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Wenn die Bäume Äpfel tragen, ist es Zeit zurückzukehren …
Land unter im Apfelgarten: Die Äste biegen sich vor Früchten – aber Dani, die in dem alten Haus mit dem weitläufigen Obstgarten wohnt, muss verreisen! Wer kümmert sich um die Ernte? Kurzerhand fahren ihre Freundinnen Eva, Nele, Julika, Marion und Dorothee in die brandenburgische Provinz. Für die fünf beginnt ein wunderbarer Altweibersommer auf dem Lande. Aber leider gibt es ein Problem. Denn ein korrupter Kerl im Dorf gefährdet Danis Traum, ein Baumblütenhotel zu eröffnen. Doch köstliche Apfelrezepte machen stark, und die Freundinnen haben nicht nur männliche Unterstützer, sondern auch eine großartige Verbündete – die Natur …
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Buch
Endlich sehen sie sich wieder! Eva, Nele, Julika, Dorothee und Marion verbringen ein Freundinnen-Wochenende in Venedig. Aber mittendrin erhält Eva einen alarmierenden Anruf aus der Mark Brandenburg: Dani und ihr Mann, die in dem Haus mit dem riesigem Apfelgarten neben Evas und Lohs Hof wohnen, haben eine Reise gewonnen. Ausgerechnet jetzt, wo nicht nur die Ernte in vollem Gang ist, sondern auch noch Leute vom Ministerium erwartet werden! Denn Dani hat die tolle Idee, ein Baumhaushotel zu eröffnen, da darf es nicht wie Kraut und Rüben aussehen. Schnell steht für die fünf Freundinnen fest: Zusammen werden sie die Ernte bewältigen, ein, zwei Wochen hat jede von ihnen Zeit für Äpfel, Rezepte, Saftpressen und vor allem füreinander. Die Rollkoffer gepackt, und los geht’s! Doch in Wannsee gefährdet ein dubioses Bauvorhaben Danis Pläne, bevor sie überhaupt genehmigt sind. Dagegen müssen sie dringend etwas unternehmen, nur was? Und wer ist dieser attraktive, aber geheimnisvolle Baumexperte, den Nele im Wald getroffen hat und der sein Zelt unbedingt in ihrem Garten aufstellen will? Freund oder Feind in Sachen Baumblütenhotel? Sie müssen handeln, bevor es zu spät ist …
Autorin
Tania Krätschmar wurde 1960 in Berlin geboren. Nach ihrem Germanistikstudium in Berlin, Florida und New York arbeitete sie als Bookscout in Manhattan. Heute ist sie als Texterin, Übersetzerin, Rezensentin und Autorin tätig. Sie hat einen Sohn und lebt in Berlin.
Von Tania Krätschmar bei Blanvalet erschienen:
Eva und die Apfelfrauen · Clara und die Granny-Nannys · Nora und die Novemberrosen · Luisa und die Stunde der Kraniche
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Tania Krätschmar
Die Rückkehr der Apfelfrauen
Roman
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1. Auflage
Copyright © 2018 by Blanvalet Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Margit von Cossart
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotive: © Shutterstock.com
(Maria_chernika; Maria Mirnaya; Paladin12)
LH · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-22314-4V001
www.blanvalet.de
A-pfelnamen
Wer soll sie kosten
Viertausend Sorten
Auf Wiesen von Werder
Im Alten Land
Ashton Brown Jersey
Aus Irland und England
Beiß in Alexis
American Blush
Ambro und Angold
Atlas und August
Cherchez la femme:
Api Le Petit
A steht für Arctic
Anis und Aneta
Für Adams Versuchung
Für Gold, Zank und Gift
1. Kapitel
Eine Blume verblüht,
ein Feuer verglüht,
ein Apfel ist verderblich.
Nur unsere Freundschaft ist unsterblich.
POESIEALBUMSPRUCH
Die schwarz lackierte Gondel schwankte gefährlich, als Nele schwungvoll hineinsprang und prompt strauchelte. Ihre blonden Locken hüpften dabei ebenso heftig auf und nieder wie der Gondelbug mit dem venezianischen Metallbeschlag. Die zwei Freundinnen, die bereits saßen, lachten und fingen sie auf.
»Dio mio«, murmelte der Gondoliere, der am Heck stand.
Er wartete kopfschüttelnd darauf, dass endlich alle fünf Frauen einstiegen und sicher saßen, und versuchte, das schmale Boot mithilfe des mehrere Meter langen Riemens ins Gleichgewicht zu bringen. Diese tedesca bionda war besonders schlimm. Hoffentlich hielt sie während der Fahrt die Füße still! Sicher, er mochte temperamentvolle Frauen, und besonders blonde. Aber a letto, nicht in seiner Gondel.
Eva reichte Nele die Hand, um ihr zu helfen. Sie kannten sich, seit sie in Berlin zusammen in der Werbeagentur Frenz & Friends gearbeitet hatten, wo sie sich ebenfalls häufig gegenseitig gerettet hatten. Wenn auch eher im übertragenen Sinn.
Nele plumpste ungelenk auf den Sitz neben Eva, und erneut schwankte die Gondel bedrohlich. Aber nicht nur ihretwegen, auch wegen eines Vaporettos voller Touristen und Einheimischer, das so dicht an ihnen vorbeiknatterte, dass die Wellen an die Gondel schlugen und das Wasser nur so spritzte.
Dorothee, die auf der Sitzbank vor ihnen saß, schrie auf. Sie war ausgesprochen wasserscheu, klammerte sich an die Bordwand, die dem Ufer zugewandt war, und lehnte sich darüber – mit dem Ergebnis, dass der Gondoliere am Heck hastig seine Position wechseln musste, um das Kippeln auszugleichen.
»Nele, sei doch vorsichtig! Willst du, dass wir alle auf dem Grund des Canal Grande landen?«, meckerte Marion vom Steg aus.
Sie hatte Neles Einsteigemanöver kritisch beobachtet und machte sich nun ebenfalls daran, in die Gondel zu steigen. Ungehalten strich sie sich ihren blond gefärbten Pagenkopf zurück, bevor sie eine der helfenden Hände ergriff, die sich ihr entgegenstreckten.
Die anderen kannten das bereits von Marion: Als Lehrerin in einer Grundschule hatte sie immer bestimmte Vorstellungen von dem, was sie alle auf welche Art und Weise tun sollten, und war gelegentlich ein bisschen streng mit ihnen. Oder zumindest mit Nele wie jetzt gerade. Neles Art, immer zu unbekümmert, zu waghalsig zu sein – in allen Bereichen des Lebens, bestimmt nicht nur beim Einsteigen in eine Gondel –, forderte Marions pädagogische Grundeinstellung geradezu heraus. Doch sie war klug genug, die Ignoranz ihrer Freundinnen zu ignorieren. Und so kamen sie wunderbar miteinander aus, waren nun schon seit acht Jahren unzertrennlich.
Marion machte einen Schritt ins Boot und ließ sich neben Dorothee nieder. Sie griff nach dem Reiseführer in ihrer Tasche, schlug ihn auf und vertiefte sich hinein, ungerührt von den Gesprächen um sie herum und dem tänzelnden Boot auf den Wellen des Kanals.
Von dem Moment an, als der Flieger italienischen Boden berührt hatte, war sie keinen Schritt mehr ohne ihren Reiseführer gegangen. Sie seufzte leise.
»Warum seufzt du?«, fragte Dorothee. »Weil Nele wie ein Elefant in den Kahn eingestiegen ist und ihn fast zum Kentern gebracht hätte?«
Marion schüttelte den Kopf. »Nein, weil ich an die Seufzerbrücke denken muss.« Julika, die Fünfte im Bunde, hatte die vier Freundinnen für einige Tage nach Venedig eingeladen, aber es war Marion, die sie wie eine Stadtführerin auf Droge von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit gescheucht hatte. »All die Gefangenen, die über Jahrhunderte von dem Justizgebäude über diese kleine Brücke zu ihrer Hinrichtung oder ins Gefängnis gebracht wurden, in diese Zellen unter dem Bleidach, in denen die Hitze unerträglich gewesen sein muss.« Marion seufzte wieder und sah nachdenklich einer leeren Coladose nach, die an ihnen vorbei in Richtung Rialtobrücke dümpelte. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Sag mal, Dorothee, du als erfahrene Mutter von vier erwachsenen Gören und einem Enkel – meinst du, ich könnte das in meiner sechsten Klasse als Thema eines Aufsatzes nehmen? Wie fühlten sich die Gefangenen, die über die Seufzerbrücke gehen mussten?«
Dorothee sah sie an, als wäre ihr plötzlich ein Horn gewachsen. »Spinnst du, Marion? Natürlich nicht! In Neukölln gibt es doch so viele Flüchtlingskinder, auch in deiner Klasse. Hast du das nicht gestern Abend gerade erzählt? Die haben schon genug Schlimmes mitgemacht, da musst du sie nicht auch noch an den Horror erinnern.«
Marion nickte bestürzt. »Stimmt. Du hast recht. Und die anderen Schüler muss ich nicht auf dumme Gedanken bringen. Am Ende fangen sie an, sich gegenseitig auf dem Dachboden einzusperren und Knast zu spielen. Ich bin ja so was von blöd. Meinst du, ich werde allmählich zu alt für den Job? Es wird wirklich Zeit, dass ich in Rente gehe.«
Dorothee tätschelte ihr beruhigend das Knie. »Ein paar Jahre musst du noch durchhalten.«
»Acht.« Marion seufzte wieder, diesmal allerdings voller Bewunderung für Dorothees Lebensweisheit – und natürlich war sie hingerissen von der Lagunenstadt. So viel gab es hier zu sehen. Sie war sich nur nicht sicher, ob sie Erfolg damit hatte, ihren Freundinnen die kulturellen Details der Schönheiten Venedigs nahezubringen. Alle waren von der Stadt beeindruckt, aber die Geburts- und Sterbedaten von Tizian, Tintoretto & Co waren ihnen schnurz, egal, wie sehr sich Marion bemühte. Da ähnelten die Freundinnen fatal ihren Grundschülern. Fehlte nur noch, dass sie heimlich mit ihren Handys spielten, während sie ihnen etwas erklärte.
Julika Montecurris italienischer Exmann Lorenzo war ein paar Jahre nach ihrer Scheidung verstorben und hatte ihr ein Haus in Florenz vermacht. Julika, die Italien und vor allem die mediterrane Wärme liebte, hatte Berlin den Rücken gekehrt und war in den Schoß der Montecurri-Familie zurückgekehrt, die ihrerseits die verlorene deutsche Exschwiegertochter mit offenen Armen aufgenommen hatte.
Insbesondere Sergio Montecurri, der überaus attraktive Neffe des verstorbenen Lorenzo, wich seitdem nicht von Julikas Seite. Wenn sie ein Verhältnis hatten, was die Freundinnen vermuteten, verbargen sie es allerdings sehr diskret vor allen anderen, vielleicht, um das Andenken an den Verstorbenen in Ehren zu halten. Auf die vielen neugierigen Fragen der Freundinnen antwortete Julika stets nur mit einem sphinxartigen Lächeln. Auf jeden Fall machte sie mit Sergio etwas richtig, denn er erfüllte ihr jeden Wunsch.
Der besagte Vielleichtliebhaber war Bauunternehmer mit neun Mitarbeitern, die er von Baustelle zu Baustelle kreuz und quer durch Europa scheuchte. Seine Firma hieß Dieci Italiani – Zehn Italiener –, was wie ein schmalziger Tenorchor klang. Tatsächlich waren es neun ausgesprochen kräftige italienische Jungs, mit denen er auch in Deutschland Bauarbeiten durchführte.
Einige Wochen zuvor hatte er nun einen alten baufälligen Palazzo direkt an der laguna gekauft. Er plante, ihn zu sanieren, doch erstmal hatte er ihn Julika zur Verfügung gestellt – die spontan ihre vier Freundinnen in Deutschland angerufen und sie eingeladen hatte.
Und so waren Eva aus Wannsee in der Mark, wo sie mit ihrem Mann Loh einen Biobauernhof betrieb, die passionierte Mutter und Großmutter Dorothee, die quirlige Grafikerin Nele und die Lehrerin Marion spontan zu Julika, der Wahlitalienerin aus Berlin, in die Lagunenstadt geflogen und übernachteten in Sergios malerisch verkommenem Palazzo.
Als Letzte stieg nun Julika graziös in die Gondel. Wie eine Diva sah sie aus. Im Gegensatz zu den anderen, die sich für Jeans, Sandalen, Turnschuhe und T-Shirts entschieden hatten (nur Dorothee trug eine gebatikte Bluse, die aussah, als ob sie sie in einem India-Laden erstanden hätte und verdächtig nach Moschus und Sandelholz roch), hatte Julika ein elegantes maisgelbes Leinenkostüm mit einem elfenbeinfarbenen Seidentop und Riemchensandaletten mit hohen Absätzen an. Es war den anderen ein Rätsel, wie sie den ganzen Tag darin laufen konnte, aber sie konnte es. Ihr langes hennarotes Haar war perfekt gestylt, zurückgehalten wurde es von einer lässig hineingesteckten Sonnenbrille, die Julikas hellblaue Augen vor der grellen Sonne schützte. Wahrscheinlich war die Brille exorbitant teuer gewesen, wenn man davon ausging, dass das Gucci-Emblem echt war. Und das war bei Julika immer der Fall.
Ganz anders als bei Nele schwankte das Boot bei ihr kaum, so als wüsste sogar die Gondel, was sie ihr schuldig war. Julika setzte sich Dorothee und Marion direkt gegenüber, sodass sie die Freundinnen und den Gondoliere sehen konnte, der geduldig darauf wartete, dass es endlich losgehen konnte.
»Mädels, ich sag ihm, dass er uns zum Palazzo bringen soll, okay? Der Tag war lang. Dann machen wir es uns gemütlich. Auf dem Balkon. Ich hole uns was zu essen«, sagte Julika.
Die anderen nickten dankbar.
»Rotwein ist zum Glück noch da«, murmelte Nele an Eva gewandt.
»Zwei Flaschen«, murmelte Eva zurück.
»Gott sei Dank. Ich kann nicht mehr«, flüsterte Dorothee erleichtert Marion zu. »Noch eine doofe venezianische Maske in einem Souvenirshop, und ich schreie. Die Dinger sind schrecklich kitschig. Findest du nicht?«
Marion antwortete nicht. Also zog Dorothee sich verstohlen einen Schuh aus und fingerte an ihrer linken Ferse herum. Na toll. Sie hatte es ja geahnt. Eine fette Blase. Als ob ihr Hühnerauge nicht schon genug strapaziert worden wäre. Von dem Hallux ganz zu schweigen. Sie hätte lieber etwas weniger Weisheit als Mutter und dafür schönere Füße.
Ja, der Tag war zwar wunderschön, aber tatsächlich auch sehr lang gewesen. Mit schier unerschöpflicher Energie waren Julika und Marion voranmarschiert – über den Markusplatz mitsamt den zahlreichen Tauben und noch mehr Touristen in den Dogenpalast, dann über den Canal Grande zur Accademia und schließlich ins Peggy-Guggenheim-Museum.
Julika liebte Kultur, in Berlin hatte sie jede Ausstellung besucht, und das Guggenheim war eine Klasse für sich. Von den Bildern von Cy Twombly hatten die anderen vier sie praktisch wegzerren müssen. »Was soll nur dieses Gekritzel? Da kann ja unser dreijähriger Tonio besser malen«, hatte Dorothee gemurmelt und dafür einen ungehaltenen Blick von Julika geerntet. Marion dagegen hatte sich kaum von den Gräbern von Peggy Guggenheims Hunden im Außenbereich lösen können, immer wieder etwas von den besten Freunden des Menschen gemurmelt. Der Naturliebhaberin Eva hatte der sorgfältig angelegte Innenhof mit seinen dichten grünen Bäumen am besten gefallen, und Nele hatte trotz ihrer rudimentären italienischen Sprachkenntnisse mit mäßigem Erfolg versucht, mit dem Mann an der Kasse zu flirten.
So waren sie immer schon gewesen, und vermutlich war die überdurchschnittliche Toleranz, die sie für ihre Unterschiedlichkeit aufbringen mussten, das Geheimnis ihrer Freundschaft.
Nur zwei Pausen hatten Julika und Marion ihnen gegönnt: eine in einer kleinen Bar auf einer Piazza – der orangefarbene Spritz auf Eis war nicht nur köstlich, sondern geradezu lebensnotwendig gewesen. Die zweite Pause hatten sie ein paar verschwiegene Straßen und Brückchen später in einer schummrigen Kirche gemacht. Sie hatten Frömmigkeit vorgetäuscht, um möglichst lange dem Sightseeing-Programm zu entkommen, aber vermutlich hatten Marion und Julika ihnen das nicht abgenommen.
Julika begann mit dem Gondoliere zu parlieren – auf Italienisch. »Cari amici… tedeschi… visitano Venezia …«, hörten sie.
Dann wies Julika in Richtung Lagune, den Canal Grande hinunter, lachte kokett und sprach mit atemberaubender Geschwindigkeit weiter, während die anderen geduldig darauf warteten, dass es endlich losging.
Um sie herum schwappte das Wasser, die tief stehende Sonne blitzte in den hohen Fenstern der Palazzi entlang des Kanals, ab und an wehte ein köstlicher Duft über sie hinweg, Kräuter, gegrillter Fisch, Pizza, Lasagne, Knoblauch …
Einige Julika-Sätze später nickte der Gondoliere. Seine Augen glänzten vor Bewunderung für die schöne, elegante Freundin.
»Andiamo«, sagte er entschlossen.
Er stieß die Gondel von ihrem Liegeplatz ab, und sie glitten in die Mitte des Wassers. Dorothee schrie noch einmal auf, als ein Lastkahn, der hoch mit Bierkästen beladen war, ihnen den Weg abschnitt, beruhigte sich aber sofort. Der Gondoliere hatte sie geschickt in Sicherheit gelenkt, und wenn er gelassen war, konnte sie es schließlich auch sein.
»Endlich«, sagte Nele und beugte sich zur Seite, um die Hand tief in das blaugrüne Wasser zu tauchen. »Oh, das ist noch ziemlich warm.«
»Pass auf!« Eva zog sie zurück. Irgendwie verstand Nele einfach nicht, dass man in einer Gondel ruhig sitzen musste.
»Und erstaunlich sauber für so viel Verkehr«, fügte Nele hinzu, um eine Sekunde später gellend aufzuschreien.
Sie wich vom Bootsrand zurück und lehnte sich so weit zu Eva hinüber, dass sie fast auf deren Schoß zu sitzen kam. Wieder schaukelte die Gondel bedenklich. Der Gondoliere stieß etwas aus, das nach einem deftigen italienischen Fluch klang.
»Was hast du denn?«, fragte Eva erschrocken, die nicht ausmachen konnte, was Nele sah.
Mit zitterndem Zeigefinger wies Nele auf etwas Dunkles, das neben ihnen schwamm wie ein kleines Begleitboot. »Iiiuuuuuuuwww«, wimmerte sie. »Eine Ratte! Schau nur, wie sie mit ihrem ekligen, widerlichen, grässlichen nackten Schwanz steuert!« Sie schauderte und kniff Eva zugleich schmerzhaft in den Arm.
Hinter ihnen lachte der Gondoliere auf. »Si si. Un ratto. Molti ratti a Venezia. Milioni!«
Nele verstand genug Italienisch, um entsetzt zu keuchen. Sie wussten alle, dass ihre Freundin panische Angst vor Nagetieren hatte. Vor vier Jahren hatten sie gemeinsam einen langen Sommer in dem kleinen brandenburgischen Dorf Wannsee in der Mark verbracht. Damals hatten sie überlegt, zu fünft eine WG zu gründen, und eine Anzeige aufgegeben. Zu ihrem allergrößten Erstaunen hatten sie daraufhin ein Haus mit einem großen Apfelgarten in Wannsee geerbt unter der Bedingung, ihn bis zum Herbst gemeinsam zu bewirtschaften. Sie waren als Erbengemeinschaft der verstorbenen Anna Staudenroos eingetragen worden. Die gemeinsame Zeit war für die Freundinnen eine Herausforderung gewesen, die ihre Freundschaft gerade so ausgehalten hatte. Auch während jenes Sommers in Wannsee hatte es einige nagetierbedingte Zwischenfälle gegeben. Nele hasste Mäuse, von Ratten ganz zu schweigen.
»Ach komm, Nele, schau einfach nicht hin. Sei tapfer«, sagte Eva und zog die bebende Freundin, der die blonden Nackenhaare zu Berge standen, noch enger an sich.
»Ich bin tapfer!«, murmelte Nele.
Wenn die Gondeln fünf Weiber tragen, dachte Eva und strich der schwitzenden Nele beruhigend über den Rücken. Sie musste an den kleinen Wannsee denken, der ihrem Dorf den Namen gegeben hatte. Der war nicht blaugrün und jetzt, Anfang Oktober, bestimmt nicht mehr als zehn Grad warm. Als Loh, der eigentlich Simon Lohmüller hieß, sie am Tag zuvor in aller Herrgottsfrühe zum Berliner Flughafen gefahren hatte, war es frisch gewesen. Es hatte geregnet, und die ersten gefallenen Blätter hatten eine glitschige Schicht auf den Straßen hinterlassen. Schon am kommenden Morgen würden sie zurückfliegen, dann war das Wochenende vorbei, ihre Wege würden sich wieder trennen. Ihrer führte nach Wannsee, drei Freundinnen lebten in Berlin, Julika würde bei Sergio bleiben … Aber bis dahin wollte sie jede Minute genießen.
»Es ist so toll, dass wir alle fünf zusammen sind«, sagte sie und drückte spontan Neles Hand. »Wir sollten das wirklich öfter machen.«
»Ja, das sagen wir jedes Mal, wenn wir uns sehen«, erwiderte Nele, immer noch ein bisschen blass um die Nase. Immerhin lächelte sie wieder und atmete regelmäßig. »Wenigstens telefonieren wir beide oft miteinander.«
»Du könntest mal wieder nach Wannsee kommen«, schlug Eva vor.
Neles Gesicht verdüsterte sich. »Du weißt doch, dass ich keine Lust habe, Gandalf zu sehen.«
»Das ist jetzt vier Jahre her«, versuchte Eva die Freundin zu beschwichtigen.
»Und wenn schon …«
Viel mehr als Apfelmus und Apfelschnaps herzustellen hatten sie in den wenigen Monaten damals geschafft: Sie hatten Annas Nichte, die junge Daniela Sauert, vor dem Missbrauch ihres Vaters, der Bürgermeister in Wannsee gewesen war, gerettet und ihn aus dem Dorf vertrieben. Inzwischen war Dani die neue Bürgermeisterin und lebte in Annas Haus. Streng genommen gehörte das Haus zwar allen Freundinnen gemeinsam, aber Dani war bevollmächtigte Verwalterin. Die gesamte Planung lief zwischen ihr und Eva ab. Die anderen hatten klargemacht, dass sie nichts damit zu tun haben wollten.
Seit Kurzem war Dani mit Gandalf verheiratet. Gandalf war eine Mischung aus tätowiertem Rocker und fröhlichem Landmann, außerdem war er eingefleischter Fan von Tolkiens Herr der Ringe. Hauptberuflich war er Lohs Hobbyknecht (er hatte angeblich Rücken, was niemand verstand und ihm auch niemand abnahm). In jenem Sommer hatte Gandalf allerdings einen heißen Flirt mit Nele gehabt, der für sie ausgesprochen unglücklich geendet hatte. Seitdem war Nele nicht mehr in Wannsee gewesen, die Freundinnen hatten sich immer nur in Berlin gesehen, und Gandalf war in Neles Leben eine persona non grata. »Er ist inzwischen deutlich besser, als du ihn in Erinnerung hast. Ein guter Ehemann für Dani, das kannst du mir glauben«, versuchte Eva erneut, für Gandalf in die Bresche zu springen, aber Nele schüttelte nur trotzig den Kopf.
Einige der Gondeln, die ebenfalls den Canal Grande entlangfuhren, verschwanden in den Nebenkanälen. In fast allen saßen Asiaten, die nicht etwa die Palazzi in den verschiedenen Stadien des Verfalls bestaunten, die Brücken bewunderten, sich über elegante Boote und verschwiegene Gärten freuten. Nein, sie fotografierten sich gegenseitig kichernd mit ihren Handys.
Der Gondoliere legte sich mächtig ins Zeug. Eva drehte sich zu ihm um und beobachtete, wie ihm ein Schweißtropfen langsam die lange, braun gebrannte Nase entlangrollte, um dann an der Nasenspitze hängen zu bleiben. Stilecht sah er aus mit seinem schwarz-weiß geringelten T-Shirt, dem roten Halstuch und dem Strohhut, an dem wagemutig ein schwarzes Schleifenband flatterte.
Eva beneidete ihn nicht. Den ganzen Tag Touristen durch die Stadt zu staken und nun, am Ende eines langen Tages, auch noch fünf wohlgenährte Frauen!
Er räusperte sich, und einen fürchterlichen Moment lang glaubte Eva, er würde anfangen, O Sole Mio zu singen. Tat er aber zum Glück nicht. Er schien wirklich nur einen Frosch im Hals zu haben.
»Das ist absolut herrlich«, sagte Marion schwärmerisch, während der Gondoliere sie an einer großen Kirche vorbeischaukelte.
»Santa Maria della Salute«, sagte er und zeigte flüchtig auf das Gebäude. Dann berührte er mit einer Hand kurz seine Goldkette, an der ein kleines Kreuz hing.
»Das ist die Kirche Santa Maria della Salute«, erklärte Julika.
Marion verdrehte entnervt die Augen. »Julika, bitte! Ich kann kein Italienisch, aber das hab selbst ich verstanden.«
»Sei ehrlich, du hast den Kirchennamen schon im Reiseführer gelesen«, raunte Dorothee ihr von der Seite zu. »Streberin.«
Marion grinste und rückte ihre neue Kette zurecht. Sie mochte auffälligen Halsschmuck, und dieser Kette aus Muranoglas hatte sie nicht widerstehen können. Die dicken, blau melierten Perlen mit den Goldeinschlüssen – hach, zu schön. Jetzt gehörte sie ihr.
Das Gewässer wurde breiter und der Blick freier, der Canal Grande mündete in die Laguna di Venezia. Der Gondoliere hielt sich rechts. Eva, die einen relativ guten Ortssinn hatte, wusste, dass es um die Landspitze herum nicht mehr weit zu Sergios Palazzo war. Von dem zugegebenermaßen bedrohlich verfallenen Balkon aus hatte man einen fantastischen Blick auf die Lagune und auf die Insel Giudecca, die Venedig vorgelagert war.
Die sinkende Sonne tauchte die Lagune in ein sanftes Licht, als der Gondoliere parallel zur Eingangstreppe des Palazzos anhielt. Über die Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte hatte das Wasser an dem Bauwerk ganze Arbeit geleistet. Die erste Stufe war überspült, kleine Wellen schwappten gegen brüchigen Stein, hatten Marmorkanten herausgebrochen. Weiter oben sah das Gebäude nicht besser aus: Orangefarbener Putz war von den Wänden gebröckelt und im Wasser der Lagune versunken, die grünen Markisen über den hohen Fenstern waren an vielen Stellen zerrissen, an die geschwungene Einfassung des Balkons durfte man sich auf keinen Fall lehnen. Und doch hatten sie alle dort am Abend zuvor gesessen und gefunden, dass dies der schönste Platz der Welt war. Was natürlich daran gelegen hatte, dass sie endlich mal wieder zusammen waren.
»Unser letzter Freundinnenabend in Venedig kann beginnen«, sagte Eva und rappelte sich vorsichtig hoch.
Diesmal seufzten sie alle fünf.
»Lass mal, ich bezahl das.« Julika fingerte in ihrer Geldbörse und reichte dem Gondoliere einen Schein. Das Trinkgeld schien gut zu sein, denn er strahlte.
»Gracie!«
Behutsam half er den Frauen beim Aussteigen, und als sie trockenen Fußes auf der Treppe standen und ihm nachsahen, wie er die Gondel gemächlich zurück in Richtung Canal Grande trieb, hatte Eva einen Moment lang das wehmütige, wenn auch komplett unsinnige Gefühl, einen Freund zu verlieren.
Sie und Nele stiegen bereits die Treppe zu dem schweren, dunklen Eingangstor aus verrottetem Holz hoch, als Dorothee sie zurückrief. »Moment! Ich will noch ein Foto von uns machen!«
Dorothee hatte während des Wochenendes erstaunlich viel mit ihrem Handy gespielt, ohne dass die anderen genau mitbekommen hatten, was sie da eigentlich machte. In jedem Café, das WLAN hatte, nahm sie ihr Smartphone aus der Tasche und tippte darauf herum. Jetzt hielt sie es schussbereit hoch.
»Dass sie permanent ihre SMS und Mails checkt mit diesem Teil …«, raunte Marion ihnen zu. »Ich ärgere mich immer nur über Spams. Seit ich auf die sechzig zusteuere, bekomme ich ständig Werbung für Treppenlifte, Hörgeräte, Hausnotrufe und Sterbegeldversicherungen. Schrecklich. Ich fühle mich überhaupt nicht gebrechlich, aber das Internet tut so, als stünde ich schon mit einem Bein im Grab.«
Eva grinste. Sie hatte einen Verdacht, was Dorothee am Handy trieb: Vermutlich schrieb sie stündlich ihrer verwöhnten Tochter Mimi, um sich nach ihr und dem kleinen Enkel Tonio zu erkundigen. Dorothee war ein unverbesserliches Muttertier.
Tatsächlich befestigte sie jetzt einen Stick an ihrem Handy – genau wie die vielen Asiaten in den Gondeln. Julika stand bereits in Position, Dorothee winkte Eva, Nele und Marion herunter. »Kommt! Das Licht ist gerade so perfekt. Lasst uns ein Erinnerungsfoto schießen.«
»Seit wann hast du denn ein Deppenzepter?«, fragte Nele ungläubig und wies auf den ausgefahrenen Selfiestick.
»Ich bin medial auf allen Kanälen bestens ausgerüstet. Auch wenn ich älter werde, will ich den Anschluss an das digitale Zeitalter nicht verpassen. Meckert nicht, nehmt euch lieber ein Beispiel an mir«, gab Dorothee eine Spur hochmütig zurück. Ihr Ton überraschte die anderen. »Nun macht hinne!«
»Ja doch«, grummelte Nele und stellte sich zu Eva.
»Jetzt bitte alle: Veneeeeeeeedig«, gab Dorothee das Kommando.
»Veneeeeeeeeedig«, schallte es.
So entstand ein bemerkenswertes Erinnerungsfoto, auf dem fünf Frauen im allerbesten Alter nebeneinander auf einer ziemlich maroden Treppenstufe standen: Eva und Nele zur Linken, Julika und Marion zur Rechten, mit einer strahlenden Dorothee in der Mitte, die den Selfiestick hielt, im Hintergrund ein wunderbar heruntergekommener Palazzo. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man am Ende der Treppe eine kleine Ratte entdecken, die sich gerade das Wasser von ihrem braunen Fell putzte.
Und das alles war in ein unwirklich rosafarbenes Licht getaucht, das die Lagune, die Stadt und die ferne Insel kolorierte, als würde die Göttin Aurora persönlich den fünf Frauen einen sanften Kuss hinunter zur Erde schicken. Gerade so, als hätte auch sie gern vier allerbeste Freundinnen.
2. Kapitel
Und sind die Blumen abgeblüht,
so brecht der Äpfel goldne Bälle!
Hin ist die Zeit der Schwärmerei,
so schätzt nun endlich das Reelle!
THEODOR STORM
Die Bausubstanz im Inneren des Palazzos war nicht besser als die der Außenfassade. Auch hier bröckelte der Putz von den Wänden, hingen die Decken in den gewaltig großen Räumen gefährlich durch. Aber immerhin waren sie eindrucksvoll bemalt, in die steinernen Fußböden waren schwarz-weiße Marmorintarsien in Form von großen Sternen eingelassen, die Wände waren mit blassgrünem Seidenstoff bezogen. Es hatte das Echo der Grandezza, und man brauchte nicht sehr viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie das Gebäude nach der Sanierung durch Sergios Team aussehen würde: fantastisch. Besonders, wenn Julika bei der Einrichtung ein Wörtchen mitzureden haben würde.
Im größten Raum, dem mit dem Balkon, der zur Lagune hinausging, standen anscheinend willkürlich verstreut schwere dunkle Holzmöbel, alle mit verschlissenem moosgrünem Samt bezogen. Ein Esstisch bildete das Herzstück, in einer Ecke stand ein wunderschönes altes Klavier. Als Eva probehalber ein paar Töne angeschlagen hatte, war sie zusammengezuckt – es war gnadenlos verstimmt. Gut, dass Loh nicht hier ist, hatte sie gedacht. Als großer Musikliebhaber wäre ihr Mann vermutlich in Tränen ausgebrochen.
»Ich hole uns mal was zu trinken«, sagte Nele, als sie gemeinsam den großen Raum betraten. Sie schlüpfte in ein Nebengelass, in dem sich eine altmodische Küche befand.
Die anderen ließen sich aufatmend auf die Stühle rund um den Esstisch fallen.
»Ich versteh einfach nicht, dass ein bisschen Sightseeing so anstrengend sein kann«, meinte Dorothee, die als Einzige mit dem Rücken zu den Fenstern saß. Dann stutzte sie. »Was ist? Was schaut ihr denn so?«
Eva, Julika und Marion sahen mit weit aufgerissenen Augen an ihr vorbei in Richtung Lagune. In diesem Moment betrat Nele das Zimmer, in den Händen ein Tablett, auf dem Gläser, eine Karaffe mit Wasser und eine Flasche Rotwein standen.
»O mein Gott!«, rief sie und starrte ebenfalls aus dem Fenster. Sie stellte das Tablett unsanft auf dem Tisch ab.
Dorothee drehte sich um – und atmete erschrocken ein.
Wo gerade noch das offene Gewässer mit der Insel Giudecca im Hintergrund zu sehen gewesen war, fiel ihr Blick jetzt auf ein Hochhaus. Aber Moment mal – ein fahrendes Hochhaus?
»NO GRANDI NAVI«, sagte Julika langsam. »Keine Kreuzfahrtriesen. So heißt die Bewegung, die dagegen ist, dass diese Monster in Venedig anlegen. Wegen ihnen muss die Lagune ständig tiefer ausgehoben werden. Hoffentlich kracht nicht mal eins in den Markusplatz. Das hier ist viel höher als der Dogenpalast! Ich dachte, die hätten das schon verboten. Na, anscheinend nicht.«
Sie beobachteten, wie das gigantische Schiff – Eva zählte acht Stockwerke – an ihnen vorbeiglitt. Es dauerte eine Weile, bis die Wellen, die gegen die Palazzotreppe schwappten, sich wieder beruhigten.
»Da kommt das nächste«, rief Marion.
Die Freundinnen traten, mit ihren Rotweingläsern bewaffnet, auf den Balkon, hinaus in die laue Abendluft, die wärmer als die abgestandene feuchte Luft im Palazzo schien.
»Sie laufen abends aus und fahren nachts zum nächsten Hafen. Morgens kommen sie an, und der Touriwahnsinn kann in der nächsten Stadt von Neuem beginnen«, sagte Julika ungehalten.
»Das ist, als ob die Vergangenheit auf die Gegenwart träfe. Das alte Venedig, die neuen Touristen«, bemerkte Dorothee und winkte den kleinen Menschen auf den verschiedenen Decks, die die Frauen auf dem Balkon entdeckt hatten, zu. Die Melodie des Gefangenenchors aus der Oper Nabucco schallte zu ihnen herüber. Wahrscheinlich gehörte die musikalische Untermalung zum Auslaufprogramm.
»Hör auf zu winken«, zischte Marion. »Du magst solche Schiffe doch nicht etwa, oder? Sie zu ignorieren ist das Mindeste, was du tun könntest.«
»Die Schiffe mag ich nicht, aber die Passagiere. Schau, sie lachen so freundlich«, rechtfertigte Dorothee sich. »Sie freuen sich, uns zu sehen.«
»Es gibt solche Schiffe nur, weil die Menschen ihre Reisen darauf buchen. Also sind sie auch schuld«, erklärte Julika entschieden. »So ist es immer. Keine Luftverschmutzung ohne Autos, keine Prostitution ohne Männer, keine Spielhöllen ohne Zocker, keine …«
»Du meinst, das Böse gibt es nur, weil ein Grundbedürfnis der Menschen danach existiert? Das sehe ich nicht so«, widersprach Eva hitzig. »Ich glaube, dass am Anfang die Geldgier desjenigen besteht, der sich mit der Unschuld der Leute die Taschen füllen will. Die Leute wissen doch noch gar nichts von ihren Bedürfnissen, bis sie das erste Riesenschiff sehen. Oder das erste Auto. Oder die erste Spielhölle …«
Die anderen sahen sich erstaunt an. Normalerweise war Eva immer diejenige von ihnen, die unerschütterlich an das Gute im Menschen glaubte, sich bei ihren gelegentlich hitzigen Diskussionen lieber zurückhielt. Dass sie sich so ereiferte, war untypisch.
»Ist irgendwas bei dir passiert, das wir wissen sollten?«, fragte Marion vorsichtig.
Eva antwortete nicht. Sie starrte nur dem auslaufenden Schiff hinterher.
»Ich hab Hunger«, sagte Nele und nippte an ihrem Rotwein. Sensible Zwischentöne herauszuhören war nicht ihre Stärke.
»Ist ja schon gut«, grummelte Julika. »Ich hab doch gesagt, ich hole uns was.« Sie trank ihr Glas hastig aus und stellte es auf die Brüstung.
»Pizza?«, fragte Nele hoffnungsvoll.
»Nein. Eine echte venezianische Spezialität. Das müsst ihr probieren, bevor ihr morgen wieder fliegt.« Julika verließ den Balkon. »Gibt’s hier um die Ecke. Hab ich mit Sergio entdeckt, als wir das letzte Mal hier waren.« Sie ging ins Zimmer zurück und griff dort nach ihrer Tasche. »Ich bin gleich zurück«, rief sie. »Ciao, ciao.«
»Brauchst du Hilfe beim Tragen?«, fragte Dorothee noch, aber da klapperten Julikas Absätze bereits die Marmortreppe hinunter. Kurz darauf fiel eine schwere Tür ins Schloss.
»Julika ist wirklich lieb zu uns«, sagte Nele hoffnungsvoll. »Und so großzügig. Bin gespannt, was das für eine Spezialität ist. Hoffentlich was mit Nudeln, wenn es schon keine Pizza ist …« Ihr Magen knurrte laut und vernehmlich, und die anderen lachten. »Ich deck dann mal den Tisch.«
Sie verschwand im Wohnzimmer, während Eva, Dorothee und Marion auf dem Balkon blieben und weiter auf die Lagune hinausblickten.
»Wie meintest du das eben mit der Geldgier? Habt ihr Probleme mit euerm Biohof? Läuft es nicht gut?«, fragte Dorothee behutsam.
»Nein, der Hof läuft prima. Ich kümmere mich um den Fleischvertrieb der Galloway-Rinder. Sogar in Berlin haben wir schon Kunden, sie sind ganz verrückt nach dem Fleisch. Neulich hat es einer mit Kobe-Beef verglichen, weil es so schön marmoriert ist. Und unser Hofladen steht kurz vor der Eröffnung! Wir wollen dort alles verkaufen, was wir gerade ernten. Das wird zwar sehr viel Arbeit, sie hört praktisch niemals auf, aber …«
»Und bei dir und Loh? Seid ihr glücklich?«
Eva lächelte. »Könnte nicht besser sein. Er ist ein Schatz. Wenn wir arbeiten, sind wir wie zwei Gäule, die man vor einen Wagen spannt, und wenn wir nicht arbeiten, versuchen wir immer, etwas Schönes zu machen. In ein Konzert zu gehen, lecker essen zu gehen. Loh zu heiraten und mit ihm auf dem Land zu leben war die beste Entscheidung, die ich jemals getroffen habe …«
Da war es wieder, dieses leise Zögern in Evas Worten.
»Eva! Nun rück raus mit der Sprache! Irgendwas ist doch«, sagte Dorothee energisch. Als vierfache Mutter hatte sie den siebten Sinn, wenn man versuchte, ihr etwas zu verschweigen.
Eva presste die Lippen aufeinander, als ob jedes weitere Wort zu viel wäre. »Es gibt eine neue Entwicklung in Wannsee, die ist nicht gut …«, sagte sie schließlich zögernd.
»Was denn für eine Entwicklung?«, hakte Marion nach und sah gespannt über ihre Brille, die ihr auf die Nasenspitze gerutscht war.
»Juchu! Ich bin wieder da! Kann mir jemand mal helfen?«, hörten sie in diesem Moment Julikas Stimme.
»Warte, ich komme!« Offenbar erleichtert, dass sie dem Kreuzverhör entkommen konnte, verließ Eva den Balkon.
Marion sah Dorothee bedeutungsvoll an. »Was kann in diesem kleinen Dorf wohl schieflaufen? Zumal unsere Dani doch die Bürgermeisterin ist … Na ja … Das bekommen wir schon noch aus ihr raus«, raunte sie.
»Da müssen wir uns aber beeilen. Morgen gehen wir wieder getrennte Wege«, raunte Dorothee zurück.
»Wir haben den ganzen Flug nach Berlin. Da kann sie uns nicht entkommen«, sagte Marion entschieden.
Sie schnappten sich die leeren Weingläser von der Balkonbrüstung und gingen zurück ins Zimmer.
Nele hatte sich beim Decken des Tisches größte Mühe gegeben. Ein riesiges, leicht vergilbtes Tischtuch hatte sie über den Holztisch geworfen und alles, was nach Silber aussah, darauf verteilt. Selbst Servietten in silbernen Serviettenringen hatte sie neben die fünf leicht angeschlagenen Porzellanteller mit blassem Goldrand gelegt.
Sie setzten sich und schauten erwartungsvoll in Richtung Küche, wo nun Julika rumorte.
»An so einem Riesentisch mit so viel altem Tand komme ich mir wie der kleine Lord Fauntleroy vor, der mit seinem Opa frühstückt. Musstest du wirklich all das auffahren, Nele?«, fragte Marion. Um Nele, die auf der anderen Seite des Tisches saß, richtig zu sehen, musste sie den Kopf verrenken. Zwischen ihnen stand ein großer, schwarz angelaufener Kerzenleuchter.
Nele lachte. »Ich konnte nicht wiederstehen. Schieb es einfach auf meinen Sinn für Dramatik. Als Grafikerin muss ich manchmal einfach optisch übertreiben«, gab sie zurück. »Einmal eine venezianische Prinzessin sein … Und hier kommt die Küchenmeisterin!«
Julika trat mit einer großen Platte ins Zimmer. »Ta daa!«, sagte sie und stellte sie auf den Tisch. »Es ist angerichtet. Buon appetito!« Schweigen senkte sich über die Gruppe, während Julika sich setzte und sorgfältig die Stoffserviette auf ihrem Schoß ausbreitete. Endlich sah sie wieder auf. »Langt zu! Es wird kalt!«
ENDE DER LESEPROBE