäglichen Modus“, zum anderen vom „ontologischen Modus“ (vom griechischen „ontos“: „Existenz“ sowie dem Suffix „-logia“, dem „Studium von“). Demnach sei man im alltäglichen Zustand ganz und gar von seiner jeweiligen Umgebung absorbiert und staune darüber, w i e die Dinge in der Welt sind. Im ontologischen Zustand dagegen konzentriere man sich hingegen auf das Phänomen des „Seins“ an sich und staune darüber, dass die Dinge sind (z.B. sinnlos), dass man ist (inmitten dieser Dinge). Der durch unseren Geist geworfene „kosmische Betrachter“ agiert vor dem Hintergrund nüchterner Momente der Klarheit. Dabei sitzt jener Schelm, je nach Belieben oder Wunsch, im unendlichen Nichts oder unendlichen Etwas und feuert seine zermalmenden Einschätzungen ab, katapultiert uns vor unlösbare Aufgaben und stellt uns Fragen, deren Beantwortung uns – sollten wir überhaupt dazu imstande sein – nur noch hilfloser, flehender und nicht zuletzt lächerlicher aussehen lässt. Wir sehen uns mit zwei Realitäten konfrontiert. Wir leben in einer Realität, die in eine weitere eingebettet ist, wie unter einer exorbitanten Käseglocke, aus der es kein Entrinnen gibt. Und warum ist der „kosmische Betrachter“ nicht „Gott“? Ganz einfach. „Gott“ (oder das Konzept davon) argumentiert auf der Basis eines jenseitigen „Paradieses“, „er“ argumentiert aus der jenseitigen Ferne in Form einer bevorstehenden „Erlösung“ (wie auch immer sie sich gestalten mag) oder „Verdammung“ heraus, ungeachtet der im Verlauf dieser Achterbahn zutage tretenden Unstimmigkeiten und Probleme wie z.B. erneute Ausweglosigkeit, um nur eines zu nennen. „Unbequeme Zungen“ wie die Meister Eckharts tönen noch wesentlich schroffer: „Gott ist ein solcher, dessen Nichts die ganze Welt erfüllt, sein Etwas aber ist nirgends.“11 So weit muss aber gar nicht gegangen werden. Der „kosmische Betrachter“ tut dies alles nicht. Er will oder braucht nicht geliebt (zu) werden. Er fordert keine Demut. Er verzichtet überdies auf einen –ismus, gleichwohl man – v.a. unter Philosophen – theoretisch einfach alles ideologisch beladen, kategorisieren, doch letztlich nur interpretieren kann, selbst wenn dies bedeute, Ideologie(n) an sich für egal zu erklären. Das Angenehme am „kosmischen Betrachter“ besteht darin, ihn nach Gutdünken be- oder entwerten zu können, ihn negieren, beklatschen, diffamieren, ignorieren oder einfach nur ungerührt zur Kenntnis nehmen zu können. Er verspricht keinen Sinn und er konstruiert keinen Sinn. Genau dies ist aber natürliche Prämisse für eine Ideologie. Streng genommen impliziert er somit keine, ebenso wenig verkörpert er irgendetwas außer sich selbst. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird das viele Philosophen sowie Gläubige sämtlicher Couleur im Zuge ihrer „individuellen Erleuchtung“ - vielmehr des jeweiligen Sinnkonstruktes - nicht die Bohne interessieren. Doch (auch) das ist egal. Dennoch muss ich es wiederholen: Bei der vom „kosmischen Betrachter“ verfolgten (Un)Ordnung handelt es sich nicht um einen – ismus, nicht um ein ideologisches (Sinn)Konstrukt wie bei Religionen. Er benötigt keine unabdingbaren Verhaltens-Konstrukteure, keine Sinningenieure oder ideologische Vordenker. Solche Sinn-Klempnerei benötigen nur alle Arten und Formen des Glaubens. Er jedoch offenbart uns gerade zum Ziele seiner Verdrängung den Weg zur unumschränkten Lebensbejahung, so wie ich mich beim Anblick des quirlig-lemminghaften Treibens während des Landeanflugs darauf freue, wieder Teil dieses verrückten Chaos zu werden. Behalten Sie, lieber Leser, bei den folgenden Ausführungen stets jenen „kosmischen Betrachter“ im Hinterkopf, denn erst dadurch wird der Großteil dieser Achterbahnfahrt verständlich und lässt Sie sie gleichermaßen unbeschadet überstehen.
Alles ist egal.
Was ist das für eine Aussage? Soll das überhaupt eine Aussage sein? Ist es eine These? Ein Argument? Ein Schutzmechanismus? Die Antwort lautet: Ja. Und weiter: Es ist alles zusammen und gleichzeitig deren Bedeutung. Ihr Inhalt. Ihr „Wert“. Ihre Essenz. Ein plumper Allgemeinplatz? Nur scheinbar. Es ist egal, diese Zeilen zu schreiben, geschrieben zu haben oder nicht. So verhält es sich mit jeglichen Zeilen. An meinem unausweichlichen Schicksal ändert es nicht das Geringste. Oder an dem des Besitzers der Augen, die diese Zeilen augenblicklich verfolgen. Möglicherweise – oder was wesentlich wahrscheinlicher ist – bin ich just in dem Moment, in dem die mir unbekannten Augen über diese steril auf Papier gedruckten Sätze gleiten, bereits tot. – Wobei? Kann man tot „sein“? Der Begriff des „Seins“ impliziert „etwas“. Aber impliziert es auch Bewusst-Sein? Falls ja, so impliziert „Sein“ auch „Leben“. Falls nicht, so kann „Sein“ auch „Nicht-Leben“ implizieren, folglich „Nicht-Sein“. Die Antwort darauf lautet: Es ist egal. Ich bin immer noch tot. Ohne Bewusstsein. Ohne „Leben“. Ohne Wahl. Ohne Sinn. Oder etwa mit Bewusstsein? Mit „Leben“? Mit Wahl? In beiden Fällen allerdings dennoch ohne Sinn. Die Unendlichkeit ist dahingehend beständig und bietet keine Alternativen. Albert Camus, vielleicht einer der genialsten (und unterschätztesten) Anti-Traumtänzer in einer Geschichte der Epistemologie, bringt es erschreckend nüchtern und dabei so wunderschön, gebrechlich und verheerend zugleich auf den Punkt. Seine Worte lassen einerseits unser Blut gefrieren, andererseits spenden sie simultan auch einen unsichtbaren Schleier tiefster Verbundenheit, der inmitten der Sinnlosigkeit des Ganzen ein kleines, warmes Lichtchen aufflackern lässt: Das Absurde ist allgegenwärtig. Es kann an jeder beliebigen Straßenecke jeden beliebigen Menschen anspringen.12 Auf der Arbeit. Im Urlaub. Beim Vater- oder Mutterwerden. Beim Sex. In Musik, Kunst und Theater. In diesen Zeilen. Wir versuchen seit jeher, einer sinnlosen Welt einen Sinn zukommen zu lassen und übergeben uns dabei in jedem Einzelnen dieser Momente hilflos dem Absurden. Wir wollen Sinn. Schopenhauer stellte fest, dass jedes Wollen der Wille nach etwas ist. Wenn man jedoch danach frage, wieso wir überhaupt wollen, so wüssten wir keine Antwort darauf13.
Dennoch kann ich uns beruhigen. Denn: Es ist ebenfalls egal. Paul Watzlawick drückt unsere weltliche Situation auf grandiose Weise aus, wenn er sarkastisch die Frage stellt, wo wir denn hinkämen, sollten sich immer mehr Menschen davon überzeugen lassen, dass ihre Lage zwar stets hoffnungslos, aber niemals ernst sein wird14. Diese Feststellung ist im Grunde so einfach und deutlich, dass sie schon wieder schwer zu begreifen sein könnte.
Was bleibt somit also unterm Strick? Ich meine Strich. – Die bloße Beschäftigung! Keine überwältigende Option; es gab und gibt keine Wahl, nachdem man sich für das Leben entschied. Nachdem man sich jeden Tag dafür zu entscheiden hat. Ich tue, was für mich übrig bleibt; ob ich mir dabei des mir innewohnenden „Programms“ bewusst bin oder aber jenes Programm automatisch und ohne darüber nachzudenken, ablaufen lasse, ist irrelevant. (Es muss jedoch in irgendeiner Weise des individuell angestrebten Wohlbefindens oder Glücks ablaufen, da es keine Alternative zur „menschlichen Determiniertheit“ gibt bzw. diese Alternative nur im gewaltsamen, freiwilligen Verscheiden besteht, worüber noch zu sprechen sein wird.) Von daher Arbeit. Von daher Karriere. Von daher Urlaub. Von daher Vater- oder Mutterwerden. Von daher Sex. Von daher Freunde, Musik, Kunst und Theater. Von daher diese Zeilen. Von daher Philosophie auf dem Weg ins Nihil. Sie bedeutet, sich im Kielwasser des Todes aufzuhalten und jenes Kielwasser dadurch zu ertragen, indem man durch Sinnieren über Selbiges so lange darüber erhaben ist, bis es uns doch ertränkt. Möge sich also jeder etwas vormachen, frei nach Nietzsche15. Das macht die Philosophie freilich nicht „wertvoller“, aber für den einen oder anderen offenbart sie sich als kurzweilige Beschäftigung, doch dazu später ebenfalls mehr. Es ist egal, ob ich jetzt tot bin, vor tausend Jahren tot war oder in hunderttausend Jahren tot sein werde. Man wird mir Resignation andichten. Oder Selbstmitleid. Oder beides. Ja, vielleicht wirkt es so. Vielleicht ist etwas daran, vielleicht nicht. Fröhliches Interpretieren und glauben, zu erkennen. Nicht zu erkennen. Mehr nicht. Es ist egal. Ebenfalls wie der Umstand, dass ich das Leben liebe – geliebt habe – und sich daraus überhaupt erst jenes Dilemma derartig entwickeln konnte. Der Hass und die Liebe zum Leben bedeuten gemeinsam letztendlich wohl wieder Liebe zum Leben, denn beides zeugt von Lebendigkeit, von Aufbegehren im Leben, von Emotionen.
In meinem Falle ist und war es lebendig. Egal. Was wir auch tun oder wissen, meinen zu wissen, wie wir auch handeln oder was auch immer wir revolutionieren, es ändert nichts an der Unabänderlichkeit des jeden von uns bevorstehenden Schicksals, dem Ende. Dem Ende unserer Freuden, Sorgen, Gedanken und Schmerzen. Kafka meinte, die Bedeutung des Lebens bestünde darin, dass es endet16. D a s ist Resignation. Ich kann ihn möglicherweise in seiner Intention nachvollziehen, aber weiß nichts von einer Bedeutung. Etwas Nicht-Existierendes kann auch nicht „etwas“ nach sich ziehen, von daher bleibt mir die Identifizierung mit diesem von einem (neben den bereits erwähnten) weiteren, begnadeten Literaten stammenden Gedanken verborgen. Das ist nicht schlimm. Da es egal ist. Mache man, was man wolle, vernichte man die das Leben hemmende und ausbremsende Ernsthaftigkeit (oder auch nicht, sollte man sich dadurch besser fühlen) und verhalte man sich dieses kurze Lebensweilchen so, wie man ohnehin genetisch, geistig und soziologisch zum Teil determiniert, zum Teil „programmiert“ wird. Oder wie es Jean-Baptiste Clamence in Camus’ „Der Fall“ formuliert: „Ich habe nie wahrhaft überzeugt glauben können, dass die Angelegenheiten der Menschen ernst zu nehmen seien. Wo das Ernstzunehmende lag, wusste ich nicht, ich wusste nur, dass es nicht in all den Dingen war, die ich sah und die mir nur wie ein drolliges oder lästiges Spiel vorkamen. Es gibt wirklich Bemühungen und Überzeugungen, die ich nie verstanden habe. Die seltsamen Geschöpfe, die da um des Geldes willen starben, wegen des Verlustes einer sogenannten Stellung verzweifelten oder sich mit edlem Getue für das Wohlergehen ihrer Familie opferten, betrachtete ich immer mit Erstaunen und ein bisschen Misstrauen.“ (Der letzte Punkt hängt wohl stark von der Qualität einer Familie, um ihn verstehen zu können.) Und weiter: „Natürlich gab ich manchmal vor, das Leben ernst zu nehmen. Aber sehr bald schon durchschaute ich die Leichtfertigkeit des Ernstes und begnügte mich damit, meine Rolle weiterzuspielen, so gut ich es vermochte. (…) Ich war gerade dann abwesend, wenn ich am meisten Raum einnahm.“17 Tue man also, was man möge, doch beachte man dabei auch, keinem Zeitgenossen zu schaden. Vernichte man den Zwang mitsamt aggressiver Bekehrungsversuche (Bücher fallen nicht darunter, wie könnten sie auch? Dem, der liest, steht frei, zu lesen; dem, der „missioniert“ wird, steht prinzipiell frei, sich dessen zu entziehen, doch gelingt es aufgrund des Umstandes, mit etwas Organischem konfrontiert zu sein, weniger gut, oft sogar gar nicht)! Schade man keinem anderen, denn jeder andere vermag, anders ticken wie denken zu können und hat gleichsam das „Recht“ darauf, nicht unter Dogmen und anderem Unfug zu ersticken oder anders formuliert: In Ruhe gelassen zu werden - „von jedem, den man nicht eingeladen hat oder den man nicht willkommen heißt“, wie es der sehr lesenswerte Roland Baader zum Ausdruck brachte.18
Überlasse man jedem Menschen die Möglichkeit, sein „Recht“ auf individuelle Ausdeutung der Sinnlosigkeit des Ganzen durch mannigfaltige andere Beschäftigungs- und Schutzeinrichtungen/-mechanismen, von denen im weiteren Verlauf noch einige vorgestellt werden, in Anspruch nehmen zu können. Es ist egal. Der Tod stoppt uns alle. Ich beschäftig(t)e mich unter anderem mit der Schreiberei, hier lesbar. Manche vertreiben sich die Zeit, anderen rennt sie davon. Jeder von uns ist dieser Manche und Andere in einer Person. Dadurch, dass sowohl jedwedes Sein als auch jedwedes Nicht-Sein sinnlos ist, wird alles egal, nicht etwa umgekehrt.
Sisyphos steht metaphorisch für jedwedes, menschliches Schicksal. – Hoffnungslos, abernichternst.
Es ist schon bizarr, diese Zeilen zu lesen, werden Sie sich vielleicht denken. Wo ich doch beinahe jeden Tag aufstehe, um da Dinge zu erledigen, die mir ganz und gar nicht egal sind, die sehr wohl Sinn in sich bergen. Selbstverständlich. Ich teil(t)e meinem irdischen Dasein auch allerhand „wichtige Aufgaben“ zu, versuch(t)e mich so gut es ging daran, der mitunter wohl ausgelutschtesten und abgedroschensten, philosophischen Maxime in Form des „Carpe diem“ nachzukommen und stets „etwas“ am Laufen zu haben. Doch sind all diese Dinge konstruierte Aufgaben und Beschäftigungen. Sie sind Teil des psychologischen Plans, als denkfähiger Mensch mit so wenig Schmerz und Ratlosigkeit wie möglich die kurze Lebensjahrparade zu vollführen, nach der nicht einer von uns gefragt hat. Gleichzeitig sind sie, also die konstruierten Aufgaben, der Grund dafür, warum wir uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen sollten.19
Wir konstruieren uns einen vorübergehenden „Schein-Sinn“ innerhalb der Sinnlosigkeit und folgen diesem bewusst oder unbewusst bis zu unserem Ende. Jeder von uns rollt seinen persönlichen Felsblock einem Gipfel entgegen, nur um, oben angekommen, wieder von vorne zu beginnen. Ob wir die „Steine“ dabei durchschauen bzw. gar in der Lage sind, durch sie hindurchzuschauen, spielt keine Rolle, da unsere Situation trotz noch so vieler Interpretationen letztlich dieselbe bleibt: Leben – Fels – (unausweichliches Schicksal). Genial. Dieser durch Sisyphos verkörperte, uns alle betreffende Entschluss bedeutet, erhobenen Hauptes den Wettlauf mit dem eigenen Verfall zu verlieren gewillt sein, ihn zu verdrängen und durch Beschäftigungsmaßnahmen immer wieder aufzuschieben. Von daher gebührt jedem Menschen allein deshalb Respekt (!), auf irgendeine Weise einer übermächtigen sowie unvermeidbaren Unausweichlichkeit überhaupt entgegenzutreten, auch wenn dies das Resultat reinen Zwanges darstellt.
So werden Sie sich im Verlaufe dieses Buches mit hoher Wahrscheinlichkeit auch an einigen Stellen wundern, da der Anschein entstehen wird, dass offensichtlich doch nicht alles egal sei bzw. sein könne, selbst ihm, dem Autor nicht – und v.a. während der Passagen, in denen gesellschaftliche Bereiche tangiert werden, die besonderen Nährboden zum Aufbegehren in sich bergen. Dieser Umstand entsteht jedoch nur aus der eben beschriebenen Situation, innerhalb einer apriorischen Existenz des Egalen für etwas einzustehen, für etwas zu kämpfen (nicht etwa gegen etwas!), etwas zu kritisieren und dergleichen, das aufgrund der Beschäftigungs- und Verdrängungsnotwendigkeit heraus im Moment des Geschehens unabdingbaren Charakter besitzt. Schein und gleichzeitig Nicht-Schein, der die Ausmaße einer menschlichen Psyche erahnen lässt. Sie fragen sich vielleicht: Warum tut er denn all die Dinge, wenn sie doch egal und sinnlos sind? Darin haben Sie aber zugleich auch die Antwort: Unser „kosmischer Betrachter“ weiß, dass es gleichermaßen sinnlos und egal ist, entweder nichts zu tun oder eben etwas zu tun.
Letzteres, d.h. etwas zu tun, bezeichne ich als die „epikureistische Arznei“ zur weitestgehenden Verhinderung von Schmerz und darüber hinaus Wahnsinn, der sich wieder genau dann einzustellen droht, wenn die Wirkung der Arznei – so, wie es bei jeder ist – nachlässt (zum besseren Verständnis sei an dieser Stelle noch erklärt, dass der Epikureismus eine an der Philosophie Epikurs ausgerichtete Lebenshaltung bezeichnet, die das persönliche Glück des Einzelnen als Ideal anerkennt. Es soll durch Ataraxie, also Unerschütterlichkeit, Nicht-verwirrt-Sein, Gemütsruhe, Gleichmut und Seelenruhe, vernünftige Einsicht und konsequente Orientierung am Prinzip der „Lust“, d.h. durch die Vermeidung alles dessen, was langfristig mehr Leid als Lust verursacht, erreicht werden20).
Leben bedeutet, sich zu dessen Optionen zu drängen, eben zu zwingen, ob das nun „schön“ oder „panisch“ klingen mag oder nicht. So auch der selbstmotivierte Zwang des Schreibens. Weder eine personifizierte Klugheit ist Grund des Schreibens noch ihr Gegenteil. Schreiben ist zunächst einmal Selbstzweck und für viele Menschen eine der mächtigsten Ablenkungswaffen. Ein Buch zu schreiben ist wohl so ähnlich wie ein Leben zu leben. Der Vergleich ist weniger pathetisch als es den Anschein haben mag. Im „Idealfall“ beginnt ein Leben irgendwann irgendwo ohne Komplikationen und noch keiner weiß, wo es einst hinführen wird. Es wächst und wächst mit zunehmender Zeit, immer mehr Information führt zu immer mehr Struktur, wobei neben Interesse und Neugierde auch eine gewisse intellektuelle „Determiniertheit“ natürliche Prämisse für eine an Form und Umfang gewinnende Struktur darstellt. Irgendwann kann es so umfangreich und fortgeschritten sein, dass sich an die genauen Umstände des Beginns, des Auslösers und vielleicht sogar seiner Entwicklung nur noch schwer bis gar nicht mehr erinnert werden kann, obwohl es sich um einen Stein handelt, ohne den das auf ihm aufbauende Werk (Leben) nicht bestünde bzw. bestehen könnte. Schließlich schließt sich das Leben in Form des Todes ab, so wie das Buch mit seiner letzten Zeile, kurz: Nachdem alles „gesagt“ wurde, findet beides den Abschluss. Das Buch kann so mächtig wie ein Leben sein, vielleicht sogar mächtiger: Es konserviert Teile eines Gehirns und damit Teile einer Person bzw. Persönlichkeit. Es muss nicht, aber es kann sich ausdehnen, verbreiten und gleichsam auf finite Art und Weise immer wiedergeboren werden. Möglicherweise wie das Leben selbst. Eine geschickte Verlängerung der Verdrängung der unentthronbaren Sinnlosigkeit des Ganzen.
So mögen wir mich im Folgenden also nochmals für ein paar Augenblicke und auf absurde Weise lebendig wirken und die mir bekannten und fremden Leser an Gedanken, Zynismen, Freuden und subjektiven Be- und Entwertungen meinerseits, die allesamt egal sind, teilhaben lassen. Irgendwie. Here we go.
„Wir sind so unbedeutende Kreaturen auf einem kleinen Planeten eines sehr durchschnittlichen Sterns in den Außenbezirken von einer Galaxie unter 100 Milliarden. Daher ist es schwer, an einen Gott zu glauben, der sich um uns kümmert oder auch nur unsere Existenz bemerkt.“21(Stephen Hawking)
Ich habe keine Ahnung, ob es Gott gibt. Vielleicht ja, vielleicht nein. Seine Nicht-Existenz erscheint mir zwar, wie im Verlaufe noch deutlich werden wird, plausibler, beweisen oder widerlegen kann ich letzten Endes jedoch nichts. Diesen Umstand, welcher sich aus welchen Gründen auch immer offensichtlich nur schwer eingestanden werden kann, teile ich solidarisch mit jedem Menschen auf diesem Planeten; selbst mit den gläubigen Dogmatikern oder wie Kant schrieb: „Zwar wird freilich sich niemand rühmen können: er wisse, dass ein Gott und dass ein künftig Leben sei; denn, wenn er das weiß, so ist er gerade der Mann, den ich längst gesucht habe. Alles Wissen (wenn es einen Gegenstand der bloßen Vernunft betrifft) kann man mitteilen, und ich würde also auch hoffen können, durch seine Belehrung mein Wissen in so bewunderungswürdigem Maße ausgedehnt zu sehen. Nein, die Überzeugung ist nicht logische, sondern moralische Gewissheit, und, da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muss ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiss, dass ein Gott sei etc., sondern, ich bin moralisch gewiss etc. Das heißt: Der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, dass, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, eben so wenig besorge ich, dass mir der zweite jemals entrissen werden könne.“22
Was ich aber weiß, ist, dass es völlig egal ist, ob es Gott gibt oder nicht. Jeder Fall für sich wäre sinnlos. An diesem Punkt unterscheidet sich der Nihilismus auch vom Atheismus, vielmehr aber noch vom Agnostizismus (neben dem Umstand, dass er – ungleich des Agnostizismus – nicht von einer prinzipiellen „Begrenztheit“ menschlichen Wissens ausgeht, dazu mehr bei Station 9), der erfahrungsgemäß schon auch gerne einmal von Personen mit dem Nihilismus gleichgesetzt wird. Zum besseren Verständnis hierzu eine nähere Erläuterung. Thomas Henry Huxley, welcher den Begriff „Agnostizismus“ entscheidend prägte, erläuterte hierzu: „Als ich eine gewisse geistige Reife erlangte und mich zu fragen begann, ob ich Atheist, Theist oder Pantheist, Materialist oder Idealist, Christ oder Freidenker sei, stellte ich fest, dass die Antwort um so schwieriger wurde, je mehr ich lernte und nachdachte, bis ich schließlich zu der Überzeugung gelangte, dass ich nicht das Geringste mit all diesen Bezeichnungen zu tun hatte, außer der letzten. In dem einen wesentlichen Punkt, in dem sich die meisten dieser wackeren Leute einig zeigten, war ich anderer Meinung als sie. Sie waren sich so gut wie sicher, eine bestimmte ‚Gnosis‘ [= religiöse (Er-)Kenntnis – Anm. des Autors] erlangt zu haben - und mehr oder weniger erfolgreich das Problem der menschlichen Existenz gelöst zu haben; wohingegen ich mir ziemlich sicher war, es nicht gelöst zu haben und mir ziemlich sicher war, dass es überhaupt unlösbar sei. Und zumal ich Hume und Kant auf meiner Seite hatte, fand ich es keineswegs vermessen, diese Haltung beizubehalten.“23
Huxley dachte nach und erfand daraufhin eine Bezeichnung, die er für zutreffend hielt: Den „Agnostiker“ (latinisierte Form des altgriechischen ἀγνωστικισμός agnōstikismós, von ἀγνοεῖν a-gnoein: „nicht wissen, unbekannt, unerkennbar“).
Im weiteren Verlauf wies Huxley darauf hin, Agnostiker hätten keinen Glauben, auch keinen negativen: „Der Agnostizismus ist eigentlich kein Glaube, sondern eine Methode, deren Wesen die strenge Anwendung eines einzigen Prinzips ist. (…) Dieses Prinzip kann man positiv so ausdrücken: Folge in Fragen des Intellekts deiner Vernunft, so weit sie dich bringt, ohne irgendwelche anderen Überlegungen zu berücksichtigen. Und negativ: Tue in Fragen des Intellekts nicht so, als seien Schlussfolgerungen, die nicht bewiesen oder beweisbar sind, sicher. Das bezeichne ich als agnostische Überzeugung: Wenn ein Mensch ganz er selbst bleiben will, soll er sich nicht schämen, dem Universum ins Gesicht zu sehen, ganz gleich, was die Zukunft für ihn noch bereithalten mag.“24
Man kann demzufolge also sagen, dass Agnostiker durchaus logisch argumentieren, wenn es weder für die eine noch für die andere Seite handfeste Beweise gibt. Hierbei können sie dennoch auf unterschiedliche Weise „kritisiert“ werden, wobei uns im Folgenden nur die „nüchternen“ und nichttraumtänzerischen Positionen des Atheismus und Nihilismus interessieren. Zunächst impliziert der Agnostizismus, so wie ich ihn verstehe, dass er ab dem Zeitpunkt, wo es Beweise geben würde (egal, ob für oder gegen Gott), die jeweilige Situation akzeptieren und als Lösung oder Vollendung der Existenz annehmen könnte. Als Nihilist zäume ich das Pferd quasi von hinten auf, denn der Agnostizismus endet dort, wo der Nihilismus weitergeht, da eben selbst die bewiesene und gegebene Situation nur scheinbar „vollendet“ oder „erfüllend“ wäre, wie wir noch sehen werden. Die Kritik von Atheisten (wie beispielsweise die des sehr lesenswerten Richard Dawkins) bzgl. des Agnostizismus ist dabei eher wissenschaftlicher Natur.
So