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Das Kursbuch 213 wirbt für den Zufall: Die Welt, in der wir leben, ist von vielen Zufällen ebenso geprägt wie von Wahrscheinlichkeiten und Pfadabhängigkeiten. Im Gegensatz dazu stehen geschlossene Weltbilder und Denkräume, in denen alles vorbestimmt ist und einen Sinn hat. Abweichungsmöglichkeiten verschwinden, der Zufall soll möglichst eliminiert werden. Die Beiträge des Kursbuchs lesen sich als eine Rehabilitierung des Zufalls, sie betonen die Potenziale des Zufalls, auch sind sie sich darin einig, dass nicht alles dem Zufall unterliegt. Armin Nassehi stellt in seinem Beitrag "Die Notwendigkeit des Zufalls" sieben unterschiedliche Blickwinkel auf den Zufall heraus.
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Seitenzahl: 27
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Inhalt
Armin NassehiDie Notwendigkeit des ZufallsEine Collage in nicht zufällig sieben Bildern
Der Autor
Impressum
Armin NassehiDie Notwendigkeit des ZufallsEine Collage in nicht zufällig sieben Bildern
Die Zeitstruktur von Texten hat mehrere Dimensionen. Eine der Dimensionen ist die lineare Zeit des Textes selbst, also das räumliche Nacheinander der Buchstaben, Sätze und Worte, das sich beim Lesen zu einer linearen zeitlichen Form entwickelt, in der die Textteile in ein Vorher und Nachher geordnet werden und einer zeitlichen Abfolge folgen. Eine weitere Dimension ist, dass innerhalb etwa eines Erzähltextes die erzählten Zeitstellen frei wählbar sind. Man kann später Geschehenes erzählen, bevor zeitlich davor liegende Elemente versprachlicht werden. Eine dritte Dimension ist die zeitliche Transzendenz des Autors oder der Autorin. Wer einen Text schreibt, kann souverän darüber entscheiden, wie sich die Zeitfolge des Geschriebenen oder des durch das Geschriebene Erzählten entwickeln wird – und schon am Anfang Fährten legen, die die Dinge dann zeitlich plausibel machen. Der Autor und die Autorin können bereits wissen, wie es später (sic!) ausgehen wird – ob es nun ein Krimi ist oder eine argumentierende Abhandlung, ein Liebesbrief oder eine Kündigung – oder eben auch ein Kursbuch-Text, der seine Thesen in sieben Bildern sich entfalten lässt, zugleich aber lässig behaupten kann, dass das kein Zufall ist, weil der Autor schon beim Schreiben dieses Satzes nicht nur damit rechnen kann, dass es sieben Bilder werden. Er kann sogar dafür sorgen, dass es so wird, und kann im Text immer wieder Eingriffe vornehmen, dass es auch so ausgeht.1
Aber vielleicht ist es wirklich kein Zufall, dass es sieben Bilder sind, ist die Sieben doch eine Zahl mit hoher Symbolkraft – als Abbild der sieben freien Künste, die Sieben als Summe der Trinität und der vier Elemente, die sieben Tage, die Gott für die Schöpfung gebraucht hat, die sieben Umrundungen der Kaaba in Mekka für die Gläubigen, die Inflation der Sieben in der Johannes-Offenbarung. Selbst in der DDR-Popkultur waren es sieben Brücken, über die man gehen musste.
Es kann also kein Zufall sein, dass es sieben Bilder sind, die nun folgen werden – es liegt so nahe, dass es sieben Bilder sind, dass alles andere tatsächlich eine Abweichung, in diesem Sinne ein Zufall wäre. Wer tatsächlich daran glaubt, dass sich die Sieben vor allem selbst verdankt, wird auch die Erklärung nicht akzeptieren, dass der Autor behauptet, dass er auch anders gekonnt hätte und dass sich die Sieben seiner Entscheidung verdankt. Aber auch seine Entscheidung gehört in die Welt, in der die Siebenzahl jene Kraft entfaltet, die sie offensichtlich hat. Das heißt, dass die Zurechnung auf den freien Willen des Autors verkennen würde, dass er der Unwahrscheinlichkeit des Zufalls unterliegt. Was ihm wie ein freier Wille erscheint, wird durch die Notwendigkeit erzwungen, dass das Argument sich in sieben Bildern entfalten muss. Der freie Wille ist für die, die den Zufall zugunsten einer primordialen Notwendigkeit negieren, nur eine Illusion, vielleicht sogar eine produktive Illusion, weil die Siebenheit der Welt sich dann noch ungestörter entfalten kann. Verschwörungserzähler lieben solche Thesen 2 – auch weil sie damit denjenigen, die sie am liebsten vernichten würden, die Barmherzigkeit angedeihen lassen können, dass sie eben nicht anders konnten.
Erstens: Kontingenz oder Zufall?