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Träume, die auf Video aufgenommen werden, Schreiben per Gedankensteuerung, Querschnittgelähmte, die Gliedmaßen wieder bewegen können - das alles gibt es schon. In den vergangenen 15 Jahren ist durch die Erfindung der Kernspintomografie eine Verbindung von Physik, Technik und Hirnforschung entstanden, die unser Wissen über Gehirn und Bewußtsein im Eiltempo gesteigert hat. Mithilfe komplexer Rechner und Maschinen werden wir in fernerer Zukunft Gedanken direkt aufzeichnen können, Musikstücke komponieren zum Beispiel oder Bücher verfassen. Via Internet könnten wir von Bewußtsein zu Bewußtsein kommunizieren. Es wird möglich sein, fremde Erinnerungen auf unser Hirn spielen und gute oder schlechte Gefühle. Unser Begriff von Bewußtsein und Intelligenz selbst und wird sich verändern. Wir stehen am Anfang einer wissenschaftlich-technischen Revolution, wohin wird sie uns führen? Michio Kaku entfaltet in diesem Buch ein grandioses Panorama des Wissens und der wissenschaftlichen Voraussage. Er hat sorgfältig recherchiert und dazu rund 300 Experten befragt. Manche denken weit voraus: Nicht auszuschließen, dass sich dereinst das Bewusstsein ganz vom Körper lösen lässt, um vielleicht auf fremden Planeten spazieren zu gehen. So faszinierend solche Entwicklungen sind, es wird schon jetzt Zeit, sie ethisch und politisch zu ordnen, erklärt der weltbekannte Physiker.
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Seitenzahl: 641
Michio Kaku
Die Physik des Bewusstseins
Über die Zukunft des Geistes
Träume, die auf Video aufgenommen werden, Schreiben per Gedankensteuerung, Querschnittgelähmte, die Gliedmaßen wieder bewegen können – das alles gibt es schon. In den vergangenen 15 Jahren ist durch die Erfindung der Kernspintomographie eine Verbindung von Physik, Technik und Hirnforschung entstanden, die unser Wissen über Gehirn und Bewusstsein im Eiltempo gesteigert hat. Mit Hilfe komplexer Rechner und Maschinen werden wir in fernerer Zukunft Gedanken direkt aufzeichnen können, Musikstücke komponieren zum Beispiel oder Bücher verfassen. Via Internet könnten wir von Bewusstsein zu Bewusstsein kommunizieren. Es wird möglich sein, fremde Erinnerungen auf unser Hirn zu spielen und gute oder schlechte Gefühle. Unser Begriff von Bewußtsein und Intelligenz selbst und wird sich verändern.
Gewidmet meiner lieben Frau Shizue und
meinen Töchtern Michelle und Alyson
Die beiden größten Rätsel in der gesamten Natur sind der menschliche Geist und das Universum. Mit unserem riesigen Aufgebot an Technik ist es uns gelungen, Galaxien zu fotografieren, die Milliarden Lichtjahre entfernt sind, die Gene zu manipulieren, die das Leben steuern, und das innere Allerheiligste des Atoms zu erforschen, doch der Geist und das Universum entziehen sich uns noch immer und stacheln unsere Wissbegierde an. Sie sind die geheimnisvollsten und faszinierendsten Grenzgebiete, die die Wissenschaft kennt.
Wenn man sich die Erhabenheit des Universums bewusst machen möchte, braucht man nur zum Nachthimmel aufzuschauen, der von Milliarden Sternen erhellt wird. Seit unsere Vorfahren erstmals voller Staunen die Pracht des Firmaments bewunderten, haben wir über die ewigen Fragen gegrübelt: Woher kommt all das? Was bedeutet all das?
Um das Geheimnis unseres Geistes zu beobachten, müssen wir uns nur vor den Spiegel stellen und uns fragen, was hinter unseren Augen lauert. Das wirft so tief greifende Fragen auf wie: Haben wir eine Seele? Was geschieht mit uns, wenn wir sterben? Wer bin «ich» überhaupt? Und dies bringt uns zu der tiefsten Frage: Wo ist unser Platz in diesem großen kosmischen Plan? Wie der berühmte britische Biologe Thomas Henry Huxley einmal meinte: «Die Frage aller Fragen für die Menschheit, das Problem, das allen übrigen zugrunde liegt und das uns angeht tiefer als irgendein anderes, ist die Bestimmung der Stellung, die der Mensch in der Natur einnimmt, und die seiner Beziehung zur Gesamtheit der Dinge.»
In unserer Galaxie, der Milchstraße, gibt es 100 Milliarden Sterne, das entspricht in etwa der Zahl der Neuronen in unserem Gehirn. Möglicherweise müsste man fast 40 Billionen Kilometer zum ersten Stern außerhalb unseres Sonnensystems reisen, um ein Objekt zu finden, das so komplex ist wie jenes, das auf unseren Schultern sitzt: Der menschliche Geist und das Universum stellen die größten wissenschaftlichen Herausforderungen überhaupt dar, doch zugleich stehen sie in einer eigenartigen Beziehung zueinander.[1] Auf der einen Seite sind sie das genaue Gegenteil voneinander: Bei dem einen geht es um die riesigen Weiten des äußeren Raumes, in denen wir auf so seltsame Phänomene wie Schwarze Löcher, explodierende Sterne und kollidierende Galaxien treffen. Bei dem anderen geht es um den inneren Raum, wo sich unsere intimsten und privatesten Hoffnungen und Wünsche finden. Der Geist ist nicht weiter entfernt als der nächste Gedanke, und dennoch reagieren wir oft hilflos, wenn wir aufgefordert sind, ihn in Worte zu fassen und zu erklären.
Aber auch wenn sie in dieser Hinsicht scheinbar ein Gegensatzpaar bilden, haben sie doch eine gemeinsame Geschichte. Seit undenklichen Zeiten wurden beide in Aberglaube und Zauber gehüllt. Astrologen und Phrenologen behaupteten, aus jeder Konstellation der Tierkreiszeichen und jedem Schädelhöcker die Bedeutung des Universums herauslesen zu können. Im Lauf der Zeit sind Gedankenleser und Seher je nachdem begeistert gefeiert oder verteufelt worden.
Universum und Geist berühren sich auch weiterhin auf vielerlei Weise und dies zu einem nicht geringen Teil dank einiger der wirklich innovativen Ideen, auf die wir häufig in der Science-Fiction treffen. Als ich diese Bücher in meiner Kindheit las, träumte ich davon, ein Mitglied der Slan zu sein, einer Rasse von Telepathen, die A. E. van Vogt ersonnen hatte. Ich staunte darüber, wie ein Mutant namens Maultier in Isaac Asimovs Foundation-Trilogie seine gewaltigen telepathischen Kräfte freisetzen und beinahe die Kontrolle über das Galaktische Imperium an sich reißen kann. Und in dem Film Alarm im Weltall wunderte ich mich, wie eine fortgeschrittene Zivilisation, die uns Millionen Jahre voraus war, diese enormen telekinetischen Kräfte kanalisieren konnte, um die Realität nach ihren Wünschen und Launen umzugestalten.
Als ich etwa zehn Jahre war, trat «The Amazing Dunniger» im Fernsehen auf. Er verblüffte sein Publikum mit spektakulären Zaubertricks. Sein Motto war: «Für diejenigen, die glauben, braucht es keine Erklärung. Für diejenigen, die nicht glauben, reicht keine Erklärung aus.» Eines Tages erklärte er, er werde seine Gedanken an Millionen Menschen im ganzen Land senden. Er schloss seine Augen, begann sich zu konzentrieren und behauptete, er übermittele den Namen eines Präsidenten der Vereinigten Staaten. Anschließend forderte er die Zuschauer auf, den Namen, der ihnen in den Sinn kam, auf eine Postkarte zu schreiben und ihm zu schicken. In der folgenden Woche verkündete er triumphierend, er habe Tausende von Karten mit dem Namen «Roosevelt» erhalten, genau dem Namen, den er ins ganze Land geschickt habe.
Ich war nicht besonders beeindruckt. Damals war der Name Roosevelt noch sehr präsent im Gedächtnis derjenigen, die die große Depression und den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten, daher war dies keine Überraschung. (Ich sagte mir im Stillen, dass es wirklich erstaunlich gewesen wäre, wenn er an Präsident Millard Fillmore gedacht hätte.)
Dennoch regte diese Show meine Phantasie an, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, selbst mit Telepathie zu experimentieren und zu probieren, die Gedanken anderer Menschen zu lesen, indem ich mich so stark wie nur möglich konzentrierte. Also schloss ich meine Augen, konzentrierte mich intensiv und versuchte, die Gedanken anderer zu «belauschen» und Objekte in meinem Zimmer telekinetisch zu bewegen.
Es war ein absoluter Fehlschlag.
Vielleicht gab es irgendwo auf der Erde Telepathen, doch ich gehörte nicht dazu. Während ich so experimentierte, wurde mir allmählich klar, dass die wunderbaren Taten von Telepathen wohl unmöglich waren – zumindest ohne Unterstützung von außen. In den darauf folgenden Jahren lernte ich jedoch nach und nach noch etwas anderes: Um den größten Geheimnissen des Universums auf den Grund zu gehen, brauchte man weder Telepathie noch übermenschliche Kräfte. Man musste nur unvoreingenommen an eine Sache herangehen und zudem neugierig wie auch entschlossen sein. Um zu verstehen, ob die phantastischen Apparate und Maschinen der Science-Fiction realisierbar sind, muss man sich vor allem mit moderner Physik beschäftigen. Um zu verstehen, an welchem Punkt genau das Mögliche zum Unmöglichen wird, muss man die Gesetze der Physik schätzen und verstehen.
Diese beiden Leidenschaften haben all diese Jahre meine Phantasie beflügelt: die Grundgesetze der Physik zu verstehen und sich vorzustellen, wie die Naturwissenschaften unser Leben in Zukunft formen werden. Um dies zu illustrieren und meine Begeisterung für die Erforschung der letztgültigen Gesetze der Physik mit anderen zu teilen, habe ich Bücher wie Im Hyperraum, Einsteins Würfel und Im Paralleluniversum geschrieben. Meine Faszination habe ich in Büchern wie Zukunftsvisionen, Die Physik des Unmöglichen und Die Physik der Zukunft beschrieben. Während des Schreibens und der Recherche für diese Bücher wurde ich ständig daran erinnert, dass der menschliche Geist noch immer eine der größten und geheimnisvollsten Kräfte ist.
Über weite Zeiträume unserer Geschichte hatten wir tatsächlich keinen blassen Schimmer davon, was unter «Geist» zu verstehen ist oder wie er funktioniert. Trotz all ihrer großartigen Leistungen in Kunst und Wissenschaft hielten die alten Ägypter das Gehirn für ein nutzloses Organ und warfen es fort, wenn sie ihre Pharaonen einbalsamierten. Aristoteles war überzeugt, die Seele wohne im Herzen, nicht im Gehirn, dessen einzige Funktion seines Erachtens darin bestand, das Kreislaufsystem zu kühlen. Andere, wie der französische Philosoph René Descartes, nahmen an, die Seele gelange durch die winzige Zirbeldrüse im Gehirn in den Körper. Doch da es an soliden Fakten mangelte, ließ sich keine dieser Theorien beweisen.
Diese «dunklen Zeiten» dauerten Jahrtausende an, und das aus gutem Grund. Das Gehirn wiegt weniger als drei Pfund und ist dennoch das komplexeste Organ im Sonnensystem. Obgleich es nur 2 Prozent der Körpermasse ausmacht, verfügt es über einen gewaltigen Appetit und verbraucht volle 20 Prozent der Energie des Grundumsatzes (bei Neugeborenen verbraucht das Gehirn sogar erstaunliche 65 Prozent); gleichzeitig codieren 80 Prozent unserer Gene für hirneigene Proteine. Unser Gehirn enthält schätzungsweise 100 Milliarden Nervenzellen (Neurone), und zwischen diesen Nervenzellen verläuft eine riesige Anzahl von neuronalen Verbindungen und Bahnen.
Als Carl Sagan 1977 das Buch The Dragons of Eden schrieb, für das er mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, fasste er darin summarisch zusammen, was damals über das menschliche Gehirn bekannt war. Sein Buch war wunderbar geschrieben und versuchte, den aktuellen Stand der Neurowissenschaften wiederzugeben, der zu jener Zeit hauptsächlich auf drei Pfeilern ruhte. Der erste bestand im Vergleich unseres Gehirns mit den Gehirnen anderer Arten. Das war mühsam und schwierig, weil dazu die Gehirne Tausender Tiere präpariert und seziert werden mussten. Die zweite Methode war ebenso indirekt: Man analysierte das Verhalten von Menschen, die einen Schlaganfall oder eine andere Hirnschädigung erlitten hatten und daher oft bizarre Verhaltensweisen an den Tag legten. Nur eine nach ihrem Tod durchgeführte Autopsie konnte zeigen, welcher Teil ihres Gehirns nicht richtig funktionierte. Und drittens konnten Wissenschaftler Elektroden ins Gehirn einpflanzen und langsam und mühsam herausfinden, welcher Teil des Gehirns welches Verhalten beeinflusste.
Die grundlegenden Methoden der Neurowissenschaften ermöglichten jedoch keine systematische Analyse des Gehirns. Man konnte nicht einfach ein Schlaganfallopfer mit einer Schädigung in demjenigen Areal des Gehirns ordern, den man untersuchen wollte. Da das Gehirn ein lebendes, dynamisches System ist, zeigten Autopsien zudem häufig nicht die interessantesten Merkmale, beispielsweise, auf welche Weise Hirnareale interagieren, geschweige denn, wie sie so vielfältige Emotionen wie Liebe, Hass, Eifersucht und Neugier produzieren.
Vor 400 Jahren wurde das Teleskop erfunden, und fast über Nacht erlaubte dieses neue, wunderbare Instrument einen prüfenden Blick ins Herz der Himmelskörper. Es war eines der revolutionärsten (und umstürzlerischsten) Instrumente aller Zeiten. Plötzlich konnten wir mit unseren eigenen Augen sehen, wie sich die Mythen und Dogmen der Vergangenheit wie Dunst in Luft auflösten. Statt ein perfektes Beispiel für göttliche Weisheit zu sein, zeigte sich der Mond voller zackiger Krater, die Sonne wies dunkle Flecken auf, Jupiter wurde von eigenen Monden umkreist, die Venus hatte Phasen, und der Saturn besaß Ringe. In den 15 Jahren nach Erfindung des Teleskops lernte die Menschheit mehr über das Universum als in ihrer ganzen früheren Geschichte.
Wie die Erfindung des Teleskops die Astronomie verändert hat, haben die Entwicklung von MRT und einer Vielfalt moderner Scan-Methoden zur Abbildung des Gehirns Mitte der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre die Neurowissenschaften verwandelt. Wir haben in den letzten 15 Jahren mehr über das Gehirn gelernt als in der ganzen Menschheitsgeschichte zuvor, und der Geist, der einst als unfassbar galt, rückt endlich ins Zentrum der Forschung.
Der Nobelpreisträger Eric R. Kandel vom Max-Planck-Institut in Tübingen schreibt: «Die wertvollsten Einblicke in den menschlichen Geist, die sich in dieser Zeit herauskristallisierten, gingen nicht von den Disziplinen aus, die sich traditionellerweise mit dem Geist beschäftigen – Philosophie, Psychologie oder Psychoanalyse. Vielmehr gingen sie von einer Verschmelzung dieser Disziplinen mit der Biologie des Gehirns aus …»[2]
Bei diesem Unterfangen haben Physiker eine entscheidende Rolle gespielt, denn sie haben eine Fülle neuer Werkzeuge mit Akronymen wie MRT, EEG, PET, CAT, TCM, TES und DBS geliefert, die das Studium des Gehirns dramatisch verändert haben. Mit diesen Geräten konnten wir plötzlich die Bewegung von Gedanken im lebenden, denkenden Gehirn verfolgen. Wie der Neurologe V. S. Ramachandran von der University of California in San Diego meint: «All diese Fragen, die Philosophen seit Jahrtausenden beschäftigen, können wir Naturwissenschaftler nun erforschen, indem wir das Gehirn abbilden, Patienten untersuchen und die richtigen Fragen stellen.»[3]
Rückblickend betrachtet, haben sich einige meiner anfänglichen Streifzüge in die Welt der Physik mit der Entwicklung genau der Technologien überschnitten, die nun den menschlichen Geist der Wissenschaft zugänglich machen. Auf der Highschool lernte ich beispielsweise eine neue Form von Materie kennen, die Antimaterie, und entschloss mich, ein Schulprojekt zu diesem Thema durchzuführen. Da es sich um eine der exotischsten Substanzen auf der Welt handelt, musste ich mich an die alte Atomenergiekommission wenden, um eine winzige Menge Natrium-22 zu erhalten, eine Substanz, die natürlicherweise ein positives Elektron emittiert (Anti-Elektron oder Positron). Mit dieser kleinen Probe in den Händen konnte ich eine Nebelkammer mit einem starken magnetischen Feld bauen und die Spuren von Antimaterieteilchen fotografieren. Ich wusste damals noch nicht, dass Natrium-22 bald entscheidend wichtig für eine neue Technologie namens PET (Positronen-Emissions-Tomographie) werden sollte, die uns seitdem überraschende neue Einblicke ins denkende Gehirn ermöglicht hat.
Eine andere Technologie, mit der ich mich auf der Highschool beschäftigte, war die magnetische Resonanz. Ich hörte einen Vortrag von Felix Bloch, der an der Stanford University arbeitete und 1952 für die Entdeckung der Magnet- oder Kernspinresonanz zusammen mit Edward Purcell den Nobelpreis für Physik erhielt. Dr. Bloch erklärte uns Schülern, dass sich die Atome in einem starken Magnetfeld wie Kompassnadeln ausrichten. Wenn man diese Atome einem Radiopuls mit einer exakten Resonanzfrequenz aussetzte, so Bloch, konnte man sie dazu bringen, sich umzudrehen. Wenn sie schließlich wieder in ihre ursprüngliche Lage zurückkehrten, emittierten sie wie ein Echo einen anderen Puls, der es ermöglicht, die Identität dieser Atome zu bestimmen. (Später benutzte ich das Prinzip der magnetischen Resonanz, um in der Garage meiner Mutter einen 2,3-Millionen-Elektrovolt-Teilchenbeschleuniger zu bauen.)
Ein paar Jahre später hörte ich als junger Student in Harvard bei Dr. Purcell Elektrodynamik. Etwa um dieselbe Zeit hatte ich auch im Rahmen eines Sommerjobs Gelegenheit, mit Dr. Richard Ernst zusammenzuarbeiten, der versuchte, die Arbeit von Bloch und Purcell über magnetische Resonanz zu verallgemeinern. Er hatte spektakulären Erfolg und erhielt für seine Forschung, die die Grundlage für die moderne MRT (Magnetresonanz- oder Kernspintomographie) bildete, 1991 den Nobelpreis für Chemie. Dem Kernspintomographen wiederum verdanken wir detaillierte Aufnahmen des lebenden Gehirns, auf denen noch mehr Einzelheiten zu erkennen sind als auf PET-Scans.
Schließlich wurde ich Professor für Theoretische Physik, doch das Gehirn faszinierte mich auch weiterhin. Es ist aufregend mitzuerleben, wie Fortschritte in der Physik allein im letzten Jahrzehnt einige der Zaubertricks möglich gemacht haben, die mich als Kind so begeisterten. Mit Hilfe von MRT-Scans können Wissenschaftler heute Gedanken lesen, die uns durch den Kopf gehen. Sie können auch Chips ins Gehirn von vollständig gelähmten Patienten einpflanzen und mit einem Computer verbinden, sodass diese Menschen allein mit Hilfe ihrer Gedanken im Web surfen, lesen und E-Mails schreiben, Videospiele spielen, ihren Rollstuhl steuern, Haushaltsgeräte an- und ausschalten und mechanische Arme bedienen können. Tatsächlich können sie all das tun, was ein gesunder Mensch mit einem Computer zuwege bringen kann.
Inzwischen gehen Wissenschaftler noch weiter, indem sie das Gehirn direkt mit einem Exoskelett verbinden, das die gelähmten Gliedmaßen eines Patienten umschließt. Eines Tages können Querschnittgelähmte vielleicht ein fast normales Leben führen. Solche Exoskelette könnten uns auch Superkräfte verleihen, um mit lebensgefährlichen Notlagen fertig zu werden. Eines Tages könnten unsere Astronauten sogar Planeten erforschen, indem sie aus ihrem Wohnzimmer heraus in aller Bequemlichkeit mechanische Ersatzkörper mental steuern.
Wie in dem Film Die Matrix könnten wir eines Tages in der Lage sein, Erinnerungen und Fertigkeiten mit Hilfe von Computern herunterzuladen. In Tierstudien ist es bereits gelungen, Erinnerungen ins Gehirn einzupflanzen. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir ebenfalls künstliche Erinnerungen in unser Gehirn einpflanzen können, um uns neues Wissen anzueignen, neue Urlaubsorte zu erleben und neue Hobbys zu beherrschen. Und falls sich technische Fertigkeiten in den Kopf von Arbeitern und Wissenschaftlern herunterladen lassen, könnte das selbst die Weltwirtschaft beeinflussen. Wir könnten sogar befähigt sein, auch diese Erinnerungen zu teilen. Eines Tages werden Wissenschaftler vielleicht ein «Internet des Geistes» oder ein «Hirnnetz» konstruieren, in dem Gedanken und Gefühle elektronisch in alle Welt gesandt werden. Selbst Träume werden aufgezeichnet und dann vom Gehirn via Internet abgesandt werden.
Neue Technologien könnten uns auch befähigen, unsere Intelligenz zu vergrößern. Mittlerweilen verstehen wir die außergewöhnlichen Leistungen von «Savants», deren mentale, künstlerische und mathematische Fähigkeiten wirklich erstaunlich sind, besser als je zuvor. Zudem werden die Gene, die uns von den Großen Menschenaffen unterscheiden, gerade sequenziert, was uns einen bisher noch nie da gewesenen Einblick in den evolutionären Ursprung unseres Gehirns erlaubt. Bei anderen Tieren sind bereits Gene isoliert worden, die Gedächtnis und geistige Leistungsfähigkeit verbessern können.
Die Begeisterung und Hoffnung, die von diesen vielversprechenden Fortschritten ausgelöst worden sind, sind so groß, dass sie auch die Aufmerksamkeit von Politikern erregt haben. Tatsächlich sind die Neurowissenschaften plötzlich zum Anlass eines transatlantischen Wettbewerbs zwischen den größten Wirtschaftsmächten des Planeten geworden. Im Januar 2013 kündigten sowohl Präsident Barack Obama als auch die Europäische Union zwei unabhängige Projekte an, bei denen es um Reverse Engineering («Rückerschließung») des Gehirns geht; der Finanzierungsbedarf dürfte im Bereich von mehreren Milliarden Dollar liegen. Die Entschlüsselung der komplexen neuronalen Verschaltung des Gehirns, die lange jenseits der Möglichkeiten der modernen Naturwissenschaften zu liegen schien, steht nun im Mittelpunkt zweier Sofortprojekte, die wie das Human-Genom-Projekt die wissenschaftliche und medizinische Landschaft verändern werden. Diese Projekte werden uns nicht nur einen noch nie da gewesenen Einblick in den menschlichen Geist erlauben, sondern auch neue Industriezweige aus der Taufe heben, wirtschaftliche Aktivitäten ankurbeln und den Neurowissenschaften neue Türen öffnen.
Sobald die neuronalen Bahnen des menschlichen Gehirns decodiert sind, kann man sich vorstellen, die Ursprünge psychischer Erkrankungen wirklich zu verstehen und damit vielleicht auch einen Weg zu ihrer Heilung zu finden. Eine solche Decodierung macht es auch möglich, eine Kopie des Gehirns herzustellen, was philosophische und ethische Fragen aufwirft. Wer sind wir, wenn sich unser Bewusstsein in einem Computer hochladen lässt? Wir können auch mit dem Konzept der Unsterblichkeit spielen. Unser Körper mag schließlich verfallen und sterben, doch kann unser Bewusstsein ewig leben?
Und jenseits all dessen haben einige Wissenschaftler bereits spekuliert, dass unser Geist eines Tages in ferner Zukunft vielleicht von seinen körperlichen Einschränkungen befreit werden und zwischen den Sternen umherstreifen wird. In einigen Jahrhunderten kann man sich vorstellen, unseren gesamten neuronalen Schaltplan auf einen Laserstrahl zu packen, der dann in die Tiefe des Alls geschickt wird, was vielleicht die bequemste Art und Weise für unser Bewusstsein ist, die Sterne zu erforschen.
Vor uns öffnet sich eine wunderbare neue wissenschaftliche Landschaft, die die Geschicke der Menschheit neu formen wird. Wir treten in ein goldenes Zeitalter der Neurowissenschaften ein.
Bei diesen Zukunftsvisionen konnte ich auf die außerordentlich wertvolle Unterstützung von Wissenschaftlern zurückgreifen, die mir dankenswerterweise gestattet haben, sie zu interviewen, ihre Ideen im Radio zu diskutieren und sogar eine Fernsehcrew in ihre Labors mitzunehmen. Diese Wissenschaftler legen die Grundlagen für die Zukunft des Geistes. Dafür, dass ihre Ideen Eingang in dieses Buch fanden, gab es nur zwei Voraussetzungen: Erstens mussten ihre Voraussagen strikt den Gesetzen der Physik gehorchen, und zweitens mussten Prototypen existieren, um zu zeigen, dass diese weitreichenden Ideen im Prinzip umsetzbar sind.
Ich habe einmal eine Biographie über Albert Einstein geschrieben, Einstein’s Cosmos, und musste mich daher ausführlich mit seinem Privatleben beschäftigen. Ich hatte gewusst, dass Einsteins jüngster Sohn an Schizophrenie litt, hatte mir aber die enorme emotionale Belastung nicht vergegenwärtigt, die dieses Schicksal für das Leben des großen Wissenschaftlers bedeutete. Einstein kam auch in anderer Weise mit psychischer Erkrankung in Berührung; einer seiner engsten Kollegen war der Physiker Paul Ehrenfest, der Einstein half, die Allgemeine Relativitätstheorie zu entwickeln. Nach mehreren depressiven Schüben tötete Ehrenfest tragischerweise seinen Sohn, der am Down-Syndrom litt, und brachte sich anschließend selbst um. Im Lauf der Jahre habe ich festgestellt, dass viele meiner Kollegen und Freunde mit psychischen Erkrankungen in ihrer Familie zu kämpfen haben.
Ich kenne diese Probleme aus meinem eigenen nächsten Umfeld. Vor einigen Jahren starb meine Mutter nach einem langen Kampf mit der Alzheimer-Krankheit. Es war herzzerreißend, mitzuerleben, wie sie langsam ihre Erinnerungen an geliebte Menschen verlor, ihr in die Augen zu blicken und zu erkennen, dass sie nicht wusste, wer ich war. Ich konnte zusehen, wie der Funke des Menschseins langsam in ihr erlosch. Sie hatte ihr ganzes Leben damit zugebracht, ihre Familie durchzubringen, und statt einen schönen Lebensabend zu verbringen, wurden ihr all die Erinnerungen genommen, die ihr so wichtig waren.
Während die Babyboomer-Generation älter wird, wiederholt sich diese traurige Erfahrung, die ich mit vielen anderen Menschen teile, überall auf der Welt. Ich wünsche mir, dass die raschen Fortschritte in den Neurowissenschaften eines Tages das Leid von Menschen lindern können, die von psychischen Erkrankungen und Demenz betroffen sind.
Die aus Hirnscans gewonnenen Daten werden nun entschlüsselt, und die Fortschritte sind wirklich atemberaubend. Mehrmals im Jahr verkünden Schlagzeilen einen neuen Durchbruch. Es dauerte 350 Jahre seit der Entdeckung des Teleskops, um ins Raumzeitalter einzutreten, doch es brauchte nur 15 Jahre seit der Einführung von MRT und anderen modernen Hirnscan-Verfahren, um das Gehirn aktiv mit der Außenwelt zu verbinden. Warum geschah das so schnell, und was wird alles noch kommen?
Einen Teil dieses raschen Fortschritts verdanken wir der Tatsache, dass die Physiker heute über ein gutes Verständnis des Elektromagnetismus verfügen, der die elektrischen Signale steuert, die sich durch die Neurone fortpflanzen. Die mathematischen Gleichungen, die James Clerk Maxwell aufstellte und die dazu dienen, die physikalischen Daten von Antennen, Radar, Radioempfängern und Richtfunktürmen zu berechnen, bilden den Eckpfeiler der MRT-Technologie. Es dauerte Jahrhunderte, bis das Geheimnis des Elektromagnetismus schließlich gelöst wurde, doch die Neurowissenschaften können heute die Früchte dieses großen Bemühens ernten. In Buch I werde ich einen Überblick über die Geschichte der Hirnforschung geben und erklären, wie eine Galaxie von neuen Instrumenten die Labors der Physiker verlassen hat und uns die Funktionsweise des Denkens in wunderbaren farbigen Abbildungen präsentiert. Da Bewusstsein eine derart zentrale Rolle in jeder Diskussion über den Geist spielt, erläutere ich diesen Begriff auch aus der Perspektive eines Physikers und biete eine Definition von Bewusstsein an, die das Tierreich ebenfalls einschließt. Tatsächlich stelle ich eine Rangfolge des Bewusstseins her und zeige, wie es möglich ist, verschiedenen Abstufungen des Bewusstseins einen Zahlenwert zuzuordnen.
Um die Frage, in welche Richtung sich diese Technologie entwickeln wird, jedoch umfassend zu beantworten, müssen wir auch einen Blick auf das Moore’sche Gesetz werfen; es besagt, dass sich die Leistungsfähigkeit von Computern alle 18 Monate verdoppelt. Ich überrasche die Leute häufig mit der Tatsache, dass unsere Mobiltelefone heute eine höhere Rechenkapazität aufweisen als die gesamte Rechenkapazität der NASA, als sie 1969 zwei Männer auf den Mond schickte. Computer sind inzwischen so leistungsstark, dass sie die elektrischen Signale, die das Gehirn aussendet, registrieren und zum Teil in eine vertraute digitale Sprache übersetzen können. Das ermöglicht eine direkte Schnittstelle (interface) zwischen Gehirn und Computer und damit die Kontrolle von jedem beliebigen Objekt rundum. Dieses rasch wachsende Gebiet wird als BMI (brain-machine-interface, Schnittstelle zwischen Gehirn und Maschine) bezeichnet, und die Schlüsseltechnologie ist der Computer. In Buch II werden wir uns ausführlich mit dieser neuen Technologie beschäftigen, die es möglich macht, Erinnerungen aufzuzeichnen, Gedanken zu lesen, unsere Träume auf Video aufzunehmen und Gegenstände per Telekinese zu bewegen.
In Buch III geht es um alternative Formen des Bewusstseins, von Träumen, Drogenkonsum und psychischen Erkrankungen über Roboter bis zu Außerirdischen. In diesem Zusammenhang werden wir auch über die Möglichkeit sprechen, das Gehirn zu kontrollieren und zu manipulieren, um Krankheiten wie Depressionen, Parkinson, Alzheimer und viele mehr zu behandeln. Dabei werde ich auch auf das von Präsident Obama angekündigte Brain Research Through Advancing Innovative Neurotechnologies (kurz BRAIN) Project eingehen, ebenso auf das Human Brain Project der Europäischen Union, für das potenziell Milliarden Euro bereitgestellt werden sollen, um die Bahnen im Gehirn bis auf die neuronale Ebene zu entschlüsseln. Diese beiden Sofortprogramme werden zweifellos völlig neue Forschungsgebiete eröffnen und neue Möglichkeiten aufzeigen, psychische Erkrankungen zu behandeln und zudem die tiefsten Geheimnisse des Bewusstseins zu enthüllen.
Da wir über eine Definition von Bewusstsein verfügen, können wir sie benutzen, um auch nichtmenschliche Intelligenz zu erkunden (z.B. das Bewusstsein von Robotern). Wie fortgeschritten können Roboter sein? Können sie Gefühle entwickeln? Werden sie eine Bedrohung für uns darstellen? Und wir werden uns auch mit dem Bewusstsein von Außerirdischen beschäftigen, die möglicherweise ganz andere Ziele verfolgen als wir.
Im Anhang werde ich die vielleicht seltsamste Idee in den ganzen Naturwissenschaften diskutieren, ein Konzept aus der Quantenphysik, nach dem Bewusstsein möglicherweise die grundlegende Basis der Realität ist.
In diesem geradezu explodierenden Gebiet fehlt es nicht an Vorschlägen. Nur die Zeit wird zeigen, welche davon Hirngespinste sind, der überhitzten Phantasie von Science-Fiction-Autoren entsprungen, und welche solide Möglichkeiten für zukünftige Forschungsprojekte darstellen. Die Fortschritte in den Neurowissenschaften sind atemberaubend, und in vieler Hinsicht hat die moderne Physik dank ihres Verständnisses von Elektromagnetismus und Kernkräften den Schlüssel zur Erforschung der Geheimnisse unseres Geistes geliefert.
Ich sollte betonen, dass ich kein Neurowissenschaftler bin. Ich bin Theoretischer Physiker mit einem anhaltenden Interesse am Geist. Ich hoffe, dass die Sichtweise eines Physikers dazu beitragen kann, unser Wissen weiter zu bereichern und einen neuen, frischen Blick auf das vertrauteste und fremdeste Objekt in unserem Universum zu werfen: unseren Geist.
Angesichts des schwindelerregenden Tempos, mit dem radikal neue Theorien entwickelt werden, ist es jedoch wichtig, sich zunächst einen klaren Eindruck davon zu verschaffen, wie sich das Gehirn zusammensetzt.
Daher wollen wir zunächst die Ursprünge der modernen Neurowissenschaften diskutieren, von denen einige Historiker meinen, sie hätten mit einer Eisenstange begonnen, die von einer Explosion durch das Gehirn eines gewissen Phineas Gage getrieben wurde. Dieses entscheidende Ereignis setzte eine Kettenreaktion in Gang, die dazu beitrug, das Gehirn ernsthafter wissenschaftlicher Erforschung zugänglich zu machen. Auch wenn es Pech für Mr. Gage war, so ebnete dieses Ereignis doch den Weg für die modernen Neurowissenschaften.
Meine Grundvoraussetzung bezüglich des Gehirns ist, dass seine Funktion – wir sprechen bisweilen von «Geist» – die Folge seiner Anatomie und Physiologie ist und nichts sonst.
Carl Sagan
Im Jahr 1848 war Phineas Gage Vorarbeiter eines Schienenarbeitertrupps in Vermont, als es zu einer vorzeitigen Dynamitexplosion kam, die ihm eine 1,10 m lange und 3 cm dicke Eisenstange durch den Schädel trieb: Die Stange drang schräg unterhalb des rechten Auges ein, durchquerte das Gehirn, trat oben aus dem Schädeldach wieder aus und landete mehr als 20 Meter hinter ihm auf dem Boden. Seine geschockten Mitarbeiter riefen sofort einen Arzt. Zu ihrer und des Arztes Verwunderung starb Mr. Gage nicht auf der Stelle an seiner schrecklichen Wunde.
Wochenlang befand er sich in einem halbkomatösen Zustand, doch schließlich schien er sich völlig von seiner Verletzung zu erholen.[4] (2009 tauchte eine seltene Fotografie von Gage auf; sie zeigt einen gut aussehenden, selbstbewussten Mann mit einer Verletzung am Kopf und einem geschlossenen linken Auge, der eine Eisenstange hält.) Doch schon bald nach dem Unfall begannen seine Kollegen, deutliche Veränderungen seiner Persönlichkeit festzustellen. War Gage zuvor ein normaler, freundlicher und umgänglicher Mann gewesen, so wurde er nun beleidigend, aggressiv und rücksichtslos. Frauen wurden gewarnt, sich fern von ihm zu halten. Dr. Harlow, der Arzt, der ihn behandelte, stellte fest, Gage sei «launisch und wankelmütig, er denkt sich Pläne für die Zukunft aus, die ebenso schnell entworfen werden, wie sie wieder verworfen werden, zugunsten anderer, scheinbar durchführbarerer Pläne. In seinen intellektuellen Fähigkeiten und Äußerungen ein Kind, besitzt er die animalischen Leidenschaften eines kräftigen Mannes.»[5] Dr. Harlow bemerkte eine «radikale Veränderung» und schrieb, Gages alte Kollegen meinten, «er wäre nicht mehr Gage». Nach Gages Tod 1860 rettete Harlow sowohl Gages Schädel als auch die Eisenstange, die ihn durchbohrt hatte. Seitdem haben detaillierte Röntgenuntersuchungen bestätigt, dass die Eisenstange massive Zerstörungen in der Hirnregion direkt hinter der Stirn, im Bereich der Stirn- oder Frontallappen, bewirkt haben muss, und zwar sowohl in der rechten wie der linken Hirnhemisphäre.
Dieser unglaubliche Unfall sollte nicht nur das Leben von Phineas Gage verändern, sondern auch den Lauf der Wissenschaft. Zuvor war allgemein angenommen worden, dass Gehirn und Seele zwei getrennte Entitäten seien, eine Philosophie, die man als Leib-Seele-Dualismus bezeichnet. Doch nun wurde zunehmend deutlicher, dass Gages abrupte Persönlichkeitsveränderung von der Frontallappenschädigung seines Gehirns hervorgerufen worden war. Das wiederum führte zu einer Paradigmenverschiebung im wissenschaftlichen Denken: Vielleicht ließen sich bestimmte Hirnareale mit gewissen Verhaltensweisen verknüpfen.
Im Jahr 1861, nur ein Jahr nach Gages Tod, erhielt diese Sichtweise durch die Beobachtungen des Pariser Neurologen Pierre Paul Broca weitere Nahrung. Broca dokumentierte den Fall eines Patienten, der völlig normal erschien, abgesehen von einem schweren Sprachdefizit. Der Patient konnte gesprochene Sprache problemlos verstehen, doch er konnte nur einen einzigen Laut äußern, nämlich «tan». Nach dem Tod des Patienten stellte Broca bei der Autopsie des Gehirns fest, dass der Patient unter einer Läsion im linken Schläfen- oder Temporallappen litt, einer Hirnregion in der Nähe des linken Ohres. Später konnte Broca seine Beobachtung noch an zwölf ähnlichen Fällen von Patienten belegen, deren Gehirn an derselben Stelle geschädigt war. Heute nennt man die Sprachstörung, die von einer Schädigung dieser Hirnregion herrührt, Broca-Aphasie. (Im Allgemeinen verfügen Patienten mit dieser Störung über ein intaktes Sprachverständnis, doch ihre Sprachproduktion ist gestört: Entweder können sie gar nicht sprechen oder sie sprechen im Telegrammstil.)
Bald darauf, 1874, beschrieb der deutsche Neurologe und Psychiater Carl Wernicke Patienten, die unter dem gegenteiligen Problem litten. Sie konnten klar artikulieren, doch sie verstanden weder geschriebene noch gesprochene Sprache. Oft sprachen die Patienten flüssig, und Syntax und Grammatik waren korrekt, doch die Sätze ergaben keinen Sinn; sie produzierten nur «Wortsalat», ohne dass es ihnen aufgefallen wäre. Bei Autopsien fand Wernicke heraus, dass diese Patienten eine Schädigung an einer etwas anderen Stelle im linken Schläfenlappen aufwiesen.
Die Arbeiten von Broca und Wernicke waren wegweisend für die Neurowissenschaften, und sie etablierten eine klare Verbindung zwischen verhaltensphysiologischen Problemen, wie Sprachproduktions- und Sprachverständnisstörungen, und Schädigungen einer bestimmten Region im Gehirn.
Ein anderer Durchbruch gelang inmitten von Kriegszeiten. Unsere gesamte Geschichte hindurch gab es zahlreiche religiöse Tabus, die das Sezieren des menschlichen Körpers verboten, was den medizinischen Fortschritt stark behindert hat. In neuzeitlichen Kriegen, in denen Zehntausende von Soldaten auf dem Schlachtfeld verbluteten, wurde es jedoch für Ärzte unabdingbar, medizinische Maßnahmen zu entwickeln, um das Sterben aufzuhalten. Während des Deutsch-Dänischen Kriegs 1864 behandelte der deutsche Feldarzt Gustav Fritsch viele Soldaten mit klaffenden Hirnwunden und bemerkte dabei zufällig, dass bei Berührung der einen Hirnhälfte oft die gegenüberliegende Körperseite zuckte. Später konnte Fritsch mittels elektrischer Hirnstimulation systematisch demonstrieren, dass die linke Hirnhemisphäre die rechte Körperseite kontrollierte und umgekehrt. Das war eine erstaunliche Entdeckung, und sie zeigte, dass das Gehirn seiner Natur nach ein elektrisches Organ war und eine bestimmte Region des Gehirns einen Teil der gegenüberliegenden Körperhälfte kontrollierte.
(Erstaunlicherweise stammen Berichte über die elektrische Reizung des Gehirns bereits aus einer viel früheren Zeit, aus der Zeit der alten Römer. Im Jahr 43 n. Chr. behandelte der Leibarzt von Kaiser Claudius Patienten, die unter schweren Kopfschmerzen litten, offenbar mit einem Zitterrochen[6], einem Fisch, der heftige elektrische Schläge austeilen kann.)
Die Erkenntnis, dass es elektrische Bahnen gab, die das Gehirn mit dem Körper verbanden, wurde erst in den 1930er Jahren systematisch analysiert. Damals begann Dr. Wilder Penfield, mit Epilepsiepatienten zu arbeiten, die oft unter schweren, potenziell lebensgefährlichen Krampfanfällen litten. Für sie war ein Eingriff im Gehirn die letzte Option; dabei wurde die Schädeldecke eröffnet und das Gehirn freigelegt. (Da das Gehirn keine Schmerzrezeptoren hat, blieb der Patient während der gesamten Operation ansprechbar, und Penfield musste nur ein lokales Betäubungsmittel verabreichen.)
Wenn Penfield bestimmte Teile des Cortex mit einer Elektrode reizte, stellte er fest, dass unterschiedliche Körperregionen reagierten. Plötzlich erkannte er, dass er eine grobe 1:1-Zuordnung zwischen bestimmten Regionen des Cortex und dem menschlichen Körper aufstellen konnte. Seine damaligen Diagramme waren so genau, dass sie noch heute fast unverändert in Gebrauch sind. Sie übten auf der Stelle großen Einfluss auf die wissenschaftliche Gemeinschaft aus und faszinierten auch die Öffentlichkeit. In einem der Diagramme war zu sehen, welche Hirnregion – grob – welche Funktion kontrollierte, und wie wichtig jede Funktion war. Da Hände und Mund beispielsweise so wichtig fürs Überleben sind, ist ein beträchtlicher Teil der Hirnkapazität ihrer Kontrolle gewidmet, während die Tastrezeptoren auf unserem Rücken eine viel geringere Rolle spielen.
Des Weiteren fand Penfield heraus, dass eine Stimulation bestimmter Regionen des Schläfenlappens bei seinen Patienten plötzlich kristallklare, lang vergessen geglaubte Erinnerungen wachrufen konnte. Er war höchst erstaunt, als ein Patient mitten während der Operation auf einmal herausplatzte: «Es war, … als stünde ich am Eingang meiner Highschool … ich hörte, wie meine Mutter telefonierte und meine Tante bat, heute Abend vorbeizukommen.»[7] Penfield erkannte, dass er Erinnerungen heraufbeschwor, die tief im Inneren des Gehirns vergraben waren. Als er seine Ergebnisse 1951 veröffentlichte, führten sie zu einer weiteren Transformation unseres Verständnisses des Gehirns.
Abbildung 1: Dies ist die Karte des sensorischen und des motorischen Cortex, die Dr. Wilder Penfield erstellte; sie zeigt, welche Region des Gehirns welchem Körperteil zugeordnet ist.
Ab den 1950er und 1960er Jahren war es möglich, eine grobe Karte des Gehirns zu zeichnen, unterschiedliche Regionen zu lokalisieren und sogar die Funktionen einiger dieser Regionen zu identifizieren.
Abbildung 2: Die vier Lappen des Neocortex sind für verschiedene, wenn auch miteinander verknüpfte Funktionen zuständig.
In Abbildung 2 sehen wir den Neocortex, die äußere Schicht des Gehirns, der in vier paarige Lappen unterteilt ist. Beim Menschen ist der Neocortex besonders hoch entwickelt. Alle Hirnlappen sind der Verarbeitung von sensorischen Signalen gewidmet, bis auf einen: den Stirnlappen, der direkt hinter unserer Stirn liegt. Der präfrontale Cortex, der am weitesten vorn gelegene Teil des Stirnlappens, ist der Sitz des logischen Denkens. Die Informationen, die Sie gerade lesen, werden in Ihrem präfrontalen Cortex verarbeitet. Eine Schädigung dieses Areals kann Ihre Fähigkeit zum vorausschauenden Denken beeinträchtigen, wie es bei Phineas Gage der Fall war. In diesem Bereich wird die von unseren Sinnesorganen einlaufende Information bewertet und über zukünftige Handlungen entschieden.
Der Scheitel- oder Parietallappen liegt oben auf unserem Gehirn. Der Scheitellappen der rechten Hemisphäre kontrolliert sensorische Aufmerksamkeit und Körperbild, derjenige der linken Hemisphäre kontrolliert Feinmotorik und einige sprachliche Aspekte. Eine Schädigung der Scheitellappen kann zu einer Fülle von Problemen führen, zum Beispiel zu Schwierigkeiten, Teile des eigenen Körpers zu lokalisieren. Der Hinterhaupt- oder Okzipitallappen liegt am hinteren Pol des Gehirns und verarbeitet visuelle Information von den Augen. Eine Schädigung kann Sehstörungen bis zur Blindheit hervorrufen.
Der Schläfen- oder Temporallappen kontrolliert die Sprache (ausschließlich in der linken Hemisphäre) wie auch Gesichtserkennung und gewisse emotionale Aspekte. Eine Schädigung kann uns die Fähigkeit rauben, zu sprechen oder Sprache zu verstehen oder aber vertraute Gesichter wiederzuerkennen.
Wenn man sich andere Organe des Körpers anschaut, wie unsere Muskeln, Knochen, Leber und Lunge, dann erkennen wir sofort, wie sinnvoll sie aufgebaut sind. Das Gehirn scheint hingegen auf den ersten Blick eher planlos zusammengeschustert. Tatsächlich ist der Versuch, das Gehirn zu kartieren, oft als «cartography for fools» («Kartographie für Narren») bezeichnet worden.
Um aus dem scheinbar zufälligen Bau des Gehirns schlau zu werden, hat Dr. Paul MacLean vom National Institute of Mental Health 1967 vorgeschlagen, Charles Darwins Evolutionstheorie auf das Gehirn anzuwenden. McLean unterteilte das Gehirn in drei Teile. (Seit damals ist dieses Modell verfeinert worden, doch wir wollen es als grobes Organisationsprinzip zur Erklärung des allgemeinen Hirnaufbaus verwenden.) Zunächst stellte er fest, dass der mittlere und der hintere Bereich unseres Gehirns, der Hirnstamm, Kleinhirn (Cerebellum) und Basalganglien enthält, in seinem Aufbau fast identisch mit dem Gehirn von Reptilien ist. Dieses sogenannte «Reptiliengehirn» umfasst die stammesgeschichtlich ältesten Strukturen des Gehirns, die grundlegende Lebensfunktionen wie Atmung, Verdauung, Herzschlag, Blutdruck und Gleichgewicht regeln. Zudem kontrollieren sie Verhalten wie Kampf, Jagd, Paarung und Revierverteidigung, die für Überleben und Fortpflanzung entscheidend sind. Dieses Reptiliengehirn lässt sich rund 500 Millionen Jahre zurückverfolgen (siehe Abbildung 3).
Abbildung 3: Die stammesgeschichtliche Entwicklung des Gehirns mit dem Reptiliengehirn, dem limbischen System (dem alten Säugergehirn) und dem Neocortex (dem neuen Säugergehirn, das besonders beim Menschen hoch entwickelt ist).
Auf dem Weg der Entwicklung von Reptilien zu Säugern nahmen Größe und Komplexität des Gehirns zu, und es entstanden völlig neue Strukturen. Es bildete sich das «alte Säugergehirn» oder das limbische System, das in der Nähe des Hirnzentrums liegt und Teile des Reptiliengehirns umgibt. Das limbische System ist besonders ausgeprägt bei Säugern, die in sozialen Gruppen leben, wie bei den Großen Menschenaffen. Es enthält vor allem Strukturen, die an der Entstehung und Verarbeitung von Emotionen beteiligt sind. Die Dynamik in einer sozialen Gruppe kann sehr komplex sein, und das limbische System spielt eine wichtige Rolle bei der Einteilung von Gruppenmitgliedern in potenzielle Gegner, Verbündete oder Geschlechtspartner.
Die wichtigsten Teile des limbischen Systems, die für soziale Säuger wichtige Verhaltensweisen kontrollieren, sind:
Der Hippocampus. Er bildet das Tor zum Gedächtnis und entscheidet über die Umwandlung von Kurzzeit- in Langzeiterinnerungen. Sein Name, «Seepferdchen», spielt auf seine gewundene Form an. Eine Schädigung des Hippocampus beeinträchtigt die Fähigkeit zur Bildung und Speicherung neuer Langzeiterinnerungen. Ein Betroffener bleibt in der Gegenwart gefangen.
Die Amygdala. Dies ist der Sitz unserer Gefühle; dort werden vor allem negative Gefühle wie Furcht erzeugt oder registriert und verarbeitet. Der Name bedeutet «Mandelkern».
Der Thalamus. Bei dieser Struktur handelt es sich um eine Relaisstation, in der sensorische Signale aus dem Hirnstamm gesammelt und an andere Cortexregionen weitergeleitet werden. Der Name bedeutet so viel wie «Kammer».
Der Hypothalamus. Er reguliert die Körpertemperatur, unseren Tag/Nacht-Rhythmus, Hunger, Durst und gewisse Aspekte von Fortpflanzung und Lustempfinden. Er liegt unter dem Thalamus, daher sein Name.
Und schließlich ist da noch die dritte und jüngste Region des Säugergehirns, die Großhirnrinde, die äußere Schicht des Gehirns, deren stammesgeschichtlich neueste Region der Neocortex bildet. Er kontrolliert unsere höheren kognitiven Funktionen. Beim Menschen ist der Neocortex besonders hoch entwickelt; er macht rund 80 Prozent unserer Hirnmasse aus, ist aber nur so dick wie eine Serviette. Bei Ratten ist der Neocortex glatt, beim Menschen jedoch stark gefaltet, sodass eine Menge Oberfläche in den Schädel passt.
In gewissem Sinne ist das menschliche Gehirn wie ein Museum, das Überbleibsel sämtlicher vorangegangenen Stadien unserer langen Evolutionsgeschichte enthält, wobei es an Größe und Komplexität ständig zugenommen hat. (Diese Entwicklung spiegelt sich in groben Umrissen in der Hirnentwicklung von Kleinkindern wider.)
Wenn auch der Neocortex nicht besonders eindrucksvoll aussieht: Aussehen kann bekanntlich täuschen. Unterm Mikroskop lässt sich die komplexe Architektur des Gehirns bewundern. Die graue Substanz des Gehirns besteht vorwiegend aus den Zellkörpern von Milliarden Nervenzellen, die man als Neurone bezeichnet. Wie ein riesiges Telefonnetzwerk erhalten die Zellkörper Botschaften via Dendriten, stark verzweigten kurzen Ausstülpungen, die aus dem Zellkörper sprossen. Am anderen Ende des Zellkörpers entspringt ein langer Fortsatz, das Axon, das mit bis zu 10000 anderen Neuronen über deren Dendriten in Verbindung steht. Die Gesamtheit dieser Axone wird als weiße Substanz bezeichnet, weil diese Leitungsbahnen von einer elektrisch isolierenden weißlichen Hülle umgeben sind. Die Kontaktstelle zwischen Axon und Dendrit wird als Synapse bezeichnet, der winzige Spalt zwischen beiden Strukturen als synaptischer Spalt. Diese Synapsen agieren wie Schleusentore und regulieren den Informationsfluss im Gehirn. Spezielle chemische Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, die in der Synapse gespeichert sind und in den synaptischen Spalt ausgeschüttet werden, sorgen für die Signalübermittlung von einem Neuron zum nächsten. Da Neurotransmitter wie Dopamin, Serotonin und Noradrenalin den Informationsfluss in den Myriaden Hirnschaltkreisen regulieren können, üben sie eine machtvolle Wirkung auf unsere Stimmungen, Emotionen, Gedanken und psychischen Zustände aus (siehe Abbildung 4).
Abbildung 4: Skizze eines Neurons. Elektrische Signale pflanzen sich längs des Axons bis zur Synapse fort. Neurotransmitter können den Fluss elektrischer Signale über die Synapse regulieren.
Diese Beschreibung des Gehirns gibt in etwa den Wissensstand der 1980er Jahre wieder. Mit der Einführung neuer Techniken, die auf Fortschritten in der Physik basierten, begann die Funktionsweise des Denkens in den 1990ern jedoch in exquisiten Einzelheiten sichtbar zu werden, womit der aktuelle Boom der Neurowissenschaften seinen Anfang nahm. Eine der Triebfedern dieser Revolution war ein neues bildgebendes Verfahren, die Magnetresonanz- oder Kernspintomographie (MRT).
Um zu verstehen, warum diese radikal neue Technik dazu beigetragen hat, das denkende Gehirn zu entschlüsseln, müssen wir uns zunächst mit einigen physikalischen Grundprinzipien beschäftigen.
Radiowellen, eine Form elektromagnetischer Strahlung, können Gewebe durchdringen, ohne es zu schädigen. MRT-Geräte machen sich diese Tatsache zunutze und schicken elektromagnetische Wellen ungehindert durch den Schädel. Damit hat uns diese Technik zu großartigen Aufnahmen von Prozessen verholfen, von denen es einst hieß, man könne sie nicht einfangen: die inneren Arbeitsabläufe im Gehirn, während es sensorische Empfindungen und Emotionen verarbeitet. Wenn man das Tanzen der Lichter beobachtet, die in einem MRT-Gerät aufleuchten, kann man den Spuren der Gedanken folgen, die durchs Gehirn schwirren. Es ist, als könne man ins Innere einer Uhr schauen, während sie tickt.
Das Erste, was einem bei einem Kernspintomographen auffällt, sind die riesigen zylindrischen Magnetspulen, die ein Magnetfeld erzeugen können, das 20000- bis 60000-mal stärker ist als das Erdmagnetfeld. Der gigantische Magnet ist einer der Hauptgründe, warum MRT-Geräte eine Tonne wiegen, einen ganzen Raum füllen und mehrere Millionen Dollar kosten können. (MRT-Geräte sind sicherer als Röntgengeräte, weil sie keine schädlichen Ionen produzieren. CT-Scans, die ebenfalls 3D-Bilder erzeugen, bombardieren den Körper mit einem Vielfachen der Dosis eines gewöhnlichen Röntgengeräts und müssen daher sorgfältig überwacht werden. MRT-Geräte sind hingegen sicher, wenn sie richtig eingesetzt werden. Ein Problem ist jedoch die Sorglosigkeit von Menschen, die an ihnen arbeiten. Das Magnetfeld ist so stark, dass magnetische Gegenstände mit hoher Geschwindigkeit durch den Raum katapultiert werden können, wenn das Gerät im falschen Moment angestellt wird. Es sind schon Menschen auf diese Weise verletzt oder gar getötet worden.)
MRT-Geräte funktionieren so: Der Patient liegt flach auf dem Rücken und wird in einen Zylinder geschoben, der zwei große Spulen enthält, die das Magnetfeld erzeugen. Wird das Magnetfeld eingeschaltet, verhalten sich die Kerne der Atome in unserem Körper ganz ähnlich wie Kompassnadeln: Sie richten sich längs der Feldlinien aus. Dann wird kurzzeitig ein Radiopuls angelegt, was dazu führt, dass einige der Atomkerne im Körper ihre Ausrichtung verlieren und sich «umdrehen». Wenn diese Kerne später in ihre normale Position zurückkehren, emittieren sie einen zweiten Radiopuls, der anschließend vom MRT-Gerät analysiert wird. Durch Analyse dieser winzigen «Echos» lassen sich Position und Art dieser Atome rekonstruieren. Wie eine Fledermaus, die Objekte auf ihrer Flugbahn mittels Echoortung lokalisiert, ermöglichen die vom MRT erzeugten Echos, das Gehirn im Schädelinneren optisch wiedererstehen zu lassen. Anschließend rekonstruieren Computer die Position der Atome und schaffen wunderbare dreidimensionale Bilder.
Als MRT-Geräte eingeführt wurden, konnten sie die statische Struktur des Gehirns und seiner verschiedenen Regionen abbilden. Mitte der 1990er Jahre wurde jedoch ein neuer MRT-Typ entwickelt, das «funktionelle» oder fMRT, das den Sauerstoffgehalt des Blutes im Gehirn registrierte. (Um die verschiedenen MRT-Typen zu kennzeichnen, wird manchmal ein Kleinbuchstabe vor «MRT» gesetzt, doch wir wollen all die verschiedenen MRT-Geräte unter dem Kürzel MRT zusammenfassen.) MRT-Scans können den Fluss der Elektrizität in den Neuronen nicht direkt messen, doch da Sauerstoff im Rahmen der Energieversorgung für die Neurone unabdingbar ist, lässt sich der Fluss elektrischer Energie in den Neuronen anhand von sauerstoffgesättigtem (oxygeniertem) Blut indirekt verfolgen und aufzeigen, wie verschiedene Regionen des Gehirns miteinander wechselwirken.
Diese MRT-Scans haben bereits definitiv die Vorstellung widerlegt, dass sich Denken auf ein einziges Zentrum konzentriert. Vielmehr sieht man, wie die elektrische Energie im denkenden Gehirn durch verschiedene Regionen zirkuliert. Die Bahn, die unsere Gedanken nehmen, lässt sich also mit Hilfe von MRT-Scans verfolgen, und das hat neues Licht auf Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Schizophrenie und viele andere mentale Erkrankungen geworfen.
Der große Vorteil von MRT-Geräten ist ihr hohes räumliches Auflösungsvermögen, das bis in die Größenordnung von Bruchteilen eines Millimeters reicht. Ein MRT-Scan erzeugt nicht nur Punkte auf einem zweidimensionalen Bildschirm, Pixel genannt, sondern Punkte im dreidimensionalen Raum, sogenannte Voxel; das Ergebnis ist eine Sammlung Zehntausender farbiger Punkte in 3D in Form des Gehirns.
Da verschiedene chemische Elemente unterschiedlich auf verschiedene Radiofrequenzen reagieren, kann man die Frequenz des Radiopulses verändern und dadurch unterschiedliche Elemente im Körper identifizieren. Wie bereits erwähnt, nehmen fMRT-Geräte die im Blut transportierten Sauerstoffatome aufs Korn, um den Blutfluss zu messen, doch MRT-Geräte können auch darauf abgestimmt werden, andere Atome zu identifizieren. Im letzten Jahrzehnt ist ein neuer MRT-Typ entwickelt worden, der sogenannte Diffusionsgewichtete Magnetresonanztomograph (DW-MRT), der die Bewegung von Wassermolekülen im Gehirn registriert. Da der Wasserfluss den neuronalen Bahnen im Gehirn folgt, produziert die Diffusions-Tensor-Bildgebung wunderbare Aufnahmen, die Netzwerken aus Ranken ähneln, wie man sie im Garten findet. Nun lässt sich augenblicklich feststellen, wie bestimmte Teile des Gehirns mit anderen verknüpft sind.
Die MRT-Technik hat jedoch auch ein paar Nachteile. Obgleich sie unschlagbar ist, was die räumliche Auflösung betrifft, die Voxel bis zur Größe eines Punktes in drei Dimensionen lokalisiert, ist die zeitliche Auflösung beim MRT nicht besonders gut. Es dauert fast eine ganze Sekunde, um dem Blutfluss im Gehirn zu folgen, was vielleicht nach nicht besonders viel klingt, doch man muss bedenken, dass sich elektrische Signale rasch durchs Gehirn fortpflanzen, daher können den MRT-Scans einige feinere Details der Denkmuster entgehen.
Ein weiterer Nachteil sind die Kosten, die in die Millionen gehen, daher müssen sich Mediziner das Gerät häufig mit anderen Nutzern teilen. Doch wie bei den meisten Technologien sollten die Kosten im Lauf der Zeit sinken.
Unterdessen haben exorbitante Kosten die Jagd nach kommerziellen Anwendungsmöglichkeiten nicht aufgehalten. Eine Idee ist, MRT-Scans als Lügendetektoren zu benutzen; einigen Studien zufolge können sie Lügen mit einer Sicherheit von 95 Prozent oder mehr aufdecken. Das Genauigkeitsniveau der Ergebnisse ist noch umstritten, doch die Grundidee ist, dass jemand, der eine Lüge erzählt, gleichzeitig die Wahrheit kennen, die Lüge fabrizieren und zudem rasch die Widerspruchsfreiheit dieser Lüge mit bekannten Fakten analysieren muss. Inwischen behaupten einige Unternehmen, die MRT-Technologie vermarkten, dass der präfrontale Cortex und der Schläfenlappen aufleuchten, wenn jemand lügt. Genauer gesagt wird der orbito-frontale Cortex aktiviert (der unter anderem als «Faktenprüfer» dient und uns warnt, wenn etwas nicht stimmt). Dieser Bereich liegt direkt hinter den Augenhöhlen (lateinisch orbita), daher der Name. Dieser Annahme zufolge kennt der orbito-frontale Cortex den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge und übersteuert. (Andere Regionen des Gehirns leuchten ebenfalls auf, wenn jemand lügt, zum Beispiel der superiormediale und der inferolaterale Cortex, die eine Rolle bei der Kognition spielen.)
Es gibt bereits mehrere kommerzielle Unternehmen, die MRT-Geräte als Lügendetektoren anbieten, und diese Geräte beginnen zunehmend in den Gerichtssälen Einzug zu halten. Man darf jedoch nicht vergessen, dass diese MRT-Scans lediglich eine erhöhte Gehirnaktivität in einigen Arealen anzeigen. Während DNA-Ergebnisse manchmal eine Genauigkeit von 1 zu 10 Milliarden oder besser aufweisen können, können MRT-Scans dies nicht, denn es braucht viele Hirnareale, um eine Lüge zu fabrizieren, und ebendiese Areale verarbeiten auch Gedanken anderer Art.
Eine andere wertvolle Technik, um tief ins Innere des Gehirns zu schauen, ist die Elektroenzephalographie (EEG). Das Elektroenzephalogramm wurde bereits 1924 entwickelt, doch erst seit kurzem ist es möglich, Computer einzusetzen, um all die Daten zu analysieren, die aus den Elektroden strömen.
Wenn ein EEG erstellt werden soll, zieht ein Patient gewöhnlich einen futuristisch aussehenden, mit Elektroden gespickten Helm an. (Modernere Versionen sehen eher wie ein Haarnetz mit winzigen Elektroden aus.) Diese Elektroden registrieren die schwachen elektrischen Signale, die im Gehirn zirkulieren.
Ein EEG-Scan unterscheidet sich von einem MRT-Scan in mehreren wichtigen Beziehungen. Um einen MRT-Scan zu produzieren, werden, wie bereits erwähnt, Radiopulse ins Gehirn geschickt und die zurückkehrenden «Echos» anschließend analysiert. Das heißt, dass man den Radiopuls variieren kann, um verschiedene Atome zur Analyse auszuwählen, was die Technik sehr flexibel macht. Das EEG-Gerät ist hingegen völlig passiv, das heißt, es analysiert lediglich die schwachen elektrischen Signale, die das Gehirn natürlicherweise aussendet. Mit Hilfe des EEG lassen sich die breitbandigen elektromagnetischen Signale registrieren, die über das ganze Gehirn branden, was uns erlaubt, die Gesamtaktivität des Gehirns zu messen, während es schläft, sich konzentriert, sich entspannt, träumt usw. Verschiedene Bewusstseinszustände schwingen mit unterschiedlichen Frequenzen. So korrespondiert der Tiefschlaf mit Delta-Wellen, die mit 0,1 bis 4 Zyklen pro Sekunde schwingen (d.h. eine Frequenz von 0,1–4 Hertz aufweisen). Geistig aktive Zustände, wie beim Lösen von Problemen, korrespondieren mit Beta-Wellen, die einen Zyklus von 12 bis 30 Zyklen (12–30 Hz) aufweisen. Diese Schwingungen erlauben verschiedenen Teilen des Gehirns, miteinander zu kommunizieren und Informationen auszutauschen, selbst wenn sie an entgegengesetzten Seiten des Gehirns liegen. Und während MRT-Scans die Durchblutung im Gehirn nur ein paar Mal pro Sekunde messen können, messen EEG-Scans die elektrische Aktivität in Echtzeit.
Der größte Vorteil von EEG-Scans sind jedoch Benutzerfreundlichkeit und geringe Kosten. Selbst Highschool-Schüler haben schon im Wohnzimmer Experimente mit EEG-Sensoren auf ihrem Kopf durchgeführt.
Der Hauptnachteil des EEG, der seine Entwicklung jahrzehntelang behindert hat, ist jedoch seine sehr geringe räumliche Auflösung. Das EEG fängt elektrische Signale auf, die die Schädeldecke passiert haben und dadurch gestreut worden sind. Wenn man sich den verworrenen Output von EEG-Signalen anschaut, lässt sich kaum sicher sagen, welcher Teil des Gehirns dafür verantwortlich ist. Zudem können schon kleine Bewegungen, wie das Wackeln eines Fingers, das Signal verzerren und es unter Umständen wertlos machen.
Ein weiteres wertvolles Instrument aus der Physik ist die Positronen-Emissions-Tomographie (PET); sie berechnet den Energiefluss im Gehirn, indem sie die Präsenz von Glukose anzeigt, dem Zuckermolekül, das die Zellen mit Energie versorgt. Wie die Nebelkammer, die ich in der Highschool gebaut habe, nutzen PET-Scans subatomare Teilchen, die von Natrium-22 in der Glukose ausgeschickt werden. Vor Beginn eines PET-Scans wird dem Patienten eine spezielle Lösung injiziert, die Glukose enthält, welche durch ein angehängtes Na-22-Atom leicht radioaktiv geworden ist. Jedes Mal, wenn ein Natriumatom zerfällt, emittiert es ein positives Elektron oder Positron, das von Sensoren leicht nachgewiesen werden kann. Indem man den Weg der radioaktiven Natriumatome im Zucker verfolgt, kann man den Energiefluss im lebenden Gehirn nachvollziehen.
Die PET teilt viele Vorteile der MRT, hat aber nicht dieselbe hohe räumliche Auflösung wie ein MRT-Scan. Doch statt den Blutfluss zu messen, der nur ein indirektes Maß für den Energieverbrauch des Körpers ist, misst die PET den Energieverbrauch direkt und ist daher enger mit der neuronalen Aktivität verknüpft.
Und die PET-Technik hat noch einen weiteren Nachteil. Im Gegensatz zu MRT und EEG erfordert PET den Einsatz von schwach radioaktiven Materialien, daher kann man von Patienten nicht ständig PET-Scans machen. Im Allgemeinen sollte ein Patient wegen des geringen, aber nicht zu vernachlässigenden Strahlungsrisikos nicht öfter als einmal pro Jahr einen PET-Scan machen lassen.
Im letzten Jahrzehnt hat sich der Werkzeugkasten der Neurowissenschaften um viele Hightech-Techniken erweitert, darunter Transkranielle Elektromagnetische Scanner (TES), Magnetoenzephalographie (MEG), Nahinfrarotspektroskopie und Optogenetik.
Vor allem Magnetismus ist dazu eingesetzt worden, gezielt bestimmte Bereiche des Gehirns auszuschalten, ohne den Schädel zu öffnen. Die grundlegende Physik, die hinter diesen neuen Instrumenten steht, besagt, dass ein sich rasch veränderndes elektrisches Feld ein magnetisches Feld erzeugt und umgekehrt. Bei der Magnetoenzephalographie (MEG) werden die Magnetfelder, die von diesen sich verändernden elektrischen Feldern im Gehirn hervorgerufen werden, passiv gemessen. Diese Magnetfelder sind außerordentlich schwach; ihre Stärke beträgt nur ein Milliardstel derjenigen des Erdmagnetfeldes. Wie das EEG hat das MEG eine sehr hohe zeitliche Auflösung, bis hinab zu einer Tausendstelsekunde. Seine räumliche Auflösung liegt jedoch nur im Bereich von einem Kubikmillimeter.
Im Gegensatz zu den passiven MEG-Messungen generiert der Transkranielle Elektromagnetische Scanner (TES) einen starken elektrischen Puls, der seinerseits einen Schub magnetischer Energie auslöst. Der TE-Scanner wird neben dem Kopf platziert, sodass der magnetische Puls in den Schädel dringt und im Inneren des Gehirns einen weiteren elektrischen Puls auslöst. Dieser zweite elektrische Puls reicht seinerseits aus, um die Aktivität ausgewählter Hirnareale gefahrlos zu dämpfen oder vollständig abzuschalten.
Bombardiert man einen bestimmten Fleck im Gehirn mit magnetischer Energie, so kann man seine Funktion ausmachen, indem man beobachtet, wie sich das Verhalten einer Person verändert. (Wenn man beispielsweise magnetische Pulse in den linken Schläfenlappen schießt, stellt man fest, dass dies unsere Fähigkeit zu sprechen beeinträchtigt.)
Abbildung 5: Abgebildet sind ein Transkranieller Elektromagnetischer Scanner und ein Magnetenzephalograph, der statt Radiowellen Magnetwellen einsetzt, um die Schädeldecke zu durchdringen und die Aktivität des Gehirns zu registrieren. Mittels Magnetismus lassen sich Teile des Gehirns zeitweise stilllegen.
Die TES-Technik hat den Nachteil, dass Magnetfelder nicht sehr tief ins Gehirn eindringen (die magnetische Feldstärke nimmt nämlich viel rascher als nach dem bekannten inversen Quadratgesetz ab, das für die Elektrizität gilt). TE-Scanner sind sehr nützlich, wenn es darum geht, Teile des Gehirns auszuschalten, die nahe an der Schädeldecke liegen, doch ihr Magnetfeld kann wichtige Zentren tief im Gehirn wie das limbische System nicht erreichen. Wenn es gelingt, Stärke und Genauigkeit des Magnetfelds zu verbessern, werden zukünftige Generationen von TE-Scannern dieses technische Problem jedoch vielleicht überwinden.
Ein weiteres Werkzeug, das sich für Neurologen als höchst wichtig erwiesen hat, ist die Tiefe Hirnstimulation (eng. Deep Brain Stimulation, DBS). Die Sonden, die ursprünglich von Wilder Penfield eingesetzt wurden, waren ziemlich grob. Heutzutage sind diese Elektroden haarfein und können spezifische Areale tief im Inneren des Gehirns erreichen. Mit ihrer Hilfe konnten Neurowissenschaftler nicht nur die Funktionen verschiedener Hirnregionen lokalisieren, sondern sie lassen sich auch zur Behandlung psychischer Störungen einsetzen. DBS hat sich schon als hilfreich bei Parkinson erweisen, einer Krankheit, bei der bestimmte Hirnregionen überaktiv sind, was häufig zu unkontrollierbaren Schüttelbewegungen der Hände führt.
In jüngerer Zeit haben die Forscher mit diesen Elektroden ein neues Hirngebiet (namens Brodmann-Areal 25) ins Visier genommen, das bei depressiven Patienten, die nicht auf Psychotherapie oder Medikamente reagieren, oft überaktiv ist. Nach jahrzehntelangem Leiden bringt die DBS diesen Patienten manchmal fast wundersame Erleichterung.
Jedes Jahr finden sich neue Nutzungsmöglichkeiten für die Tiefe Hirnstimulation. Tatsächlich werden fast alle wichtigen Hirnstörungen im Lichte dieser und anderer neuer Techniken zur Abbildung des Gehirns erneut auf den Prüfstand gestellt. Diese Entwicklung verspricht aufregende neue Möglichkeiten zu eröffnen, was Diagnose und auch Therapie von Hirnstörungen angeht.
Das neueste und vielleicht aufregendste Instrument im Werkzeugkasten der Neurowissenschaften ist jedoch die Optogenetik, die einst als Science-Fiction betrachtet wurde. Wie mit einem Zauberstab erlaubt sie es, bestimmte Bahnen, die Verhalten kontrollieren, zu aktivieren, indem man einen Lichtstrahl ins Gehirn fallen lässt.
Es klingt fast unglaublich, aber ein lichtempfindliches Gen, das eine Nervenzelle zum Feuern anregt, lässt sich mit chirurgischer Präzision direkt in ein Neuron einpflanzen. Beleuchtet man das Neuron dann, wird es aktiviert. Auf diese Weise lassen sich ganze Schaltkreise erregen, sodass man bestimmtes Verhalten durch Umlegen eines Schalters an- und abstellen kann.
Obgleich diese Technologie erst ein Jahrzehnt alt ist, ist es schon gelungen, gewisse Verhaltensweisen bei Tieren optogenetisch zu kontrollieren. Durch Einschalten eines Lichtschalters ist es möglich, Taufliegen dazu zu bringen, plötzlich loszufliegen, Würmer, sich nicht ständig zu winden, und Mäuse zu veranlassen, wie verrückt im Kreis herumzulaufen. Zurzeit beginnen Versuche mit Tieraffen, und selbst Studien mit Menschen werden diskutiert. Die Hoffnung ist groß, dass sich diese Technik direkt zur Behandlung von Störungen wie Parkinson oder Depressionen einsetzen lässt.
Eine andere neue Entwicklung, nicht weniger spektakulär als die Optogenetik, macht das Gehirn völlig transparent, sodass selbst neuronale Bahnen tief im Inneren des Gehirns offen zutage liegen. 2013 gaben Wissenschaftler bekannt, es sei ihnen gelungen, das gesamte Gehirn einer Maus transparent zu machen, ebenso Teile des menschlichen Gehirns. Diese Bekanntgabe war so verblüffend, dass sie es auf die erste Seite der New York Times schaffte; die Schlagzeile lautete: «Wissenschaftler können nun Gehirn durchsichtig wie Wackelpudding erforschen»[8].
Auf der zellulären Ebene bedeutet dies, dass man individuelle Nervenzellen unterm Mikroskop in allen Einzelheiten studieren kann. Wenn Milliarden Zellen zusammenkommen, um ein Organ wie das Gehirn zu bilden, führt die Präsenz von Lipiden (Fetten, Ölen, Wachsen und anderen wasserunlöslichen Stoffen) normalerweise dazu, dass das Organ undurchsichtig ist. Der Schlüssel zur neuen Technik besteht darin, die Lipide zu entfernen, während die Neuronenbahnen intakt bleiben. Zu diesem Zweck legten die Stanforder Wissenschaftler das Gehirn in ein Hydrogel (eine gelartige Substanz, die vorwiegend aus Wasser besteht) ein, das an alle hirneigenen Moleküle mit Ausnahme von Lipiden bindet. Wenn man das Gehirn in eine seifige Lösung legt und anschließend ein elektrisches Feld anlegt, kann man die Lipide elektrophoretisch aus dem Gehirn spülen, sodass das Gehirn als durchsichtige Struktur zurückbleibt. Durch Zugabe von Färbemittel lassen sich dann die neuronalen Bahnen sichtbar machen.
Gewebe transparent zu machen, ist nicht neu, doch genau die richtigen Bedingungen herzustellen, um ein ganzes Gehirn durchsichtig zu machen, erfordert eine Menge Einfallsreichtum. «Ich habe mehr als 1000 Gehirne verbrannt und geschmolzen», gestand Professor Kwanghun Chung, einer der Leiter der Studie. Die neue Clarity genannte Technik lässt sich auch bei anderen Organen anwenden (und selbst bei Organen, die schon jahrelang in Formalin konserviert worden sind). Chung hat bereits durchsichtige Lebern, Lungen und Herzen hergestellt. Diese neue Technik bietet faszinierende Anwendungsmöglichkeiten in der gesamten Medizin.
Den Erfolg der ersten Generation von bildgebenden Geräten kann man mit Fug und Recht als spektakulär bezeichnen. Vor ihrer Entwicklung waren nur rund 30 Regionen im Gehirn mit einiger Sicherheit bekannt. Inzwischen lassen sich allein mit Hilfe der MRT 200 bis 300 Hirnregionen unterscheiden, was der Hirnforschung ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Da in den letzten 15 Jahren so viele neue, auf physikalischen Gesetzen basierende bildgebende Verfahren entwickelt worden sind, könnte man sich fragen: Gibt es noch mehr? Die Antwort lautet «ja», doch es wird sich um Varianten und Verbesserungen der bereits existierenden Verfahren handeln, nicht um völlig neue Technologien. Das ist so, weil es nur vier Grundkräfte gibt – Schwerkraft, elektromagnetische Kraft, starke Kraft und schwache Kraft –, die das Universum regieren. (Physiker haben versucht, Belege für eine fünfte Kraft zu finden, doch bisher sind alle derartigen Versuche gescheitert.)
Die elektromagnetische Kraft, die unsere Städte beleuchtet und die Energie von Elektrizität und Magnetismus repräsentiert, ist die Quelle fast aller neuen Scan-Verfahren (mit Ausnahme der PET, die auf der schwachen Kraft beruht). Da Physiker über 150 Jahre Erfahrung mit der Funktionsweise der elektromagnetischen Kraft haben, bergen elektrische und magnetische Felder für sie kaum noch Geheimnisse; daher wird jedes neue bildgebende Verfahren zur Darstellung des Gehirns höchstwahrscheinlich eine Modifikation existierender Technologien sein anstatt etwas völlig Neues. Wie bei den meisten Technologien werden Größe und Kosten der Geräte sinken, was den breiten Einsatz dieser raffinierten Instrumente fördern wird. Physiker führen bereits die nötigen Berechnungen für ein MRT-Gerät durch, das so klein ist, dass es in ein Mobiltelefon passt. Gleichzeitig ist die grundlegende Herausforderung bei Hirn-Scans die Auflösung, und zwar sowohl in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht. Die räumliche Auflösung von MRT-Scans wird steigen, wenn das Magnetfeld homogener und die Elektronik empfindlicher wird. Gegenwärtig können MRT-Scans nur Bereiche oder Voxel in der Größenordnung von Millimeterbruchteilen wiedergeben. Jedes Voxel kann jedoch viele hunderttausend Neurone enthalten. Neue Scan-Verfahren sollten diese Auflösungsgrenze weiter reduzieren. Der Heilige Gral dieses Ansatzes wäre es, ein MRT-artiges Gerät zu konstruieren, mit dessen Hilfe sich einzelne Neurone und ihre Verbindungen identifizieren lassen.
Die zeitliche Auflösung von MRT-Geräten ist auch deshalb begrenzt, weil sie den Fluss von oxygeniertem Blut im Gehirn analysieren. Das Gerät selbst verfügt über eine sehr gute zeitliche Auflösung, doch durch die Analyse des Blutflusses verschlechtert sie sich. In Zukunft könnten innovative MRT