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Der heißeste Kandidat auf der Suche nach der alles erklärenden «Weltformel» der Physik ist seit einigen Jahren die «M-Theorie», eine Weiterentwicklung der Stringtheorien. Sie beschreibt unser Universum als eine Blase, die in einem sich ausbreitenden elfdimensionalen Multiversum treibt. Was bedeutet das für unser Verständnis und unser Bild von der Welt? Michio Kaku, renommierter Quantenphysiker und Bestsellerautor («Im Hyperraum», «Die Physik des Unmöglichen»), nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise vom Urknall bis zum möglichen Ende der Welt. «Kaku versteht es meisterhaft, die Kompliziertheiten der theoretischen Physik in Alltagssprache zu übersetzen.» Deutschlandradio Kultur
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Seitenzahl: 670
Michio Kaku
Eine kosmologische Reise vom Big Bang in die 11. Dimension
Der heißeste Kandidat auf der Suche nach der alles erklärenden «Weltformel» der Physik ist seit einigen Jahren die «M-Theorie», eine Weiterentwicklung der Stringtheorien. Sie beschreibt unser Universum als eine Blase, die in einem sich ausbreitenden elfdimensionalen Multiversum treibt. Was bedeutet das für unser Verständnis und unser Bild von der Welt? Michio Kaku, renommierter Quantenphysiker und Bestsellerautor («Im Hyperraum», «Die Physik des Unmöglichen»), nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise vom Urknall bis zum möglichen Ende der Welt.
«Kaku versteht es meisterhaft, die Kompliziertheiten der theoretischen Physik in Alltagssprache zu übersetzen.» Deutschlandradio Kultur
Michio Kaku, geboren 1947, ist einer der Väter der Stringtheorie und zählt zu den berühmtesten Physikern der Welt. Er arbeitet und lehrt als Professor für theoretische Physik an der City University of New York. Wie Albert Einstein und Stephen Hawking ist er auf der Suche nach der einen Theorie von allem zur Erklärung der fundamentalen Kräfte der Natur.
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel «Parallel Worlds» bei Doubleday a division of Random House, Inc.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2023
Copyright © 2005 by Michio Kaku Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
Fachliche Beratung bei der deutschen Ausgabe Markus Pössel
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung FinePic, München
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01124-3
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Vorwort
Teil Eins Das Universum
Kapitel Eins Babyfotos vom Universum
Kapitel zwei Das paradoxe Universum
Kapitel drei Der Urknall
Kapitel vier Inflation und Paralleluniversen
Teil zwei Das Multiversum
Kapitel fünf Dimensionsportale und Zeitmaschinen
Kapitel sechs Parallele Quantenuniversen
Kapitel sieben M-Theorie: Die Mutter aller Strings
Kapitel acht Ein Designer-Universum?
Kapitel neun Die Suche nach Echos aus der elften Dimension
Teil drei Flucht in den Hyperraum
Kapitel zehn Das Ende von allem
Kapitel elf Flucht aus dem Universum
Kapitel zwölf Jenseits des Multiversums
Glossar
Literatur
Danksagung
Kosmologie ist die Lehre vom Universum als Ganzem, einschließlich seiner Geburt und seines endgültigen Schicksals. Kein Wunder, dass sie in ihrer langwierigen, schmerzlichen Entwicklung viele Veränderungen erfahren hat – eine Entwicklung, die häufig von religiösem Dogma und Aberglauben überschattet war.
Die erste kosmologische Revolution wurde durch die Erfindung des Teleskops im 17. Jahrhundert eingeleitet. Dank des Teleskops und der Vorarbeiten der großen Astronomen Nikolaus Kopernikus und Johannes Kepler war Galileo Galilei erstmals in der Lage, die Wunder des Himmels seriöser wissenschaftlicher Forschung zugänglich zu machen. Dieses erste kosmologische Entwicklungsstadium fand seinen Höhepunkt in dem Werk von Isaac Newton, denn er entdeckte die grundlegenden Gesetze, welche die Bewegung der Himmelskörper bestimmen. Nicht mehr Magie und Mystik machte man für die Bewegungen dieser Körper verantwortlich, sondern berechen- und messbare Kräfte.
Eine zweite kosmologische Revolution bewirkte die Einführung der großen Teleskope, etwa des 100-Inch-Spiegelteleskops auf dem Mount Wilson. In den 1920er Jahren brachte der Astronom Edwin Hubble mit diesem Riesenteleskop ein jahrhundertealtes Dogma zu Fall, welches besagte, das Universum sei unveränderlich und ewig. Hubble bewies, dass sich die Galaxien am Himmel mit ungeheuren Geschwindigkeiten von der Erde fortbewegen – mit anderen Worten: Das Universum expandiert. Das bestätigte die Ergebnisse von Einsteins Relativitätstheorie, nach der die Raumzeitarchitektur nicht flach und linear, sondern dynamisch und gekrümmt ist. Damit war zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, den Ursprung des Universums plausibel zu erklären. Fortan ging man davon aus, dass das Universum mit einer ungeheuren Explosion, dem so genannten «Urknall», begonnen habe, der Sterne und Galaxien weit ins All hinausgeschleudert habe. Durch die bahnbrechenden Arbeiten von George Gamow und seiner Mitarbeiter über die Urknalltheorie und von Fred Hoyle über den Ursprung der Elemente entstand ein Gerüst, das die Entwicklung des Universums in großen Umrissen sichtbar machte.
Gegenwärtig findet eine dritte Revolution statt, die erst fünf Jahre alt ist. Ausgelöst wurde sie durch eine Reihe neuer High-Tech-Instrumente – Satelliten, Laser, Gravitationswellendetektoren, Röntgenteleskope und Hochgeschwindigkeitscomputer. Heute verfügen wir über höchst zuverlässige Daten, die uns über die verschiedensten Aspekte des Universums informieren: sein Alter, seine Zusammensetzung und vielleicht sogar seinen künftigen Tod.
Inzwischen haben die Astronomen herausgefunden, dass das Universum mit wachsendem Tempo expandiert. Die Beschleunigung scheint grenzenlos und die Zukunft des Universums ein Erstarren in immer eisigerer Kälte zu sein. Wenn diese Entwicklung anhält, erwartet uns der «Big Freeze», der Große Kältetod. Dann wird das Universum in Dunkelheit und Kälte versinken, und alles intelligente Leben stirbt aus.
Das vorliegende Buch berichtet von dieser dritten großen Revolution. Es unterscheidet sich von meinen früheren Büchern physikalischen Inhalts, Jenseits von Einstein und Im Hyperraum, welche die breite Öffentlichkeit mit den Begriffen der höheren Dimensionen und der Superstringtheorie vertraut machen sollten. Im Paralleluniversum konzentriert sich nicht so sehr auf die Raumzeit als auf die umwälzenden kosmologischen Entwicklungen der letzten Jahre, die wir neuen Beobachtungen in den physikalischen Labors der Erde und in den äußersten Regionen des Weltalls sowie bahnbrechenden Erkenntnissen in der theoretischen Physik verdanken. Dabei verfolge ich die Absicht, auch für Leser verständlich zu sein, die keine Vorkenntnisse auf dem Gebiet der Physik oder Kosmologie besitzen.
In Teil eins fasse ich die Fortschritte zusammen, die in den frühen Stadien der Kosmologie gemacht wurden und die in der so genannten «Inflationstheorie» gipfelten – der bislang plausibelsten Formulierung der Urknalltheorie. In Teil zwei konzentriere ich mich vor allem auf die in Entstehung begriffene Theorie des Multiversums – einer Welt, die aus einer Fülle von Universen besteht, unter denen das unsere nur eines unter vielen ist – und erörtere die Möglichkeit von Wurmlöchern und Zeitreisen sowie die Rolle höherer Dimensionen. Die Superstringtheorie und die M-Theorie ermöglichen uns einen ersten größeren Schritt über Einsteins ursprüngliche Theorie hinaus. Und auch sie lassen darauf schließen, dass unser Universum nur eines unter vielen sein könnte. In Teil drei erörtere ich schließlich den Großen Kältetod und wie sich die Wissenschaft heute das Ende des Universums vorstellt. Ich setze mich ernsthaft, wenn auch spekulativ, mit der Frage auseinander, ob eine fortschrittliche Zivilisation in ferner Zukunft – in Jahrbillionen – mit Hilfe der physikalischen Gesetze in der Lage sein könnte, unser Universum zu verlassen und ein anderes, freundlicheres aufzusuchen, um ganz von vorne zu beginnen, oder ob sie es schaffen könnte, in der Zeit bis zu einem Punkt zurückzugehen, wo unser Universum erheblich wärmer war.
Mit der Flut neuer Daten, die wir heute erhalten, den neuen Instrumenten und Geräten – den Satelliten, mit denen wir den Himmel durchmustern können, den neuen Gravitationswellendetektoren und den Teilchenbeschleunigern, die, groß wie Städte, kurz vor ihrer Vollendung stehen –, wächst in den Physikern das Gefühl, dass möglicherweise das goldene Zeitalter der Kosmologie anbricht. Kurzum, es ist eine herrliche Zeit, um Physiker zu sein und an dieser Entdeckungsreise teilzunehmen, die zu den Ursprüngen und dem fernen Schicksal des Universums führt.
Dem Dichter geht es nur darum, mit dem Kopf in den Himmel zu gelangen. Es ist der Logiker, der versucht, den Himmel in seinen Kopf zu holen, und es ist sein Kopf, der platzt.
– G.K. Chesterton
Als Kind kam ich in Konflikt mit meinen Glaubensüberzeugungen. Meine Eltern waren in buddhistischer Tradition aufgewachsen, ich hingegen besuchte jede Woche die Sonntagsschule, wo ich hingerissen den biblischen Geschichten von Walen, Archen, Salzsäulen, Rippen und Äpfeln lauschte. Für mich waren diese Erzählungen aus dem Alten Testament das Schönste an der Sonntagsschule. Ich fand die Berichte von Sintfluten, brennenden Büschen und sich teilenden Wassern viel spannender als die buddhistischen Gesänge und Meditationen. Die alten Geschichten voller Heldentum und Tragik vermittelten tiefe moralische und ethische Einsichten, die mich mein ganzes Leben begleitet haben.
Eines Tages beschäftigten wir uns in der Sonntagsschule mit der Genesis. Von Gott zu lesen, der mit donnernder Stimme aus dem Himmel verkündete: «Es werde Licht!», war unendlich viel aufregender als die stille Meditation über das Nirwana. Voll naiver Neugier fragte ich meine Sonntagsschullehrerin: «Hatte Gott eine Mutter?» Gewöhnlich war sie schnell mit einer Antwort und einer moralischen Nutzanwendung zur Hand, doch dieses Mal war sie verunsichert. Nein, erwiderte sie zögernd, Gott habe wahrscheinlich keine Mutter gehabt. «Aber woher ist Gott dann gekommen?», fragte ich. Das müsse sie mit dem Pastor besprechen, murmelte sie.
Mir war nicht bewusst, dass ich über eine der großen theologischen Fragen gestolpert war. Ich war verwirrt, weil es im Buddhismus überhaupt keinen Gott gibt, nur ein zeitloses Universum ohne Anfang und Ende. Als ich mich später näher mit den großen Mythologien der Welt beschäftigte, erfuhr ich, dass es in der Religion zwei Arten von Kosmologien gibt: Kosmologien der ersten Art gründen sich auf einen einzigen Moment – den Augenblick, da Gott das Universum schuf –, die zweiten auf die Vorstellung, das Universum habe es schon immer gegeben und werde es immer geben.
Beide können sie nicht Recht haben, dachte ich.
Später stellte ich fest, dass sich diese zwei Grundthemen in vielen anderen Kulturen wieder finden. In der chinesischen Mythologie beispielsweise war am Anfang das kosmische Ei. Der göttliche Säugling Pan Gu wohnte fast eine Ewigkeit in dem Ei, das auf dem gestaltlosen Meer des Chaos schwamm. Als Pan Gu schließlich schlüpfte, wuchs er gewaltig, mehr als drei Meter pro Tag. So wurde die obere Hälfte der Eierschale der Himmel und die untere Hälfte die Erde. Nach 18000 Jahren starb er und gebar unsere Welt: Aus seinem Blut wurden die Flüsse, aus seinen Augen die Sonne und der Mond und aus seiner Stimme der Donner.
In mancherlei Hinsicht bringt der Mythos von Pan Gu ein Thema zum Ausdruck, das sich in vielen anderen Religionen und alten Mythologien wiederholt: das der Entstehung des Universums als creatio ex nihilo («Schöpfung aus dem Nichts»). Nach der griechischen Mythologie begann das Universum in einem Zustand des Chaos (tatsächlich leitet sich das Wort «Chaos» von dem griechischen Wort für «Kluft» her). Diese gestaltlose Leere wird häufig als Meer beschrieben, etwa in der babylonischen und der japanischen Mythologie. Das Thema begegnet uns auch in der altägyptischen Mythologie, wo der Sonnengott Ra aus einen schwimmenden Ei hervorging. In der polynesischen Mythologie wird das kosmische Ei durch eine Kokosnussschale ersetzt. Die Mayas glaubten an eine andere Spielart dieser Urgeschichte: Das Universum wird geboren, aber stirbt nach 5000 Jahren, wird wieder geboren, stirbt wieder … und so fort in einem endlosen Kreislauf von Geburt und Vernichtung.
Diese Mythen von der creatio ex nihilo stehen in deutlichem Gegensatz zu den Kosmologien des Buddhismus und einiger hinduistischer Lehren. Gemäß dieser Lehren ist das Universum zeitlos, ohne Anfang und ohne Ende. Es gibt zwar verschiedene Stufen des Daseins, doch die höchste ist das Nirwana, das ewig ist und durch die reinste Form der Meditation erreicht werden kann. Im hinduistischen Mahapurana steht geschrieben: «Wenn Gott die Welt erschaffen hat, wo war Er vor seiner Schöpfung? … Wisse, dass die Welt nicht geschaffen ist und wie die Zeit weder Anfang noch Ende kennt.»
Diese Mythologien stehen in einem krassem und scheinbar unversöhnlichem Gegensatz zueinander. Sie schließen einander aus: Entweder hatte das Universum einen Anfang oder nicht. Dazwischen gibt es offenbar nichts.
Heute scheint sich jedoch eine Lösung abzuzeichnen, und zwar in einem vollkommen unerwarteten Bereich – der Welt der Wissenschaft. Wir verdanken sie einer neuen Generation außerordentlich leistungsfähiger wissenschaftlicher Instrumente, die den Weltraum durchstreifen. Die alten Mythologien gewannen ihre Annahmen über den Ursprung unserer Welt aus der Weisheit der Geschichtenerzähler. Heute verfügen die Wissenschaftler über ein gewaltiges Instrumentarium von Satelliten, Lasern, Gravitationswellendetektoren, Interferometern, Hochgeschwindigkeitscomputern und Internetressourcen. So sind sie in der Lage, unsere Vorstellung vom Universum zu revolutionieren und uns die bislang schlüssigste Beschreibung des Schöpfungsprozesses zu liefern.
Was sich dabei aus den Daten herausschält, ist eine große Synthese der beiden scheinbar so unvereinbaren Mythologiemuster. Möglicherweise ereignet sich der Schöpfungsprozess, so die Spekulation der Naturwissenschaftler, im zeitlosen Meer des Nirwana. Nach diesem neuen Bild lässt sich unser Universum mit einer Blase vergleichen, die in einem viel größeren «Meer» treibt, in dem sich ständig neue Blasen bilden. Wie in kochendem Wasser entstehen fortwährend Blasen, die sich auf einem sehr viel größeren Schauplatz tummeln, dem Nirwana des elfdimensionalen Hyperraums. Eine wachsende Zahl von Physikern vertritt die Auffassung, dass unser Universum zwar aus einer feurigen Kataklysmus, dem Urknall, entsprungen sei, aber auch in einem ewigen Meer mit anderen Universen koexistiere. Falls diese Ansicht stimmt, finden solche Urknall-Ereignisse statt, während Sie diesen Satz lesen.
In aller Welt stellen heute Physiker und Astronomen Spekulationen darüber an, wie die Parallelwelten wohl aussehen, welchen Gesetzen sie gehorchen, wie sie entstehen und wie sie schließlich sterben werden. Vielleicht sind diese Welten öd und leer, bar aller Voraussetzungen für die Entstehung von Leben. Vielleicht sehen sie aber auch wie unser Universum aus, durch ein einziges Quantenereignis getrennt, welches dafür sorgte, dass sich diese Universen von dem unseren ablösten. Einige Physiker äußern sogar die Vermutung, dass wir eines Tages, wenn die Lebensbedingungen in unserem alternden und erkaltenden Universum unerträglich geworden sind, gezwungen sein könnten, es zu verlassen und in ein anderes Universum zu fliehen.
Der Motor, der alle diese neuen Theorien antreibt, ist die enorme Flut neuer Daten, welche die Forschungssatelliten liefern, während sie die Überreste der Schöpfung selbst fotografieren. Erstaunlicherweise bekommen die Wissenschaftler heute in den Blick, was bloße 380000 Jahre nach dem Urknall geschah, als sich das «Nachglühen» der Schöpfung gerade ins Universum ergoss. Das vielleicht schlüssigste Bild dieser vom Schöpfungsprozess emittierten Strahlung liefert ein neues Gerät, das WMAP heißt.
«Unglaublich!» – «Ein Meilenstein!» So oder ähnlich kommentierten im Februar 2003 die sonst eher zurückhaltenden Astrophysiker die spektakulären Daten ihres neuesten Satelliten. Die Weltraumsonde WMAP (Wilkinson Microwave Anisotropy Probe), nach dem bedeutenden Kosmologen David Wilkinson benannt und 2001 gestartet, hat den Wissenschaftlern ein Bild des frühen Universums von nie da gewesener Exaktheit und Detailgenauigkeit geliefert, wobei «früh» in diesem Fall ein Alter von 380000 Jahren meint. Die kolossale Restenergie des Urfeuerballs, der Sterne und Galaxien hervorbrachte, kreiste Jahrmilliarden durch unser Universum, bis er heute vom WMAP in allen Einzelheiten auf Fotos gebannt wurde. Das Ergebnis ist eine Himmelskarte, die mit atemberaubender Genauigkeit die Mikrowellen-Hintergrundstrahlung des Urknalls zeigt – das, was das Time Magazine das «Schöpfungsecho» nannte. Nie wieder werden die Astronomen den Himmel mit den gleichen Augen betrachten wie einst.
Die Daten des WMAP sind «für die Kosmologie der Übergangsritus von der Spekulation zur exakten Wissenschaft», erklärte John Bahcall vom Institute for Advanced Study in Princeton.[*] Die Sintflut von Daten aus dieser frühen Epoche in der Geschichte des Universums hat den Kosmologen erstmals ermöglicht, eine genaue Antwort auf die älteste aller Fragen zu geben, Fragen, welche die Menschheit beschäftigen, seit sie erstmals die Augen zur überwältigenden Pracht des Nachthimmels erhob. Wie alt ist das Universum? Woraus besteht es? Welches Schicksal erwartet es?
(1992 lieferte uns ein Vorläufer-Satellit, der COBE [Cosmic Background Explorer] die ersten verschwommenen Bilder dieser den Himmel füllenden Hintergrundstrahlung. Obwohl es sich um ein revolutionäres Ergebnis handelte, war es auch enttäuschend, weil es nur einen unscharfen Eindruck vom frühen Universum vermittelte. Was die Presse allerdings nicht daran hinderte, dieses Foto überschwänglich als «Angesicht Gottes» zu bezeichnen. Zutreffender wäre es allerdings, die verschwommenen Bilder von COBE «Babyfotos» des neugeborenen Universums zu nennen. Wäre das Universum ein heute 80-jähriger Mann, würden ihn die Bilder von COBE, und später von WMAP, an seinem ersten Lebenstag zeigen, noch keine 24 Stunden alt.)
WMAP kann uns diese noch nie da gewesenen Bilder vom neugeborenen Universum liefern, weil der Nachthimmel wie eine Zeitmaschine ist. Da das Licht sich mit endlicher Geschwindigkeit fortbewegt, sehen wir die Sterne bei Nacht so, wie sie einst waren, nicht, wie sie heute sind. Das Licht braucht etwas mehr als eine Sekunde, um vom Mond aus die Erde zu erreichen. Wenn wir also den Mond anblicken, sehen wir ihn, wie er eine Sekunde vorher war. In acht Minuten erreicht das Licht der Sonne die Erde. Viele der vertrauten Sterne, die wir am Himmel erblicken, sind uns so fern, dass ihr Licht zwischen 10 und 100 Jahre braucht, um unsere Augen zu erreichen. (Mit anderen Worten, ihr Abstand zur Erde beträgt 10 bis 100 Lichtjahre. Ein Lichtjahr entspricht rund 10 Billionen Kilometern, der Entfernung, die das Licht in einem Jahr zurücklegt.) Es können einige hundert Millionen oder sogar einige Milliarden Jahre vergehen, bevor uns das Licht ferner Galaxien erreicht. Infolgedessen handelt es sich hier um «fossiles» Licht, das unter Umständen noch vor der Entstehung der Dinosaurier ausgesandt wurde. Einige der fernsten Objekte, die wir in unseren Teleskopen wahrnehmen können, heißen Quasare, riesige galaktische Maschinen, die am Rande des sichtbaren Universums – manchmal 12 bis 13 Milliarden Lichtjahre von der Erde entfernt – unvorstellbare Energiemengen erzeugen. Und jetzt hat der Satellit WMAP Strahlung nachgewiesen, die noch vor dieser Zeit emittiert wurde, Strahlung des Urfeuerballs, der das Universum geschaffen hat.
Um das Universum zu beschreiben, bemühen die Kosmologen manchmal den Vergleich mit dem Blick von der Spitze des Empire State Building, die sich hundert Stockwerke über Manhattan erhebt. Wenn Sie hinabsehen, können Sie die Straßen kaum erkennen. Nehmen wir an, der Fuß des Empire State Building entspräche dem Urknall, dann lägen bei einem Blick von der Spitze die fernen Galaxien im neunten Stockwerk. Die fernsten Quasare, die noch mit irdischen Teleskopen zu erkennen sind, befänden sich im sechsten Stock. Die vom WMAP gemessene kosmische Hintergrundstrahlung würde nur einen guten Zentimeter über der Straße schweben. Damit hat der Satellit WMAPuns geholfen, das Alter des Universums mit der verblüffend geringen Fehlergrenze von einem Prozent zu ermitteln. Das Ergebnis: 13,7 Milliarden Jahre.
Die WMAP-Mission bildet den Höhepunkt eines Jahrzehnts harter astrophysikalischer Arbeit. Das Konzept des Satelliten wurde der NASA erstmals 1995 vorgeschlagen und zwei Jahre später gebilligt. Am 30. Juni 2001 schickte die NASA WMAP mit einer Delta-II-Rakete in eine zwischen Erde und Sonne gelegene Umlaufbahn um die Sonne. Als Standort hatte man den Langrange-Punkt 2 ausgewählt (kurz: L2, ein Punkt relativer Stabilität nahe der Erde). Dort zeigt der Satellit stets fort von Sonne, Erde und Mond und hat daher einen vollkommen ungehinderten Blick auf das Universum. Alle sechs Monate mustert er den gesamten Himmel durch.
Seine Instrumente repräsentieren den neuesten Stand der Technik. Mit den leistungsfähigen Sensoren kann er die schwache Mikrowellen-Hintergrundstrahlung nachweisen, die der Urknall zurückgelassen hat und die heute das gesamte Universum erfüllt. Allerdings wird sie von unserer Atmosphäre weitgehend absorbiert. Der Satellit aus Aluminiumverbund misst 3,8 mal 5 Meter und wiegt 840 Kilogramm. Er besitzt zwei Rücken an Rücken montierte Teleskope, welche die Mikrowellenstrahlung der umgebenden Himmelsregionen registrieren, und funkt die Messergebnisse an die Erde zurück. Es wird mit 419 Watt gespeist (der elektrischen Leistung von fünf durchschnittlichen Glühlampen). Anderthalb Millionen Kilometer über der Erde schwebt der Satellit WMAP weit über allen atmosphärischen Störungen unseres Planeten, welche die schwache Mikrowellen-Hintergrundstrahlung überlagern könnten, und er ist in der Lage, kontinuierliche Messungen am gesamten Himmel vorzunehmen.
Seine erste Beobachtung des gesamten Himmels schloss der Satellit im April 2002 ab. Sechs Monate später nahm er die zweite vollständige Himmelsbeobachtung vor. Heute verdanken wir dem WMAP die umfassendste und detaillierteste jemals erstellte Karte dieser Strahlung. Die kosmische Hintergrundstrahlung, welche die Raumsonde WMAPmit solcher Genauigkeit nachgewiesen hat, wurde erstmals 1948 von George Gamow und seinem Team vorhergesagt, die errechneten, dass diese Strahlung eine bestimmte Temperatur aufweisen müsse. Nach der WMAP-Messung liegt diese Temperatur knapp über dem absoluten Nullpunkt: zwischen 2,7249 und 2,7251 Kelvin.
Für das bloße Auge sieht die WMAP-Karte des Himmels ziemlich uninteressant aus. Sie wirkt wie eine Zufallshäufung von Punkten. Doch diese Punktehaufen treiben einigen Astronomen fast Tränen in die Augen, denn sie stellen Fluktuationen oder Unregelmäßigkeiten im ursprünglichen feurigen Kataklysmus des Urknalls kurz nach der Schöpfung des Universums dar. Diese winzigen Fluktuationen sind wie «Keime», die seither enorm angewachsen sind, während das Universum seinerseits expandierte. Heute haben sich diese winzige Keime zu den Galaxienhaufen und Galaxien entfaltet, die wir am Nachthimmel leuchten sehen. Mit anderen Worten, die Milchstraße, unsere Galaxis, und all die Galaxienhaufen, die wir um uns her erblicken, waren einmal solche winzigen Fluktuationen. Wenn wir die Verteilung dieser Fluktuationen messen, haben wir den Ursprung der Galaxienhaufen vor Augen, wie gemalte Punkte auf der Tapisserie, die über dem Nachthimmel gebreitet ist.
Heute können die wissenschaftlichen Theorien nicht mehr Schritt halten mit den astronomischen Daten. Daher meine Überzeugung, dass wir in das goldene Zeitalter der Kosmologie eintreten. (So eindrucksvoll der WMAP auch ist, vom Planck-Satelliten, den die Europäer 2007 ins All schicken wollen, wird er wahrscheinlich noch in den Schatten gestellt werden. Diese Raumsonde wird den Astronomen noch detailliertere Bilder von der kosmischen Mikrowellen-Hintergrundstrahlung liefern.) Heute wird die Kosmologie endlich erwachsen und mündig und tritt aus dem Schatten anderer wissenschaftlicher Disziplinen heraus, nachdem sie jahrelang durch den Morast von Spekulationen und wilden Mutmaßungen watete. Lange Zeit galten Kosmologen als etwas anrüchig. Der Brustton der Überzeugung, mit dem sie ihre großartigen Theorien verkündeten, wurde nur noch von der Spärlichkeit ihrer Daten übertroffen. So spottete der Nobelpreisträger Lev Landau einmal: «Kosmologen sind häufig im Irrtum, aber nie im Zweifel.» Eine alte Redensart in den Naturwissenschaften lautet: «Es gibt Spekulationen, es gibt noch heftigere Spekulationen und es gibt die Kosmologie.»
Ende der 1960er Jahre spielte ich als Physikstudent an der Harvard University eine Zeit lang mit dem Gedanken, Kosmologie zu studieren. Seit meiner Kindheit faszinierte mich die Frage nach dem Ursprung des Universums. Doch ein rascher Blick auf die Disziplin zeigte, dass sie erschreckend primitiv war. Sie war überhaupt keine Experimentalwissenschaft, in der sich mit exakten Instrumenten Hypothesen überprüfen ließen, sondern bestand lediglich aus einem Sammelsurium vager, höchst spekulativer Theorien. Die Kosmologen führten hitzige Debatten über die Frage, ob das Universum in einer kosmischen Explosion entstanden sei oder ob es sich seit aller Ewigkeit in einem Steady State, einem statischen Zustand, befinde. Doch angesichts des Mangels an empirischen Befunden ließen die Theorien die wenigen Daten bald hinter sich. Tatsächlich wurden die Debatten umso grimmiger, je weniger Daten zur Verfügung standen.
Das ist ein vom Satellit WMAP aufgenommenes «Babyfoto», welches das Universum zeigt, wie es im zarten Alter von 380000 Jahren aussah. Höchstwahrscheinlich stellt jeder Punkt eine jener winzigen Quantenfluktuationen im Nachglühen der Schöpfung dar, die durch Expansion zu den heutigen Galaxien und Galaxienhaufen geworden sind.
Während der gesamten Geschichte der Kosmologie führte dieser Mangel an verlässlichen Daten auch zwischen Astronomen zu erbitterten, langwierigen Fehden, die oft jahrzehntelang wüteten. (Um nur ein Beispiel zu nennen: Kurz bevor der Astronom Allan Sandage vom Mount Wilson Observatory einen Vortrag über das Alter des Universums halten sollte, erklärte sein Vorredner sarkastisch: «Was Sie gleich hören werden, ist völlig falsch.»[*] Als Sandage hörte, eine rivalisierende Gruppe habe sich erhebliche Beachtung verschafft, brüllte er seinerseits: «Alles Quatsch, Blödsinn! Wir haben Krieg – wir haben Krieg!»[*])
Seit jeher sind die Astronomen besonders versessen darauf, das Alter des Universums in Erfahrung zu bringen. Jahrhundertelang haben Gelehrte, Priester und Theologen das Alter des Universums geschätzt, indem sie sich an die einzige Methode hielten, die ihnen zur Verfügung stand: den Stammbaum der Menschheit seit Adam und Eva. Während der letzten hundert Jahre bestimmten die Geologen das Alter der Erde ungefähr mit Hilfe der in Gesteinen gespeicherten Reststrahlung. Dagegen hat der WMAP heute das Echo des Urknalls selbst gemessen und liefert die zuverlässigste Altersbestimmung des Universums. Die WMAP-Daten offenbaren, dass das Universum in einer feurigen Explosion geboren wurde, die vor 13,7 Milliarden Jahren stattgefunden hat.
(Im Laufe der Jahre erwies es sich als sehr misslich für die Kosmologie, dass sich infolge fehlerhafter Daten für das Universum ein jüngeres Alter ergab als für die Planeten und Sterne. Einige vorangehende Schätzungen für das Alter des Universums lagen bei lediglich ein bis zwei Milliarden Jahren, was im Widerspruch zum Alter der Erde und der ältesten Sterne stand. Diese Widersprüche sind jetzt ausgeräumt.)
Der Diskussion über die Frage, woraus das Universum besteht, eine Frage, welche die Griechen schon vor mehr als 2000 Jahren gestellt haben, hat der Satellit WMAP eine neue, höchst merkwürdige Wendung verliehen. Das ganze letzte Jahrhundert hindurch glaubten die Wissenschaftler, sie wüssten die Antwort auf diese Frage. Nach Tausenden von mühseligen Experimenten war man zu dem Schluss gelangt, das Universum bestehe im Prinzip aus rund hundert verschiedenen Arten von Atomen, säuberlich angeordnet in einem Periodensystem, das mit dem Element Wasserstoff beginnt. Dieses System ist die Grundlage der modernen Chemie und bildet den Gegenstand des naturwissenschaftlichen Schulunterrichts. Diese Überzeugung hat der WMAP jetzt aus den Angeln gehoben.
In Bestätigung früherer Experimente hat die Raumsonde gezeigt, dass die sichtbare Materie, die wir um uns her erblicken (einschließlich der Berge, Planeten, Sterne und Galaxien), nur klägliche 4 Prozent des gesamten Materie- und Energieinhalts des Universums ausmacht. (Diese 4 Prozent liegen überwiegend in Form von Wasserstoff und Helium vor; nur 0,03 Prozent nehmen die Form der schweren Elemente an.) Damit besteht der größte Teil des Universums aus einer geheimnisvollen, unsichtbaren Materie vollkommen unbekannten Ursprungs. Die vertrauten Elemente, aus denen unsere Welt gemacht ist, konstituieren nur 0,03 Prozent des Universums. In gewissem Sinne wird die Physik damit um Jahrhunderte in die Vergangenheit zurückgeworfen, in eine Zeit, als es noch keine Atomhypothese gab, denn nun müssen sich die Wissenschaftler mit der Tatsache auseinander setzen, dass das Universum von vollkommen neuen und unbekannten Formen der Materie und Energie beherrscht wird.
Laut WMAP-Daten bestehen 23 Prozent des Universums aus einem seltsamen, nicht bestimmten Stoff, der so genannten dunklen Materie, die Gewicht hat, die Galaxien mit einem riesigen Halo umgibt, aber vollkommen unsichtbar ist. In der Milchstraße ist die dunkle Materie so allgegenwärtig und reichlich vorhanden, dass sie die Masse der Sterne um einen Faktor 10 übertrifft. Obwohl unsichtbar, kann man diese seltsame dunkle Materie indirekt beobachten, denn sie lenkt das Licht ab wie Glas und lässt sich daher durch die von ihr bewirkte optische Verzerrung lokalisieren.
Zu den seltsamen Ergebnissen, die der Satellit WMAP erzielt hat, meinte der Astronom John Bahcall von der Princeton University: «Wir leben in einem widersinnigen, verrückten Universum, kennen aber seine entscheidenden Merkmale.»[*]
Vielleicht liegt aber die größte Überraschung der WMAP-Daten – Daten, welche die wissenschaftliche Gemeinschaft völlig aus der Fassung brachten – darin, dass 73 Prozent des Universums, bei weitem der größte Teil, aus einer vollkommen unbekannten Energieform besteht, der so genannten dunklen Energie, die sich unsichtbar im Vakuum des Weltraums verbirgt. Diese dunkle Energie – die Energie des Nichts oder des leeren Raums – wurde von Einstein selbst 1917 eingeführt und später verworfen (er nannte sie seine «größte Eselei»). Heute kehrt sie als treibende Kraft des gesamten Universums auf die kosmologische Bühne zurück. Diese dunkle Energie, so die heutige Auffassung, erzeugt eine Art neues Antigravitationsfeld, das die Galaxien auseinander treibt. Letztlich wird die dunkle Energie über das Schicksal des Universums entscheiden.
Bislang hat noch niemand die geringste Ahnung, woher diese «Energie des Nichts» kommen könnte. «Ehrlich gestanden, wir verstehen sie nicht. Wir wissen, wie sie wirkt, [aber] wir haben überhaupt keine Idee … niemand hat eine Idee», gesteht Craig Hogan, Astronom an der University of Washington in Seattle.[*]
Wenn wir uns an die derzeit gültige Theorie der Elementarteilchen halten und versuchen, damit den Wert dieser dunklen Energie zu errechnen, kommen wir auf eine Zahl, die um einen Faktor 10120 (eine 1 mit 120 Nullen) hinter den Beobachtungen zurückbleibt. Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Experiment ist bei weitem die größte Kluft, die in der Geschichte der Naturwissenschaften je gefunden wurde. Sie ist eines unserer größten Ärgernisse – mit unserer besten Theorie können wir nicht den Wert der größten Energiequelle im Universum berechnen. Mit Sicherheit wartet ein ganzes Regal voller Nobelpreise auf die unternehmungslustigen Forscher, welche die Rätsel von dunkler Materie und dunkler Energie lösen können.
Noch immer sind die Astronomen bemüht, sich einen Weg durch die Datenlawine des Satelliten WMAP zu bahnen. In dem Maße, wie diese ältere Vorstellungen vom Universum umstürzt, kristallisiert sich ein neues kosmologisches Bild heraus. «Wir haben den Grundstein zu einer vereinheitlichten, kohärenten Theorie des Kosmos gelegt», erklärt Charles L. Bennett[*], der Leiter eines internationalen Teams, das am Bau des WMAP und an der Analyse seiner Daten mitgewirkt hat. Bislang ist die führende Theorie die «Inflationstheorie», jene Weiterentwicklung der Urknalltheorie, die der Physiker Alan Guth vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) zum ersten Mal vorgeschlagen hat. Nach dem Inflationsszenario veranlasste in dem ersten Billionstel einer billionstel Sekunde eine rätselhafte Antigravitationskraft das Universum, sehr viel rascher zu expandieren, als ursprünglich angenommen. Die inflationäre Epoche entwickelte eine unvorstellbare Explosionsenergie, unter deren Einfluss das Universum sehr viel schneller als mit Lichtgeschwindigkeit expandierte. (Das ist kein Verstoß gegen Einsteins Relativitätstheorie, nach der nichts schneller als das Licht sein kann, denn hier expandiert der leere Raum. Materielle Objekte können die Schranke der Lichtgeschwindigkeit nicht überwinden.) In einem Sekundenbruchteil expandierte das Universum um den unvorstellbaren Faktor 1050.
Wenn Sie einen Eindruck von der Energie dieser inflationären Periode gewinnen wollen, stellen Sie sich vor, dass ein Ballon, auf dessen Oberfläche man Galaxien gemalt hat, einer raschen Expansion unterworfen ist. Die Sterne und Galaxien, welche das Universum bevölkern, liegen alle auf der Oberfläche dieses Ballons, nicht in seinem Inneren. Zeichnen Sie nun einen mikroskopisch kleinen Kreis auf den Ballon. Der winzige Kreis stellt das sichtbare Universum dar: alles, was wir mit unseren Teleskopen sehen können. (Wäre beispielsweise das gesamte sichtbare Universum so klein wie ein Elementarteilchen, wäre das tatsächliche Universum sehr viel größer als dasjenige, das wir um uns her erblicken.) Mit anderen Worten, die inflationäre Expansion war so gewaltig, dass ganze Regionen des Universums jenseits des uns sichtbaren Bereichs auf ewig unserem Zugriff entzogen bleiben werden.
Tatsächlich war die Inflation so enorm, dass der Ballon in unserer Nachbarschaft flach erscheint, ein Umstand, den der Satellit WMAP experimentell bestätigt hat. Wie die Erde uns flach erscheint, weil wir im Vergleich zum Erdradius sehr klein sind, erscheint uns das Universum flach, weil es in viel größerem Maßstab gekrümmt ist.
Durch die Annahme, das frühe Universum habe diesen Inflationsprozess durchlaufen, lassen sich fast mühelos viele Rätsel des Universums erklären – auch das, warum es flach und gleichförmig erscheint. Zur Inflationstheorie meinte der Physiker Joel Primack: «Noch nie hat sich eine so schöne Theorie als falsch erwiesen.»[*]
Das inflationäre Universum ist zwar mit den Daten des Satelliten WMAP vereinbar, aber das gibt noch keine Antwort auf die Frage: Was hat die Inflation verursacht? Wie kam die Antigravitationskraft zustande, die zur Aufblähung (das ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes «Inflation») des Universums führte? Es gibt mehr als fünfzig Vorschläge, die erklären, was die Inflation in Gang setzte, was sie beendete und wie auf diese Weise schließlich das Universum entstand, das wir um uns her erblicken. Doch es ist kein übergreifender Konsens in Sicht. Die meisten physikalischen Erklärungsversuche kreisen zwar um die Kernidee einer raschen Inflationsepoche, doch noch gibt es keine überzeugende Hypothese zur Klärung der Frage, welcher Motor die Inflation antreibt.
Da niemand genau weiß, wie die Inflation begann, besteht natürlich die Möglichkeit, dass der gleiche Mechanismus noch einmal Anwendung findet – dass sich solche inflationären Explosionen wiederholen. Das ist die These, die der russische Physiker Andrei Linde von der Stanford University vertritt: dass nämlich der unbekannte Mechanismus, der einen Teil des Universums so plötzlich zur Inflation trieb, noch immer wirksam ist und möglicherweise andere, ferne Regionen des Universums ähnlichen Inflationsprozessen unterwirft.
Nach dieser Theorie kann sich ein winziger Fleck des Universums plötzlich aufblähen und «sprossen», das heißt, ein «Tochteruniversum» oder «Babyuniversum» austreiben, das dann wiederum ein anderes Babyuniversum hervorbringt, und so fort in endloser Wiederholung. Stellen Sie sich vor, wir blasen Seifenblasen in die Luft. Wenn wir stark genug blasen, beobachten wir, dass sich einige der Seifenblasen in Hälften aufteilen und neue Seifenblasen hervorbringen. Ebenso können Universen ständig neue Universen erzeugen. Dann leben wir möglicherweise in einem Meer derartiger Universen, wie eine Blase, die in einer See von anderen Blasen treibt. Treffender als das Wort «Universum» wäre daher «Multiversum» oder «Megaversum».
Linde nennt diese Theorie einer ewigen, sich selbst reproduzierenden Inflation die «chaotische Inflation», weil er einen endlosen Prozess kontinuierlicher Inflation von Paralleluniversen vor Augen hat. «Die Inflation zwingt uns entschieden die Idee einer Vielzahl von Universen auf», erklärt Alan Guth[*], der die Inflationstheorie als Erster vorgeschlagen hat.
Aus dieser Theorie folgt auch, dass unserem Universum irgendwann auch ein eigenes Babyuniversum entsprießen könnte. Vielleicht hat ja unser eigenes Universum begonnen, indem es einem älteren, früheren Universum entsprossen ist.
Dazu meinte Sir Martin Rees, der Königliche Hofastronom von Großbritannien: «Was üblicherweise ‹das Universum› heißt, könnte einfach ein Element einer Gesamtheit sein. Es könnte zahllose Spielarten geben, in denen die Naturgesetze anders aussehen. Das Universum, in dem wir entstanden sind, gehört dann zu der ungewöhnlichen Teilmenge derjenigen Universen, in denen die Entwicklung von Komplexität und Bewusstsein möglich ist.»[*]
Eine wachsende Zahl von theoretischen Ergebnissen lässt auf die Existenz des Multiversums schließen, in der ganze Universen ständig andere Universen hervorbringen oder «austreiben». In diesem Falle würden zwei der großen religiösen Mythologien vereinigt, Genesis und Nirwana. Die Genesis würde ständig im Gefüge des zeitlosen Nirwana stattfinden.
Alle diese Forschungsarbeiten zum Problem des Multiversums lösten Spekulationen über die Frage aus, wie diese anderen Universen aussehen könnten, ob sie Leben beherbergen, sogar, ob die Möglichkeit besteht, Kontakt mit diesen Lebewesen herzustellen. Am Caltech, MIT, der Princeton University und anderen ehrwürdigen Forschungsstätten hat man in vollem Ernst Berechnungen angestellt, die Klarheit schaffen sollten, ob sich der Eintritt in eine Parallelwelt mit den physikalischen Gesetzen verträgt.
Anfangs wurde das Konzept der Paralleluniversen mit Argwohn aufgenommen und galt bei Physikern als Tummelplatz für Mystiker, Scharlatane und Spinner. Jeder Forscher, der es wagte, über Paralleluniversen zu arbeiten, war dem Spott der anderen preisgegeben und setzte seine Karriere aufs Spiel, denn selbst heute gibt es noch keine experimentellen Belege für ihre Existenz.
Doch in jüngster Zeit hat sich das Blatt entschieden gewendet, beschäftigen sich doch die klügsten Köpfe unseres Planeten mit der Frage. Der Grund für diesen plötzlichen Sinneswandel ist die Entwicklung einer neuen Theorie – der Stringtheorie und ihrer neuesten Version, der M-Theorie –, die nicht nur verspricht, die Beschaffenheit des Multiversums zu enträtseln, sondern uns auch befähigen will, «Gottes Gedanken zu lesen», wie Einstein einmal griffig formulierte. Sollte sich dieses Versprechen bewahrheiten, wäre das die krönende Vollendung von 2000 Jahren physikalischer Forschung, die begann, als die Griechen sich auf die Suche nach einer einheitlichen und umfassenden Theorie des Universums machten.
Die Zahl der zur Stringtheorie und M-Theorie veröffentlichen Arbeiten ist verblüffend und beläuft sich auf Zehntausende. Hunderte von internationalen Konferenzen sind zu dem Gegenstand abgehalten worden. Jede größere Universität in der Welt hat entweder eine Arbeitsgruppe, die über die Stringtheorie arbeitet oder sich schnellstens mit dem Gebiet vertraut macht. Obwohl unsere gegenwärtigen Geräte zu schwach sind, um die Theorie zu überprüfen, hat sie unter Physikern und Mathematikern außerordentliches Interesse hervorgerufen, ja sogar unter Experimentalphysikern, die hoffen, in Zukunft mit leistungsfähigen Gravitationswellendetektoren im All und mit riesigen Teilchenbeschleunigern an der Peripherie der Theorie solche Tests vornehmen zu können.
Im Endeffekt wird diese Theorie vielleicht die Frage beantworten können, welche die Kosmologen beschäftigt, seit die Urknalltheorie zum ersten Mal vorgeschlagen wurde: Was geschah vor dem Urknall?
Dazu müssen wir unser gesamtes physikalisches Wissen nutzen, jede physikalische Entdeckung, die im Laufe der Jahrhunderte gemacht wurde. Mit anderen Worten, wir brauchen eine «Theorie von allem», eine Theorie von allen physikalischen Kräften, die im Universum wirken. Einstein hat die letzten 30 Jahre seines Lebens damit verbracht, nach dieser Theorie zu suchen, ist aber letztlich gescheitert.
Gegenwärtig ist die beste (und einzige) Theorie, welche die Vielfalt der im Universum beobachtbaren und wirkenden Kräfte erklären kann, die Stringtheorie oder – in ihrer neuesten Fassung – die M-Theorie. (M steht für «Membran», kann aber auch «Mysterium», «Magie» und sogar «Mutter» bedeuten. Zwar sind die String- und die M-Theorie im Prinzip das Gleiche, doch liefert die M-Theorie einen rätselhafteren und komplexeren Rahmen, der verschiedene Stringtheorien vereinigt.)
Seit den Griechen haben die Philosophen darüber spekuliert, dass die kleinsten Bausteine der Materie winzige Teilchen sein könnten, und sie nannten diese Teilchen Atome. Heute können wir mit unseren leistungsfähigen Atomzertrümmerern und Teilchenbeschleunigern die Atome selbst in Elektronen und Kerne zerlegen, die sich wiederum in noch kleinere subatomare Teilchen zerlegen lassen. Doch anstelle eines eleganten und einfachen theoretischen Gerüstes wartete auf die Physiker die entmutigende Erkenntnis, dass unsere Beschleuniger Hunderte von subatomaren Teilchen produzierten, die exotische Namen bekamen, wie Neutrinos, Quarks, Mesonen, Leptonen, Hadronen, Gluonen, W-Bosonen und so fort. Es ist schwer vorstellbar, dass die Natur auf ihrer fundamentalsten Ebene ein solch verwirrendes Durcheinander von bizarren subatomaren Teilchen präsentiert.
String- und M-Theorie beruhen auf der einfachen und eleganten Idee, dass die verwirrende Vielfalt von subatomaren Teilchen, aus denen das Universum besteht, den Tönen gleichen, die man auf einer Violinsaite erzeugen kann oder auf einer Membran, etwa dem Fell einer Trommel. (Das sind keine gewöhnlichen Saiten und Membranen, sondern Objekte, die im zehn- und elfdimensionalen Hyperraum existieren.)
Herkömmlicherweise verstanden Physiker Elektronen als infinitesimal kleine Punktteilchen. Folglich mussten sie ein je anderes Punktteilchen für jedes der vielen hundert subatomaren Teilchen einführen, die sie fanden, was nicht eben zu größerer Klarheit beitrug. Anders die Stringtheorie: Hätten wir ein Supermikroskop, das in das Herz eines Elektrons hineinblicken könnte, würden wir sehen, dass es kein Punktteilchen ist, sondern ein winziger schwingender String. Als Punktteilchen erschien es uns nur, weil unsere Instrumente zu grob waren.
Dieser winzige String schwingt nun mit verschiedenen Frequenzen und Resonanzen. Wenn wir ihn anzupfen, ändert er seinen Schwingungszustand und wird zu einem anderen Elementarteilchen, etwa einem Quark. Wir zupfen ihn noch einmal, und er verwandelt sich in ein Neutrino. Auf diese Weise können wir das Überangebot an subatomaren Teilchen einfach als verschiedene Töne des Strings erklären. Damit ersetzen wir die vielen hundert subatomaren Teilchen, die wir im Labor beobachten, durch ein einziges Objekt, den String.
Wenn wir dieses neue Vokabular anwenden, entpuppen sich die physikalischen Gesetze, die in Jahrtausenden mit Hilfe sorgfältiger Experimente aufgestellt wurden, als simple Harmoniegesetze, die wir für Strings und Membranen notieren können. Die Gesetze der Chemie sind die Melodien, die sich auf diesen Strings spielen lassen. Das Universum ist eine String-Symphonie, eine «Streichersymphonie». Und die «Gedanken Gottes», von denen Einstein schrieb, sind die kosmische Musik, die im Hyperraum erklingt. (Was eine andere Frage aufwirft: Wenn das Universum eine String-Symphonie ist, gibt es dann auch einen Komponisten? Mit dieser Frage befasse ich mich in Kapitel zwölf.)
Musikalische Analogie
String-Entsprechung
musikalische Notation
Mathematik
Violinsaiten
Superstrings
Töne
Elementarteilchen
Harmoniegesetze
Physik
Melodien
Chemie
Universum
String-Symphonie
«Gedanken Gottes»
Musik im Hyperraum
Komponist
?
Der Satellit WMAP bietet nicht nur den genauesten Blick auf das frühe Universum, er liefert auch das detaillierteste Bild des Zustandes, in dem unser Universum sterben wird. Wie die rätselhafte Antigravitationskraft die Galaxien am Anfang der Zeit auseinander drängte, treibt diese selbe Kraft nun das Universum seinem unausweichlichen Ende entgegen. Früher glaubten die Astronomen, die Expansion des Universums ebbe langsam ab. Heute ist uns klar, dass das Universum sogar beschleunigt, das heißt, die Galaxien entfernen sich mit wachsender Geschwindigkeit von uns. Die gleiche dunkle Energie, die 73 Prozent der gesamten Materie und Energie im Universum stellt, beschleunigt die Expansion des Universums und treibt die Galaxien mit ständig wachsender Geschwindigkeit auseinander. «Das Universum verhält sich wie ein Autofahrer, der bei Annäherung an eine rote Ampel abbremst und aufs Gaspedal tritt, sobald sie grün wird», meint Adam Riess vom Space Telescope Institute.[*]
Wenn nicht irgendein Ereignis eintritt, das diese Expansion umkehrt, wird unsere Milchstraße in 150 Milliarden Jahren eine sehr einsame Galaxie sein, denn dann werden 99,999 Prozent aller heute benachbarten Galaxien jenseits der Grenze des sichtbaren Universums dahinrasen. Die vertrauten Galaxien am Nachthimmel werden sich so rasch entfernen, dass ihr Licht uns nie erreicht. Zwar werden die Galaxien selbst nicht verschwinden, aber sie werden so weit entfernt sein, dass unsere Teleskope sie nicht mehr erfassen können. Obwohl das sichtbare Universum rund 100 Milliarden Galaxien enthält, werden in 150 Milliarden Jahren nur noch einige tausend Galaxien des lokalen Galaxiensuperhaufens sichtbar sein. Noch weiter in der Zukunft wird nur noch unser lokale Gruppe, die aus etwa 36 Galaxien besteht, das gesamte sichtbare Universum ausmachen, während Milliarden von Galaxien jenseits des Horizontes dahintreiben. (Das liegt daran, dass die Gravitation innerhalb der lokalen Gruppe ausreicht, diese Expansion zu überwinden. Sobald die fernen Galaxien außer Sicht geraten sind, wird es den Astronomen, die in diesem dunklen Zeitalter leben, ironischerweise nicht mehr gelingen, überhaupt eine Expansionsbewegung im Universum zu entdecken, da die lokale Galaxiengruppe in ihrem Inneren nicht expandiert. In ferner Zukunft werden Astronomen, die den Nachthimmel zum ersten Mal untersuchen, möglicherweise nicht bemerken, dass irgendeine Expansion stattfindet, und zu dem Schluss gelangen, das Universum sei statisch und bestehe nur aus 36 Galaxien.)
Falls diese Antigravitationskraft immer weiter wirkt, wird das Universum letztlich im Großen Kältetod erstarren. Alles intelligente Leben im Universum wird langsam an der Kälte zugrunde gehen, da die Temperatur im All auf den absoluten Nullpunkt fällt – ein Zustand, bei dem sich selbst die Moleküle kaum noch bewegen. Irgendwann in Billionen und Aberbillionen Jahren werden die Sterne nicht mehr leuchten, weil ihre nuklearen Feuer infolge Brennstoffmangels erloschen sind, sodass der Nachthimmel auf ewig verdunkelt ist. Die kosmische Expansion wird ein kaltes, totes Universum aus schwarzen Zwergsternen, Neutronensternen und Schwarzen Löchern zurücklassen. Und in noch fernerer Zukunft werden sogar die Schwarzen Löcher selbst ihre Energie verdunsten, mit dem Erfolg, dass lediglich ein lebloser, kalter Nebel aus umhertreibenden Elementarteilchen übrig bleibt. In einem solch trostlosen, kalten Universum ist intelligentes Leben jeder denkbaren Definition physikalisch unmöglich. Die unerbittlichen Gesetze der Thermodynamik schließen in einem derart erstarrenden Universum jedwede Informationsübertragung aus. Damit muss alles Leben zwangsläufig aussterben.
Die Idee, das Universum könnte eines Tages in Eis und Kälte sterben, wurde erstmals im 17. Jahrhundert entwickelt. Zu der deprimierenden Vorstellung, dass die Gesetze der Physik anscheinend alles intelligente Leben zum Untergang verurteilen, schrieb Charles Darwin: «Glaubt man, wie ich es tue, dass der Mensch in ferner Zukunft ein weit vollkommeneres Geschöpf als heute sein wird, so ist es ein unerträglicher Gedanke, dass er und alle anderen empfindenden Wesen nach einem so lange fortdauernden langsamen Fortschritt zu vollständiger Vernichtung verurteilt sein sollten.»[*] Leider scheinen die neuesten Daten des Satelliten WMAP Darwins schlimmste Befürchtungen zu bestätigen.
Das physikalische Gesetz besagt, dass alles intelligente Leben im Universum am Ende zwangsläufig diesem Tod verfällt. Andererseits besagt ein Evolutionsgesetz, dass bei Umweltveränderungen das Leben entweder weichen, sich anpassen oder untergehen muss. Da es unmöglich ist, sich an ein Universum anzupassen, das den Kältetod erleidet, besteht die einzige Möglichkeit darin zu sterben – oder das Universum zu verlassen. Könnten Zivilisationen in Jahrbillionen tatsächlich über die erforderlichen technischen Möglichkeiten verfügen und unser Universum in einem dimensionalen «Rettungsboot» verlassen, um ein jüngeres und sehr viel wärmeres Universum aufzusuchen? Oder werden sie ihre überlegene Technologie dazu verwenden, eine Zeitmaschine zu bauen und in ihre eigene Vergangenheit zurückzureisen, in eine Zeit, als die Temperaturen wesentlich höher waren?
Einige Physiker haben eine Reihe schlüssiger, wenn auch außerordentlich spekulativer Hypothesen vorgeschlagen, um eine möglichst realistische Vorstellung von Dimensionsportalen oder Toren in ein anderes Universum zu vermitteln. Die Wandtafeln der physikalischen Labors in aller Welt füllen sich mit abstrakten Gleichungen, während die Physiker berechnen, ob man «exotische Energie» und Schwarze Löcher verwenden könnte oder nicht, um einen Durchlass in ein anderes Universum zu finden. Können fortgeschrittene Zivilisationen, die uns technisch vielleicht um Millionen oder Milliarden Jahre voraus sind, mit Hilfe der bekannten physikalischen Gesetze Zugang zu einem anderen Universum finden?
Der Kosmologe Stephen Hawking von der Cambridge University hat einmal gewitzelt: «Wurmlöcher wären, wenn es sie denn gäbe, ideal für rasche Raumfahrten. Man könnte sich durch ein Wurmloch auf die andere Seite der Galaxie begeben und rechtzeitig zum Abendessen wieder zurück sein.»
Sollten Wurmlöcher und Dimensionsportale einfach zu klein sein, um den rettenden Exodus aus dem Universum zu ermöglichen, bietet sich noch eine andere Möglichkeit: den gesamten Informationsgehalt einer hoch entwickelten, intelligenten Zivilisation auf molekularer Ebene konzentrieren und ihn über den Durchlass in das andere Universum zu injizieren. Auf der anderen Seite setzt sich diese Zivilisation dann wieder von alleine zusammen. Auf diese Weise könnte eine ganze Zivilisation ihren Keim durch ein Dimensionstor injizieren, um in der neuen Welt in alter Pracht wieder zu erstehen. Möglicherweise ist der Hyperraum nicht nur eine Spielwiese für theoretische Physiker, sondern eine Möglichkeit zur Rettung intelligenten Lebens in einem sterbenden Universum.
Um jedoch die Bedeutung dieses Ereignisses ganz zu verstehen, müssen wir uns zunächst vor Augen führen, wie Kosmologen und Physiker in mühseliger Kleinarbeit zu diesen erstaunlichen Schlussfolgerungen gelangt sind. Im Fortgang des vorliegenden Buches werden wir die Geschichte der Kosmologie aufrollen und uns mit den Paradoxien beschäftigen, welche die Disziplin jahrhundertelang geplagt haben, bis schließlich die Inflationstheorie entwickelt wurde, die sich zwar mit allen Experimentaldaten verträgt, uns aber zwingt, das Konzept multipler Universen ins Auge zu fassen.
Wäre ich bei der Schöpfung zugegen gewesen, hätte ich ein paar nützliche Hinweise für eine bessere Ordnung des Universums geben können.
– Alfons der Weise
Zum Teufel mit dem Sonnensystem: schlechtes Licht, Planeten zu weit weg, mit Kometen verseucht, klägliche Instrumente. Hätte selbst ein besseres fabrizieren können.
– Lord Jeffrey
In dem Stück Wie es euch gefällt schrieb Shakespeare die unsterblichen Zeilen:
Die ganze Welt ist Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab.
Im Mittelalter war die Welt in der Tat eine Bühne, eine kleine, statische Bühne, bestehend aus einer winzigen, flachen Erde, um die sich die Himmelskörper geheimnisvoll auf ihren vollkommenen Himmelsbahnen bewegten. Kometen galten als Vorzeichen, die den Tod von Königen ankündigten. Als der große Komet 1066 über England hinzog, versetzte er die sächsischen Soldaten von König Harold in Angst und Schrecken. Rasch unterlagen sie den vorrückenden, siegreichen Truppen von Wilhelm dem Eroberer, womit die Voraussetzungen für die Entstehung des modernen England geschaffen wurden.
1682 tauchte der Komet ein zweites Mal über England auf und löste in ganz Europa abergläubische Furcht aus. Vom Bauern bis zum König schien dieser unerwartete kosmische Besucher, der über den Himmel raste, alle in seinen Bann zu ziehen. Woher kam der Komet? Wohin verschwand er und was bedeutete er?
Edmund Halley, ein wohlhabender Gentleman und Amateurastronom, war so fasziniert von dem Kometen, dass er einen der größten Wissenschaftler der Zeit um seine Meinung bat: Isaac Newton. Als er von Newton wissen wollte, welche Kraft für die Bewegung des Kometen verantwortlich sei, erwiderte Newton seelenruhig, der Komet bewege sich auf einer Ellipsenbahn, wie aus dem quadratischen Abstandsgesetz hervorgehe (das heißt, die auf den Kometen einwirkende Kraft verringert sich mit dem Quadrat seiner Entfernung von der Sonne). Tatsächlich habe er den Weg des Kometen mit einem Teleskop verfolgt, das er erfunden habe (das Spiegelteleskop, das heute von Astronomen in aller Welt verwendet wird), und die Bahn des Kometen entspreche genau dem Gravitationsgesetz, das er zwanzig Jahre zuvor entwickelt habe.
Ungläubig fragte Halley: «Woher wisst Ihr das?» – «Ganz einfach», erwiderte Newton, «ich habe es berechnet.»[*] Nicht in seinen kühnsten Träumen hatte Halley erwartet, dass sich das Geheimnis der Himmelskörper, welches die Menschheit staunen ließ, seit die ersten Hominiden den Blick zum Himmel hoben, durch ein neues Gravitationsgesetz erklären lasse.
Tief beeindruckt von der Bedeutung dieser ungeheuren wissenschaftliche Leistung, bot Halley großzügig an, die Drucklegung der neuen Theorie zu finanzieren. Dank der Ermutigung und dem Geld von Halley veröffentlichte Newton 1687 sein umfangreiches Werk Philosophiae naturalis principia mathematica («Mathematische Prinzipien der Naturlehre»). Man hat es eines der wichtigsten Bücher genannt, die jemals veröffentlicht wurden. Dank dieses Geniestreichs waren Naturforscher, denen die größeren Gesetze des Sonnensystems bislang ein Buch mit sieben Siegeln gewesen waren, plötzlich in der Lage, die Bewegungen der Himmelskörper mit höchster Genauigkeit vorherzusagen. Die Wirkung der Principia in den Salons und an den Höfen Europas war so groß, dass der Dichter Alexander Pope schrieb:
Natur und Naturgesetz lagen tief verborgen in der Nacht,
Da sprach Gott: Es werde Newton! und alles ward Licht.
(Wenn die Bahn des Kometen eine Ellipse war, dann musste man, wie Halley erkannte, berechnen können, wann der Himmelskörper wieder über London auftauchen würde. Als er alte Quellen zu Rate zog, erkannte er, dass es sich bei den Kometen von 1531, 1607 und 1682 in Wahrheit um ein und denselben Kometen handelte. Der Komet, der so entscheidend für die Entstehung des modernen England war, wurde im Laufe der aufgezeichneten Geschichte immer wieder gesehen, unter anderem von Julius Caesar. Halley sagte vorher, der Komet werde 1758 zurückkehren, wenn er und Newton längst gestorben wären. Als der Komet am ersten Weihnachtstag dieses Jahres tatsächlich zurückkehrte, gab man ihm den Namen Halleyscher Komet.)
Zwanzig Jahre zuvor hatte Newton das allgemeine Gravitationsgesetz entdeckt, als die Universität Cambridge aus Furcht vor der Pest geschlossen wurde und er gezwungen war, sich auf sein Landgut in Woolsthorpe zurückzuziehen. Später berichtete er gern, er habe bei einem Spaziergang dort einen Apfel fallen sehen. Angesichts dieses Vorgangs stellte er sich eine Frage, die den Gang der Geschichte verändern sollte: Wenn ein Apfel fällt, fällt dann nicht auch der Mond? Im Zuge eines wahren Geniestreichs wurde Newton klar, dass Äpfel, der Mond und die Planeten dem gleichen Gravitationsgesetz gehorchen, dass sie alle dem gleichen quadratischen Abstandsgesetz unterworfen sind. Als Newton feststellte, dass die Mathematik des 17. Jahrhunderts zu primitiv war, um für dieses Kraftgesetz Lösungen zu finden, erfand er einen neuen mathematischen Zweig, die Infinitesimalrechnung, die ihm erlaubte, die Bewegung fallender Äpfel und Monde zu bestimmen.
In den Principia hatte Newton auch die Gesetze der Mechanik niedergelegt, das heißt, die Bewegungsgesetze, welche die Bahnen aller irdischen und himmlischen Körper bestimmen. Mit Hilfe dieser Gesetze konnte man Maschinen entwerfen, die Dampfkraft nutzen und Lokomotiven bauen, die ihrerseits die Voraussetzungen für die industrielle Revolution und die moderne Zivilisation schufen. Heute werden beim Bau jedes Wolkenkratzers, jeder Brücke und jeder Rakete Newtons Bewegungsgesetze zugrunde gelegt.
Newton schenkte uns nicht nur die ewigen Bewegungsgesetze, er brachte auch unser Weltbild zu Fall, indem er uns die vollkommen neue Vorstellung eines Universums vermittelte, in dem die geheimnisvollen Gesetze, die über die Himmelskörper regieren, identisch mit den Gesetzen sind, die das Geschehen auf der Erde bestimmen. Der Schauplatz des Lebens war nicht mehr von Schrecken erregenden himmlischen Omina umgeben: Die Gesetze, die für die Schauspieler zuständig waren, galten auch für die Kulisse.
Da die Principia einen so weiten Horizont erfassten, warfen sie die ersten verwirrenden Paradoxa über die Beschaffenheit des Universums auf. Wie groß ist die Welt, wenn sie eine Bühne ist? Ist sie endlich oder unendlich? Das ist eine jahrhundertealte Frage: Schon der römische Philosoph Lukrez war von ihr fasziniert und schrieb: «Was nun das All ist, so ist es in keiner Richtung der Straßen endlich begrenzt; sonst müsste es doch ein Äußerstes haben, wenn nicht darüber hinaus etwas ist, was begrenzt.»[*]
Doch Newtons Theorie offenbarte auch die Paradoxa, die jeder Theorie eines endlichen oder unendlichen Universums innewohnen. Schon einfachste Fragen führten in einen Morast von Widersprüchen. Newton sonnte sich bereits in dem Ruhm, dem ihm die Veröffentlichung der Principia brachte, als er entdeckte, das seine Gravitationstheorie mit einer ganzen Reihe von Paradoxa gespickt war. 1692 schrieb der Geistliche Richard Bentley einen entwaffnend schlichten, aber nichtsdestoweniger beunruhigenden Brief an Newton. Da die Gravitation immer anziehend und nie abstoßend wirke, schrieb Bentley, folge daraus doch, dass jede Ansammlung von Sternen ohne äußere Einwirkung in sich zusammenstürzen müsse. Wenn das Universum endlich sei, müsse der Nachthimmel, statt ewig und statisch zu sein, den Schauplatz eines unermesslichen Gemetzels bieten, in dessen Verlauf Sterne aufeinander prallten und zu einem feurigen Superstern verschmölzen. Falls das Universum hingegen unendlich sei, müsse die Kraft, die auf jedes Objekt einwirke und es nach links oder rechts ziehe, ebenfalls unendlich sein. Folglich müssten die Sterne in einer feurigen Katastrophe in Stücke gerissen werden.
Zunächst hatte es den Anschein, als hätte Bentley den Meister damit matt gesetzt. Entweder war das Universum endlich (dann müsste es zu einem Feuerball zusammenstürzen), oder es war unendlich (dann würden alle Sterne in Stücke gerissen). Jede dieser Möglichkeiten war eine Katastrophe für die junge Theorie, die Newton vorgeschlagen hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte offenbarte dieses Problem die versteckten, aber unvermeidlichen Paradoxien, die jeder Gravitationstheorie innewohnen, wenn sie auf das gesamte Universum angewandt werden.
Nach eingehender Überlegung antwortete Newton, er habe eine Lücke in der Argumentation entdeckt. Er ziehe die Idee eines unendlichen Universums vor, allerdings eines von vollkommener Gleichförmigkeit. Wenn dann ein Stern von einer unendlichen Anzahl anderer Sterne nach rechts gezogen werde, werde diese Kraft durch eine unendliche Anhäufung von Sternen auf der anderen Seite exakt aufgehoben. So befänden sich alle Kräfte in allen Richtungen in vollkommenem Gleichgewicht, mit dem Erfolg, dass ein statisches Universum entstehe. Wenn die Gravitation also immer anziehend wirke, sei die Lösung für Bentleys Paradoxon ein gleichförmiges, unendliches Universum.
Damit hatte Newton in der Tat eine Lücke in Bentleys Argumentation gefunden. Doch Newton war klug genug, um die Schwäche der eigenen Antwort zu erkennen. In einem Brief räumte er ein, dass seine Lösung zwar theoretisch richtig, aber höchst instabil sei. Newtons gleichförmiges, aber unendliches Universum war wie ein Kartenhaus: scheinbar stabil, aber bei der geringsten Störung zum sofortigen Zusammensturz neigend. Es ließ sich berechnen, dass nur ein einziger Stern ein winziges bisschen verschoben sein musste, um eine Kettenreaktion auszulösen: Ganze Sternenhaufen würden mit dem sofortigen Kollaps beginnen. Newtons schwacher Ausweg war die Berufung auf eine «göttliche Macht», die den Einsturz des Kartenhauses abwende. «Ein fortwährendes Wunder ist erforderlich, um die Sonne und die Fixsterne daran zu hindern, unter dem Einfluss der Gravitation aufeinander zuzurasen», schrieb er.[*]
Für Newton war das Universum wie ein riesiges Uhrwerk, das Gott am Anfang der Zeit aufgezogen hatte und das nun gemäß der drei Bewegungsgesetze im Prinzip ohne göttliche Intervention vor sich hin tickte. Doch gelegentlich musste er doch eingreifen und das Universum ein bisschen zwacken, um es am Kollaps zu hindern. (Mit anderen Worten, gelegentlich muss Gott intervenieren, um zu verhindern, dass die Kulissen den Schauspielern auf den Kopf fallen.)
Neben Bentleys Paradoxon wurde jedes unendliche Universum von einem noch vertrackteren Paradoxon geplagt. Das olberssche Paradoxon beginnt mit der Frage, warum der Nachthimmel schwarz ist. Bereits zu Johannes Keplers Zeiten war den Astronomen klar, dass wir in einem gleichförmigen und unendlichen Universum stets das Licht einer unendlichen Zahl von Sternen erblicken müssten. Egal, welchen Punkt am Nachthimmel wir ins Auge fassen würden, unsere Sichtlinie müsste irgendwann auf unzählige Sterne treffen und unser Auge infolgedessen eine unendliche Menge an Sternenlicht empfangen. Der Nachthimmel müsste also hell erstrahlen! Der Umstand, dass der Nachthimmel schwarz und nicht weiß ist, war jahrhundertelang ein wenig bekanntes, aber unlösbares kosmisches Paradoxon.
Wie das bentleysche war auch das olberssche Paradoxon täuschend einfach, hat aber Generationen von Philosophen und Astronomen zur Verzweiflung getrieben. Beide Paradoxa beruhen auf der Einsicht, dass sich in einem unendlichen Universum Gravitationskräfte und Lichtstrahlen zu unendlichen, sinnlosen Ergebnissen addieren können. Im Laufe der Jahrhunderte sind eine Fülle falscher Lösungen vorgeschlagen worden. Dieses Paradoxon setzte Kepler so zu, dass er einfach postulierte, das Universum sei endlich und von einer Schale umschlossen, daher könne nur eine endliche Menge Sternenlicht unser Auge erreichen.
Angesichts dieses Paradoxons herrscht so große Verwirrung, dass 70 Prozent der Astronomielehrbücher – so eine Studie aus dem Jahr 1987 – heute noch die falsche Antwort angeben.
Zunächst könnte man versuchen, das olberssche Paradoxon mit der Annahme zu lösen, dass das Sternenlicht von Staubwolken absorbiert werde. Für diese Antwort votierte Olbers selbst, als er 1823 das Paradoxon erstmals formulierte. Er schrieb: «Wohl uns! dass nicht jeder Punkt des Himmelsgewölbes Sonnenlicht auf die Erde herabsendet. Die unerträgliche Helligkeit, die alle Vergleichung übersteigende Hitze, die dann herrschen würde, nicht einmal betrachtet (denn für diese, wenn sie gleich über 90000 mal größer sein würde, als wir sie jetzt empfinden, hätte die schaffende Allmacht unsere Erde und die auf ihr vorhandenen Organismen einrichten können).»[*] Um zu erklären, warum sich die Erde nicht «vor einem Hintergrund so strahlend wie die Sonnenscheibe» befinde, äußerte Olbers die Vermutung, dass Staubwolken einen Großteil der Hitze absorbieren und auf diese Weise das Leben auf der Erde ermöglichen. Tatsächlich ist das feurige Zentrum der Milchstraße, das von Rechts wegen den Nachthimmel beherrschen müsste, hinter Staubwolken verborgen. Wenn wir in Richtung des Sternbilds des Schützen blicken – die Richtung, in der das Zentrum der Milchstraße liegt –, sehen wir keinen strahlenden Feuerball, sondern nur einen Flecken Dunkelheit.
Doch Staubwolken können das olberssche Paradoxon nicht wirklich erklären. Während eines unendlichen Zeitraums würden die Staubwolken das Sonnenlicht einer unendlichen Zahl von Sternen absorbieren und schließlich selbst wie die Oberfläche eines Sterns leuchten. Folglich müssten auch die Staubwolken den Nachthimmel strahlend erhellen.
Als weiteren Ausweg könnte man sich darauf berufen, dass ein Stern, je weiter er entfernt ist, um so schwächer am Himmel leuchtet. Das ist zwar wahr, kann aber trotzdem nicht die Lösung sein. Wenn wir auf einen Teil des Nachthimmels schauen, leuchten die sehr fernen Sterne in der Tat nur schwach, doch zugleich erblicken wir umso mehr Sterne, je weiter wir schauen. In einem gleichförmigen Universum würden sich diese beiden Effekte exakt aufheben, mit dem Erfolg, dass der Nachthimmel weiß wäre. (Der Grund: Die Intensität des Sternenlichts nimmt mit dem Quadrat der Entfernung ab, was durch den Umstand aufgehoben wird, dass die Zahl der Sterne mit dem Quadrat der Entfernung zunimmt.)
Merkwürdigerweise hat ausgerechnet der Amerikaner Edgar Allan Poe, Autor phantastischer Grusel- und Kriminalgeschichten und Hobbyastronom, das Paradoxon gelöst. Kurz vor seinem Tod veröffentlichte er viele seiner Beobachtungen in dem weitschweifigen, philosophischen Werk Eureka: A Prose Poem. In einer bemerkenswerten Passage heißt es:
Wäre die Sternenfolge endlos, würde sich der Hintergrund des Himmels als gleichförmiges Leuchten präsentieren, wie es unsere Galaxis tut – denn es könnte auf diesem gesamten Hintergrund nicht einen einzigen Punkt geben, an dem sich kein Stern befände. Angesichts dieser Sachlage besteht für uns die einzige Möglichkeit, die Leerräume zu verstehen, die unsere Teleskope in zahllosen Richtungen registrieren, in der Annahme, die Entfernung des unsichtbaren Hintergrunds sei so unermesslich, dass uns von dort bislang noch kein Lichtstrahl habe erreichen können.[*]
Er schloss mit der Bemerkung, die Idee sei «viel zu schön, um im Kern nicht wahr zu sein».
In der Tat war sie der Schlüssel zur richtigen Antwort. Das Universum ist nicht unendlich alt. Es gab eine Schöpfung. Das Licht, das unser Auge erreicht, hat eine endliche Bruchstelle. Bislang hat das Licht fernster Sterne noch nicht genügend Zeit gehabt, unsere Augen zu erreichen. Der Kosmologe Edward Harrison, der als Erster entdeckte, dass Poe das olberssche Paradoxon gelöst hatte, schrieb dazu: «Als ich auf Poes Worte stieß, war ich verblüfft: Wie konnte ein Dichter, der bestenfalls ein Hobbywissenschaftler war, vor 140 Jahren die richtige Erklärung finden, während in unseren Colleges heute noch … die falsche Erklärung gelehrt wird?»[*]
1901 entdeckte auch der schottische Physiker Lord Kelvin die richtige Antwort. Ihm wurde klar, dass wir bei einem Blick in den Nachthimmel diesen wahrnehmen, wie er in der Vergangenheit war, nicht, wie er heute ist, weil die Lichtgeschwindigkeit, so gewaltig sie auch nach irdischen Maßstäben ist (300000 Kilometer pro Sekunde), dennoch endlich ist und das Licht daher eine gewisse Zeit braucht, um die Erde von fernen Sternen zu erreichen. Nach Kelvins Berechnungen wäre der Nachthimmel nur weiß, wenn das Universum eine Ausdehnung von einigen hundert Billionen Lichtjahren aufwiese. Da nun aber das Universum nicht viele Billionen Jahre alt ist, muss der Nachthimmel notwendigerweise schwarz sein. (Es gibt noch einen zweiten Grund, warum der Nachthimmel schwarz ist: die begrenzte Lebensspanne der Sterne, die sich nach Jahrmilliarden bemisst.)
In jüngerer Zeit hat sich die Möglichkeit ergeben, Poes Hypothese experimentell zu überprüfen: durch Satelliten wie das Hubble-Weltraumteleskop. Diese leistungsfähigen Teleskope ermöglichen uns sogar, Fragen zu beantworten, wie sie Kinder stellen: Wo ist der fernste Stern? Und was liegt hinter dem fernsten Stern? Um diese Fragen zu beantworten, programmierten die Astronomen das Hubble-Teleskop für eine Aufgabe von historischer Bedeutung: einen Schnappschuss vom fernsten Punkt im Universum zu machen. Um extrem schwache Emissionen aus den entlegensten Winkeln des Alls aufzufangen, musste das Teleskop eine nie da gewesene Aufgabe leisten: auf exakt denselben Himmelspunkt in der Nähe des Sternbilds Orion über eine Gesamtzeit von mehreren hundert Stunden zu zielen. Mit anderen Worten, das Teleskop musste während 400 Erdumkreisungen genau ausgerichtet bleiben. Das Projekt war so schwierig, das es über einen Zeitraum von mehr als vier Monaten verteilt werden musste.
2004 wurde eine verblüffende Fotografie veröffentlicht, die weltweit Schlagzeilen machte. Sie zeigt eine Ansammlung von 10000 Babygalaxien, die sich gerade aus dem Chaos des Urknalls herauskristallisieren. «Gut möglich, dass wir das Ende vom Anfang erblickt haben», erklärte Anton Koekemoer vom Space Telescope Science Institute.[*]