Die Pädagogik der Privilegierten - Roland Reichenbach - E-Book

Die Pädagogik der Privilegierten E-Book

Roland Reichenbach

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Beschreibung

Das Buch befragt eine Pädagogik, die das individuelle Kind ins Zentrum stellt, aber nicht wahrnimmt, dass sie mit ihren Ideen in Wirklichkeit die Leistungsstarken und Privilegierten unterstützt - und viele, die andere pädagogische Umgangsweisen benötigen, um besser vorwärtszukommen, in ihrem Denken, Beschreiben und Urteilen auf seltsame Weise vergisst. Angetrieben wird die Darstellung von der Frage, welche problematischen Wirkungen politisch und pädagogisch gute Absichten mitverursachen, auch und wenn sie von einer breiten Allgemeinheit kopfnickend unterstützt werden. Es handelt sich bei den Motiven, so die These, um liebgewordene politisch korrekte und humanistisch bedeutungsvolle pädagogische Mythen, hinter die niemand ernsthaft zurückfallen möchte. Das Buch macht sich gegen die letztlich undemokratische politisch-pädagogische Vereindeutigung des pädagogischen Denkens für eine dialektische und ambiguitätstolerante Sicht der Pädagogik stark.

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Seitenzahl: 282

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorbemerkungen

Einleitung

a) Natur-Metaphorik

b) Pädagogische Ideen

c) Pädagogische Sakralität

d) Pädagogisch privilegiert sein

1 Mythos »Eigenerfahrung«

a) Leben versus Schule

b) Therapeutisches Ethos

c) Das Natürliche und das Entfremdete

d) »Lernen in Freiheit«

2 Mythos »selbstorganisiertes Lernen«

a) Die bloße Lernhilfe

b) Zur »Definition« des »selbstorganisierten« Lernens

c) Chimäre oder Banalität?

3 Mythos »digitales Lernen«

a) Viel heiße Luft ...

b) Die träge Bildung und Grundfunktionen von Lehrmitteln

c) Medienkompetenz und die inneren Bilder

d) Was Maschinen (noch) nicht können

4 Mythos »Vom Lehren zum Lernen«

a) Transformation der Vokabulare

b) Vom pädagogischen Sinn der Schule

c) »Wir müssen sie nehmen, wie sie sind ...«

5 Mythos »eigene Meinung«

a) Die große Zusammenhangslosigkeit

b) »Horizontales« und »vertikales« Denken

c) Meinungswissen aus rhetorischer Perspektive

d) Meinungsaustausch und Meinungsstreit

6 Mythos »gleiche Augenhöhe«

a) Der Schein der Gleichheit

b) Das Phänomen der Autorität

c) Zur Krise der Autoritätskrise

d) Das Kaschieren von Befehl und Gehorsam

e) Die erzieherische Zumutung

7 Mythos »Handlungskompetenz«

a) Oberstes Ziel: Handlungskompetenz?

b) Die Attraktivität der »weichen« Fähigkeiten

c) Gegenvorschlag: Gemeinsinn und Urteilskraft

8 Nachbemerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Der Autor

Dr. Roland Reichenbach ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich.

Roland Reichenbach

Die Pädagogik der Privilegierten

Ein Essay

Verlag W. Kohlhammer

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Umschlagsabbildung: Sunny studio - stock.adobe.com1. Auflage 2025

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-045334-0

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-045335-7epub:ISBN 978-3-17-045336-4

Truth is like poetry.And most people hate poetry.The Big Short

Vorbemerkungen

Wir begegnen dem Missbrauch der Spracheso oft, dass selbst die, die ein Ohr dafür haben,ihn nur in krassen Fällen bemerken.Susan Neiman

Ein »ziemlich mühsamer« Aspekt ihrer Tätigkeit, klagte eine Bildungspolitikerin, liege darin, dass sich buchstäblich alle Bürgerinnen und Bürger zutrauen würden, valide Urteile über Bildung, Schule und Erziehung abzugeben. Daher könne man es in der Bildungspolitik noch weniger als in anderen Bereichen allen richtig machen. In der Tat haben die meisten Menschen Erfahrungen mit Schule und alle sind aufgezogen bzw. irgendwie erzogen worden. Daher »wissen« auch alle, was gutes Lernen und gute Erziehung sind. Jedenfalls scheinen die Leute zu pädagogischen Fragen dezidierte Meinungen zu haben, die sie sich auch nicht einfach nehmen lassen. Das mag in der Tat mühsam erscheinen. Darin zeigt sich aber auch eine Sorge und ein Interesse für die Bildung der Menschen. Nie habe ich jemanden sagen hören, dass die Bedeutung von Schule oder Erziehung überschätzt werde. Wohl aber werden klare Urteile über gute oder schlechte Lehrpersonen, richtige oder falsche Erziehungspraxen geäußert. Diese sind oft an Erzählungen zu eigenen Lernerfahrungen gekoppelt; wann, bei wem und welchen Gegenständen das Lernen leichtgefallen und wo es hingegen eine Qual gewesen sei oder man sogar überhaupt nichts gelernt habe. Die anderen, meist Lehrpersonen oder Eltern, werden dabei für die eigenen Lernprozesse, d. h. das erfolgreiche oder aber nicht erfolgreiche Lernen verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich gemacht. Diesen Narrativen scheint die Vorstellung zugrundezuliegen, wonach Lernen – von außen – gemacht oder bewirkt werden könne.

Während Lehren und Erziehen immer auf Lernen zielen, ist Lernen jedoch nicht mit einem räumlichen Artefakt zu vergleichen, welches in der einen oder anderen Weise hergestellt werden kann. Die implizite Herstellungsmentalität, die im Reden über das Lernen heute vielleicht noch mehr als früher aufscheint, übersieht ein wesentliches Merkmal des Lernens, nämlich seine Unsichtbarkeit. Dass Lernprozesse stattgefunden haben müssen, d. h. gelernt worden ist, erkennt man jeweils erst am Lernprodukt. Das Kind weiß oder kann jetzt etwas, was es vorher noch nicht gewusst oder gekonnt hat. Doch dem Lernen bzw. Lernprozess selbst haftet etwas Mysteriöses an, obwohl man ihm so vertraut ist. Es bleibt unsicher, wann und wie Lehr- oder Erziehungstätigkeiten tatsächlich Lernen bewirken. Trotz umfangreicher Forschungsbemühungen gibt das Lernen sein tiefstes Geheimnis nicht preis. Wäre es anders und wüssten wir also ein- für allemal, wie Lernen tatsächlich »funktioniert« und »hergestellt« werden kann, könnte auf zahlreiche Behauptungen verzichtet werden, die über das gute oder erfolreiche Lernen in Schule, Bildung und Erziehung kursieren und zum Meinungsstreit führen. Da sich das Lernen dem letzten Zugriff der wissenschaftlichen Erklärung immer noch kapriziös entzieht, darf jedoch weiterhin viel behauptet und spekuliert werden. Um bei diesem Reden über das Lernen erfolgreich zu sein, ist die persuasive Sprache mit ihren emotional aufgeladenen Vokabeln ein probates Mittel. So ist »offenes« Lernen sympathischer als »geschlossenes« (?), »aktives« Lernen sympathischer als »passives« (?), »entdeckendes« Lernen sympathischer als ein Lernen, bei dem es offenbar gar nichts zu entdecken gibt (?). Denkt man länger darüber nach, kommt man zur Einsicht, dass diese und viele andere Adjektive gar nicht Lernen beschreiben, sondern vielmehr eine rhetorische Funktion beim Reden über das Lernen aufweisen. Werden die entsprechenden »Diskurse« aufdringlich, so versuchen sie vorzuschreiben, was hier und jetzt unter gutem Lernen zu verstehen sei.

Wäre die pädagogische Sprache nur etwas Äußerliches und würde nicht auch ein pädagogisches Denken, einen Zugang zu den Phänomenen des Lernens, der Erziehung und Bildung offenbaren, dann hätte ich die Motivation zu diesem Essay nicht aufbringen können. Es schiene mir nicht nötig. Wenn aber die Ausdrucksweisen und konkreten Wörter im pädagogischen Diskurs nur Zustimmung erheischen, sich mit einer selbstverständlichen Zufriedenheit präsentieren, so ist dies nicht als Indiz für die Stärke der dahinterliegenden Konzepte oder des zugrundeliegenden begrifflichen Denkens zu deuten als vielmehr für ihre persuasive Kraft. Dann handelt es sich nicht um Begriffe, sondern um pädagogische Überzeugungs- oder vielmehr Überredungsvokabeln. Max Planck wird das Bonmot zugeschrieben, wonach es Dinge gibt, über die wir uns einigen können, und wichtige Dinge. Die »wichtigen« Dinge sind strittig. Wenn die persuasive Sprache das Strittige überdeckt, verkommt sie zu einem Sedativum.

In diesem Essay kommentiere und hinterfrage ich pädagogisch und didaktisch verbreitete Vokabeln zum guten oder richtigen Lernen und damit auch von Erziehung und Bildung. Den hier betrachteten pädagogischen Vokabeln, die einen aufklärerischen und progressiven Anstrich aufweisen, liegen bedenkenswerte (und wohl meist unbedachte) Annahmen über die Natur des menschlichen Lernens zugrunde, die bedenkliche Konsequenzen nach sich ziehen können, wenn sie in ihrer Geltung und Normativität nicht befragt werden. Diese stillschweigenden Annahmen und Vorannahmen zu betrachten, verlangt immer wieder, dass unpraktisch scheinende Umwege eingeschlagen werden müssen.

Es geht mir darum, eine pädagogische Mentalität zu verstehen, die sich sicher scheint, das Wohlbefinden des individuellen Kindes und die Autonomie der Jugendlichen ganz besonders im Auge zu haben, gleichzeitig aber kaum wahrnimmt, dass ihre politisch gefälligen und pädagogisch voraussetzungsreichen Einstellungen über Erziehung und Bildung vor allem den Gelehrsamen, Leistungsstarken und schon immer Privilegierten dienlich sind. Nicht, dass privilegierte Schülerinnen und Schüler von diesem pädagogischen Denken und damit verbundenen gutgeheißenen und abgelehnten Praktiken selbst profitieren würden; vielmehr »profitieren« sie indirekt, indem das kritisierte Denken den wenig privilegierten, aus welchen Gründen auch immer weniger leistungsmotivierten oder leistungsfähigen Kindern und Jugendlichen insgesamt nicht nur keinen Gefallen tut, sondern m. E. schadet!

Der lange Arm dieses pädagogischen Denkens reicht in die Aufklärung zurück. Immer wieder wird an Immanuel Kants Losung »sapere aude« erinnert: Der Mensch solle den Mut aufbringen, sich seines Verstandes selber zu bedienen (vgl. Kant 1977, S. 53), wie es etwas »gestelzt« heißt. Kants Aufklärungsschrift ist keine pädagogische Abhandlung. In seiner Pädagogik hingegen kommt zum Ausdruck, dass Kant sicher nicht davon ausgegangen ist, das Kind sei als autonom oder mündig zu betrachten. Solche Attribute sind Bildungs- bzw. Erziehungsziele, die – selbst nach Kant – möglicherweise nicht erreicht werden können. Es geht keineswegs darum, die zeitgenössisch gefälligen pädagogischen und didaktischen Vokabeln, die den – etwas erlahmten – Geist der Aufklärung zu atmen scheinen und hier als »Mythen« bezeichnet werden, als »falsch« zu kritisieren. Es ist auch nicht das Ziel, die zu beleuchtenden Mythen als Mythen zu entlarven; die ideelle und konstitutive Kraft dieser »Mythen« ist für das moderne und postmoderne pädagogische (und politische) Selbstverständnis tatsächlich bedeutsam. Vielmehr geht es um den Versuch, der vielfältigen, in meinen Augen letztlich undemokratischen politisch-pädagogischen Vereindeutigung des pädagogischen Denkens eine dialektische und stärker ambiguitätstolerante Sicht der Pädagogik entgegenzustellen. Dies geschieht übrigens auch in der wahrscheinlich übertriebenen Hoffnung und Anmaßung, u. a. Verantwortliche der Lehrpersonenbildung sowie ganz allgemein pädagogisch tätige Personen in ihren impliziten oder expliziten politischen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen zu verunsichern und sie in ihrer pädagogischen Praxis zu ermutigen.

Gleichgültigkeit und Eindeutigkeit ersparen einem das Denken über Zusammenhänge und Ambivalenzen, wenn das Interesse und/oder der Wille fehlt, zu verstehen, wie sich die Dinge verhalten und ob sie sich anders als gedacht verhalten könnten.

»Wer Eindeutigkeit erstrebt, wird darauf beharren, dass es stets nur eine einzige Wahrheit geben kann und dass diese Wahrheit auch eindeutig erkennbar ist. Eine perspektivische und damit nicht-eindeutige [sic!] Sichtweise auf die Welt wird abgelehnt« (Bauer 2018, S. 27).

Es fehlt die Einsicht in die und das Interesse an der Möglichkeit des Unentscheidbaren und Vieldeutigen. Die zu recht gerühmte Ambiguitätstoleranz stellt sicher eine emotionale Vorbedingung für »Dissenstauglichkeit« als einer zentralen Tugend in pluralistischen Gesellschaften dar. Natürlich wird Ambivalenz nicht primär bejaht, sondern muss vielmehr ausgehalten – toleriert – werden; zunächst möchte man das Gefühl der Ambivalenz womöglich mit »Vereindeutigung« (oder eben »Vergleichgültigung«) zum Verschwinden bringen. Sie bleibt eine Herausforderung und auch die gutgeheißene Mehrperspektivität ist in Wahrheit ja keine Problemlöserin, im Gegenteil macht sie Urteils- und Entscheidungsfindung häufig komplexer, aufwändiger und unsicherer. Die als »Mythen« bezeichneten Überzeugungen, die sich hinter den gleich zu nennenden Vokabeln verstecken, sind weder wahr noch falsch, sondern stellen nur je eine – vornehmlich sozial erwünschte und politisch annehmbare, d. h. ideelle – Seite der pädagogischen Medaille dar. Im Unterschied zum einseitigen pädagogischen »Gottesdienst« kommt es aber darauf an, die jeweils andere Seite der offiziellen Predigt auch wahrzunehmen und anzuerkennen sowie die damit verbundenen Unsicherheiten und Spannungen auszuhalten. Die erläuterten Mythen bilden ein dichtes Netz von Annahmen, Wünschen und Bewertungen sowie politischen Positionierungen. Die sieben Mythen – (1) »Eigenerfahrung«, (2) »selbstorganisiertes Lernen«, (3) »digitales Lernen«, (4) »vom Lehren zum Lernen«, (5) »eigene Meinung«, (6) »gleiche Augenhöhe« und (7) »Handlungskompetenz« – haben eine Gemeinsamkeit: Sie werden im pädagogischen Milieu (und weit darüber hinaus) allgemein geschätzt, für wichtig und richtig empfunden. Sie profitieren vom guten Ruf des Selbst, des Hirns und der Idee der Selbstbestimmung. Diese sieben, teilweise inhaltlich eng miteinander verbundenen Mythen könnten auch den Obermythen der »Eigenverantwortung« und »Individualisierung« unterstellt werden, welche hier nicht eigens diskutiert werden, aber als ideologischer Hintergrund der pädagogisch verbreiteten Sprache offensichtlich sind.

Einige Bemerkungen zur Bedeutung und Verwendungsweisen des Wortes »Mythos« seien hier angebracht. Die Rede von »Mythos« ist vieldeutig, divergent und hat eine lange Geschichte (vgl. Cassirer 1973; Hübner 2013). Während der Mythos ursprünglich als Erzählung verstanden worden ist, die einen Anspruch auf Wahrheit erhebt (und z. B. als religiöser Mythos die Verbindung von Göttern und Menschen aufzeigt oder »erklärt«), können auch (reale) Personen als Mythos oder mythisch bezeichnet werden (z. B. Che Guevara, Diego Maradona, Hildegard von Bingen, die dazu noch eine Vertreterin der deutschen Mystik ist, aber auch Janusz Korczak oder Maria Montessori). Auch Dinge (z. B. Inspektor Colombos Regenmantel, eine Rolex) oder Ereignisse (der D-Day oder 9/11), die für Menschen von einer hohen Bedeutsamkeit sein können, erhalten mitunter mythischen Status. Allein das Aussprechen der Namen oder Bezeichnungen weckt sofort eine ganze Anzahl von anekdotenhaften Assoziationen.

Nur wenige betrachten den Mythos als (gänzlich) irrational, auch wenn er schon von den Sophisten als Gegensatz zum Logos begriffen worden ist und obwohl Mythen als »riesige Behauptungsmaschinen« verstanden werden können (Ott 2019, S. 185). Doch die rationalistische Idee einer Bewegung weg vom Mythos hin zum Logos hat sich nie umfassend durchsetzen können, zu wichtig sind mythische Erzählungen und Ideen auch in der und für die Moderne (vgl. Blumenberg 1979), indem sie Sinn stiften, Orientierung verleihen und damit u. U. das Selbstverständnis von Menschengruppen stärken, ohne dabei in irgendeiner Weise »beweisführend« sein zu können. Der Mythos ist kein Argument. Gewissermaßen erschwerend für die rationalistische oder wissenschaftliche ablehnende Haltung kommt hinzu, dass sich der Mythos nicht in eine nicht-bildhafte bzw. nicht-metaphorische Sprache übersetzen lässt. Die mit ihm verbundene Vieldeutigkeit und Vielwertigkeit macht seinen Reichtum aus. Etwas als mythisch oder Mythos zu entlarven, scheint daher »kritisch« anzumuten, doch der Charakter dieser Kritik wird überschätzt. Che Guevara – »Jesus mit der Knarre« (so bezeichnete ihn vor Jahren Wolf Biermann in einem Lied) – als Mythos zu »entlarven«, macht keinen Sinn und ist auch nicht kritisch. Natürlich war auch Ernesto Guevara »nur« ein Mensch, aber er ist fraglos zu einem Mythos gemacht geworden, ebenso wie Maria Montessori oder Diego Maradona.

Die sieben Mythen des Lernens, denen ich mich hier aus ganz unterschiedlichen Perspektiven widme, werden also nicht »entlarvt«. Genauer betrachtet ist – um hier eines der sieben Beispiele zu nehmen – nicht die »Eigenerfahrung« selbst der Mythos, sondern die Bedeutung, die dem Phänomen der Eigenerfahrung im Reden über das Lernen zugeschrieben wird. Mythisch ist also vielmehr der übertriebene Stellenwert und die bedauerliche Eindeutigkeit der Eigenerfahrung im pädagogischen »Diskurs« und die viel zu hohen Erwartungen und nicht einlösbaren Versprechen, die damit implizit oder explizit zum Ausdruck kommen. Eigenerfahrung ist nicht die Lösung, digitales Lernen ebenso wenig und das selbstorganisierte Lernen auch nicht.

Daher ist diese Schrift keine Streitschrift. Man könnte ihr vorwerfen, nicht »konstruktiv« zu sein, dass es nichts bringe, diese sieben – letztlich gutgemeinten – Mythen und die entsprechenden Slogans zu kritisieren. Das kann man anders sehen. Die sieben Mythen sind passende Beispiele für schlechtes pädagogisches Denken und »auch schlechte Beispiele sind lehrreich« (Neiman 2014, S. 210). Die kritische Auseinandersetzung wird von der Frage und der Sorge getragen, welche problematischen Wirkungen politisch und pädagogisch gute Absichten mitverursachen mögen, auch und wenn gerade dieselben von einer breiten Allgemeinheit kopfnickend unterstützt wird. Weder kann die Frage hier empirisch gelöst werden noch löst sich die Sorge durch Nachdenken auf. Als Allgemeiner Pädagoge beschäftige ich mich vor allem mit pädagogischen Ideen, Konzepten und – wie man heute gerne und meist reichlich unbestimmt sagt – Diskursen. Es gibt auch in der Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung eine Art Arbeitsteilung. Bedeutsame Einsichten und Sichtweisen von zahlreichen, meist geschätzten Kolleginnen und Kollegen, die ihre Arbeit der Bildungsgeschichte, Chancengleichheitsforschung, Migrationsforschung und Sozialisationsforschung in empirischer Hinsicht widmen, müssen im Folgenden ignoriert werden. Die Schrift handelt nicht vom Versuch, aufzuzeigen, dass die Schule von massiven Gerechtigkeitsproblemen und die Pädagogik von Legitimationsproblemen geprägt ist. Das ist m. E. schon lange klar und vergleichsweise gut untersucht. Wie kann es möglich sein und vor allem toleriert werden, dass das Bildungssystem demokratischer Gesellschaften so vielen Menschen und umfangreichen Gruppen von Menschen nicht gerecht werden kann? Dies wird hier nicht behandelt. Aber die These lautet, dass auch das sich universell und eindeutig gebärdende pädagogische Denken einen wesentlichen Anteil an diesem nicht tolerierbaren Zustand hat. Dieses Denken könnte in altmarxistischer Manier als ideologischer »Überbau« der zeitgenössischen Pädagogik in unseren Breitengraden bezeichnet werden, welcher die pädagogische Wirklichkeit der »Basis« zumindest vieler Schülerinnen und Schüler ignoriert oder verklärt. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass es sich dabei um liebgewordene sowohl politisch korrekte als auch humanistisch bedeutungsvolle pädagogische Mythen handelt, hinter die ja kaum jemand ernsthaft zurückfallen möchte, die aber dennoch zum Bereich des Mythischen gehören. Dass sie »politisch korrekt« sind, wird ebenfalls nicht kritisiert. Auch diesbezüglich ist eine dialektische Sicht m. E. überzeugender. Denn obwohl es nicht geringe, semantisch fragwürdige Auswüchse des politisch korrekten Vokabulars zu konstatieren gibt, welches heute jeden gesellschaftlichen Bereich zu betreffen scheint, kann und sollte die mit politischer Korrektheit verbundene »Verhaltenszähmung« insgesamt gutgeheißen werden, umso mehr als von ihr im Grunde antidiskriminierende Wirkungen erwartet werden dürfen.

Die Schrift versteht sich als – zugegeben etwas langen – Essay. Ein Essay kann und muss sich mehr erlauben als eine wissenschaftlich halbwegs solide Abhandlung. Die sogenannte Wertfreiheit, das vermeintliche Ideal der Neutralität oder der ausgewogenen Argumentation waren mir bei der Niederschrift keine Leitkriterien. Manchmal geht es darum, einen Ausdruck für das Unbehagen zu finden, das man empfindet; in diesem Fall geht es um das Unbehagen mit dem Oberflächenrealismus pädagogischer Denk- und Redegewohnheiten, die sich durch eine erstaunliche Irritationslosigkeit auszeichnen, die unaufrichtig erscheint und als Indiz einer tiefergehenden, letztlich kulturellen Krise zu deuten ist, deren Offenlegung vielleicht auch keinen unmittelbaren Nutzen verspricht. Pädagogische Vokabeln und Slogans können als solche kritisiert werden. Das ist wenig interessant. Interessanter ist es, sich zu fragen, wofür sie ein Indiz sein könnten.

Auf die Mühe der minutiösen Auflistung von Text-Nachweisen habe ich, mit einigen wichtigen Ausnahmen in Form von Hinweisen in Fußnoten, im vorliegenden Essay verzichtet. Die Bearbeitung von Themen, mit denen man sich über Jahre, teilweise sogar Jahrzehnte immer wieder beschäftigt hat, bringt es mit sich, dass auch dem Autor selbst nicht immer klar ist, wann er sich wo und wie schon mit ähnlichen Gedanken, Formulierungen und Textpassagen geäußert hat.

Einleitung

... mir gefällt nicht,was ich von meiner Klasse sehe.Catherine Liu

Die folgenden Ausführungen, die aus didaktischen Gründen nicht immer ohne polemische Spitzen auskommen, fallen im Rahmen einleitender Bemerkungen vergleichsweise lang aus. Das hat auch damit zu tun, dass sie den ideellen bzw. theoretischen Hintergrund der anschließenden »Mythen-Kritik« darstellen sollen und sich dabei vier, allerdings von einander nicht unabhängigen Perspektiven und Phänomenen widmen, namentlich der Natur-Metaphorik, dem Wesen von Ideen und zeitgenössisch typischen Beispielen sowie ihrer »Sakralisierung«. Abschließend wird ein mögliches Verständnis von »pädagogischen Privilegien« erläutert.

a) Natur-Metaphorik

In einem rohstoffarmen Land sei Bildung besonders wichtig, heißt es. Sie sei der einzige »Rohstoff«, dem es sein Fortbestehen und seine Prosperität verdanke. Die pathetische Floskel und Metapher sind nicht ohne Ironie. Auf viele Stunden, Tage, Wochen und Jahre des häufig als sinnfrei empfundenen Lernens, der Langeweile, aber auch der Sorge und des Stresses könnten Tausende von Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden und Studierenden verzichten, würde das Land nur über natürliche Rohstoffe verfügen – sei es Erdöl, Erdgas, Kohle, Silber oder Gold, Kupfer, Nickel oder Zink. Doch nichts von alledem ist vorhanden. So muss der Rohstoffarmut des Landes mit Schul- und Berufsbildung als einer aufwändigen und im Einzelfall selbstwertgefährdenden Kompensationsstrategie begegnet werden. Kein Wunder, dass die Schule kritisiert wird, denn es will nicht gelingen, bloßen Rohstoffersatz attraktiv zu finden.

Es gibt nichts, was an der Schule nicht kritisiert wird (die Schülerinnen und Schüler bleiben allerdings verschont). Annette Pfisterer (2003) unterscheidet pädagogische von psychologischen, medizinischen, soziologischen, politischen und institutionellen Aspekten der Schulkritik. Darunter werden 22 Problemfelder allein der pädagogischen Kritik genannt (aus insgesamt 69 schulkritischen Positionen). Kritisiert werden, um einige Beispiele zu nennen, etwa die Lehr- und Lerninhalte: Den einen sind sie zu »kopflastig« und einseitig »wissenschaftsorientiert«, den anderen viel zu »lebensfern«, den dritten nicht »kindgerecht«, den vierten im Gehalt zu »anspruchslos«, wiederum anderen aber zu »anspruchsvoll«. Die einen kritisieren die »Leistungsorientierung« der Schule, die anderen die »mangelnde Objektivität« der Leistungsbeurteilung, wieder andere allein die Ziffernnoten. Manche bringen Schule ohne weitere Probleme mit »Seelenmord« in Verbindung, andere kritisieren bloß den Mangel an ganzheitlicher »Persönlichkeitsentfaltung«, und wieder andere finden schlecht, dass die psycho-physiologischen Grundlagen des Lernens in der Schule keine Beachtung fänden. Gern werden auch pathologische Effekte des Lernens mit Prüfungsdruck hervorgehoben, manche wissen, dass Schule als Institution »generell krank« macht, einigen ist die Schule selbst eine kranke Einrichtung und wenn sie nicht krank ist, so bringt sie doch lebensfeindlichen Stress und stressbedingte Störungen mit sich. Jedenfalls ist die Schule körper- und/oder leibfeindlich, und es herrscht dort – in den Augen mancher – ein umfassender Bewegungsmangel, darüber hinaus eine fundamentale sensorische Deprivation und bedauernswerte Entsinnlichung. Die Schule produziere viele »sozial untaugliche Individuen«, benachteilige ganze Bevölkerungsgruppen, von denen gern gesagt wird, sie seien »bildungsfern« (wohl, weil sie sich der Rohstoffarmut im Land nicht ganz bewusst sind), jedenfalls verteile Schule die Lebenschancen ungerecht, sei mittelschichtsorientiert, selektiere statt zu fördern, sondere aus statt zu integrieren und reproduziere die Drei-Klassen-Gesellschaft – nicht zu reden von den Eigenarten der Lehrpersonen und ihrer in irgendeiner Hinsicht meist problematischen Persönlichkeiten.

Ein Großteil der auch heute noch formulierten Schulkritik hat mit der Rohstoffmetaphorik gemeinsam, dass sie sich aus dem organischen Bereich nährt.1 Die Naturmetaphern und speziell die Wachstumsmetapher gehören zu den ältesten und beliebtesten überhaupt (vgl. Demandt 1978; auch Meyer 1969). Unter den Fahnen der Natur und des Natürlichen stehen auch momentan populäre und wirksame Formen der Schulkritik, auch wenn sie untereinander nicht konsistent sind. Drei Beispiele: Die erste Gruppe von Schulkritikerinnen und -kritikern weiß offenbar ganz über das »natürliche« Verhältnis zwischen Alt und Jung Bescheid und sie weiß, dass in den Schulen zu viel gekuschelt und zu wenig geführt wird. Mit der Kuscheldiagnose – eine bodenständige, aber dennoch imaginäre Ferndiagnose – und dem Führungsmotiv kann auf aufgeregte Weise Bildungspolitik betrieben werden. Die zweite Gruppe weiß im Unterschied zu den Kuschelkritikerinnen und -kritikern vor allem, dass die Schulen nicht kindgerecht sind, aber es unbedingt werden sollten, denn es gehe nicht darum, das »Kind schulgerecht«, sondern die »Schule kindgerecht« zu machen. Auch hier spielt das sogenannte Natürliche die wesentliche Rolle: letztlich die Natur, nicht die Gesellschaft, nicht die Zivilisation und nicht die Kultur des Wissens. So weiß diese zweite Gruppe ziemlich alles über die »wahre Natur« des Kindes und seine Entwicklung. Eine dritte, jüngere und laute Gruppe weiß plötzlich alles über das Gehirn und dieses hat ja von Natur aus nur eines im Kopf: Lernen, lernen, lernen! (Das Gehirn habe etwas »im Kopf«, diese Rede muss erlaubt sein, denn bei diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass das Gehirn denkt, nicht der Mensch oder die Person. Man möchte zunächst meinen, der Mensch denke mithilfe seines Gehirns, doch nein, es ist anders, das Gehirn denkt anstelle der Person ...). Wenn also das Gehirn nur immer lernen will, warum lässt man es nicht? – so fragen die Vertreterinnen und Vertreter dieser Gruppe. Warum schläft das Hirn in der Schule vielmehr links- und rechtshälftig ein und schrumpft Jahr für Jahr weiter? Jedenfalls leuchtet es nicht mehr so schön in all den bunten Farben in den diversen Arealen. Die Pädagogik ist zwar nicht mehr schwarz, sondern grau, scheint es, und die bildgebenden Verfahren sind dramatische Onto- und Topologisierer, Fetische der Hirnforschung.

Aus dieser dritten Gruppe stammen kuriose Formulierungen. Ein Fundstück stammt aus Manfred Spitzers Feder, der alles über das Gehirn und damit – in seinen Augen – auch alles über die Schule und ihre Verbesserungsnotwendigkeit und -möglichkeiten weiß. Das Beispiel stammt aus einem Artikel mit dem Titel »Neurobiologische Erkenntnisse für die pädagogische Praxis« (Spitzer 2010, S. 65):

»Lernen findet immer statt, wenn im Gehirn Prozesse des Erlebens, Fühlens, Denkens, Entscheidens und Handelns ablaufen. Daraus folgt, dass das Gehirn nicht zwischen Erziehung und Bildung unterscheidet – genauso wenig wie die Engländer [...].«

Interessant sind schon die impliziten Vorstellungen von Lernen, welches »immer stattfindet«, wenn »im Gehirn Prozesse [...] ablaufen«. Es handelt sich um ein Beispiel für die heutzutage weitverbreitete Transformation des »Tuns« in ein »Geschehen«, das unbeteiligte Lernen im Gehirn (etwa der Schülerin oder des Schülers). Der Täter wird »eliminiert«, so Lutz Koch (2002), das Tun zur Wirkung des Gehirns »verdinglicht«. Dass schulisches Lernen, pädagogisch betrachtet, aber wesentlich mit Anstrengung und Bemühung, mit Ringen um Aufmerksamkeit und Verständnis, mit Denken, Nachdenken und Überdenken, mit Üben und Wiederholen, Nachfragen und Suchen zu tun hat (vgl. Koch 2002, S. 85), entgeht der naturalistischen Hirnperspektive naturgemäß. Darüber hinaus entzieht sich dieser Perspektive auch die Logik des Lernens, wonach es beim schulisch zu verantwortenden Lehren und Lernen um Kriterien der Wahrheit, der Deutlichkeit und der Anschlussfähigkeit geht, ebenso um seinen kommunikativen Charakter (vgl. Koch 1991, 2002), in welchem Rede, Frage und Antwort sowie das Gespräch die zentrale Stellung einnehmen. In diesen sozialen Praxen werden wechselseitig hermeneutische Grundoperationen geübt, Verständigungsformen wie das Begründen, Erklären, Beweisen und Widerlegen, Exemplifizieren, Induzieren, Deduzieren und Analysieren. Davon ist sowohl in der naturalistischen Kritik des Kuschelns und der Führung als auch der Kritik der Kindsgerechtigkeit einer Institution wie auch der Kritik der Hirnforschung nichts zu vernehmen.

Der Spitzerʼsche Befund, wonach das Gehirn »nicht zwischen Erziehung und Bildung unterscheidet – genauso wenig wie die Engländer« (Spitzer 2010, S. 65, Herv. R. R.) –, führt nun aber zu wirklich interessanten Nachfragen. Offenbar besteht eine gewisse Affinität zwischen dem Gehirn und den Engländern, die anderen Nationen verwehrt bleibt. Das deutsche Gehirn etwa unterscheidet – man weiß mit Spitzer jetzt: fälschlicherweise – immer noch zwischen Erziehung und Bildung! Warum es das macht? Man kann nur spekulieren. Dennoch ist Spitzer als Deutscher selbst draufgekommen (präziser formuliert: nicht Spitzer, sondern sein Gehirn).

Die neue Passivität des Menschen und das Verschwinden der Person im hirngerechten Ansatz erinnern ironischerweise an den zu Unrecht gescholtenen, da nicht in seinem historischen Kontext verstandenen »Nürnberger Trichter« – »ironischerweise«, weil in manchen pädagogischen und didaktischen Sichtweisen eine dimensionale Entgegensetzung von Instruktion und Konstruktion gemacht wird (so kommt es eben, möchte man sagen, wenn man sich nicht so richtig anstrengen mag und das Hirn nur leuchtet). Jedenfalls ist der Nürnberger Trichter das Abschreckmodell der konstruktivistischen Perspektive, welche ihrerseits – naturmetaphorisch verankert – aus der Biologie stammt wie auch die damit verbundene Systemtheorie (vgl. Lüdemann 2004; Pongratz 2009). Selbstregulierende Systeme bereiten dem modernen Selbstverständnis große Freude – Bildung als Autopoiesis und die oder der selbstregulierte Lernende gehören zu den heute machtvollsten Bildern in Politik und Bildung. Da dampft es zwar etwas weniger warm als in der religiösen Biologistik der Pädagogik Montessoris und es weht im Gegensatz dazu ein liberaler, humanwissenschaftlicher Hauch, in welchem die Autonomie des Menschen nicht etwa als kontrafaktische Zumutung und politisches Ideal, sondern als allseitig bejahtes Naturprodukt fungiert. Doch das »Eintrichtern« von Lernstoff ist eben gar nicht möglich. Schön wäre es! Denn wie viele Schülerinnen und Schüler hätten sich so kaum anstrengen müssen! Die Metapher des Nürnberger Trichters, die Georg Philipp Harsdörffer (1607 – 1658) ins Leben gerufen hat, war ja auch ganz gegenteilig motiviert, gewissermaßen pädagogisch edel: Es ging Harsdörffer (1648 – 1653/1971) um die Vermittelbarkeit und Lernbarkeit der Poesie.2

Um mit der Natur-Metaphorik schulkritisch zu argumentieren, muss eine ganze Reihe von gesellschaftlich bedeutsamen Aufgaben und (theoretisch unbestrittenen) Funktionen der Schule ignoriert werden. Denn: Metaphern »highlight and hide«, sie heben bedeutsame Aspekte hervor und verdecken andere, wie sich mit der bekannten und gewiss radikalen Metaphern-Theorie von George Lakoff und Mark Johnson (1980/2000) sagen lässt. Ignoriert werden je nach Perspektive eine oder meist mehrere der Funktionen der Schule als (1) Sozialisationsinstanz, als (2) Legitimationsinstanz (der politischen Integration), in der Regel weniger als (3) Bildungs- oder Personalisationsinstanz und als (4) Qualifikationsinstanz, jedoch häufig als (5) Selektionsinstanz (d. h. Instanz sozialer Reproduktion), als (6) ökonomischer Institution, als (7) administrativer Institution, als (8) autozentrischer und autonomer Institution, als (9) Zwangsanstalt und als (10) reine Aufbewahrungsanstalt.

Die Gemeinsamkeiten der naturalistischen Schulkritik (stamme sie aus Bildungspolitik, Kindermedizin oder Hirnforschung) bestehen in fünf Punkten, namentlich ihrer (1) theoretischen bzw. konzeptionellen Schlichtheit (d. h. in ihrer Ignoranz gegenüber der Vielschichtigkeit und Multifunktionalität des Bildungssystems), (2) ihrem Reduktionismus, dem alleinigen Fokus auf eine personalistische bzw. mikrosystemische Sicht (das Kind, die Lehrperson, das Hirn), (3) ihrer mehr oder weniger romantischen Dichotomisierung von »Schule« und »Leben«, d. h. (sinnhaftem) kindlichem bzw. lebensweltlichem Lernen versus (sinnfreiem) schulischem Lernen, (4) ihrem Fokus auf Verfügungswissen (Praxisrelevanz, Nützlichkeit, Kompetenzorientierung statt so genanntem »trägem Wissen«) und (5) dem Fokus und Mythos der »intrinsischen Motivation« (Lernen soll Spaß machen oder – auf welcher Grundlage auch immer – wie von allein passieren, bzw. das Hirn will »lernen, lernen, lernen«).

Allerdings gibt es seit gut zwei Jahrzehnten eine vierte Gruppe von virulenter, im Grunde »krypto-organischer« Kritik an der bestehenden Schule. Eine Kritik, die nicht von außen oder unten, sondern sozusagen von oben und/oder innen kommt: Geht es um Schule, reden die zahlreichen Vertreterinnen und Vertreter dieser Perspektive vorwiegend noch in Termen von »Input« und »Output« und begrüßen oder akzeptieren zumindest den Wechsel von der sogenannten Input- zur Outputsteuerung im Bildungswesen. Hier wird das Gesamtbildungssystem zu einem Organismus, der im Wesentlichen zwei Körperöffnungen aufweist. Während bis vor kurzen vor allem interessierte, was in diesen Organismus hineingeht oder hineingestopft wird bzw. werden soll, oder sagen wir neutraler: Eingang finden soll, interessiert bei der nun mehr oder weniger radikalen Outputsteuerung nur noch, was »hinten raus« kommt. Wie kam es zu dieser Fokusverschiebung im Ernährungs- und Verdauungskanal des Bildungssystems? Auch wenn die Gründe vielleicht nie genau nachvollzogen werden können, so ist ziemlich sicher, dass die diversen Bildungsreformen, welche, international betrachtet, von der Forderung nach Vergleichbarkeit schulischer Leistung über die Standardisierung der Bildungsinhalte zur Leistungsmessung von Kompetenzniveaus führen sollen, nicht so leicht rückgängig gemacht werden können. Die Verschiebung von der – psychoanalytisch gesprochen – oralen auf die anale Fixierung erscheint manchen als Fortschritt. Jedenfalls ist der dringende Wunsch danach, zu erkennen und immer genau zu verstehen, was gelernt worden ist, dieses Lernen zu kontrollieren, seine Wirksamkeit zu kanalisieren und unmittelbar hinsichtlich seines Transfernutzens beurteilen zu können, ziemlich auffällig. Schon hobbymäßige psychoanalytische Kenntnisse reichen m. E. aus, um das Muster der hier zum Ausdruck kommenden Phase und Fixierung zu erkennen. Dieses wütige Moment kann als Indikator für eine Gesellschaft interpretiert werden, die anale Züge trägt. Auch wenn der französische Pop-Philosoph Michel Onfray mit seinem Anti-Freud (2011) maßlos übertreibt, d. h. selbst wenn die psychoanalytische Deutung letztlich nur auf eine einzige Person anwendbar wäre bzw. zutreffen würde, nämlich allein auf Sigmund Freud und sonst auf gar niemanden, bleibt doch bemerkenswert, wie die Bildungswelt nun von drei Merkmalen geprägt wird, die mit der Beherrschung der Körperfunktionen bzw. Reinlichkeitserziehung zu tun haben: namentlich (1) Besitz, (2) Produktion und (3) Zeit. Mit diesen drei Kategorien wird im Wesentlichen noch öffentlich über Bildung gesprochen: Sie wird erstens wie ein Besitz von Einzelpersonen behandelt, zweitens als ob sie ein Gut wäre, das regelrecht herstellbar und nach Gutdünken modifizierbar ist und das drittens möglichst zeitökonomisch hergestellt werden soll.

In dieser vierten naturalistischen Schulkritikperspektive erscheint das Bildungssystem als ein riesiger Einverleibungs-‍, Verwertungs- und Ausstoßungsorganismus, den es nach zeitökonomischen und Effektivitätskriterien zu steuern und kontrollieren gilt. Dieses Tier muss gezähmt werden. Noch nie war so viel von Kontrolle und Rechenschaft im Bildungswesen die Rede wie heute. Auch die Metaphorik des sogenannten Bildungsmonitorings ist in diesem Zusammenhang von Interesse. Monitoring meint das ständige, sorgfältige Untersuchen, Überprüfen und Überwachen von bestimmten Gegebenheiten – typischerweise in der Ozeanographie bzw. Hydrologie, der Seismologie sowie der Medizin. Monitoring dient der Verhinderung oder wenigstens der Voraussage von kleinen und großen Naturkatastrophen. Die Sprache verrät den Geist.

In der Einleitung zu seinem Buch Schulreform und Schulkritik schrieb Jürgen Oelkers (2000, S. 11):

»›Schule‹ ist zunächst immer das Bild von Schule, ›Bild‹ verstanden als ästhetische Konfiguration und damit verbunden als generalisierte Erwartung. Reflexionen über Schule, mit Schule und gegen Schule operieren bildabhängig, es gibt keine öffentliche Diskussion, die nicht Bilder kommunizieren würde. Es gibt eine Bildschicht hinter oder besser in der Verbalität, von der die Rhetorik sowohl der Schultheorie als auch der Schulkritik getragen wird.«

Metaphern dienen nicht nur in der politischen, sondern auch in der pädagogischen Kommunikation als Erkenntnis- und Erklärungsmittel (Haefliger 1996; Moser 2000). Ebenso sind sie Mittel der Beeinflussung und besitzen eine subversive Macht (vgl. Gamm 1992). Als »deviante Namensgebungen«, »semantische Abkürzungen«, »abgekürzte Vergleiche« bzw. »kalkulierte Kategorienfehler« (vgl. Strub 1991, S. 79) sind Metaphern so suspekt wie unvermeidbar. Metaphern können – im Unterschied zu den zum Scheitern verurteilten Versuchen, ohne jede Analogie zu reden – Erfahrung überhaupt erst verständlich und artikulierbar machen. Darin liegt ihre Leistung. Der Preis dafür ist, dass Metaphern »dirigieren, führen und verführen« (Blumenberg, 1997, S. 14). Rätselhaft bleibe dennoch, so Hans Blumenberg (1997, S. 87), weshalb Metaphern »überhaupt ›ertragen‹ werden«. Zwar würden sie den »Reichtum ihrer Herkunft« konservieren, »den die Abstraktion verleugnen« müsse (Blumenberg 1997, S. 90), aber das »Suggestive aller Metaphorik« (Blumenberg 1997, S. 92) führe doch immer wieder zu Irreführungen. Und so sind Kinder eben keine Pflanzen, Lehrpersonen sind keine Gärtnerinnen oder Gärtner und die Schule ist keine Polis, so wie sie auch keine embryonale Gesellschaft ist; diese und viele andere pädagogisch relevanten und vielleicht auch zu begrüßenden Bilder als Bilder zu erkennen, ist bedeutsamer Teil auch pädagogischer Bildung.3 Die Beschäftigung mit der Bildhaftigkeit des Denkens überhaupt ermöglicht Einsichten in die sich immer neu gestaltenden pädagogischen Ideologien, die ja regelmäßig einen monistischen Metaphergebrauch darstellen, der aus ästhetischer Sicht in Kitsch mündet und aus ethischer Sicht problematisch ist (Reichenbach 2003a & 2003b).

»Monistisch« ist der Gebrauch von Metaphern, wenn nur aus einer Metaphergruppe heraus oder allein mit konsistenten Metaphern argumentiert wird. Monismus bietet Kohärenz; die damit verbundene Widerspruchslosigkeit ist die Basis für Kitsch (vgl. Reichenbach 2001). Sich der Komplexität des Bildungssystems bewusst zu sein und sich derselben verpflichtet zu sehen, bedeutet aber ein Stück weit, auf Kohärenz verzichten zu müssen und statt konsistenter Metaphoriken mitunter katachrestisch, also »bildbrüchig« zu sein. Bewusste Bildbrüchigkeit könnte in diesem Zusammenhang als epistemische Tugend diskutiert werden.