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Der Zusammenbruch der Sowjetunion wirkte einst wie ein großartiger Sieg der liberalen Ordnung über die sozialistische Unterdrückung. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Von »links« wird sie für die Finanzkrise sowie eine ungerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen kritisiert. Von »rechts« wird sie als Bedrohung für nationale Identität und Wohlstand durch fremde Mächte verschrien. Das führt zu bizarren Verbrüderungen der politischen Linken und Rechten gegen einen gemeinsamen Feind: die liberale Ordnung. Angesichts der enormen Leistungen der liberalen Ordnung wirken die Anfeindungen absurd. Warum verteufeln die Menschen ein Prinzip, das nachweislich zu Wohlstand beigetragen und ein Leben in Freiheit ermöglicht hat, und fordern stattdessen eine sozialistische Gesellschaftsordnung, obwohl alle politischen Systeme, in denen diese gelebt wurde, gescheitert sind? Manager Magazin-Bestsellerautor Thomas Mayer zeigt, warum wir den Prinzipien des Liberalismus verdanken, was wir erreicht haben und was wir sind. Und er gibt einen Ausblick darauf, was passiert, wenn die Prinzipien der liberalen Gesellschaftsordnung nicht mehr verstanden und stattdessen von Politikern, die an menschliche Instinkte statt an den Intellekt appellieren, ausgehebelt werden: Wir verlieren alles – unsere Freiheit und unseren wirtschaftlichen Wohlstand.
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Seitenzahl: 281
Für Dr. Heinz Mayer
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3. Auflage 2022
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Redaktion: Matthias Michel
Korrektorat: Hella Neukötter
Umschlaggestaltung: Laura Osswald, Isabella Dorsch
Umschlagabbildung: GettyImages/UniversalImagesGroup
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN Print 978-3-95972-127-1
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-226-1
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-227-8
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Widmung 1
Widmung 2
Eine Lanze für den Liberalismus!
1. Kein Ende der Geschichte
2. Von der Stammesgesellschaft zur organisierten Gesellschaft
Von der Familie zum Stamm
Früher Ausbruch aus der Stammesordnung
Der Weg zum modernen Konstruktivismus
Scheitern der Zentralplanung im Sozialismus
3. Die liberale Gesellschaft und ihre Wirtschaftsordnung
Von der Erkenntnistheorie zur Gesellschaftstheorie
Die Gesellschaftsordnung der Freiheit
Die Rolle des Privateigentums
Liberale Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung
Die Rolle des gegenseitigen Vertrauens
4. Das gebrochene Verhältnis der Deutschen zum Liberalismus
Einigkeit vor Freiheit
Zuckerbrot und Peitsche
Aufstieg der Sozialdemokratie
Die Ära Erhard
Die Jugendrevolte
Gegen jede Regel der Gesellschaft
Von Marx zu Keynes
Wiederkehr liberaler Wirtschaftspolitik
5. Niedergang des Liberalismus durch den Dritten Weg
Geld als Instrument der Wirtschaftslenkung
Die Boom-Bust-Politik der Zentralbanken
Blasenökonomie und »Finanzialisierung«
Wider den »Neoliberalismus«
6. Der Traum vom behütenden Wohlfahrtsstaat
Wenn das Herz den Kopf regiert
Die allumfassende Vormundschaftsgewalt
Der ökologische Arm des behütenden Wohlfahrtsstaats
Das Luftschloss der sozialen Gerechtigkeit
Der behütende Wohlfahrtsstaat und die Demokratie
7. Aufstand der verlassenen Mündel
Schreckgespenst Globalisierung
Entkopplung von Freiheit und Verantwortung
Bedrohung durch Migration
Wütende Klienten und verlassene Mündel
Voller Angst und ohne Vertrauen
Der Fall Zentral- und Osteuropa
Der Fall Westeuropa und USA
Der Fall Südeuropa
8. Die Antwort aus China
9. Ein Programm zur liberalen Erneuerung
Stärkung von Eigentumsrechten
Rückkehr zu individueller Selbstbestimmung
Wiederherstellung von Vertrauen
Regierung unter dem Recht
10. Fazit
Literatur
Danksagung
Über den Autor
»Den Sozialisten in allen Parteien«1
1 Widmung Friedrich von Hayeks in Der Weg zur Knechtschaft. Olzog (München) 2003.
»Wer mit 17 Jahren kein Sozialist ist, hat kein Herz. Wer mit 30 Jahren noch immer Sozialist ist, hat keinen Verstand«, sagte mir mein Vater, als ich 17 Jahre alt war. Natürlich fand ich das herabwürdigend. Zu dieser Zeit schwärmte ich für Rudi Dutschke, Fritz Teufel und Rainer Langhans. Am besten gefiel mir aber Uschi Obermaier.
Mein Vater war Mitglied der FDP, die damals mit der SPD regierte. Das fand ich grenzwertig. Obwohl er mit dem Autofahren immer ein wenig auf dem Kriegsfuß stand, nahm er regelmäßig eine Fahrt von über einer Stunde in Kauf, um nach Wernau am Neckar zu reisen. Dort trafen sich einige FDP-Mitglieder zu einem Gesprächskreis, an dem auch der stellvertretende FDP-Vorsitzende von Baden-Württemberg, Martin Bangemann, öfters teilnahm. Mein Vater stritt sich regelmäßig mit Herrn Bangemann. Er verstand sich als klassischer Württemberger Liberaler und konnte der »sozial-liberalen« Politik, die Herr Bangemann vertrat, nichts abgewinnen. Schließlich trat mein Vater aus der FDP aus. Das empfand ich nun nicht mehr nur grenzwertig, sondern als direkten Verrat an der sozialistischen Sache – und als Kampfansage.
Heute verstehe ich meinen Vater und bin auf seiner Seite. Je älter ich werde, desto mehr treibt mich die Sorge um, dass wir die Grundlagen zerstören, auf denen unsere freie Gesellschaft und unser Wohlstand errichtet wurden. Die Idee des Liberalismus, der wir Freiheit und Wohlstand verdanken, kommt unter die Räder. Sie wird von der politischen Linken und Rechten bekämpft und von der politischen Mitte weichgekocht. Dabei ist die Mitte der gefährlichste Gegner, nicht nur, weil sie zahlenmäßig am größten ist, sondern auch, weil sie sich um die liberale Idee einfach nicht schert. Mit Gegnern kann man diskutieren, bei Ignoranten läuft man ins Leere.
Mit Ludwig Erhard möchte ich rufen: »Kümmere du, Staat, dich nicht um meine Angelegenheiten, sondern gib mir so viel Freiheit und lass mir von dem Ertrag meiner Arbeit so viel, dass ich meine Existenz, mein Schicksal und dasjenige meiner Familie selbst zu gestalten in der Lage bin.«2 Doch zunehmend ist Erhards Ruf ein einsamer Ruf in der Wüste. Vielleicht ist es schon zu spät, aber ich versuche dennoch, in ihn einzustimmen. Das ist der Zweck dieser Schrift.
Thomas Mayer im April 2018
2 Ludwig Erhard, Wohlstand für Alle. Econ Verlag (Düsseldorf) 1957, S. 251–252.
Nach dem Scheitern des »real existierenden Sozialismus« Ende der 1980er Jahre schien der Sieg der liberalen Wirtschaftsordnung und der sie begründenden liberalen Gesellschaftsordnung gesichert. Daher rief im Jahr 1989 der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte aus:
»What we may be witnessing is not just the end of the Cold War, or the passing of a particular period of post-war history, but the end of history as such: that is, the end point of mankind’s ideological evolution and the universalization of Western liberal democracy as the final form of human government.«3
Was auf den ersten Blick skurril erscheint – kann es denn ein Ende der Geschichte in der Zeit geben? –, war aus der Sicht eines Politikwissenschaftlers nach dem Fall der Sowjetunion durchaus konsequent. Sozialismus und Kommunismus waren im 19. Jahrhundert der Gegenentwurf zu Kapitalismus und liberaler Wirtschaft. Karl Marx hatte prophezeit, dass eine internationale Revolution das kapitalistische System beseitigen und dem Sozialismus den Weg bahnen würde. Daraus würde sich der Kommunismus entwickeln – das Ende der Geschichte.4
Marx’ Theorie wurde im größten Experiment der Geschichte getestet und mit schrecklichen Folgen für alle Teilnehmer an diesem Experiment widerlegt. Die liberale Wirtschaftsordnung siegte. Besiegelte dieser Ausgang also das Ende der Geschichte des Titanenkampfes der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme und Wirtschaftsordnungen? So schien es. 1989 war Marx erledigt. Oder etwa nicht?
Heute kann von einem Ende der Geschichte im Sinne Fukuyamas keine Rede mehr sein. Anderthalb Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebte die »freie Welt« ihre größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er Jahre. Kredite fielen aus, Banken wankten und zogen die Wirtschaft in die Rezession. Die Schuld schob man dem »Neoliberalismus« in die Schuhe. Die liberale Wirtschaftsordnung ist seither schwer angeschlagen. Hatte man nicht den Teufel (Kommunismus) mit dem Beelzebub (Liberalismus) ausgetrieben? Zwar schafften es die politischen und wirtschaftlichen Eliten nach der Großen Finanzkrise von 2007/2008 und der sich daran anschließenden Großen Rezession von 2008/2009 noch einmal, das Heft in der Hand zu behalten. Um nicht in die politische Wüste geschickt zu werden, versprachen sie ihren Wählern eine sanfte wirtschaftliche Landung, die Bestrafung der angeblich für die Finanzkrise verantwortlichen Banker und Spekulanten und eine strengere staatliche Hand zur Disziplinierung der angeblich unmenschlichen Marktkräfte. Barack Obama in den USA, Angela Merkel in Deutschland, François Hollande in Frankreich und David Cameron in Großbritannien schienen eine Zeit lang als die besten Garanten für die erfolgreiche Fortführung der Geschichte.
Doch die Landung der Wirtschaft war weniger sanft als von vielen erwartet. Die Banker und Spekulanten machten weiterhin Geschäfte und die angekündigte Disziplinierung führte nur zu einem undurchdringlichen und teilweise in sich widersprüchlichen Dickicht von Regulierungen. Schließlich entzauberte die Völkerwanderung von 2015 die politischen Schutzpatrone. Die von den staatlichen Eliten anscheinend nicht zu kontrollierende Zuwanderung aus ärmeren und von Kriegen gebeutelten Regionen in die komfortablen Sozialsysteme der westlichen Welt brachte das durch Globalisierung und Finanzkrise ohnehin randvolle Fass der Unzufriedenheit einer kritischen Masse in den Bevölkerungen zum Überlaufen. Die Briten stimmten für Brexit, die Amerikaner wählten Donald Trump, die Franzosen stärkten Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon den Rücken und die Italiener gaben 70 Prozent ihrer Wählerstimmen den Populisten Luigi Di Maio, Matteo Salvini und Silvio Berlusconi. Die Osteuropäer verfielen einem längst überwunden geglaubten Nationalismus und befehdeten die Europäische Union. In Deutschland stimmten rund 22 Prozent der Wähler bei der Bundestagswahl 2017 für rechts- oder linkspopulistische Parteien und Angela Merkel erlebt ihre Kanzlerdämmerung.
Die Protestwähler werfen dem Wohlfahrtsstaat, von dem sie Schutz erwarten, den Flirt mit der liberalen Wirtschaftsordnung vor. Dieser Flirt begann nach dem Scheitern des Sozialismus in den 1990er Jahren, als sozialdemokratische Politiker und ihre Berater einen »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Sozialismus suchten. Dies konnte nicht gut gehen. Aber statt das Scheitern des Sozialismus zu akzeptieren und einzusehen, dass er auch mit Beimischung einiger liberaler Elemente nicht zu retten ist, sehen die enttäuschten Anhänger des Wohlfahrtsstaats nun den Liberalismus als ihren Feind.
Sie attackieren ihn von zwei Seiten her. Auf der politischen Linken wird die liberale Wirtschaftsordnung für die Finanzkrise, eine angeblich »ungerechte« Verteilung von Einkommen und Vermögen und den Raubbau an der »Umwelt« verantwortlich gemacht. Auf der politischen Rechten wird die liberale Wirtschaftsordnung als Bedrohung für nationale Identität und Wohlstand durch fremde Mächte gesehen. Gemäß der alten Regel, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist, schaffen die Angriffe gegen den Liberalismus gelegentlich bizarre Koalitionen zwischen der politischen Linken und Rechten.
Angesichts der enormen Leistungen der liberalen Wirtschaftsordnung wirken die gegen sie gerichteten Anfeindungen auf den ersten Blick befremdlich. Warum halten viele Menschen an Prinzipien der Gesellschaftsordnung fest, die auf beispiellose Weise historisch getestet und widerlegt wurden? Warum bekämpfen sie dagegen eine Ordnung, die ihnen ein Leben in Freiheit und Wohlstand ermöglicht? Dafür gibt es einen Grund: das emotionale Verlangen nach Geborgenheit und menschlicher Nähe, das die liberale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht befriedigen kann. Dieses Verlangen schuf nach dem Zusammenbruch des Sozialismus den Wohlfahrtsstaat, der die Menschen und die Natur behüten und lenken will. Doch der hat seine Mündel enttäuscht. Nun sinnen sie auf Rache.
Zweck dieser Streitschrift ist es, eine Lanze für den Liberalismus zu brechen. Manch einer wird da gleich abwinken. Oft höre ich, man habe genug von Diskussionen über die verschiedenen »Ismen«. Das seien doch Fragen von gestern, die längst nicht mehr gestellt zu werden brauchen. Leute, die so reden, loben dann im nächsten Satz meist den »Pragmatismus«. Was aber soll nun dieser »Ismus« sein? Kurz, man kommt um eine Ortsbestimmung nicht herum. Diese soll hier erfolgen, indem die Ordnung der Stammesgesellschaft und ihrer Nachfolger derjenigen der liberalen Gesellschaft entgegengestellt wird.
Den Prinzipien des Liberalismus verdanken wir, was wir erreicht haben und was wir sind. Doch die Prinzipien der liberalen Gesellschaftsordnung werden kaum noch verstanden. Dies gibt konstruktivistischen und opportunistischen Politikern, die an menschliche Instinkte statt an den Intellekt appellieren, die Gelegenheit, sie auszuhebeln oder mindestens zu verwässern. Die Erosion des Liberalismus ist keine folgenlose Episode in der Ideengeschichte. Sie kostet uns Freiheit und wirtschaftlichen Wohlstand. Wenn wir das nicht verstehen, werden wir alle verlieren.
Im anschließenden Kapitel beschreibe ich den Weg, auf dem wir von der Familie über die Stammesgesellschaft zur organisierten Gesellschaft gekommen sind. Dieser Weg erwies sich zwar als Holzweg, weil die Organisationsprinzipien der Familie und der Stammesgesellschaft sich nicht auf die große Gesellschaft übertragen lassen, in der die Beziehungen der Mitglieder untereinander anonym sind. Doch steckt in uns die Sehnsucht nach der Geborgenheit der Familie und des Stamms, so dass uns die organisierte Gesellschaft als Paradies auf Erden erscheinen kann. Das Herz siegt oft über den Verstand, auch wenn die Architekten der organisierten Gesellschaft meist die Hölle statt des Paradieses auf Erden schufen.
Das dritte Kapitel widmet sich der Antwort des Liberalismus auf das Problem, anonyme Beziehungen in der großen Gesellschaft zum Nutzen aller zu organisieren. Am Anfang steht die Überzeugung, dass der Mensch nicht anderer Menschen Untertan zu sein hat. Für die Entstehung der Überzeugung von der Freiheit des Menschen spielte sicherlich die christliche Lehre eine Rolle, nach der jeder Mensch das Geschöpf eines Gottes ist, der über dieser Welt angesiedelt ist. Daher kann kein Mensch beanspruchen, auf einer höheren Stufe des Seins als ein anderer Mensch zu stehen, und jeder Mensch ist frei, über seine Handlungen selbst zu entscheiden, ohne von einem anderen gezwungen zu werden. Damit dies für jeden Menschen möglich ist, muss jedoch die Freiheit des einen dort enden, wo die Freiheit des anderen beginnt. Über die Zeit hat die menschliche Gesellschaft sich Regeln geschaffen, welche die zur größtmöglichen Freiheit aller notwendigen Grenzen der Freiheit Einzelner ziehen. Dadurch, dass sie den Freiheitsraum des Einzelnen maximiert, hat die liberale Gesellschaft ihren Mitgliedern einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand gebracht.
Kapitel 4 befasst sich mit der Geschichte des Liberalismus in Deutschland. Zwar gehören deutsche Philosophen zu den Wegbereitern des Liberalismus, doch hatte es der Liberalismus schwer, in Deutschland Fuß zu fassen. Ein Grund waren die Geburtswehen bei der Schaffung des deutschen Nationalstaats, ein anderer Grund die frühe Entwicklung des Sozialstaats in Reaktion auf die Entwicklung der Sozialdemokratie. Trotz des Scheiterns der sozialistischen Staatsform auf deutschem Boden ist der Sozialstaat die bevorzugte Staatsform geblieben, weil er die Geborgenheit vermittelt, welche die eigenverantwortliche Gesellschaftsordnung des Liberalismus nicht liefern kann.
Kapitel 5 zeichnet den Niedergang des Liberalismus durch den »Dritten Weg« zwischen Sozialismus und Liberalismus nach. Auf den ersten Blick erscheint es bestechend, mikroökonomische Flexibilität mit makroökonomischer Stabilität zu verbinden und den Strukturwandel abzufedern. Und eigentlich sollte niemand etwas dagegen haben können, wenn die Steuerungsfunktion des Marktes nicht behindert, sondern ergänzt und verbessert wird. Leider ist dies aber zu schön, um wahr zu sein. Denn die Steuerungsfunktion des Marktes lässt sich durch politische Planung nicht ergänzen und verbessern, sondern nur aushebeln.
Kapitel 6 befasst sich mit dem Traum vom behütenden Wohlfahrtsstaat und seinen Ausprägungen in der Wirklichkeit. Der behütende Wohlfahrtsstaat will die Schöpfung erhalten und für soziale Gerechtigkeit sorgen. Dabei unterminiert er das wirtschaftliche Wachstum und pervertiert die liberale Demokratie, indem er Interessengruppen Tür und Tor für die Steuerung der Politik in ihrem Sinne öffnet. Beim Umweltschutz geht es längst nicht mehr um die Frage, welche Eingriffe in die Eigentumsrechte der Bürger auf der Grundlage unseres begrenzten Wissens über naturwissenschaftliche Zusammenhänge gerechtfertigt werden können, sondern um einen erbitterten Kampf zwischen »Umweltschützern« und »Umweltzerstörern«, der an die Religionskriege erinnert. Unter »sozialer Gerechtigkeit« wird nicht Hilfe für unverschuldet in Not geratene Mitbürger, sondern die Umgestaltung der Gesellschaft nach den Vorstellungen von selbst ernannten Sozialplanern verstanden.
Da der behütende Wohlfahrtsstaat nicht liefern kann, was er versprochen hat, werden seine Bewohner unzufrieden. Es kommt zum Aufstand der verlassenen Mündel, der in Kapitel 7 beschrieben wird. Der Zorn der Enttäuschten richtet sich gegen die Globalisierung, gegen die Nutznießer einer Marktwirtschaft ohne Verantwortung und Haftung und gegen die von den Eliten des Wohlfahrtsstaats zur Bestätigung ihrer moralischen Überlegenheit tolerierten Zuwanderung der Mühseligen und Beladenen dieser Welt. Die Folgen davon sind Ressentiments und der Verlust von Vertrauen der Gesellschaftsmitglieder untereinander und in die Eliten. Dies nagt an den politischen und wirtschaftlichen Grundlagen des Wohlstands in Europa und den USA.
Kapitel 8 nimmt die Reaktion in China auf die Krise des liberalen Westens unter die Lupe. Dort gewinnt zunehmend die Einschätzung an Gewicht, dass die westliche liberale Demokratie und mit ihr die liberale Wirtschaftsordnung auf dem Totenbett liegen. Die chinesische Führung ist dabei, ihre eigene Antwort darauf zu geben. Angesichts des von ihr diagnostizierten Niedergangs des Westens fällt diese dezidiert antiliberal aus. Sie will die Gesellschaft auf von ihr definierte strategische Ziele verpflichten und die dafür erforderliche gesellschaftliche Zusammenarbeit mit Hilfe neuer Technologien erzwingen. Über alldem wacht ein auf Lebenszeit ernannter »oberster Führer«.
In Kapitel 9 versuche ich, die Antwort auf die chinesische Herausforderung zu geben. Notwendig ist die Rückkehr zur klassisch-liberalen Ordnung. Die liberale Erneuerung sollte vier Leitlinien folgen: (1) der Stärkung von Eigentumsrechten, (2) der Stärkung von individueller Selbstbestimmung, (3) der Wiederherstellung von Vertrauen und (4) der Rückbesinnung auf die Regierung unter dem Recht. Dies wird jedoch kaum in einem großen Sprung möglich sein. Möglich sind aber viele kleine Schritte, im Sinne der »Stückwerk-Technik« Karl Poppers.
Kapitel 10 zieht ein vorläufiges Fazit aus den Überlegungen dieser Schrift. Der Westen hat zwei Möglichkeiten, auf die chinesische Herausforderung zu reagieren. Er kann erstens versuchen, das chinesische Modell nachzuahmen. Der Preis für diese Strategie wäre aber der endgültige Verzicht auf individuelle Freiheit in der liberalen Gesellschaftsordnung. Allenfalls bliebe dem Einzelnen noch begrenzte Freiheit bei wirtschaftlichen Handlungen, die allerdings in einem vom Staat gesetzten und streng kontrollierten Rahmen zu erfolgen hätten. Zweitens kann er sich auf seine liberalen Werte besinnen, die liberale Gesellschaftsordnung erneut stärken und weiterhin die Avantgarde einer Weltgeschichte sein, deren Ende nicht abzusehen ist.
3 Francis Fukuyama, »The End of History?«. The National Interest 1989 (16), S. 3–18.
4 Fukuyama und Marx haben zumindest eines gemeinsam: Sie folgen der Tradition des teleologischen Geschichtsbildes, das seit Jahrtausenden das Denken von Philosophen und Theologen bestimmt hat. Dagegen ist für Vertreter liberaler Philosophie der Verlauf der Geschichte offen.
Wir suchen menschliche Nähe und finden sie in der Partnerschaft und in der Familie. Früher war die erweiterte Familie der Stamm, heute ist sie die organisierte Gemeinschaft des Volkes oder der Völker.5 Für gesellschaftliche Utopien, die uns Gemeinschaft versprechen, können wir uns leicht begeistern. Auch wenn diese Utopien regelmäßig an der Wirklichkeit scheitern, kommen wir immer wieder auf sie zurück. Sie wärmen uns das Herz.
In der Regel werden wir als unfertige Lebewesen in eine Familie hineingeboren. Die Familie kann groß und weit verzweigt sein. So war es meist früher der Fall. Oder sie kann sehr klein sein, bis hinunter zur Kleinfamilie von Mutter oder Vater und Kind, wie es heute immer öfter der Fall ist. Die Beziehungen in der funktionierenden Familie beruhen auf Vertrauen und Zuneigung, man könnte auch Liebe sagen. Haben wir das Glück, in einer solchen Familie aufzuwachsen, lernen wir, Vertrauen und Zuneigung nicht nur zu empfangen, sondern auch zu geben. Die Familie kümmert sich um unsere wirtschaftliche Versorgung. Innerhalb der Familie beruht unser wirtschaftlicher Austausch auf Geben und Nehmen, ohne dass wir auf sofortigen Ausgleich bestehen oder Buch darüber führen. Die Familie ist umso wichtiger, je weniger wir uns auf die Ordnung der Gesellschaft insgesamt verlassen können.6
Wir lernen, den in der Familie gepflegten Prinzipien auch in anderen Kleingruppen zu folgen, in die wir im Prozess der Erweiterung unseres sozialen Umfelds eintreten. Im Kindergarten gehört es sich nicht, dem Spielkameraden das Spielzeug einfach wegzunehmen, weil wir es selbst gerne hätten. In der Schule zollen wir dem Lehrer Respekt (früher stand man auf, wenn er das Klassenzimmer betrat), und wir entwickeln freundschaftliche Beziehungen zu unseren Mitschülern. Ohne dass wir uns dessen bewusst sind, übertragen wir die in der Familie erlernten Prinzipien auf immer andere und auch immer größere Gruppen.
Aus der Erweiterung und Verzweigung der Familie ergab sich der Stamm und aus der Familienordnung entwickelte sich die Stammesordnung. Wie in der Familie bestimmen Blutsbande und Abhängigkeiten sowie Zuneigung und Vertrauen die Verhältnisse der Stammesmitglieder untereinander. Und wie die traditionelle Familie ist die Stammesgesellschaft meist hierarchisch organisiert. An der Spitze steht der Stammeshäuptling oder der Stammesführer, der dem Familienoberhaupt entspricht. Von den Mitgliedern der unteren Hierarchiestufe wird Gehorsam gegenüber denjenigen auf der höheren Stufe verlangt. Im Gegenzug kann eine wohlwollende Stammesführung auch eine Fürsorgepflicht für die Mitglieder empfinden.
Die Führung der Stammesgesellschaft kann durch Blutsbande oder religiös legitimiert sein, oder sie kann ihren Machtanspruch auf Gewalt gründen. Meist spielen in historischen Stammesgesellschaften alle drei Faktoren für die Begründung der Führung eine Rolle. Eine stammesgesellschaftlich organisierte Räuberbande kann ihren Anführer auch durch demokratische Abstimmung küren. In jedem Fall will die Stammesgesellschaft ihre Mitglieder zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke verpflichten (was aber bei internen Streitigkeiten nicht immer klappt).
Wichtigster Zweck der Stammesgesellschaft ist, den Stamm zu erhalten, sein Wachstum zu fördern und seinen Wohlstand zu maximieren. Daher ist sie nach innen orientiert und neigt dazu, dem Fremden zu misstrauen. Wachstum wird durch eigene Fortpflanzung oder die kriegerische Eroberung und Unterwerfung anderer Stämme erreicht. Gleiches gilt für die Maximierung des Wohlstands. Kriegerische Auseinandersetzungen sind daher dort besonders häufig, wo verschiedene Stämme eng beieinander wohnen. Bevölkerungswachstum bringt die Stämme näher zueinander. Konflikte häufen sich. Dies war in der Vergangenheit in Europa und ist heute in Teilen Afrikas und des Nahen Ostens zu beobachten.
Die Stammesmitglieder sind gehalten, sich gegenseitig zu unterstützen. Dies ergibt sich schon aus dem Versprechen menschlicher Nähe. Auch können gemeinsame Zwecke leichter verfolgt werden, wenn man sich gegenseitig hilft. »Solidarität« ist deshalb von hohem gesellschaftlichem Wert. Es ist schwer, Stammesmitglieder auf die Verfolgung gemeinsamer Zwecke zu verpflichten, wenn sie spüren, dass manche mehr davon profitieren als andere. Solidarität ist daher mehr als reine Nothilfe. Sie will die individuellen Ergebnisse der Anstrengungen zur Verfolgung der gemeinsamen Zwecke ausgleichen.
In der typischen Stammesgesellschaft kann das einzelne Mitglied daher nicht über Eigentum frei verfügen. Es hat zwar Besitzrechte an verschiedenen Dingen, aber es hat nicht das Recht, über diese Dinge nach Belieben zu disponieren.7 Zum Beispiel mag ein Stammesmitglied eine Hütte besitzen, die es exklusiv nutzen darf, aber es kann diese Hütte nicht verkaufen und mit dem Erlös den Stamm verlassen. Es kann sie auch nicht verpfänden, um einen Kredit zur Durchführung eines Projekts aufzunehmen. Besitzrechte werden von der Stammesführung vergeben und können auf der Grundlage von gepflegten Traditionen weitergegeben werden. Doch kann man nicht davon ausgehen, dass die jeweilige Stammesführung Traditionen immer respektiert. Sie kann Besitz auch nach eigenem Gutdünken zuteilen oder umverteilen.
Inwieweit die Besitzrechte so verteilt werden, dass von ihrer Nutzung der wirtschaftliche Erfolg des Stammes gesteigert wird, hängt von der Weisheit der Stammesführung ab. Doch können Einzelne nie so klug sein wie die Gesamtheit freier Individuen. Wo Blutsbande oder persönliche Neigungen die Verteilung dominieren, fällt der Erfolg in der Regel besonders mager aus. Dagegen ist der Erfolg dort besser, wo die Verteilung der Besitzrechte die Fähigkeiten der Gesellschaftsmitglieder berücksichtigt. Daher war das stammesgesellschaftlich organisierte China dem ebenfalls stammesgesellschaftlich organisierten Afrika haushoch überlegen. In China wurde die Führung nach ihren Fähigkeiten bestimmt, in Afrika bestimmten meist Blutsbande und Tradition die Organisation der Stämme. Unabhängig davon fiel der wirtschaftliche Erfolg der Stammesgesellschaften im Lauf der Geschichte eher bescheiden aus.
Einen frühen Ausbruch aus der Organisationsform der Stammesgesellschaft gab es in Athen im 5. Jahrhundert vor Christus. Zunächst scheiterte unter der Herrschaft Solons, einem Mitglied im Rat der Adligen, die Beteiligung der Bürger an den Regierungsgeschäften und es kam zur Tyrannenherrschaft (»Tyrannis«). Nach Beseitigung der Tyrannis im Jahr 510 v. Chr. wurde die Bestimmung der Regierungsgeschäfte wieder an die Bürger übertragen, diesmal mit nachhaltiger Wirkung. Vollbürger – freie gebürtige Athener ab 30 Jahre – durften durch Abstimmung Entscheidungen treffen, die die Regierung umzusetzen hatte. Das wurde Demokratie genannt, die »Herrschaft des Staatsvolks«.8
Wichtig war die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Dafür gab es den Begriff »Isonomia«. In der Demokratie sollten die Gesetze und nicht einzelne Personen herrschen. Auch sollte Demokratie nicht einfach die unbeschränkte Herrschaft der Mehrheit sein. Der Philosoph Aristoteles war gegen eine Regierung, bei der Volksbeschlüsse endgültig entscheidend sind und nicht das Gesetz: »Denn wo nicht die Gesetze regieren, da liegt keine Staatsordnung vor. Denn das Gesetz muss über alles gebieten.«9 Die Entscheidungen des Gesetzgebers sollten nicht für den besonderen Fall, sondern für die Zukunft und allgemein gelten. Athen war ein früher Hort der Freiheit und des Wohlstands vieler.10 Doch den Athener Bürgern fehlte die soziale Technik, ihr Demokratiemodell auf eine größere Gesellschaft zu übertragen. Dazu sind allgemeine und abstrakte Regeln für das Zusammenleben nötig, über die noch ausführlich zu sprechen sein wird.
Ungefähr zur gleichen Zeit, um 500 v. Chr., stürzte der Adel in Rom den König. An seine Stelle traten zwei jeweils auf ein Jahr gewählte Konsuln und eine gesetzgebende Versammlung, der Senat, mit 300 Mitgliedern. In den Senat konnten nur Angehörige der Aristokratie gewählt werden, und das Volk war nach Vermögen in Klassen mit abgestuften Rechten und Pflichten eingeteilt. Wer ohne Vermögen war, die sogenannten Proletarier, hatte kaum Rechte, musste aber auch keinen Kriegsdienst leisten.
Der im 1. Jahrhundert vor Christi Geburt lebende römische Senator Marcus Tullius Cicero war der wichtigste Vordenker des späteren Liberalismus. Er wollte, dass allgemeine Regeln die Gesetzgebung leiten, und meinte, dass man den Gesetzen gehorchen müsse, um frei zu sein. Der Richter sollte der Mund sein, durch den das Gesetz spricht.
Cicero war auch einer der Ersten, die die Stärke des Pluralismus in der freien Gesellschaft erkannten:
»Dieser Mann [Cato] pflegte zu sagen, darin liege der Grund des Vorzuges unserer Verfassung vor der der übrigen Staaten, dass, während in diesen immer nur Einzelne lebten, die, jeder in seinem Vaterland, die Verfassung des Staates durch ihre Gesetze und Einrichtungen begründet hätten; zum Beispiel bei den Kretern Minos, bei den Spartanern Lykurgos; […] dagegen in unserem Staat nicht das Talent eines Einzelnen, sondern vieler, die Verfassung begründete. […] Denn, sagte er, nie und nirgends gab es wohl einen Mann von so allumfassendem Geist, dem gar nichts entgangen wäre; auch ist es unmöglich, dass ein Verein aller Talente in einem Zeitraum alles so auf die Dauer berechnen könnte, dass er die Erfahrung und die Probe der Zeit zu ersetzen vermöchte.«11
Obwohl die Realität nicht ganz den Idealvorstellungen Ciceros entsprach, wurde Rom zum Weltreich. Doch mit der Zeit wurden die vorhandenen Elemente der liberalen Ordnung verwässert. Im 1. Jahrhundert vor Christus geriet die römische Republik wirtschaftlich und militärisch immer stärker unter Druck. Die Bauern wurden vom Militärdienst befreit, da sie wegen der Erntezeiten nur mit Unterbrechung zur Verfügung standen, und eine Berufsarmee entstand. Dadurch stieg der politische Einfluss der Heerführer. Mit dem »Triumvirat« (Herrschaft der Drei) der beiden Feldherrn Caesar und Pompeius im Bund mit dem Finanzmann Crassus endete die römische Republik. Nach der Ermordung Caesars, der sich zum Alleinherrscher aufgeschwungen hatte, übernahmen dessen Vertrauter Marcus Antonius und Octavian, der spätere Kaiser Augustus, die Macht. Mit der Ermordung Ciceros verkamen trotz gegenteiliger Darstellung des Augustus die letzten Reste des liberalen Rechtstaats. Schließlich wurde die Zuwanderung aus traditionellen Stammesgesellschaften dem Römischen Reich zum Verhängnis. Je mehr Germanen kamen, desto schwieriger wurde die Integration. Als eine kritische Menge überschritten war und die Zuwanderer sich als eigenständige und handlungsfähige Gruppen organisierten, verschob sich das Machtgefüge. Die alte Ordnung löste sich auf.12
Nach dem Untergang des Römischen Reichs dominierte im mittelalterlichen Europa zunächst die Organisationsform der durch Religion und Machtgewalt des Führers bestimmten Stammesgesellschaft. Ab dem 11. Jahrhundert lösten sich die Stämme als handlungsbestimmende Macht zu Gunsten des (später Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation genannten) Kaiserreichs auf. Gleichzeitig entdeckte man die Sammlung altrömischer Rechtsliteratur durch den oströmischen Kaiser Justinian, der diese im Jahr 533 in Kraft gesetzt hatte, und nahm sie zur Grundlage der Rechtsordnung.
Im 15. und 16. Jahrhundert kam es in Kunst und Philosophie zur Wiederentdeckung der Antike in größerem Umfang. Im Rückblick fand man für dieses Zeitalter die Bezeichnung Renaissance. Die Rückbesinnung auf die griechische und römische Philosophie in der Renaissance bereitete den Boden für das sich anschließende Zeitalter der Aufklärung. Fußend auf dem in der Renaissance wiederbelebten Humanismus rückte in der Aufklärung die menschliche Vernunft ins Zentrum der Betrachtung. Zwei Fragen waren von besonderer Bedeutung: Was konnte man der menschlichen Vernunft zutrauen? Und wie sollte eine auf Vernunft (und nicht Tradition) gegründete Gesellschaftsordnung aussehen?
Auf die erste Frage gab der französische Philosoph René Descartes die Antwort, dass mit reiner menschlicher Vernunft die Grundlagen unseres Daseins durchdrungen und dieses folglich auch mit Vernunft gestaltet werden könne.13 Folglich lasse sich auch die Gesellschaftsordnung vernünftig organisieren. Auf die zweite Frage gab der englische Philosoph Thomas Hobbes die Antwort, dass die absolute Monarchie die beste Gesellschaftsordnung sei, da ohne die durch einen absoluten Herrscher hergestellte Ordnung die Menschen im Naturzustand in den Krieg aller gegen alle versinken würden. Der Theorie Hobbes’ widersprach der aus Genf stammende und in Frankreich wirkende Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Er war der Ansicht, dass die Menschen ursprünglich in einem friedlichen und selbstgenügsamen Naturzustand lebten, jedoch durch Arbeitsteilung und Herausbildung von Privateigentum zur zerstörerischen Selbstsucht verführt worden seien. Harmonie könne nur durch einen Gesellschaftsvertrag wiederhergestellt werden, in dem die Bestrebungen der Einzelnen zu einem allgemeinen Volkswille verbunden werden.
Obwohl sie völlig unterschiedliche Vorstellungen über den »Naturzustand« der menschlichen Gemeinschaft hatten, einte Hobbes und Rousseau die Vorstellung, dass mit menschlicher Vernunft die richtige Gesellschaftsordnung gestaltet werden könne. Vernunft ersetzte Instinkt und Tradition als Organisationsprinzip. Maximilien de Robespierre, der Rousseau verehrte, wollte während der Französischen Revolution den von ihm definierten Gemeinwillen durch Terror zur Tugend aller Gesellschaftsmitglieder erheben.14 Die konstruierte Gesellschaft als Nachfolger der traditionellen Stammesgesellschaft – im Weiteren die »organisierte Gesellschaft« – sollte mit Gewalt durchgesetzt werden.15
Ebenso skeptisch wie Rousseau sah Karl Marx die Arbeitsteilung und die damit verbundene Herausbildung von Eigentum im Kapitalismus. Die Arbeitsteilung war für ihn die Quelle der »Entfremdung« des Arbeiters von den Früchten seiner Arbeit und der Kapitalismus ein Mittel seiner Ausbeutung durch die herrschende Klasse. Marx erkannte weitsichtig das durch Arbeitsteilung und Eigentumsbildung geschaffene enorme Potenzial des Kapitalismus. Anders als in der feudalistischen Stammesgesellschaft konnte in der liberalen Gesellschaftsordnung jeder, unabhängig von seiner Herkunft, Eigentum bilden, wenn er dazu fähig war. Das allgemeine Recht auf Eigentum ermöglichte die Bildung von Kapital, das nun nicht mehr notwendigerweise an vererbtes Landeigentum gebunden war. Die »ursprüngliche Akkumulation von Kapital« (Marx) ermöglichte die Hebelung der Arbeitskraft durch den Einsatz von Maschinen. Marx beobachtete, wie dadurch die Produktivität der eigentumslosen Arbeiter im England des frühen 19. Jahrhunderts stieg.16
Marx dachte in den Dimensionen der geschlossenen Wirtschaft. Er sah, wie in England während der industriellen Revolution Arbeiter vom Land in die Städte wanderten, um dort in den Fabriken immer mehr Güter herzustellen. Solange der Zuzug anhielt, konnten die Löhne nicht steigen. Die Produktion von Gütern wuchs, aber die Kaufkraft der Arbeiter, die die Masse der Bevölkerung ausmachten, blieb dahinter zurück. Er zog daraus den Schluss, dass es zum Verfall der Güterpreise und der ruinösen Konkurrenz der die Fabriken besitzenden Kapitalisten kommen würde. Die Kapitalisten würden versuchen, die Löhne immer weiter zu drücken, um in diesem Konkurrenzkampf überleben zu können. Die daraus sich ergebende Verelendung der Arbeiter, des Proletariats, würde schließlich zum allgemeinen Aufstand gegen die »Ausbeuter« führen.
Marx war stark beeinflusst von der Französischen Revolution. Anlass für die 1789 ausgebrochene Revolution des dritten Standes, der Bürger, gegen den ersten und zweiten Stand, Adel und Klerus, war, dass Letztere keine gesellschaftlich nützlichen Funktionen mehr ausübten. Die bürgerliche Revolution war für Marx aber nur die Vorstufe einer weiteren Revolution, in der das Proletariat den inzwischen funktionslos gewordenen Stand der Bürger abschaffen würde. Er und sein Weggefährte und Sponsor Friedrich Engels prophezeiten, dass der Kampf der Eigentumslosen gegen die Eigentümer, der Klassenkampf der Arbeiter gegen die Kapitalisten, in den fortgeschrittenen Industrieländern zur proletarischen Revolution führen würde:
»Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; anderseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, dass sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert. Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus zu Boden geschlagen hat, richten sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst. Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.«17
Aus der durch die Revolution entstehenden Herrschaft des Proletariats (später dann »Diktatur« genannt) würde sich die klassenlose Gesellschaft entwickeln, in der zunächst jeder nach seinen Leistungen entlohnt, dann aber seinen Bedürfnissen entsprechend versorgt würde:
»Alle Eigentumsverhältnisse waren einem beständigen geschichtlichen Wandel, einer beständigen geschichtlichen Veränderung unterworfen. Die Französische Revolution z. B. schaffte das Feudaleigentum zu Gunsten des bürgerlichen ab. Was den Kommunismus auszeichnet, ist nicht die Abschaffung des Eigentums überhaupt, sondern die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums. Aber das moderne bürgerliche Privateigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, auf der Ausbeutung der einen durch die andern beruht. In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen.«18
Auch Marx und Engels sahen, dass Gewalt angewendet werden musste, um die organisierte Gesellschaft durchzusetzen:
»Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer andern. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.«19
Die bürgerliche Revolution von 1789 stellte das Ziel der Freiheit noch vor die Ziele der Gleichheit und Brüderlichkeit. Bei Marx und Engels war Freiheit aber vor allem »Einsicht in die Notwendigkeit«. Engels bezieht sich auf den Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel, wenn er festhält:
»Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst und über die äußere Natur; sie ist damit notwendig ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung.«20
Irgendwann einmal, im Kommunismus, wo nicht mehr aus wirtschaftlichen Gründen gearbeitet werden muss, gibt es dann »wahre Freiheit«:
»Die Dampfmaschine wird nie einen so gewaltigen Sprung in der Menschheitsentwicklung zu Stande bringen, sosehr sie uns auch als Repräsentantin aller jener an sie sich anlehnenden gewaltigen Produktivkräfte gilt, mit deren Hülfe allein ein Gesellschaftszustand ermöglicht wird, worin es keine Klassenunterschiede, keine Sorgen um die individuellen Existenzmittel mehr gibt, und worin von wirklicher menschlicher Freiheit, von einer Existenz in Harmonie mit den erkannten Naturgesetzen, zum ersten Mal die Rede sein kann.«21
Freiheit ist also erst dort verwirklicht, wo die eigene Schöpferkraft von dem Zwang befreit ist, zwischen vorgegebenen Alternativen wählen zu müssen, und selbstgesetzten Zwecken folgen kann. In der Zwischenzeit ging es Marx und Engels um Gleichheit. Wie aber aus der Aufhebung des Privateigentums und der Diktatur des Proletariats zur Herstellung von Gleichheit Freiheit für jeden und alle in einer fernen Zukunft kommen soll, erschließt sich weder durch logisches Denken noch geschichtliche Erfahrung.22
Für Marx war der fortgeschrittene Kapitalismus die Voraussetzung für die proletarische Revolution und den Übergang zu Sozialismus und schließlich Kommunismus. Entgegen dieser Prognose fand die erste kommunistische Revolution jedoch im rückständigen und agrarisch geprägten Russland statt.23