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Am 27. Juni 1970 gelingt den Südtiroler Brüdern Reinhold und Günther Messner erstmals die Durchsteigung der Rupalflanke am Nanga Parbat, der mit 4500 Metern höchsten Fels- und Eiswand der Welt. Doch der Abstieg über die andere Seite ins Diamirtal endet tragisch mit Günthers Lawinentod. Auf Betreiben des Expeditionsleiters werden die wahren Umstände der Katastrophe unterschlagen. Messners eigene Darstellung der dramatischen Odyssee, eigenwillig wie ein Drehbuch geschrieben, wird verboten; er selbst wird zum Ziel jahrzehntelanger Rufmordkampagnen, den jüngeren Bruder seinem Ehrgeiz geopfert zu haben. Erst jetzt, 40 Jahre danach, ist sein lange vergriffenes, bis heute hoch gehandeltes erstes Buch zum Geschehen am »nackten Berg« wieder erhältlich.
Ab 14. Januar in den Kinos.
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"Die rote Rakete am Nanga Parbat. Drehbuch zu einem Film, der nie gedreht werden kann" wurde erstmals 1971 in der Nymphenburger Verlagshandlung GmbH, München, aufgelegt. Später sind Teile daraus in Reinhold Messners "Der nackte Berg. Bruder, Tod und Einsamkeit" eingeflossen. Die vorliegende Ausgabe enthät den vollständigen ursprünglichen Text, ergänzt um 163 Fotos, zahlreiche Zitate sowie um ein neues Vorwort von Reinhold Messner. Sie folgt der alten Rechtschreibung. Die in den Bildlegenden verwendeten Abkürzungen DHS bedeutet "Deutsche Himalaja-Stiftung im DAV". Die restlichen Bilder sind dem Archiv von Reinhold Messner entnommen.
Mit 221 schwarz-weiß-Abbildungen
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen aktualisierten und erweiterten Taschenbuchausgabe Oktober 2012
ISBN 978-3-492-95093-0
© Piper Verlag GmbH, München 2010
Covergestaltung: Dorkenwald Grafik-Design, München
Covermotiv: Archiv Reinhold Messner
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
GÜNTHER,
MEINEM BERGKAMERADEN
UND BRUDER
»Dieses Buch schreibe ich mit Günther zusammen. Er sitzt im Zelt neben mir, wenn ich schreibe, oder steigt mit mir auf. Ich höre ihn sprechen, und seine Bewegungen sind gleich geblieben. Wir schreiben dieses Buch für unsere Eltern. Sie brauchen einen Trost. Wir schreiben dieses Buch für unsere Geschwister. Sie sollen unsere glücklichsten Tage kennen. Wir schreiben dieses Buch für unsere Freunde. Sie sollen die Wahrheit wissen.«
Reinhold Messner, 1970
Der »Nanga« von Südosten gesehen, mit Buhl-Weg (am Grat) und Südwand (links).
Zitate
»Manchmal schreibt man ja ein Buch in der Hoffnung, es könnte eine Menge Geld bringen oder der unscheinbaren Karriere Glanz verleihen. Manchmal will man ganz profan nur die Wahrheit aufdecken oder, etwas weniger profan, eine Lüge verewigen.«
Achim Zons,in: »Auf der anderen Seite der Wand«, Süddeutsche Zeitung, 24./25. Mai 2003.
»[…] als BUCH ist es so nicht möglich. Man würde dem Ruf des Autors und dem des Verlags schaden, wenn man es etwa so drucken würde, wie es jetzt vorliegt. Dagegen spricht – innerhalb der sogenannten alpinen Literatur nicht –, daß es vielleicht ein anderer Verlag sofort zu drucken bereit ist. Was das bedeutet, wissen Sie, sehen Sie aus dem, was man in den letzten Jahren als Schnellschüsse produziert hat: es ist keine Literatur. Schreiben ist nun mal schwer. Wer sich schämt, schreiben erst lernen zu müssen, darf nie schreiben. Schreiben ist immer eine Qual, eine Sache des stillen geduldigen Dabeibleibens, vor allem aber der geistigen Disziplin. Wer SCHREIBEN kann, ist bereits ein Mann.«
Walter Pause, Brief an Reinhold Messner, 9. Dezember 1970
»Vor ein paar Tagen habe ich Dein Nanga-Parbat-Buch bekommen. Ich habe es gleich in einem Zug gelesen, und es hat mir sehr gut gefallen. Ausgezeichnet hast Du die Stimmungen bei verschiedenen Gelegenheiten getroffen: Die Kameradschaft der Bergsteiger und Hunzas, die Stimmung in den Hochlagern, wo nicht nur gearbeitet und Schnee geschaufelt wurde, sondern wo die meisten von uns es auch sehr schön und sogar gemütlich gefunden haben, im Gegensatz dazu die gedrückte und unsichere Stimmung, sobald man unten etwas mit Herrligkoffer zu tun hatte.«
Dr. Hermann Kühn, Brief an Reinhold Messner, 10. März 1971
»Ich habe bereits ein NangaParbat-Buch umgeschrieben.«
Walter Pause
»Auf die alten Kameraden war aber Verlaß, von Kienlin und Saler schrieben ihre ›Gegenbücher‹ […]«
Jochen Hemmleb,in: »Alpinismus reloaded. Revisionismus in der Alpingeschichte«, Berge, Nr. 5/2007, S. 77
»›Bergauf-Bergab‹ stellt für mich auch eine Art Gegenentwurf zu Reinhold Messner dar.«
Michael Pause,in: »Pause am Berg«, Leonart – Das Kulturmagazin fürs Oberland, Oktober 2007, S. 40
»Irrtümer sind zu verzeihen. Ob es auch die Täuschung ist – das ist eine Frage der menschlichen Größe auf der Seite derer, die getäuscht werden sollten.«
Jürgen Thorwald,in: »Krach um den Nanga Parbat«, Quick, Nr. 34, 23. August 1953, S. 12 – 34
»[…] wie wenig es dem Opfer des Gerüchts hilft, empört den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe zu bezweifeln – weil das dazu führt, daß diese Vorwürfe immer und immer wieder wiederholt und dem Beschuldigten vorgehalten werden, und weil Medien sich dann mit noch größerer Intensität dem Milieu widmen, in dem sie das Opfer des Gerüchts wähnen.«
Heribert Prantl,in: »Rufmord leicht gemacht«, Süddeutsche Zeitung, 25. Juni 2003. S. 2
»Auch aus Steinen, die in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.«
Johann Wolfgang von Goethe
Allein die vielen ...
Allein die vielen Unwahrheiten, die zur Nanga-Parbat-Expedition 1970 in die Welt gesetzt wurden, zwangen und zwingen mich, damals wie heute Stellung zu beziehen. Obwohl mir der Expeditionsvertrag dies ausdrücklich untersagte. Heute ist das nicht mehr der Fall.
Mit der zunehmenden Zahl von Menschen, die auf die höchsten Berge steigen, wächst auch die Legendenbildung darüber. Zum einen, weil logische Beweggründe für unsere freiwilligen Überlebensversuche in der Gefahr nicht nachvollziehbar sind, aber auch, weil der Gefahrenraum Berg – ebenso wie das Jenseitige – den allermeisten Menschen nicht zugänglich ist. Nicht wenige verschworene Gemeinschaften zelebrieren ihr Bergsteigen deshalb wie eine Religion. Und wie bei dieser lassen sich weder Mythen noch Kolportagen aus der Welt schaffen. Weil sie nicht nachprüfbar sind. Nicht daß diese Legenden unserem Tun Sinn verleihen würden, das Problem ist vielmehr, daß sie immer neue Legenden generieren.
Natürlich respektiere ich alle Bergsteiger und ihre erlebten Geschichten. Dazu gibt es die Meinungsfreiheit – aber nicht, auf daß hemmungslos Lügen und Irrtümer verbreitet werden.
Karl Maria Herrligkoffer, der Leiter und Organisator der Nanga-Parbat-Expedition 1970, war der jüngere Halbbruder von Willy Merkl, der 1934 die deutsche Nanga-Parbat-Expedition leitete und dabei am Berg umkam. Seither war für Herrligkoffer, der ausgebildeter Arzt war, dieser »Kampf um den Nanga Parbat«, zu dem er zwischen 1953 und 1975 acht Expeditionen führte, Erblast und Vermächtnis zugleich.
1953 ist er Leiter der Expedition, bei der Hermann Buhl in einem spektakulären Alleingang gegen das ausdrückliche Verbot von Herrligkoffer als erster Mensch den Gipfel erreicht. Herrligkoffer hat selbst nie einen der hohen Gipfel bestiegen. Da er jedoch äußerst geschickt war im Umgang mit Sponsoren und bei der Beschaffung finanzieller Mittel, war er in der Lage, die Teilnehmer an seinen Expeditionen Verträge unterschreiben zu lassen, die ihm die exklusiven Verwertungsrechte der jeweiligen Besteigungen sicherten, so daß keiner der Beteiligten seine eigene – abweichende – Sicht der Dinge veröffentlichen konnte. Auch ich hatte 1970 – wie alle Teilnehmer – einen derartigen Expeditionsvertrag unterschreiben müssen.
Als meinem Bruder Günther und mir dann die dritte Besteigung des »Nanga« gelungen war, glaubte Herrligkoffer die Geschichte wieder so drehen zu müssen, wie sie in sein Weltbild passte. Diesmal hatte er den Gipfelgang nicht verboten wie 1953, sondern einen Alleingang von mir ausdrücklich befürwortet. Trotzdem trug ich alle Verantwortung für dieses riskante Unternehmen selbst, war aber durch eine falsche Wetterinformation (die »rote Rakete«) und die Schwäche meines Bruders, der mir aus freien Stücken nachgestiegen war, gezwungen, Entscheidungen zu treffen, die uns zuletzt in eine ausweglose Situation brachten. Es ging nur noch ums Überleben. Wie wir dann durch Séraczonen, Lawinenhänge, über die Mummeryrippe bis hinab zum Wandfuß kamen – 3000 Höhenmeter Gefahr! –, grenzt an ein Wunder. Günther, für den ich dabei immerzu einen Weg aus Kälte und Höhe, Verzweiflung und Chaos gesucht hatte, folgte mir bis zuletzt. Bis er im Gletscherkessel am Wandfuß verschwand.
Der Rettungsversuch meines Bruders am Nanga Parbat – bis zum Beinahetod selbst gewollt, selbst erfahren, selbst erlitten – gehört zum Schwierigsten, was mir das Leben aufgebürdet hat: eine Verzweiflungstat, die ich nicht als Pflicht, sondern als Selbstverständlichkeit erfahren habe. Hätten Michl Anderl und Herrligkoffer ihren Irrtum beim Wettersignal und die Bedeutung der »roten Rakete« eingestanden und die Tragödie so beschrieben, wie sie geschehen ist, wäre der Streit nicht entstanden. Bald aber nachdem ich in der Zivilisation zurück war, erfand der Expeditionsleiter Herrligkoffer die Geschichte, ich hätte aus Ehrgeiz gehandelt, den toten Bruder an der Merklscharte zurückgelassen und sei – von Ruhmsucht getrieben – allein über die Diamir-Seite des Berges abgestiegen. Und nur diese Behauptung, ohne jeden Anhaltspunkt öffentlich gemacht und nie zurückgenommen, hat den Streit genährt, der seit vierzig Jahren schwelt.
Denn dieser ungeheuerlichen Unterstellung, wenn auch nur in die Welt gesetzt, um von der Tatsache abzulenken, daß niemand nach dem Verschwinden von Günther und mir im Diamirtal nach uns gesucht hatte, wollte und mußte ich widersprechen. Ich tat es, nachdem sich Herrligkoffer einer Schlichtung des Streits im Dezember 1970 verweigert hatte, in Gesprächen und mit einem Buchmanuskript – »Die rote Rakete am Nanga Parbat« –, in dem ich erzählte, was bei der Überschreitung des Nanga wirklich passiert war.
Wie Herrligkoffers Rückzugsbefehl 1953 an Hermann Buhl war auch die Ermunterung zum Blitzversuch 1970 nachvollziehbar. Beide Male hatte der Expeditionsleiter seine Gründe für seine Entscheidung, die zu respektieren sind. Beide Male aber gelang es Herrligkoffer, die Mannschaft zu spalten »in jene, die den Gipfelgang möglich gemacht, und jene, die ihn sich selbstsüchtig genommen haben«. Und seit damals hat die »Wahrheit vom Nanga« zu 1953 und 1970 zwei Gesichter. Als ob mit geteiltem Recht wenigstens das halbe Recht zu haben wäre, wurden mit Erklärungen vor Gericht und in den Medien die Tatsachen immer weiter verfälscht. Bis der Mannschaftserfolg dem Organisator Herrligkoffer allein gehörte und seine Moral triumphierte. Und damit hatten die Moralisten das Wort, die nicht mit Tatsachen, sondern mit der Keule ihrer Moral argumentieren. Denn schlimmer als die Moralisten selbst sind immer ihre moralischen Prinzipien.
Die Wahrheit aber liegt nicht in der Mitte. Sie stützt sich auf Fakten. Die Fälscher und ihre Fans, diejenigen also, die ihnen aufgesessen sind, trösten sich seit damals mit Rechthaberei. Es waren ja ganze Haufen, die sich dafür schlugen, ihrer Moral zum Erfolg zu verhelfen, indem sie mir unterstellten, den Bruder im Stich gelassen zu haben.
Auch die Behauptung – 30 Jahre später –, ich hätte »den Bruder dem Ehrgeiz geopfert«, basiert auf einer Fälschung. Denn das Tagebuch, das dazu abgedruckt wurde, gibt es im Original nicht, und die dazugefügte Seite, in der ich als Kronzeuge gegen mich selbst zitiert werde, ist eine Erfindung. Der Text ist frei erfunden, falsch datiert und in seiner Böswilligkeit unverzeihlich.
Meine Empörung in dieser Sache richtet sich weniger gegen die stil- und charakterlosen Kolporteure als vielmehr gegen die für die Veröffentlichung verantwortlichen Verleger und Redaktionen, die bei Prüfung der Unterlagen jede Sorgfaltspflicht vermissen ließen.
Hemmungslos wurde im Namen der Wahrheit gefälscht und Gefälschtes abgedruckt, anklägerisch die »Kameradschaft« beschworen, um einen »Kameraden« mit einer abgesprochenen Lügengeschichte zu diskreditieren. Daß zuletzt auch die Hauptleitung des Deutschen Alpenvereins (DAV), des größten Bergsteigervereins der Welt, das eigene Museum in München zur Verfügung stellte, um die auf Fälschung, Lüge und Rache aufgebaute Rufmordkampagne von höchster Bergsteigerkanzel herab absegnen zu lassen, ist der Höhepunkt einer Ausgrenzungsaktion, für die in der Bergsteigerszene nur wenige Vergleiche zu finden sind. Eine Distanzierung der Hauptleitung von der Kernaussage der Kolportage ist nie erfolgt, obwohl mit dem Leichenfund 2005 am Fuße der Diamirwand bewiesen ist, daß die beiden »guten Kameraden« gelogen haben.
Auf der Praterinsel in München, im DAV-Haus also, ist 2003 klar geworden, wie emotional die Angelegenheit Nanga-Parbat-Überschreitung besetzt ist. Warum haben die »Nanga-Kameraden« ausgerechnet dort ihre Gesinnungsgenossen versammelt, vorwiegend AV-Mitglieder, auf die »Verlaß« ist, wie Jochen Hemmleb weiß. Es folgte, was bei Ausgrenzungen häufig zuerst kommt: das Unterteilen in »wir« und »der andere«. Das Gedächtnis dieser Gesinnungsgenossen sollte mein Erinnern ja als Lüge und das ihre als Wahrheit ausweisen. Ihre Version der Tragödie sollte aber nicht nur Selbstschutz sein, sie wurde als Waffe eingesetzt gegen die Lebenshaltung des Andersdenkenden. Ohne jeden Widerspruch. Obwohl die anwesenden Alpenvereinler wissen konnten, daß sie einer Rufmordkampagne aufsaßen – ich hatte die Leitung des Alpinen Museums und den Ersten Vorsitzenden des DAV gewarnt –, bestimmt die damals dort anwesende Schar aus Nanga-Kameraden, »Bergsteigern« und DAV-Funktionären – dazu ein paar Gaffer wie immer bei Säuberungen – seitdem die Diskussion. Seit damals belastet den DAV also das Problem, Komplize einer Rufmordkampagne geworden zu sein.
Natürlich ging es Hans Saler auch darum, endlich jene Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu bekommen, die er seit Jahrzehnten schon suchte. Ein Buch über seine »Heldentaten« zur See und am Berg, für das ich ihm wenige Jahre zuvor ein Vorwort geschrieben hatte, ist damals nicht veröffentlicht worden. Mit seiner »Enthüllungsstory« aber hörten ihm die Leute endlich zu. Und daß mit so wenig Einsatz so viel Aufmerksamkeit zu ernten war, verführte weiter zu Lug und Trug.
Jetzt, berühmt wie der, dem er die Ehre genommen hat, geblendet »vom Glanz des Katzengoldes«, wollte er seine Schuld nicht eingestehen. Bis heute nicht. Die Lügen aber, die sich Saler über den Abstieg vom Nanga Parbat, bei dem er nicht dabeigewesen ist, ausgedacht und als Tatsachen einer breiten Öffentlichkeit verkauft hat, sollte ich sogar nachsprechen: »Warum zeigst Du nicht einmal echte Größe und sprichst die Wahrheit. Das wäre Dein bisher noch unbekannter Neuntausendergipfel.« Der Held, der Helden vom Thron stürzt, der »gute Bergkamerad« und Rächer allen Übels, der so lange im Schatten gestanden hat, will die Verantwortung für seinen Rufmord ja nicht tragen.
Schlimmer noch: Um seinen gezielten Vorwürfen den Ruch der Kampagne zu nehmen, bemühte er sogar meine Eltern, die schon lange nicht mehr leben: »Nach der Expedition fragte ich mich oft, was Du Deinen Eltern und Geschwistern wohl erzählt haben mochtest. Ich war gelegentlich in Villnöss, habe es aber nie gewagt, Deine Eltern aufzusuchen. Welche Fragen hätten sie wohl gestellt? Ich hätte sie nicht belügen können.«
Verkehrte Welt: Die »guten Kameraden« geben vor, der Wahrheit zu dienen. Ihr Wunsch, ja ihr Ziel ist von allem Anfang an die Aufdeckung einer Lüge gewesen. Also wird zuerst eine Lüge in die Welt gesetzt, um sie anschließend aufdecken zu können. Um die Glaubwürdigkeit ihres Gegners endgültig zu brechen, dichten sie ihre Lügen ständig dem anderen an, um ihm zuletzt ihre »gute Kameradschaft« angedeihen zu lassen. Aufmerksamkeit heischend, bekommen sie zuletzt von den Claqueuren, die sich haben belügen lassen, Rückendeckung – wie stünde man sonst als Mitläufer da?
Anders der »Baron«. Nicht der Wunsch, den Aufstieg zu riskieren, die Sehnsucht, dabeizusein, hat Max von Kienlin 1970 zum Nanga Parbat gelockt. Ob ihn die Hoffnung, endlich als Bergsteiger zu gelten, 32 Jahre später zu jener widersprüchlichen Kolportage über unsere Nanga-Parbat-Überschreitung veranlaßt hat, die er weder kennt noch begreifen kann, ist nicht die Frage. Der Expeditionsgast, der alle Charaktere der Mannschaft über Monate kennengelernt hatte, wollte vielleicht nie sein wie wir Bergsteiger, zuletzt aber bei den Gipfelsiegern stehen. Wer immer sie auch sein mochten.
Vielleicht glaubt jemand, der sich im Charakter der anderen spiegelt, diese anderen zu durchschauen, auch ohne ihre Sehnsüchte zu teilen. Max von Kienlin hat trotzdem unser aller Wohlwollen gehabt. Als Günther und ich für ihn augenscheinlich tot sein mußten, trauerte er mehr als unsere Rivalen, denen der Siegeskranz umgebunden wurde. Für Max von Kienlin, dem angeblich mißfällt, dass ich »gewisse ethische Prinzipien mit Füßen trete« und kein »Idealist« bin, ist »Kameradschaft eine schicksalhafte Gemeinschaft«. Damit übernimmt er ein äußerst attraktives Ideal der späten viktorianischen Zeit, die im Alpinismus ein charakterliches Weiterbildungspotential sah. Zumindest für die bergsteigende Mittelschicht. Daß ich aber das »Unmögliche« überlebt habe, konnte mir als Beweis dafür zum Vorwurf gemacht werden, ich hätte den Nanga Parbat nach einem klammheimlichen Plan überschritten. Eine willkommene Stütze für den Racheengel!
So verkehrt sich der »gute Kamerad« wie durch Teufelslist in einen idealistischen Rächer, der zuschlägt, weil er die Gesinnungsgenossen unter den Bergsteigern als Verbündete auf seiner Seite weiß.
Jürgen Winkler und Gerhard Baur haben den Tod meines Bruders ebenfalls nicht miterlebt, weil auch sie nicht dabei gewesen sind, halfen aber, die Lügengeschichte, die sich Hans Saler ausgedacht hat, auf die Bühne zu bringen. Max von Kienlin hat wohl, wie er selbst sagt, nur die »Drecksarbeit« am Nanga Parbat geleistet.
Dabei aber haben Ankläger wie Verbreiter der Anklage vergessen, daß die Leute zwar den Verrat lieben, auf Dauer aber nicht die Verräter. Kein Wunder also, daß sie immer neue Todesszenarien erfinden müssen, wenn der Applaus in Skepsis umschlägt. Sie wiederholen hysterisch und in immer neuen Varianten ihr Urteil: »den Bruder dem Ehrgeiz geopfert.« Als wäre Aufmerksamkeit auf Dauer nur garantiert, wenn der schlimmste aller Vorwürfe aufrechterhalten bliebe. Ob der Bruder – tot oder lebendig – an der Merklscharte zurückgelassen, in die Rupalwand zurückgeschickt wurde oder am Wandfuß allein geblieben war – es muß Vorsatz sein, den man mir unterstellt.
Auch ich kann mir die Leute nicht aussuchen, von denen ich mißverstanden werde. Wenn Ludwig Ott in einem Dokumentarfilm für die ARD aber den »bergverrückten« Max von Kienlin auftreten läßt und nicht merkt, daß der »Baron« die Geschichte von meinem Gipfelgang und Abstieg vom Nanga Parbat nur erfunden haben kann, weil er sie nicht erlebt hat, ist das naiv. Menschen lügen, Landschaften nicht. Auch Hans Saler kann nicht wissen, wie schwierig das Gelände in der Diamirwand des Nanga Parbat ist. Und damit sind wir bei der »großen Bergsteigerfamilie«, die meine Erfahrungen vom Nanga Parbat manipuliert. Von Anfang an.
Karl Maria Herrligkoffer hatte es verstanden, zusammen mit seinem ehemaligen Pressesprecher Walter Pause meiner Version der Geschichte habhaft zu werden, ehe sie erscheinen konnte. Walter Pause gehört als Bergsteiger – »Wir hatten in diesen Tagen unermüdlichen Kämpfens in den Bergen Treue und redliche Kameradschaft geführt« – und Autor – »Unser Hochgefühl steigert sich natürlich mit dem Ernst jeder Bergfahrt, so daß, wer das Schwerste wagt, auch triumphale Gipfel der Lebensfreude betritt« – jener Sekte von Idealisten und Schwärmern an, die weder unsere Geisteshaltung noch unser Bergsteigen nachempfinden, geschweige denn verstehen können. Pause, außerordentlich erfolgreicher Autor von Sachbüchern – »das Herz bestimmt den Pulsschlag des schreibenden Mannes« –, hat mit einem Brief vom 9. Dezember 1970 an mich und seinen Hausverlag zuerst angeboten, mein ihm vorliegendes Manuskript umzuschreiben. Um eine dem Expeditionsleiter genehme Geschichte zur Nanga-Parbat-Tragödie zu schaffen? Herrligkoffer war von Pause doch eingeweiht worden! Eine Kopie dieses Briefes befindet sich heute noch im Herrligkoffer-Archiv (DAV) auf der Praterinsel in München.
Ich bin damals nicht auf Pauses Vorschlag eingegangen. Auch weil ich bei Buhl vom »indischen Märchenerzähler« gelesen hatte, der in Herrligkoffers Auftrag Buhls Gipfelgang am Nanga Parbat so verfälscht hatte, dass Hermann Buhl wütend darüber sein mußte. Wie weit Herrligkoffer seinen Pressesprecher Pause damals benutzt hat, um im Nachhinein einen »Expeditionsverlauf« zu erfinden, wie er ihn sich wünschte, ist nicht nachprüfbar. Umgekehrt aber wissen wir, wieviel der Bergschriftsteller Pause zum »Nanga ’53« dazudichtete, wie er Herrligkoffer heroisierte. Ob im Auftrag oder im guten Glauben, ein verantwortungsbewußter Journalist jedenfalls hätte den Schwindel nicht mitgemacht. Schlimmer noch: Da diese Lügengeschichte gern geglaubt wurde und sie damit das Bild der Expedition in der Öffentlichkeit nachhaltig bestimmte, tragen beide – Herrligkoffer, der das Informationsmonopol über die Expedition für sich beanspruchte, und Pause, sein Schönschreiber – Verantwortung für einen Streit, der das deutschsprachige Bergsteigen bis heute vergiftet.
Ich habe »Die rote Rakete am Nanga Parbat« damals trotz Herrligkoffers Verbot und Pauses Zensurversuch veröffentlicht. Auch trotz des Expeditionsvertrages, der es mir untersagte. Geschrieben als Drehbuch und auf zwei Ebenen. Als wäre ich am Nanga Parbat zeitweise neben mir gestanden. Pause empfand es als Sakrileg: »Als Buch ist es so nicht möglich.« Aber nicht Walter Pause – »wer schreiben kann, ist bereits ein Mann« –, sondern Herrligkoffer gelang es, mein Buch und damit den Tatsachenbericht vom Abstieg vom Gipfel des Nanga Parbat zu verbieten. Mit jenem Maulkorbvertrag, der uns Bergsteigern untersagte, ein eigenständiges Buch zur Nanga-Expedition zu schreiben, und mit einstweiligen Verfügungen, die zum Teil mit Aussagen willfähriger Kameraden untermauert waren. Es gibt dazu sonderbare Erklärungen von Kameraden, die das Gegenteil von dem behaupten, was sie jeweils dazu in ihrem Expeditionstagebuch vermerkt haben!
Von einer kurzen Pause abgesehen blieb mein Buch »Die rote Rakete am Nanga Parbat« vergriffen, ja verboten. Nicht etwa wegen meiner Verweigerung Pause gegenüber, sondern wegen Herrligkoffers Manie, ihm nicht genehme Tatsachen in der Öffentlichkeit zu unterschlagen. Oder sollte bei seinem Verbotsantrag auch mit hineingespielt haben, daß »Die rote Rakete am Nanga Parbat« bereits im Frühjahr 1971 herauskam, während Herrligkoffers Buch »Kampf und Sieg am Nanga Parbat« erst für den Herbst des gleichen Jahres geplant war, und er befürchtete, mein Titel könnte dem seinen den Rang ablaufen? Wenn es Herrligkoffer also gelungen ist, die Berichterstattung über seine Expeditionen mit Hilfe von Verträgen zu manipulieren, nachhaltig war sein Ansinnen nicht. Genausowenig wie Walter Pauses »Schreibkunst« ihren Platz in der Literatur gefunden hat.
Michael Pause nun, der Sohn von Walter Pause und Leiter der Bergsteigersendung »Bergauf – Bergab« beim Bayerischen Rundfunk, nutzte sein Fernsehfenster im Dezember 2005 erneut nicht zur Aufklärung des Falls. Offensichtlich geht es ihm darum, die harten Fakten mit neuen Legenden zu vernebeln. Oder um die Fortsetzung einer väterlichen Fehde? Es ehrt mich, wenn der Bayerische Rundfunk eine Fernsehsendung gegen mich und meine Lebenshaltung stellt. Obwohl ich eine solche Wichtigkeit gar nicht habe, hätte ich mir dafür aber wenigstens einen Journalisten von Format als Gegenspieler gewünscht: einen Moderator mit Charisma, mit dem ich mich gern streiten würde. Schließlich ist es doch gerade die Streitkultur, jene faire Auseinandersetzung, die die Szene immer wieder aufgerüttelt hat und die ich heute in Sachen Berg so vermisse: 1911 war es der »Mauerhakenstreit« in München, 1963 die »Direttissima« und 1996 die »Everest-Tragödie«.
Seit aber ein Dutzend Alpinjournalisten und Alpenvereinsfunktionäre ihr Intrigenspiel »treibeln«, ist in der kulturellen Auseinandersetzung zum Thema Berg Pause angesagt. Mag sein, dass »um Michael Pause, den Sohn des Bergbuchautoren Walter Pause, in der Bergsteigerszene keiner herumkommt«, nicht alle aber lassen sich von jenen ködern, die mit Medienpräsenz oder Mitgliederzahlen fuchteln. Erst an Widerständen wachsen gute Bergsteiger – an allzuviel Pause stagniert der Alpinismus.
Wenn Walter Pause den extremen Bergsteigern die Kunst des Schreibens absprach, heißt das nicht, daß er sie beherrschte: »Wer viel klettert, schreibt gut! Denken viele Bergsteiger. Aber das ist falsch. Die alpine Schreiberei ist als ›alpine Literatur‹ eben deshalb abgestürzt und zur Sektenliteratur verkümmert.«
»Bergschriftsteller«, so Pause, sei »beinahe ein Schimpfname«. Weshalb? »Kein schreibender Bergsteiger hat die ausreichende Distanz zum übermächtigen Pathos der Berglandschaft.« Ausgerechnet er aber nahm sich heraus, diese Distanz zum »Nanga«, zum Himalaja zu haben! Obwohl oder weil er selbst nie dort gewesen ist? Er, der »lebenslänglich alpin« aktiv gewesen sein will – als Wanderer und Schreiber –, hat nie wirklich verstanden, was uns »Grenzgänger« antreibt. Auch deshalb soll »Die rote Rakete« zum Film »Nanga Parbat« jetzt nochmals erscheinen. Mit jenem Vorwort, das Günter Oskar Dyhrenfurth 1971 dazu geschrieben hat, der als erfahrener Himalaja-Bergsteiger und Historiker sehr wohl beurteilen konnte, was die Rupalwand-Expedition 1970 bedeutet hat.
Ob eine Aussage wahr oder falsch ist, hängt einzig von den Tatsachen ab. Natürlich kann etwas wahr sein, ohne daß irgend jemand mit Tatsachen belegen kann, daß es wahr ist. Wenn eine Aussage aber nachweislich nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, ist sie falsch. Zur Nanga-Parbat-Tragödie 1970 wurde von den »Kameraden« ausschließlich Vermutungswissen angeboten und zum Teil kritiklos übernommen. Dadurch erst begann die Vernebelung. Als mit dem Fund der Überreste von Günther Messner meine Aussagen bestätigt waren, flüchteten sich all meine Widersacher in neue Hypothesen, nur um von ihrer Verantwortung für die Rufmordkampagne von früher abzulenken. Als ob man mit neuen Lügen die alten als Wahrheit beschwören könnte.
Daß aber ausgerechnet die »große Bergsteigerfamilie« immer wieder und im Chor ihre Kitsch-Kameradschaft beschwört, ist symptomatisch für eine Gesinnungsgemeinschaft, die nicht das Bergsteigen, sondern nur ihre Moral im Sinn hat.
2005 hält sich eine koreanische Expedition vier Monate lang an der Südseite des Nanga Parbat auf: vom 12. April bis Ende Juli. Zum wiederholten Mal geht es um die Wiederholung unserer Route in der zentralen Rupalwand. Vier Camps werden eingerichtet, das letzte 7150 Meter hoch. Alle schwierigen Passagen in der Wand werden mit einer Fixseilkette abgesichert, die Merklrinne bis in eine Höhe von 7550 Metern, wobei vereinzelt Haken und Seilreste von früheren Versuchen gefunden und benutzt werden können.
Der Gipfelaufstieg gelingt einer Seilschaft, die am Abend um 21.30 Uhr aufbricht und anderntags nach mehr als 24stündiger Kletterei um 23 Uhr ganz oben ankommt. Die Gipfelseilschaft wählt im letzten Teil die Kuen-Scholz-Variante und bevorzugt wegen der enormen klettertechnischen Schwierigkeiten in der Merklrinne den Abstieg über die gespurte Kinshofer-Route in der Diamirwand, wo eine Lagerkette steht. Die Gipfelsieger werden im Diamir-Basislager von ihren Kameraden empfangen, die inzwischen um den Berg herumgereist sind.
Dort treffen sie einen alten Mann – Mohammat Hayyat Moulvi. Er erzählt von jenem Bergsteiger, der 35 Jahre zuvor durch das obere Diamirtal gekrochen kam – entstellt, blutend, halb verhungert: »Er kam vom Nanga Parbat, wo er seinen Bruder am Wandfuß verloren hatte.«
Wenig später werden die Überreste von Günther Messner gefunden – am Diamirgletscher. Die Gesinnungsgenossen im Gesinnungsverein aber sind nicht fähig, ihre Position zu revidieren. Sie greifen zu der Waffe, mit der die »anderen« immer schon kleinzukriegen waren: definitive Ausgrenzung!
Reinhold Messner,
im September 2009
Bildteil
Der geheimnisumwitterte Nanga Parbat über dem Ganalo Peak.
Günther Messner, 1970.
Gedenk-Tschörten für Günther Messner.
Überreste mit Schuh von Günther Messner (gefunden 2005).
Reinhold Messner, 1978.
Dr. Rudolf Hipp nimmt Gewebeproben und prüft die Leichenteile.
Allein der Schuh von Günther Messner, gefunden 2005 im Diamirgletscher, ist Beweis genug, daß Saler und von Kienlin gelogen haben.
Mohammat Hayyat Moulvi, der erste Mensch, den ich 1970 beim Abstieg traf. 2005 war er ein Greis.
1907 wurde der Trisul (7120 m) als erster Siebentausender erstiegen. 1950 gelang die Eroberung des ersten Achttausenders: Annapurna I (8091 m). 1953 standen Edmund Hillary und Tenzing Norgay auf dem Mount Everest (8848 m). Für die Berge über 7000 m waren Aufstieg und Abstieg auf gleicher Route selbstverständlich, mit drei Ausnahmen: Bei dem Versuch, 1951 das Nanda-Devi-Massiv zu traversieren, blieb die starke französische Seilschaft Duplat/Vignes verschollen. 1963 gelang der Amerikanischen Mount-Everest-Expedition unter Norman G. Dyhrenfurth die erste Überschreitung des »Dritten Poles« (WNW – SE). 1970 machten die Brüder Reinhold und Günther Messner die Überschreitung des Nanga Parbat (8125 m) von S nach NW – die 4500 m hohe Rupalflanke hinauf und durch die Diamirflanke hinab. Diese Tat war ein würdiges Gegenstück zu Hermann Buhl, der 1953 den »Schicksalsberg der Deutschen« in einem weltberühmten Alleingang bezwang. Leider wurde die großartige Leistung der beiden Südtiroler durch den Lawinentod Günthers tragisch überschattet. Wie es zu alldem kam – ausgelöst durch die rote Rakete des Expeditionsleiters – werden viele mit Spannung und tiefer Anteilnahme lesen, weit über die bergsteigerischen Kreise hinaus.
Günter Oskar Dyhrenfurth
Bildteil
Die gewaltige Rupalflanke am Nanga Parbat. Links der Mitte, zwischen Licht und Schatten, die Messner-Route.
Blick aus der Rupalwand zum Rakhiot Peak
Zitate Kapitel 1
»Ein Nichtbergsteiger eignet sich nicht zur Leitung einer vorwiegend bergsteigerischen Himalaja-Expedition.«
Günter Oskar Dyhrenfurth: Das Buch vom Nanga Parbat. Die Geschichte seiner Besteigung 1895 – 1953. Nymphenburger, München 1954, S. 150
»Zuerst sollte ich ohne Günther zum Nanga Parbat. Wochen später legte ich ein Telegramm für ihn unter den Weihnachtsbaum. Darin stand: ›BIN MIT GÜNTHER EINVERSTANDEN. KARL.‹«
Reinhold Messner, 2009
»Um fünf Uhr morgens sind Felix, Peter, Günther und ich zu Lager IV aufgebrochen. Das Wetter war gut, und bald hatten wir die ersten 400 Meter hinter uns. Dann kam blankes Eis, steil wie die Ortler-Nordwand. Es begann zu schneien – dauernd kleine Schneerutsche. Die letzten 100 Meter zum Eiswulst mußten noch versichert werden. Am Nachmittag erreichten wir die Stelle vom Lager IV von 1968. Wir konnten uns kaum noch verständigen, der Schneesturm wurde von Minute zu Minute stärker. Einer grub ein Loch in den Schnee, Peter legte seinen Biwaksack hinein, darin begruben wir unsere Lasten.«
Reinhold Messner, 1970
»Sofort stiegen wir wieder abwärts, an den fixen Seilen – mehr als 800 Meter schwieriges Gelände. Jeder kämpfte mit den vereisten Seilen. Am blanken Eis rutschten die Eisen. Abwärts. Um 17 Uhr waren wir alle zurück. Bisher unser härtester Tag am Nanga.«
Reinhold Messner, 1970
»Reinhold und Günther Messner harren im Lager III aus.«
Felix Kuen
»Günther und ich waren eine eingespielte Seilschaft. Zum ›Nanga‹ wurde zuerst nur ich eingeladen. Vater drängte, ich solle mich für Günther stark machen. Mutter wollte, daß keiner fährt. Herrligkoffer wollte uns am Berg trennen. Wir aber blieben zusammen. Bis zuletzt.«
Reinhold Messner, 2009
Zwei Zelte in ...
Zwei Zelte in einer Eishöhle. Eiszapfen am Oberboden. Es schneit. Der Wind wirbelt Pulverschnee bis hinter die Zelte. Das linke Zelt. Es ist verschneit. Vor dem Eingang mehr als ein Meter Neuschnee. Man hört Stimmen. Geräusch eines Reißverschlusses, der geöffnet wird. Zelteingang. Ein Schaufelstiel, der dort lehnt. Zwei Hände schieben den Schnee beiseite.
Stimme im Zelt: Paß auf, daß nicht zu viel Schnee hereinkommt. Sonst ist morgen wieder alles naß.
Ein Kopf schiebt sich durch den Schlitz. Eine weiße Mütze. Das schmale Gesicht ist von der Sonne verbrannt, vom Wind zerfressen, die Lippen sind offen. Wie eine Schlange windet sich der Körper aus dem Zelt, und nun steht er zwischen Zelteingang und Schneemauer. Er zieht den Reißverschluß wieder zu, reißt die Schaufel heraus und beginnt, die Schneemassen vor dem Zelt wegzuräumen.
Stimme im Zelt: Günther, schneit es immer noch?
Günther: Stärker als gestern.
Vier Tage waren wir schon allein. Die Lager unter uns waren alle leer.
Günther ist ganz weiß. Der Platz vor dem Zelt ist freigeschaufelt. Er hackt Eis von der Wand und wirft die Stücke in eine Plastiktasche. Dann geht er zum Zelt, nimmt einige Dosen aus einem blauen Sack, der am Eingang liegt, öffnet den Zelteingang.
Stimme im Zelt: Bist du schon fertig?
Günther: Es nützt nichts.
Stimme im Zelt: Morgen steigen wir ab. Wir haben hier nichts mehr verloren.
Günther: Anderswo auch nicht.
Stimme im Zelt: Unten wär’s warm. Wir könnten uns ordentlich waschen.
Günther: Früher haben andere so geschimpft. Wie du jetzt.
Er hält eine Dose in der Hand.
Günther: Magst du Hühnersuppe … Hopp!
Er wirft die Dose ins Zelt.
Stimme im Zelt: Ist es die letzte?
Günther: Ja, es ist die letzte.
Er klopft sich den Schnee ab. Stellt den Eissack in das Zeltinnere und wirft noch eine große Dose hinein. Dann setzt er sich ins Zelt. Die Schuhe schauen noch heraus. Er zieht sie aus, schlägt sie gegeneinander und stellt sie hinein. Der Reißverschluß geht zu.
Zwei Zelte in einer Eishöhle. Eiszapfen am Oberboden. Es schneit. Der Wind wirbelt Pulverschnee bis hinter die Zelte. Draußen heult der Sturm. Nebelfetzen jagen vorbei.
Ende der Leseprobe