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In der Familie Nidders, einer der mächtigsten Industriellenfamilien Berlins, wird heftig an der künftigen Unternehmensleitung gebastelt. Der alte Nidders ist leidend, seine beiden Söhne verstorben, also soll seine mittlere Tochter, die schöne Minna, ihren Vetter Fritz heiraten und er die Firmenleitung übernehmen. Minna aber ist heftig in Bert von Überling verliebt, einen eher unsicheren Kandidaten. Und wie verhält sich der treue Fritz, der bisher seine Interessen denen des Unternehmens untergeordnet hat. Wäre da nicht die junge Gärtnerin Fränze, deren Onkel gerade mit der Rose Feuerzauber eine Züchtungssensation gelungen ist, die für alle Möglichkeiten eröffnet.-
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Seitenzahl: 315
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Saga
Die Stammgäste aus Berlin, die das hübsche Kurbad Pyrmont in jedem Mai auf seiner Kurpromenade sah, waren wieder versammelt. Sie kannten einander alle nach Namen und Rangklasse, vielleicht sogar Steuerstufe. Aber einen Verkehr über die Standesgrenzen hinweg pflog man nicht. Die Damen der Garde, von der Exzellenz an bis zur jüngsten Sekondeleutnantsfrau, bildeten unter sich einen Ring, in den nur dem Adel vom Lande noch Zutritt gewährt wurde. Gelegentlich führte eine Hofdame der Kaiserin, die ihren kurzen Urlaub der Bade- und Brunnenkur widmete, ein paar Damen von ausländischen Diplomaten ein oder aus der Finanzwelt, aus den Kreisen hervorragender Industrieller. Für die Dauer eines grossen Wohltätigkeitsfestes verwischten sich dann die Grenzen ein wenig. Aber hernach lebte jeder Kurgästekreis wieder für sich.
Der jedem Berliner bekannte Name Nidders war alljährlich mehrmals in Pyrmont vertreten. Im Mai erschien regelmässig Frau Trude Nidders. Sie hatte viele Jahre im Hause von E. F. W. Nidders, nach dem Tode von dessen Gattin, das Zepter geführt, war die Witwe eines Zahlmeisters und hatte an dem ungeheuren Reichtum ihres Schwagers E. F. W. keinen Anteil. Die alte Dame lebte hier in einer behaglichen Pension am grossen Park und suchte wohl kaum Anschluss, wie andere einsame Kurgäste. Trubel, Aufregungen, Verkehr, Bekanntschaften, grosse Sorgen und kleine Freuden waren ihr als dem vielverantwortlichen Hausfrauenersatz des mächtig emporstrebenden Kommerzienrats reichlich zuteil geworden. Aber diesmal hatte sie ihre Nichte mitgebracht, die Mittelste der drei blonden Töchter von E. F. W.
„Das ist Fräulein Minna Nidders!“ erklärte einer dem andern auf der Kurpromenade.
Minna war schlank, war hübsch und wendig, war vierundzwanzig Jahre alt. Und war eben eine der Erbinnen des Grossindustriellen E. F. W. Nidders.
„Man nennt ihn in Berlin bloss mit den Anfangsbuchstaben seiner Vornamen. Wahrscheinlich heisst er Ernst Friedrich Wilhelm. Es gibt ja noch mehrere reiche Nidders in Berlin, den Rolf Nidders, den Heinrich, den Kompagnon von Pinneke, und was weiss ich. Aber E. F. W. hat doch den allergrössten Betrieb. Er fabriziert nicht nur die hunderttausend Röhren und Leitungen für Gas und Wasser und Kanalisation der Berliner, er führt die Riesenbauten in und über und unter der Erde auch mit seinem eigenen Arbeiterheer aus. Dabei hat er ganz klein angefangen. Mit fünfzehn Jahren ist er barfuss nach Berlin gekommen. Gerade ist er fünfundsechzig geworden. Jetzt haben wir 1895. Also in einem halben Jahrhundert hat er sich Berlin erobert. Zu seinem Jubiläum hat er den Roten Adler Dritter gekriegt. Tja, K.-O. drei besass er schon lange. Schade, dass er keinen Sohn mehr hat. Die beiden Jungen sind ihm vor acht Jahren an Scharlach gestorben. Waren dabei famose Bengels.“
„Also muss Fräulein Minna Stammhalterin werden?“
„Die jungen Herren von der Rennbahn nennen sie den ‚Grossen Preis von Berlin‘. Sie reitet besser als ihre Schwestern, sieht zu Pferde wie eine Prinzessin aus, hat ganz königliche Haltung, tatsächlich. Aber sie soll schon verlobt sein. Geben Sie sich also keine verlorene Liebesmühe, Herr Professor!“
„Schade. Ich habe sie aber noch nie mit einem Herrn gesehn.“
„Ihr Verlobter steckt natürlich zu Hause in der Arbeit. Kann ebensowenig aus Berlin heraus wie E. F. W.“
„Und wer ist nun der Glückliche?“
„Es soll ein Vetter sein. Vetter zweiten oder dritten Grades. Fritz Nidders. Dessen Vater ein Münchner Kindl geheiratet hatte. E. F. W. hat sich seiner angenommen, hat ihn nach England ins College geschickt, dann auf die Technische Hochschule. Der wird das Rennen wohl machen.“
„Und die Schwestern?“
„Sind ebenso blond, ebenso blauäugig wie Minna, natürlich ebenso reich, aber bei weitem nicht so fesch. Die Älteste, die Dora, schon mal geschieden, ist etwas füllig, bisschen träge, dabei sehr hochnäsig und aufgeblasen, und die Jüngste ist Martha, die sich jetzt mit dem jungen Pinneke verlobt hat. Ja, dem von den landwirtschaftlichen Maschinen Pinneke und Nidders.“
Im Vorbeischlendern hörte Minna Nidders, deren Sinne alle sehr geweckt waren, ihren Namen. Flüchtig blickte sie über die Gruppe der Spaziergänger hin, die sofort verstummten. „Kennst du die Herren?“ fragte sie leise, fast ohne die Lippen zu bewegen.
Tante Trude lächelte. „Irgendein paar alte Kurveteranen. Einer davon führt den Ehrennamen ‚Rang- und Quartierliste‘. Der wird es wohl gewesen sein. Ich komme sonst selten zum Frühkonzert her. Aber du sollst doch nicht den lieben langen Tag in der Pension bei mir sitzen. Musst doch etwas vom Badeleben hier geniessen.“
Minna lachte kurz auf. „Man wird taumelig, so aufregend ist es. Etwa wie der Bummel im Berliner Zoo beim Nachmittagskonzert, wenn die Franzer oder die Maikäfer spielen.“
„Ich höre am liebsten die Kürassiere. Wenn die ihre Fanfarenmärsche blasen, dann fühle ich mich wieder jung. Ich bin doch in der Kaserne aufgewachsen. — Mein Gott, Mädel, wie weltenfern du manchmal dreinsehen kannst!“
„Bin’s gar nicht, Tante Trude.“ Sie nahm den Arm der alten Dame. „Aber wollen wir jetzt nicht heimgehen? Du bist doch brav deine vierzig Minuten gewandert.“
Tante Trude kniff ein Auge zu. „Du schwindelst, Mädel! Willst bloss rasch wieder hören, ob Post angekommen ist.“
„Post —! Die paar Einladungen und Ansichtskarten und Drucksachen!“ Sie atmete auf. „Heiss ist es heute, nicht?“
„Doch gar kein Staub. Gut gepflegte Promenaden haben sie hier. Zum Glück dürfen keine Schleppen mehr getragen werden.“
„Fussfrei möchte man gehen. Sieh doch nur: Sämtliche Damenröcke berühren den Erdboden. Deswegen tragen wir ja alle die fürchterlichen Stosskanten. Und wie die immer durchgerieben sind!“
„Na, mein Kind, du hast dir in deinem jungen Leben noch keinmal Mühe geben müssen, deine Stosskanten zu stopfen oder zu erneuern!“
„Nun wirst du mir sicher gleich wieder erzählen, liebe Tante, dass du in der Kaserne aufgewachsen bist, dass du als Stubenmädchen deine Laufbahn hast anfangen müssen ... Tante Trude, ich halte es nicht mehr aus ... Nein, um Gottes willen, ich will dich ja nicht kränken!“
„Du hast noch nicht gefrühstückt, Minna, bist hungrig, das gibt dir schlechte Laune. Nur für drei Minuten muss ich mich hier noch hinsetzen.“
Minna sagte rasch: „Ich gehe voran und bestelle alles.“
„Ach, mein Kind, allein möcht’ ich dann doch nicht — —“
Also fügte sich Minna. Aber in ihr zitterte alles vor Ungeduld. Dort vorn war soeben der Briefträger in die Ahornallee eingebogen. Vielleicht hatte er endlich Nachricht von Bert gebracht? Bert musste ihr doch antworten, ob es ihm gelang, sich wenigstens für einen einzigen Tag von Berlin frei zu machen. War er nicht selbst der Leiter vom Tattersall? Konnte er nicht eine wichtige Abhaltung erfinden? Wenn er den ersten Frühzug nahm, kam er mittags hier an. Mit Tante Trude wollte sie dann schon fertig werden. Sie ging einfach zur Bahn, als ob sie einen vergessenen Brief dort in den Zug zu werfen hätte, wie zufällig begegnete sie auf dem Perron Bert von Überling, sie wanderten gemeinsam durch den Kurpark irgendwohin durch den Wald ... Und auf Tante Trudes kleinem Tischchen lag ihr beschwichtigender Entschuldigungszettel ...
Von den Kurgästen, die hier vorbeikamen, flatterten in den Musikpausen allerlei Gesprächsfetzen herüber. Minna sah den Menschen immer schon an, worüber sie sprachen, bevor sie noch ein Wort von ihnen vernommen. Die Backfische, die unnatürlich hell kicherten und sich dabei Arm in Arm hin und her schoben, hatten sich natürlich ein Erlebnis aus der Tanzstunde zu erzählen. Die vier Herren und drei Damen, die immer wieder stehenblieben, sprachen gewiss über die Berliner Königlichen Schauspiele. Richtig: Da fielen schon die Namen Rosa Sucher, Ida Hiedler, Betz und Bulss. Mit schwärmerischen Augen sprach die blasse Dame von Matkowsky. Ein ganzes Programm lag in diesem Ausdruck. Minna erwärmte sich mehr für Kainz, den sie im Deutschen Theater als Hamlet zusammen mit der Agnes Sorma als Ophelia gesehen hatte. Aber was ging sie jetzt überhaupt das Theater an?
„... Und wenn’s durchgeht, dass wir in Berlin eine grosse Ausstellung haben werden, dann wird sich auch der Strassenverkehr noch stärker entwickeln, und geben Sie acht, dann ist die Freigabe des Zweiradverkehrs erst recht nicht mehr durchzusetzen ...“
„Seien Sie überzeugt, dass Kaiser Wilhelm auch ohne den grollenden Alten im Sachsenwalde zur Schliessung der sozialdemokratischen Wahlvereine für unsere Berliner Reichstagswahlkreise gelangen wird, gelangen muss. Es besteht doch noch immer das Gesetz vom März achtzehnhundertfünfzig über den Missbrauch des Versammlungs- und Vereinsrechtes.“
„Die Vilma von Parlaghi ist jetzt rechtskräftig geschieden, die Malerin —?“
„... Darum handelt sich’s in der Angelegenheit von Kotze ja gar nicht, wer nun wirklich der Verfasser der anonymen Briefe war. Als Zeremonienmeister musste er Herrn von Schrader vor die Pistole fordern, nicht beim Staatsanwalt die Verfolgung wegen Verleumdung beantragen ...“
„Es ist tatsächlich das erste Jahr, dass niemand vom Detmolder Hof hier zur Kur ist. Aber dass das irgendwie mit der Lippeschen Thronfolgefrage zu tun hätte ...“
„Nein, das Fest beim Oberbürgermeister Zelle hat keinen offiziellen Charakter, es werden auch keine Reden gehalten. Ja, Miquel war da, der Finanzminister. Und der Polizeipräsident von Windheim. Natürlich Bürgermeister Kirschner. Auch Boetticher, Berlepsch, Thiele, Bosse und andere Minister. Köller hab’ ich nicht gesehn. Aber Professor Virchow ...“
„Und ich habe aus Künstlerkreisen gehört, der Kaiser sei entschlossen, die Siegesallee grossartig auszuschmücken. Begas war zur Audienz befohlen. Einunddreissig bis zweiunddreissig Denkmäler sollen dort aufgestellt werden: sämtliche Herrscher aus der brandenburgischen und preussischen Geschichte in Nischen von karrarischem Marmor. Nein, nein, Begas soll sie nicht alle selber machen; das hat er ja gleich betont.“
„Ich nehme früh vor dem Brunnen gar nichts zu mir. Aber wenn ich jetzt ins Hotel komme, dann fliegt schon der Ober mit wedelnden Frackschössen an meinen Platz, ich kriege Spiegelei mit Lachsschinken, frischen Toast ...“
Minna erhob sich. „Wenn du jetzt noch keinen Frühstücksappetit bekommen hast, Tante Trude, dann wundere ich mich.“
Mit einem flinken Blick stellte Minna fest, dass in ihrem Postfach nur Ansichtskarten steckten. Während Tante Trude ins Frühstückszimmer voranging, warf Minna der kleinen Sekretärin, der sie ein paar Sonderaufträge erteilt hatte, einen fragenden Blick zu.
Die Sechzehnjährige zog mit der geheimnisvollen Umständlichkeit eines ungelernten Silberdiebes aus einem quietschenden Kasten ein Telegramm und flüsterte: „Gleich nachdem die Damen das Haus verlassen hatten —“
„Na, Minna, wer hat denn geschrieben?“
„Ach, paar Grüsse.“ Minna konnte das Telegramm nicht öffnen, ohne dass Tante Trude es gesehen hätte; sie verbarg es am Tisch in der Serviette. Es war doch unbedingt von Bert. Eine Geschäftsempfehlung, die alle Gäste erhalten hatten, zerriss sie mit scheinbarer Gleichgültigkeit, riss dabei aber den Umschlag der Depesche mit auf. Zum Glück war Tante Trude etwas kurzsichtig.
„Und Martha hat noch immer nichts von sich hören lassen?“
„Nein. Nun — sie weiss ja —“ Halb unter dem Tisch hielt Minna das eingerissene Blatt. Während sie sich bemühte, eine gleichgültige Unterhaltung in Fluss zu bringen, entzifferte sie den Inhalt. Das Telegramm lautete: ‚Hinkommen ganz unmöglich. Halbstündiger Spaziergang auf Kurpromenade gäbe neuen Krawall im Hause N. Ebenfalls sehr traurig. Gruss.‘
„Was weiss die Martha? Du musst die Sätze doch zu Ende sprechen, Kind!“
„Die Martha?“ Minna zwang sich jetzt zu äusserster Kühle und Beherrschtheit. „Die Martha weiss, dass meine Abreise dicht bevorsteht. Jawohl, ich will und muss nach Berlin! Pa hat gesagt: Bis Mitte Mai. Heute ist der Vierzehnte. Du sagst nun plötzlich, du bliebest bis zum ersten Juni. So lange bleibe ich nicht. Ich muss auch zum Professor. Die Zähne. Ja, da oben rechts. Nein, hier zu einem wildfremden Zahnarzt zu gehen, das fällt mir nicht ein. Übrigens hab’ ich für Montag doch schon die Hertzig bestellt, zur Anprobe.“
Tante Trude begann ihr Frühstück. „Weisst du, mein Kind, ein Grund kann stichhaltig sein. Zwei Gründe sind verdächtig.“
„Was für einen Verdacht hast du denn nun schon wieder?“
„Wir wollen doch mal ernsthaft und verständig miteinander sprechen, liebe Minna! Ich möchte endlich aufhören können, immer noch den Wauwau für dich zu spielen. Du weisst doch, oder ahnst es, was Pa von mir verlangt. Ich soll ihm Bericht erstatten, sobald ich der ehrlichen Überzeugung bin, dass Herr von Überling dich endlich in Ruhe lässt — —“
„Tut er doch. Bitte sehr.“
„— — und dass auch du die Aussichtslosigkeit eingesehen hast und von deiner Gereiztheit und Unzufriedenheit endlich erlöst bist.“
„Ich bin ja so herrlicher Laune. Etwa nicht?“
„Minna, ich schwöre dir zu: Ich habe von Pa keinen Auftrag bekommen, dir auch nur mit einem Wort zuzureden, dass du Fritz die Möglichkeit gibst — —“
„Um mich anzuhalten!“ fiel sie zornig ein. „Du schwörst, also muss ich dir glauben. Aber seit Jahren ist es sein ausgesprochener Befehl. Fritz ist ein anständiger Kerl. Gottlob. Er hätte mir Theater vorspielen können, hätte mir den Hof machen können, weil er ein armer Teufel ist und ich die Erbin von Pa bin. Er ist mir eher ausgewichen. War immer ein guter Kamerad. Ich rechne ihm das hoch an. Aber Liebe besteht zwischen uns beiden nicht. Und zu einer Heirat wird es zwischen uns nicht kommen, weil — nun, vielleicht gerade, weil auch ich ein anständiger Kerl bin. Wir sind uns wahrscheinlich beide zu gut dafür, uns aus Geschäftsrücksichten von Pa verkuppeln zu lassen.“
„Geschäftsrücksichten ... Mein liebes Kind: E. F. W. ist kränker, als du ahnst. Er wird all den Anstrengungen nicht mehr lange gewachsen sein. Die beiden guten Jungen, auf die er jetzt bald hätte rechnen können als seine Mitarbeiter und Nachfolger, sind ihm genommen worden. Dora hat ihm keine Stütze ins Haus gebracht. Martha bringt ihm Herrn Pinneke junior.“
„Für Martha wird Pinneke noch eben genügen, liebe Tante Trude.“
„Aber nicht für die Firma. Ein viel zu kleiner Kopf, Minna. Der Nachfolger von Pa muss ein Mensch von grossem Format sein. Vor allem ein Charakter. Weder ein wichtigtuender Spiessbürger, wie Pinneke, noch ein Verschwender, ein Schuldenmacher, wie — wie Herr von Überling.“
„Es gibt also nur das eine Juwel auf der ganzen Welt, das E. F. W. retten kann: den Vetter Fritz.“
„Bist du je gedrängt worden, Minna?“
„Nein. Aber ich bin von Pa in Arrest gesteckt worden. Hierher. Zu dir, liebe Tante Trude. Du hast es schwer mit mir gehabt, ich weiss. Denn du hast immer gut sein wollen zu mir. Aber für mich war es oft zum Verzweifeln. Lasst mich jetzt nach Berlin zurück! Ein stiller Pakt: Es wird weder zu mir noch zu Fritz über die Sache gesprochen. Zunächst bis — sagen wir: zunächst bis Weihnachten.“
„Dann bist du fünfundzwanzig, Kind.“
„Vielleicht also noch vernünftiger als heute.“
Tante Trude seufzte. „Das gebe Gott! Gut, ich schreibe an Pa.“
Minna stand auf und küsste sie auf die Wange. „Lass mich’s dann lesen, Tante Trude, bitte!“
... Eine Stunde später las sie den Brief, schloss ihn rasch und klebte die Freimarke drauf.
„Wir müssen uns doch aber erst über den Tag einigen?“
„Morgen ist der Fünfzehnte. Ich packe hernach. Hier hab’ ich noch eine Ansichtskarte von deinem Lieblingsplatz. Für Dora und Martha. Mit der Freudenbotschaft, dass ich am Fünfzehnten abends dort bin. Ich bringe beides jetzt gleich zur Bahnhofspost. Punktum!“
Sie schrieb die Karte im Stehen und trocknete die Schrift, indem sie beim Verlassen des Zimmers sich damit Luft zufächelte. Auf der Karte war der Sechzehnte angegeben statt des Fünfzehnten. Sie wollte Spielraum haben. Denn von der Bahn aus telegraphierte sie an Bert, dass sie morgen in Hannover einen Zug überspringen werde. Sie nannte ihm das Hotel, das sie von der städtischen Feier her kannte. War er verhindert, so durfte er ihr nicht wieder nach Pyrmont Nachricht schicken. Es war ein langes, umständliches Telegramm. In ihrer Angst, in ihrer Sehnsucht, in ihrer Verzweiflung wusste sie sich nicht kürzer zu fassen.
Wenn Fränze Daus von der Köpenicker Landstrasse abbog und den Feldweg entlangging, der zur Gärtnerei ihres Onkels führte, dann pfiff sie klar und schmetternd das Siegfriedmotiv.
Julius Bottschau nannte das Pfeifen unweiblich. Doch sooft er das ohrfällige Ankunftssignal hörte, huschte ein Lächeln über sein braunes Gesicht. Nicht weil er sich je am Kampf um Richard Wagner beteiligt hätte — in der Königlichen Oper war er ja überhaupt noch nie gewesen —, sondern weil er sich über Fränze und ihr keckes Zwanzigjahrschnäuzchen freute. So lange hatte er hier allein gesessen, auch abends immer. Seit dem Tode seiner Frau hatte es für ihn nur Arbeit gegeben. Mit Berlin besass Treptow kaum Verbindung. Ja, durch eine Pferdebahn, aber die klingelte nur jede Stunde einmal durch die entsetzlich langen Vorstadtstrassen. Solange Fränze in Charlottenburg wohnte, als sie die neue Gartenbauschule für Frauen besuchte, hatte sie immer nur auf ein paar Sonntagsstunden hier herauskommen können. Dann war sie in Trier und Köln und Hamburg in modernen Blumengeschäften in Stellung gewesen. Von dem grossen Leben dort draussen wusste sie nun Wunderdinge zu erzählen, über die man eigentlich staunen konnte. Aber Julius Bottschau liess sich so leicht nicht verblüffen. Theoretisch wusste er über viel mehr Bescheid als über Dinge aus dem Grossstadtleben. Er war eine unersättliche Leseratte. Und seine Rosenzucht stellte ihn stets vor fremde Wunder und Rätsel, die ihm doch noch wichtiger schienen als etwa das neuerfundene Telephon, die Quasselstrippe, an der man auf dem Postamt in der dunklen Zelle hören konnte, was Müller und Schulze am andern Ende von Berlin sagten. Er war ja froh, wenn er das gar nicht erfuhr ...
Fränze erstattete Bericht über die Arbeiten, die heute am Baumschulenweg in den Rosenplantagen erledigt worden waren. „Peter versteht die Sache, ist ordentlich und fleissig, auch wenn man ihm nicht auf die Finger guckt. Aber den Edu musst du dir mal wieder vorbinden. Mit dem schaff’ ich’s alleine nicht.“
„Ist er frech geworden?“
„Dann ging’s noch eher. Dem wär’ ich gewachsen. Das Unglück ist grösser: Er ist erstens dumm und zweitens verliebt.“
„Etwa in dich?“
„Dann hätt’ ich doch nicht an seiner Intelligenz gezweifelt. Wie? So viel Eva steckt doch auch wieder in mir. Obwohl ich Klugheit und Verliebtheit noch selten vereint gesehen hab’.“
Sie lachten beide. Julius Bottschau erhob sich mit einem leisen Ächzen und tat ein paar Schritte am Stock durch das kleine Treibhaus. „Sobald ich wieder humpeln kann, komm’ ich anmarschiert. Taugt er nischt, dann fliegt er achtkantig zum Tempel ’raus.“ Er wies durchs Fenster nach der dicken Wolke, die über dem Berliner Südosten und seinen Fabrikschornsteinen lag. „Es muss Regen kommen, das merk’ ich im Knie. Im Herbst wird’s ein Vierteljahrhundert, dass sie mir die Franzosenkugel herausgeschnitten haben, und noch jedesmal, wenn das Wetter umschlägt — — Olle Kamellen!“ unterbrach er sich. Er folgte Fränze in die kleine Küche, in der sie flink die von der Aufwartefrau getroffenen Vorbereitungen für die Abendmahlzeit besichtigte, Teewasser aufsetzte und Brot schnitt. „Aber weisst du, Mädel, so vor dem Siebziger Krieg damals, da hat deine Mutter, die Helma, ebenso hochnäsig wie du jetzt über die Verliebtheit geschwatzt. Und nach dem Truppeneinzug? Hat sie richtig ihren strammen Vizewachtmeister Daus geheiratet.“
„Ei, der Daus!“ Fränze winkte ihm überlegen mit dem Brotmesser ab. „Ja, du, so hast du gerufen, als Mutter mit ihm ankam. Die Geschichte kenn’ ich nun schon. Kann mir aber nicht passieren. Keine Angst!“
„Vizewachtmeister? Nee. Dafür hast du viel zuwenig Subordination in den Knochen.“
„Stimmt. Väterliches Erbe. Wie?“
Er setzte sich an den Abendbrottisch. „Von deinem Vater hast du sogar eine ganze Menge mit. Nee, im Ernst, Mädel. Nicht nur die hellen Augen, die mausgrauen. Er war ein Durchgänger und Draufgänger, aber man konnte ihn riesig gut leiden. Wär’ deine Mutter nicht so früh gestorben, wer weiss —“
„Jetzt kommt die Sache mit der Wirtschafterin — ich ahne Schreckliches, Onkelchen. Weswegen mich Tante Elfriede aus der Westender Rennbahn herausgeholt hat. Wie Vater dann nach Ostpreussen gezogen ist als Bereiter. Wie er gestürzt und gestorben ist. Und wie Tante Elfriede durchaus ’ne Lehrerin hat aus mir machen wollen.“ Sie bediente ihn geschickt, denn sie war mit ihren Händen ebenso flink wie mit ihren Gedanken, ihrer Rede. Er merkte kaum, dass sie ihn davon abbrachte, ihr wieder einmal zu schildern, was sie so ungern hörte. „Ja, ja, ja, die strenge Tante Elfriede. Wär’s nach ihr gegangen, armer Onkel Julius, dann hättest du ja auch aufs Lehrerseminar gemusst. Und bist doch gottlob immer so ein miserabler Schüler gewesen.“
„Hier übertreibst du wieder wesentlich, du kleine Kröte!“
„In einer schwachen Stunde hast du’s mir einmal verraten. Vorige Weihnacht. Wo du mir vorgeheuchelt hast, du brauchtest kein Wasser in den Grog, weil so eine starke Erkältung in dir steckte.“
„Ist sie hernach etwa ausgebrochen, die Erkältung? Bewahre!“
„Nur ein mächtiger Katzenjammer.“
„Was für einen grauenvollen Rum hattest du aber auch in den Grog getan, Fränze! Mit Fleiss. Ganz wie die Elfriede immer bei meinem alten Herrn.“
„Onkel Julius, ich schwöre dir ewige Fehde, wenn du mich noch ein einziges Mal mit Tante Elfriede vergleichst! Erstens war sie zehn Jahre älter als du, für eine Schwester schon schlimm genug, und zweitens hast du sie nie ausstehn können. Oder hast du etwa? Gestehen Sie, Angeklagter!“ Sie stützte Messer und Gabel neben ihrem Teller auf und sah ihn funkelnd an.
„Wenn dich bloss die Ilse jetzt noch erlebt hätte, Mädel! Als meine Frau starb, warst du fünfzehn. Schreckliches Gestell warst du damals eigentlich. Fahrig, mager — wusstest nicht, wohin mit Armen und Beinen. Und was du deiner armen Tante Ilse beim Abwaschen alles zertöppert hast! Losmäulig warst du dabei auch noch. Und hieltest du den Mund, du kleiner Rabanter, dann hast du einen angeguckt ... Ja, genau so frech wie eben! Warte, das müsstest du bloss im Spiegel sehn!“
Sie lehnte sich zurück und lachte. „Gar nicht nötig! Ach, Onkel Julius, viel Schelte haben wir gekriegt. Aber es war doch sehr gut, dass wir Tante Ilse hatten. Ja, und Tante Elfriede vielleicht auch. Ruhig, Onkelchen, jawohl, ich nenn’ sie in einem Atem. Bei Tante Elfriede haben wir doch beide Hochdeutsch gelernt —“
„Ich habe noch für jedes ‚ick‘ und jedes ‚det‘ von ihr ’ne Backpfeife bezogen.“
„Siehste! Und Tante Ilse hat dir den Grog abgewöhnt und mich zu einem so mustergültigen Hausfrauenersatz ausgebildet.“
„Unvollkommen, liebes Kind. Denn heute trink’ ich bombensicher ein Glas. Der mustergültige Hausfrauenersatz wird sich doch nicht etwa damit herausreden wollen, dass kein Rum in der Küche ist?“
„Bewahre, Onkelchen. Ich hab’ nämlich heute mittag gesehn, wie du die Rumflasche in deinem Kleiderspind versteckt hast.“
„Spionage treibst du also auch noch? Zur Strafe trinkst du heute mit, Fränze!“
‚So leben wir, so leben wir!‘ pfiff sie, während sie abräumte und den Grog vorbereitete.
Behaglich sah er ihr zu und rauchte. Er hatte sich die kurze englische Pfeife angewöhnt, die sie ihm aus Hamburg mitgebracht. Als sie sich dann mit ihren Näharbeiten an den Tisch setzte, zog er die Zeichnungen und Preislisten aus der Schublade, die ihm von der Firma Heinrich Nidders & Co. ins Haus gebracht worden waren. Seine verstorbene Frau Ilse war eine geborene Nidders gewesen, hatte aber keiner der in Berlin ansässigen Familien dieses Namens angehört, aus der ein paar führende Industriefirmen hervorgegangen waren. Die Bauglaserei von Heinrich Nidders & Co., die Treibhäuser, Wintergärten und Frühbeete herstellte, hatte ihren Fabrikbetrieb noch immer im Südosten Berlins, in der Schlesischen Strasse; das Hauptgeschäft war nach der Innenstadt verlegt worden. Der Vertreter, der heute hier gewesen war, hatte ganz besondere Sorgfalt für den Auftrag zugesichert, als er — zufällig — hörte, dass Bottschaus Frau einer Familie Nidders entstammte.
„Zufällig, hm.“ Es war unwiderstehlich, wie Fränze so ein halb der Verlegenheit entstammendes Wort wiederholen konnte.
Onkel Julius tat gleich, als suchte er nach Gegenständen, um sie damit zu bombardieren. Das bisschen Stolz, irgendwie mit den reichen und mächtigen Nidders versippt zu sein, war ja das einzige, was ihm von Ilse geblieben war; Kinder hatte sie ihm nicht geschenkt, und das kleine Sparkassenbuch, das Fränze von ihr geerbt, hatte kaum die Kosten ihrer Berufsausbildung gedeckt. „Schwadroniert hat er mächtig, der Herr Vertreter“, sagte Onkel Julius. „Na ja, ‚Es-ist-erreicht‘-Schnurrbart. Jardeton. Kennst die Leutchen ja. Was er alles über die Ausstellung zu prophezeien wusste! Also keine Ahnung, dass uns hier etwa der Treptower Park damit verschandelt würde.“
„Hab’ ich auch ohne den Herrn Vertreter nicht geglaubt, Onkelchen. Die landwirtschaftliche Wanderausstellung, die sie euch im vorigen Juni hier mitten in den Park hineingesetzt haben, hat doch keinen von euch Anliegern glücklich gemacht. Oder? Fünf Junitage sollte sie dauern, und vom März bis Mitte Juli war da drüben alles mit Zelten besetzt, mit Vieh, Geräten und Maschinen. Wie haben die Anlagen hernach ausgesehn! Und die neue Ausstellung würde ja noch viel grösser. Ich erinnere mich noch an das Gerede in Hamburg, als es hiess, die Berliner dächten nun schon gar an eine Weltausstellung.“
„Längst überholt. Nein, das hat der Kaiser ja gleich im ‚Reichsanzeiger‘ erklären lassen: Dem Weltausstellungsplan werde nicht nähergetreten. Aber dass in Berlin für achtzehnhundertsechsundneunzig was Funkelnagelneues zustande kommen soll, das ist sicher. Ein Arbeitsausschuss ist schon lange dafür tätig. Die einen sind für Witzleben, das liegt im Westen von Charlottenburg, wo sich die Füchse gute Nacht sagen, die anderen für Treptow. Und ich weiss nicht, ich weiss nicht, ob es am Ende nicht doch ganz richtig wäre, wenn unsereiner — —“
Fränze liess die Arbeit sinken und sah ihn listig forschend an. „Eben. Warum sitzt Herr Julius Bottschau nicht selbst im Arbeitsausschuss? Klügster Mann zwischen Berlin SO und Köpenick, in Mussestunden grosser Philosoph!“
„Ach, Fränze: Kleiner Landschaftsgärtner bin ich, sonst nischt.“
„Immer stellst du dein Licht unter den Scheffel. Deine Rosen! Die neue Züchtung!“
„So was gelingt einem einmal, nun ja. Halber Zufall. Ein grosser Züchter lacht vielleicht darüber.“ Er tat einen langen Zug und setzte das leere Grogglas mitten auf den Tisch. „Du denkst am Ende, die Rose sollte ich ausstellen, die neue?“
„Aber ja doch! Immerzu, Onkel Julius! Gleichgültig, wo. Ob hier in Treptow oder in Charlottenburg, wo sich die Füchse gute Nacht sagen. Es ist die erste zweifarbige Rose, die ich gesehn hab’. Auf Ehre, Onkel Julius! Innen lackrot, aussen wie Gold. Märchenhaft. Ich war zuerst fast erschrocken. Wenn die berühmten Händler die entdecken, kann es einen Welterfolg geben.“
Er nickte. „Versuche mach’ ich damit nun schon im dritten Jahr. Als Hochstamm wie als Beetrose setzt sie sich tatsächlich durch.“
„Ich bewundere deine Geduld, Onkelchen. Ich an deiner Stelle wäre schon gleich vor drei Jahren zum Ökonomierat Späth gelaufen oder zu einem der anderen Sachverständigen hier in der Mark. Der hätte dir die Rose doch mit Kusshand abgekauft.“
„Tja. Möglich. Aber wenn ich sie nun auf einer Ausstellung vielen hunderttausend Menschen zeigen könnte, aus ganz Deutschland und dem Ausland, und gleich in tausend Exemplaren oder mehr — dann wäre das der Kusshand fast noch vorzuziehen, Kleine, wie?“
„Grossartig, Onkel Julius!“ Sie nahm sein Glas und lief in die Küche, um ihm noch einen Grog zu brauen. Dabei pfiff sie nun wieder ihr ganzes reiches Repertoire. Natürlich meist Wagnermotive. In Hamburg hatte sie doch den „Ring“ gehört. Plötzlich stürmte sie durch die Tür bis zum Tisch zurück und sah mit ihren hellgrauen Augen den Rosenzüchter strahlend an. „Noch immer hast du ihr keinen Namen gegeben. Weisst du, wie sie heissen muss, die neue Kreuzung? ... Feuerzauber!“
Das Wort klang gut. Es passte auch. Er entsann sich, dass sie ihm öfters schon von der Walküre und dem Siegfried erzählt hatte, auch von dem Flammenwunder des Feuerzaubers. Bescheidener als sie hatte er daran gedacht, seiner verstorbenen Frau die Rose zu widmen. Aber „Ilse“ — den Namen behielt man nicht so leicht. „Nicht übel: Feuerzauber. Bloss hab’ ich im Sommer bei Zenner, in der Spreewirtschaft drüben, wo die Pionierkapelle das Stück gespielt hat, mir die Ohren zuhalten müssen. Mit Wagner komm’ ich eben nicht mehr mit, verstehst du. Mozart ist mir lieber. Und der ‚Freischütz‘. Oder Lortzing.“
Sogleich pfiff sie sein Lieblingslied: ‚Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar —!‘ Dabei fuhr sie ihm in seine feste, grauweisse Frisur, die noch immer den alten Militärschnitt aufwies. Und dann sang sie das Motiv des Feuerzaubers. Ihre Stimme war jung und hell, ihre Begeisterung gross. Sie holte den Grog, probte, da er es wollte, schüttelte sich leicht und setzte das Glas vor ihn hin. „Feuerzauber! Es bleibt dabei?“
„Aber vorläufig keiner Menschenseele verraten. Auch den Gehilfen nicht. Die dürfen noch keine Ahnung haben.“
„Wetten wir, dass du auf der Ausstellung eine Medaille kriegst?“
„Die kannst du dann als Brosche tragen, wenn du mal tanzen gehst.“
Sie waren heute viel länger munter als sonst.
„Weisst du, Fränze, den Auftrag für Heinrich Nidders und Co. werde ich lieber noch ein paarmal überschlafen“, sagte er, als er zu Bett ging. „Stellen wir die Rose aus, dann kostet das Platzmiete. Man müsste sie doch gleich in ein paar Beeten zeigen, im Boden gewachsen, nicht bloss in Töpfen.“
„Und mittendrin ein hübscher Pavillon, Onkel Julius. Für den Schnittverkauf und für die Bestellungen.“
„Teure Sache.“ Er kniff ein Auge zu. „In den Pavillon setzen wir natürlich einen bärbeissigen alten Herrn mit zertöppertem Knie, was meinste?“
Sie öffnete beide Arme und verschlang die Hände im Nacken. „Ich bin ganz schrecklich glücklich, Onkel Julius!“ sagte sie.
Die Berliner standen dem Gedanken einer grossen Ausstellung noch ziemlich gleichgültig gegenüber, mindestens abwartend. Für eine Weltausstellung waren überhaupt nur die verwegensten Spekulanten eingetreten. Man gönnte es ihnen, dass der Kaiser energisch abgeblasen hatte. Aber die Bewegung setzte etwas stärker ein, als ein Arbeitsausschuss zusammentrat und der Kampf um das Gelände begann. Die Berliner Innenstadt kam nicht in Frage, der Norden gehörte weit hinaus der Industrie, den Süden mit dem Tempelhofer Feld gab das Militär nicht her, es blieb also nur der äusserste Westen oder der äusserste Osten.
Witzleben — oder Treptow? An den Stammtischen erörterte man die Frage, in den Zeitungen, in den Barbier- und Frisiersalons. Allgemach wurde man hitzig. Vor allem in Börsenkreisen, in den Gewerbevereinigungen, auch in verschiedenen Sitzungen der Stadtverordneten.
Die führenden Industriefirmen vertraten durchaus entgegengesetzte Standpunkte. Der junge Fritz Nidders staunte über die Unmöglichkeit, wenigstens die Häuser, die verwandtschaftliche Beziehungen besassen, in einer solchen allgemeinen Frage unter ein Dach zu bringen. Es war jener Fritz Nidders, der von einem Vetter des Grossindustriellen E. F. W. Nidders stammte. Sein Vater hatte sich in München mit einem Mädchen aus ganz anderen Kreisen verheiratet und war im Siebziger Krieg gefallen. Nach dem Tode der Mutter hatte E. F. W. die Mittel hergegeben, um ihn etwas lernen zu lassen. Fritz war zunächst nach England geschickt worden, damit er seine Gassenbubengewohnheiten ablegte. Siebzehnjährig war er als wirklicher kleiner Gent aus Oxford zurückgekehrt. Inzwischen waren die beiden Söhne von E. F. W. der Scharlachepidemie erlegen, das Schicksal von Fritz Nidders lenkte plötzlich in ganz neue Bahnen; denn im Hause wuchsen drei hübsche blonde Töchter heran, von denen die eine oder andere einmal seine Frau werden konnte. Jedenfalls erhielt Fritz die Ausbildung, die für einen Leiter der Firma E. F. W. Nidders, Turtschenthal & Co. erforderlich erschien. Auf der Hochschule in Darmstadt sollte er sich alle theoretischen Kenntnisse im Wesen des modernen Gas- und Wasserleitungsbaus und der Kanalisation aneignen. Zur praktischen Ausbildung kam er darauf nach Glasgow und London. Hier beschäftigte er sich aber eher mit architektonischen Studien, was E. F. W. Nidders nicht billigte. Fritz wurde also früher, als er erwartet hatte, nach Charlottenburg zurückgerufen, um sich der Arbeit im Geschäft zu widmen.
Im Hause seines Onkels hatte sich in den letzten vier Jahren abermals allerhand geändert.
Dora, die älteste Tochter, war die Ehe mit dem jungen Turtschenthal eingegangen, hatte sich aber bald nach der Hochzeit von ihrem Mann getrennt. Turtschenthal junior war aus der Firma ausgeschieden und nach Südamerika gegangen. Dora hatte sich zweimal wieder verlobt. Obgleich ein beträchtliches Erbe hinter ihr stand, schien es doch zu keiner Heirat mehr zu kommen. Dora war sehr anspruchsvoll und hochmütig, sie konnte sogar ganz unausstehlich sein. Gegen den entfernten Vetter Fritz, der drei Jahre jünger als sie war, schlanker als sie, auch sportlich gewandter, überall beliebt, war sie schon immer voreingenommen. Er galt in ihren Augen als Erbschleicher.
Martha, die Jüngste des Hauses, hatte sich zu Weihnachten mit dem jungen Pinneke verlobt, dem Haupterben der Firma Pinneke & Nidders.
Minna, die Mittlere der drei Blondinen, war die Hübscheste; sie passte auch dem Alter nach zu Fritz. In den wenigen Ferien, die sie alle zusammen an der Ost- oder Nordsee verlebt hatten, waren sie leidlich miteinander ausgekommen. Minna war sportlich veranlagt wie keine ihrer Schwestern, vor allem war sie eine gute Reiterin, sie hatte ein netteres Wesen, es fehlte ihr vor allem der masslose Gelddünkel der Schwestern. In vielen Kreisen galt es schon als abgemacht, dass aus den beiden ein Paar würde, noch bevor Fritz Nidders aus England heimgekehrt war.
Wo immer er sich nun zeigte, schien man über ihn unterrichtet. Aber man war falsch unterrichtet. Man hielt ihn entweder für einen Mitinhaber der Firma E. F. W. Nidders oder doch mindestens für den selbstverständlichen Schwiegersohn des Kommerzienrats.
Fritz legte öfters Wert darauf, diesen Irrtum aufzuklären. Zu dem alten Pinneke, der die Fabrik landwirtschaftlicher Maschinen Pinneke & Nidders in Moabit leitete, sagte er einmal mit absichtlicher Betonung: „Nein, Herr Pinneke, ich bin ja mit sämtlichen Berliner Nidders nur ganz entfernt verwandt, ich bin von Hause aus ein ganz armer Teufel, und ich habe auch nicht die Absicht, etwa auf Kosten meines Onkels E. F. W. hier den Grosskaufmann und den feinen Kerl zu spielen. Wirklich nicht. Ich will arbeiten, geradeso, wie E. F. W. gearbeitet hat, der ja immer wieder so gern erzählt, wie er vor fünfzig Jahren barfuss durch die Tegeler Strasse hier in Berlin eingewandert ist. Heraufkommen will ich. Selbstverständlich. Aber ebenso wie E. F. W.: aus eigenem Können und aus eigener Kraft.“
Pinneke sprach mit seinem Sohn darüber, gewissermassen mit erzieherischer Nebenabsicht, der berichtete es nicht ganz sinngetreu seiner Verlobten, Martha erzählte Dora davon, und als E. F. W. aus Doras Mund von dem stolzen Geständnis des jungen Mannes hörte, dessen Wohltäter er war, hatte es allmählich die Färbung einer ungezogenen Herausforderung erhalten.
Der alte E. F. W. Nidders besass einen unternehmenden Kopf und grosse Menschenkenntnis. Er traute Fritz Besseres zu als Dora, Martha und Marthas Bräutigam. Die Jahre seines eigenen Aufstiegs vergass er nie. Das hinderte ihn nicht an selbstbewusstem Auftreten. In Westend hatte er sich eine grosse Villa bauen lassen. Seinen Töchtern hielt er Reitpferde. Auch ein paar Kutschen und Sportwagen waren da, korrekt bespannt.
Der Verkehr im Hause schien ihm neuerdings zu entgleiten. Er begrüsste es nicht allzu freudig, dass Herr von Überling, der ihm die letzten Pferdekäufe sachverständig, wenn auch nicht eben billig besorgt hatte, ein so häufiger Gast war. Überlings Papa hatte stadtbekannte Schulden; der Leutnant selbst war aus seinem Regiment ausgeschieden, noch bevor der finanzielle Zusammenbruch ihn mit ins Unvermeidliche riss. Dora hatte eine Weile mit ihm geflirtet, das hätte ein Unglück geben können. Überling aber war so unvorsichtig, sich mehrmals mit einer leichten Operettenbekanntschaft zu zeigen. Der Klatsch vergrösserte das Abenteuer. Dora bekam darauf einen ihrer Anfälle. In der kleinen Reitbahn im Garten am Spreeufer ging die Freundschaft zwischen den beiden rasch auseinander. Aber da Minna noch einmal Reitunterricht bei ihm genommen hatte und sie sich von der älteren Schwester in keiner Weise abhängig machen wollte, blieb der Verkehr mit Überling noch eine Weile bestehen. Jetzt hatte E. F. W. seine Tochter Minna der Tante Trude für ein paar Wochen nach Pyrmont mitgegeben. So war der Reitunterricht beendigt, und es konnte wieder Ruhe im Hause einkehren ...
Als E. F. W. mit seinem Neffen über die Frage sprach, ob sich die Firma an der Ausstellung beteiligen sollte, und Fritz seiner Verwunderung darüber Ausdruck gab, dass die Nidders hier in Berlin zu gar keiner Einigkeit zu bringen seien, meinte er: „Das Übel ist nicht berlinisch, sondern echt deutsch. Jeder will seinen eigenen Kopf durchsetzen. Erst wenn eine Gefahr sie anpackt, so wie siebzig, dann stehen sie zusammen.“ In der Erinnerung zeigte er ein bitteres, doch überlegenes Lächeln. „Oder wenn sie glauben, dass ein Zuwachs aus der Provinz der Familie zur Last fallen könnte. Ich habe das am eigenen Leibe erfahren, Fritz. Kein Nidders hat mir geholfen, als ich mit meinen fünfzehn Jahren und meinem dürftigen Felleisen auf dem Buckel hier eingezogen bin. Voller Angst haben sie vor mir die Türen zugeschlagen, die Nidders. Siehst du: Mit dieser Gewohnheit der Nidders wollte ich brechen, als ich hörte, wie schlecht dir’s in München ging.“
Fritz Nidders verstand. „Ich schätze deine Hilfe gerade deswegen um so höher ein. — Weisst du eigentlich, dass ich dich bewundere, Onkel E. F. W.?“
Der Kommerzienrat, der kurz und gedrungen am Fenster seines Büros stand, strich seinen gestutzten, etwas spitzen Kinnbart. Mit seinen wasserblauen Augen blickte er den Neffen prüfend durch die scharfe Goldbrille an. „Das sollst du gar nicht aussprechen, Fritz! Zwischen Männern wirkt das fremd. Notabene: Du hast dich da neulich mit Pinneke senior unterhalten. Der hat dich wohl kaum richtig verstanden. Entsinnst du dich noch? Was hast du ihm da eigentlich anvertraut? Ich fürchte fast, es ist etwas Ähnliches gewesen. Wie?“
Fritz vertrug ein solches Verhör nicht. Der alte E. F. W. vergass manchmal, dass sein Schützling jetzt im Mai schon vierundzwanzig wurde. Natürlich hörte Fritz aus allem, was noch folgte, dass Dora, Martha und der junge Pinneke wieder einmal Unfrieden stiften wollten. Er zog also eine Lehre daraus. „Dass deine Firma sich an der Ausstellung beteiligen muss, halte ich für selbstverständlich, Onkel E. F. W. Die ganze Konkurrenz ist schon im Arbeitsausschuss tätig. Es tut mir also leid, dass du dich nicht selbst hast hineinwählen lassen.“
„Ich hasse diese Schwatzbuden. Das sind Eitelkeitsmärkte mit Reklametrommeln. Gute Leistungen sind billiger und dauerhafter.“
Im modernen Geschäftsleben stand E. F. W. nur immer als Beobachter im Hintergrund. Fritz begegnete stets Schwierigkeiten, wenn er ihn zu tätiger Anteilnahme an Dingen bewegen wollte, die nicht unmittelbar mit dem Fabrikbetrieb zusammenhingen. „Der Garantiefondszeichnung kann sich ein Haus wie E. F. W. Nidders unmöglich entziehen, Onkel. Es stehen schon mittlere Firmen mit dreissigtausend Mark auf der Liste.“
E. F. W. strich sich über seinen kurzen grauen Bart. „Ich denke an eine viel höhere Summe. Aber alle Nidders sollen gemeinsam dafür zeichnen.“
„Zu gleichen Teilen?“
„Bewahre. Zeichnet Pinneke dreissig, dann zeichnet Heinrich Nidders wahrscheinlich fünfzig und Rolf Nidders fünfundsiebzig. Mit fünfundneunzig kann ich dann die Viertelmillion rundmachen. Der Name Nidders mit der Zahl. Keine Silbe mehr. Draussen braucht niemand den Prozentsatz zu wissen. Aber mir genügt: Die Nidders kennen ihn. Denn diese Selbsteinschätzung wäre einmal ganz vorteilhaft und erziehlich so unter uns Pfarrerstöchtern. Du verstehst?“
„Selbstverständlich!“ Fritz begriff, dass E. F. W. vor allem einmal dem Vater von Marthas Verlobtem die richtige Rangordnung beibringen wollte. „Hast du nach der Richtung schon irgendwelche Schritte getan?“