Luisa und die Stunde der Kraniche - Tania Krätschmar - E-Book

Luisa und die Stunde der Kraniche E-Book

Tania Krätschmar

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Beschreibung

Wenn die blaue Stunde naht, ist es Zeit, seine Träume zu leben.

Wenn die Kraniche über die Ostsee fliegen, beginnt die magische Stunde zwischen Tag und Nacht, in der die Zeit ihren eigenen Gesetzen folgt: Das wusste schon Luisas Großvater, der Standuhren sammelte. Seltsam still ist es ohne ihn, findet Luisa Mewelt, als sie die Tür von »Haus Zugvogel« öffnet. Zwei Wochen will die Schmuckdesignerin im Ferienhaus der Familie an der Ostsee allein über den Antrag ihres Freundes Richard nachdenken. Doch alles kommt anders: Ein gewisser Kranichexperte, ebenso unwiderstehlich wie frech, kreuzt ihren Weg. Und immer wieder trifft Luisa die alte Mary, deren Ansichten über das Leben sie seltsam berühren …

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Seitenzahl: 371

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Buch

Zwei Wochen im September: Die Rufe der Kraniche schallen über den Bodden der Ostsee, als Luisa Mewelt sich auf dem Darß den Antrag ihres Freundes Richard durch den Kopf gehen lassen will. Eigentlich sollte sie sofort Ja sagen, denn sie und Richard sind ein eingespieltes Team. Doch die Tage im Haus Zugvogel verändern viel: Luisa trifft den Kranichexperten Jan Sommerfeldt, der ihr zeigt, wie es sein könnte, wenn sie ihren eigenen Leidenschaften folgen würde. Das faszinierende Schauspiel zwischen Himmel und Meer erinnert sie an ihre Naturliebe, die Richard nicht mit ihr teilt. Sie hat endlich wieder mit ihrer Schwester und ihren kleinen Nichten Kontakt, die sie besuchen kommen. Und dann ist da die geheimnisvolle Mary. Immer wieder kreuzt die alte Dame Luisas Weg, und ihre Worte und Weisheit über die eigene Lebenszeit, die man hat, bis sie vorbei ist, berühren Luisa zutiefst …

Autorin

Tania Krätschmar wurde 1960 in Berlin geboren. Nach ihrem Germanistikstudium in Berlin, Florida und New York arbeitete sie als Bookscout in Manhattan. Heute ist sie als Texterin, Übersetzerin, Rezensentin und Autorin tätig. Sie hat einen Sohn und lebt in Berlin.

Von Tania Krätschmar bei Blanvalet bereits erschienen:

Eva und die Apfelfrauen ∙ Clara und die Granny-Nannys ∙ Nora und die Novemberrosen

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Tania Krätschmar

Luisa und die Stunde der Kraniche

Roman

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Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2017 by Blanvalet Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Margit von Cossart

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: living4media/Peter Raider; living4media/IBL Bildbyra AB/Angelica Söderberg; www.buerosued.de

LH ∙ Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20176-0V001

www.blanvalet.de

»Zur Nachtzeit stellen die Kraniche Wachen auf, die mit einem Fuß einen kleinen Stein hochhalten. Lassen sie ihn schlafmüde fallen, so wird ihre Unachtsamkeit offenbar. Die anderen Kraniche schlafen, von einem Fuß auf den anderen wechselnd, den Kopf unter einem Flügel geborgen.«

PLINIUS DER ÄLTERE, GEBOREN 23 NACH CHRISTUS.

Prolog

Bedenke, meine liebe Luisa, es ist die Zeit, die uns ausmacht. Sie ist das Wertvollste, was wir haben, und zugleich das Vergänglichste. Heute bist du volljährig, und wahrscheinlich kommt dir die Zeit, die vor dir liegt, unendlich vor. Das ist das Vorrecht der Jugend. Aber sie vergeht unaufhaltsam. Ihr ist alles untergeordnet– Glück, Liebe, Unglück, Krankheit dauern an, bis es vorbei ist. Die Zeit kennt nur eine Richtung: voran. Das kann tröstlich sein oder unerbittlich. Der Moment ist wie ein Punkt, der letzte Punkt ist die Vergangenheit, der nächste Punkt bereits die Zukunft. Alle Punkte aneinandergereiht bilden den Weg deines Lebens. Jedes Mal, wenn du eine Entscheidung triffst, beeinflusst du diesen Weg. Mit manchen Entscheidungen änderst du den Verlauf deines Weges mehr, mit anderen weniger…

Aus Max Mewelts Brief an seine Enkeltochter Luisa

zum 18. Geburtstag

1. Kapitel

Natürlich hätte sie es kommen sehen müssen.

In den letzten zwei Wochen hatte Richard ihr Hinweise gegeben, kleine Bemerkungen gemacht, ihr waren verstohlene Veränderungen in seinem Verhalten aufgefallen. Sein tiefes Luftholen, als wollte er etwas sagen, was er dann nicht tat. Sein nachdenklicher Blick, wenn sie unerwartet in seine Richtung schaute und er sich dann hastig abwandte, als hätte sie ihn bei etwas Unerlaubtem erwischt.

Aber bei den großen Themen ihres Lebens konnte Luisa Mewelt für eine durchaus intelligente Frau erstaunlich betriebsblind sein. Der Grund dafür war einfach – sie mochte Veränderungen genauso wenig wie Entscheidungen. So, wie es war, war es gut, und so sollte es bitte auch bleiben.

Schon als Kind war sie so gewesen, ganz anders als ihre zwei Jahre jüngere Schwester Emilia, die eine Situation sehr schnell, manchmal sogar zu schnell, einschätzte und dann darauf mit aller Entschiedenheit reagierte. Elterlichen Ver- und Geboten oder autoritären Lehrern in der Schule widersprechen? Wunderbar! Emilia war dabei! Nur weil andere »vielleicht« oder »jein« sagten, musste sie das noch längst nicht tun. Sie hatte eine Meinung, und das sollte jeder wissen.

Luisa dagegen war … geschmeidiger. So konnte man es nennen, wenn man es freundlich ausdrücken wollte. So nannte sie es selbst. Es war eine kleine charakterliche Schwäche, mit der sie bisher fast immer gut gefahren war. Oder die ihr zumindest nicht geschadet hatte. Es war so leicht, sich nicht zu entscheiden. Meine Mädchen sind eben sehr unterschiedlich, hatte ihre Mutter stets wohlmeinend erklärt, wenn irgendwer geglaubt hatte, das kommentieren zu müssen. Emilia die Entschlossene, Luisa die Wankelmütige.

Bis zu jenem Moment, der, im Nachhinein betrachtet, der Anfang aller Entscheidungen war.

Auch wenn Luisa es da noch nicht wusste.

Es war ein Spätsommerabend in Berlin, wie er nicht schöner hätte sein können. Die Sonne hatte den ganzen Tag von einem wolkenlosen Himmel gebrannt. Im Radio wurde stündlich davon gesprochen, dass für die zweite Septemberwoche Rekordtemperaturen erwartet wurden.

In ihrem Goldschmiedeatelier, das im Souterrain eines Altbaus lag, hatte Luisa nicht allzu viel von der Wärme mitbekommen, und so genoss sie die letzten Sonnenstrahlen. Um sieben traf sie sich mit Richard bei ihrem Lieblingsitaliener. Luigi servierte ihnen an einem der in Rot-Weiß eingedeckten Tischchen köstlich scharfe Spaghetti Arrabbiata, die Luisa den Schweiß auf die Stirn trieben. Schließlich zahlte Richard, und sie schlenderten Hand in Hand den Kurfürstendamm entlang bis zu dem schönen weißen Altbau, in dem sich Richards ausgebautes Dachgeschoss befand. Früher hatte in dem Haus der Bürgermeister von Berlin gewohnt. Es gefiel Richard, in Gesprächen wie nebenbei den Vormieter zu erwähnen und dann das anerkennende Aufleuchten in den Augen seines Gegenübers zu sehen.

Der Außenfahrstuhl, eine nachträglich eingebaute technische Bequemlichkeit, hielt direkt vor dem Apartment.

»Ich zieh mich schnell um, dann trinken wir noch ein Glas Weißwein«, sagte Richard und öffnete die Tür.

Luisa nickte. »Gern. Für mich bitte mit ein paar Eiswürfeln, ja?«

»O nein! Das ist viel zu schade.« Richard sah sie entsetzt an. »Es ist ein edler Grauburgunder. Der war teuer, weißt du.«

»Wenn schon. Ich will ihn richtig kalt. Bitte, Richard!«

Er schüttelte tadelnd den Kopf, was Luisa ignorierte. Sie ging auf die Dachterrasse, schlüpfte aus ihren Sommerpumps, massierte ihre Füße und streckte sich auf einer der beiden gepolsterten Liegen aus.

Über ihr war nichts als der Himmel von Berlin. Die Sonne war untergegangen, und sie musste an ein Gemälde von Hundertwasser denken: Singender Dampfer in Ultramarin III. Es hatte genau die Farben, die sie in diesem Moment umgaben. Dieses eindringliche Blau der aufkommenden Dunkelheit, das Grün der Bäume, das Gelbliche der Straßenlaternen. Das wären Töne, mit denen sie beim Emaillieren experimentieren könnte. Es würde gut aussehen in Verbindung mit Gold …

Als Richard die Dachterrasse betrat, trug er dunkelblaue Bermudas und ein weißes T-Shirt, seine Sonnenbrille hatte er in sein dunkles, nach hinten gegeltes Haar gesteckt. Er sah aus, als wollte er zum Nachtsegeln gehen.

Eigentlich war seine Eitelkeit ein bisschen übertrieben. Aber Luisa kannte ihn nicht anders, und außerdem – eitle Männer waren wenigstens gepflegt. Richard wusste genau, dass er gut aussah, und er tat alles dafür, dass es die Leute in seiner Umgebung nie vergaßen. Auch daran, dass er es weit gebracht hatte, erinnerte er gleich jeden, der ihm begegnete. Er bekleidete eine Spitzenposition in einer der größten Berliner Kanzleien, sein Nachname, Hartung, wurde in der Presse immer häufiger in Verbindung mit den Worten »Wirtschaftssenator« genannt. Man würde denken, dass Luisa all das widerstrebte, doch er hatte auch eine andere Seite – er war charmant, zärtlich und großzügig.

Er reichte ihr das beschlagene Glas, in dem die Eiswürfel leise klirrten, und genüsslich nahm Luisa einen großen Schluck.

»Luisa …« Richard setzte sich auf das Fußende ihrer Liege.

»Danke, Richard. Das ist einfach himmlisch …« Sie seufzte zufrieden und stupste ihn sanft mit ihrem nackten Fuß an. »Life is good.«

»Hör mal. Ich muss dir was sagen …«

Luisa blinzelte. »Ja?«

»Schatz, ich hab dir doch von diesem unglaublichen Job erzählt, dem in London.« Richards Stimme klang beschwörend.

Luisa musste einen Moment nachdenken. »Dem in London? Warte mal. Oh ja … Das ist schon ein paar Monate her, oder? Als Headdingsbums …« Sie erinnerte sich wieder, und sie erinnerte sich auch daran, dass sie dem nicht allzu viel Bedeutung beigemessen hatte. Richard spann so häufig an seinem Karrierenetz, dass sie längst den Überblick verloren hatte.

»Head of European Compliance and Risk-Association. Ja, diesen Job meine ich.«

»Was ist damit?«

»Ich habe ihn.«

Luisa ließ das Glas sinken. »Wie, du hast ihn? Den hat doch jemand anderes bekommen. Eine Kollegin aus Luxemburg, oder?«

»Die ihn nicht antritt.«

»Warum nicht?«

»Keine Ahnung. Vor einiger Zeit ging das Gerücht um, dass sie ihn nicht haben wollte. Ich wusste, dass ich die zweite Wahl war. Also hab ich meinen Namen wieder ins Gespräch gebracht und erfahren, dass sie mich schon auf dem Schirm hatten. Ich hab schon vor zwei Wochen gehört, dass sie mich nehmen werden, heute haben sie eine offizielle Erklärung dazu rausgegeben.«

»Aber wäre das nicht eine Riesenchance für diese Kollegin gewesen?«

»Luisa, mir ist es egal, warum diese Frau den Job in London nicht antritt! Vielleicht will sie in einen Aschram gehen oder Kinder bekommen oder ist krank geworden oder hat Angst vor der Verantwortung – keine Ahnung. Hauptsache ist, dass die Kommission ihn mir angeboten hat! Verstehst du, was das bedeutet?«

Luisa setzte sich auf. Ihre schulterlangen rotblonden Locken, die sie bei der Arbeit hochgesteckt trug, hatten sich aus der Hornspange gelöst und fielen ihr über die sommersprossigen Schultern. Achtlos warf sie ihr Haar zurück und streifte den Träger ihres gelben Sommerkleides hoch, der hinuntergeglitten war.

»Ja. Das bedeutet, dass du es geschafft hast. Dass du ganz oben im europäischen Finanzmarkt mitspielst«, sagte sie. »Dass du da bist, wo du immer sein wolltest.«

Es klang ein bisschen auswendig gelernt, was es auch war. Genau so hatte Richard bis jetzt jeden Karriereschritt begründet. Beim ersten Mal hatte sie andächtig genickt, beim zweiten Mal geschmunzelt. Inzwischen konnte sie den Text praktisch singen.

»Genau. Vorläufig jedenfalls. Nach oben ist noch Luft.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, in dem sich, wie Luisa feststellte, keine Eiswürfel befanden. »Man erwartet, dass ich am 1. November so aufgestellt bin, dass die Kommission ihre Arbeit aufnehmen kann. Das sind keine acht Wochen mehr bis dahin. Und es wäre wunderbar, wenn du nach London mitkämest.«

Das allerdings war neu.

Zärtlich streichelte Luisa sein Gesicht, spürte seinen rauen Abendbart wie Sandpapier in ihrer Handinnenfläche. »Das ist süß, Richard. Aber du weißt doch, dass ich hier mein Atelier habe und dass ich meine Arbeit sehr mag. Flüge nach London kosten nicht die Welt. Du kannst am Wochenende nach Berlin kommen. Und ich besuche dich, sooft ich kann. Wir waren immer mal wieder für längere Zeit getrennt. Weißt du noch, als du ständig nach Brüssel musstest? Eigentlich kein Unterschied zu London, oder? Für uns muss sich doch nichts ändern.«

Was sie eigentlich meinte, war: Was soll ich den ganzen Tag allein in London, während du achtzig Stunden in der Woche arbeitest? Soll ich die Tage damit verbringen, deine Abendveranstaltungen zu planen? Wo bleibt dann mein eigener Anspruch, wo mein eigenes Leben?

Aber ein Grund, warum sie und Richard bei ihren Freunden als glückliches Paar galten, war Luisas intuitives Gespür dafür, wann sie den Dingen besser ihren Lauf ließ und Entwicklungen nicht durch unbequeme Einwände oder Wahrheiten beeinträchtigte. Und so ließ sie sich zurücksinken und schloss die Augen, fast schon wieder bereit, ihre Bedenken vor sich selbst zurückzunehmen.

Richard stellte sein Glas auf der breiten Armlehne der Liege ab. Die Wahl, aus welchem Material die Gartengarnitur sein sollte, war ihnen damals leichtgefallen: Teak, auch wenn es etwas teurer war. Wenn Teak alterte, wurde es vornehm silbergrau. Teak hatte Stil.

Er räusperte sich, glitt von der Liege, kniete sich vor Luisa, nahm ihre Hand in seine beiden Hände, küsste sie und holte dann tief Luft: »Würdest du mir die große Ehre erweisen und meine Frau werden, Luisa, meine große, unsterbliche Liebe? Würdest du dein Leben für immer mit meinem teilen, bis dass der Tod uns scheidet? Mit einem Ja könntest du mich zum glücklichsten Mann der Welt machen. Bitte sag Ja, mein Schatz. Einfach nur ein kleines Ja.«

Ja hallte es in Luisas Ohren wider, was eigentlich gar nicht sein konnte, denn auf der Dachterrasse gab es nichts, das Schallwellen reflektieren könnte. Sah man mal von der Glasbrüstung ab, die denjenigen, der neugierig zu weit nach unten zum Kurfürstendamm lugte, vor einem Sturz bewahrte.

Einige Momente vergingen, in denen man nur das Rauschen der Stadt hörte, bis Luisa klar wurde, dass Richard auf ihre Antwort wartete.

»Oh … Das Thema Heiraten hatten wir doch schon mal«, erwiderte sie vorsichtig. Und es war kein gutes Thema zwischen ihnen gewesen. Sie hatten heftig gestritten.

Richard erhob sich und setzte sich auf den Rand der Liege. Er wiegte den Kopf, ließ ihre Hand los und griff wieder nach seinem Glas. »Das war eine theoretische Diskussion, die wir damals hatten. Es ging um Kinder, und da haben wir uns zum Glück geeinigt. Mit den Töchtern deiner Schwester hatte es zu tun, erinnerst du dich?«

Ja, sie erinnerte sich sehr genau. Er hatte sich über Paare, die Kinder wollten, lustig gemacht. Idealisten, die nicht verstehen konnten, wie viel leichter das Leben ohne Kinder war. Kinder kamen nicht infrage. Im selben Atemzug hatte er argumentiert, dass man nicht heiraten müsse, wenn man keine Kinder haben wollte.

Zuerst war Luisa entsetzt gewesen, betroffen, hatte die klare Absage an eine Familie als herzlos empfunden.

Aber sie hatte sich, wie so oft, gefügt.

Dann eben nicht, hatte sie damals gedacht. Dann bleiben wir so zusammen, wie wir jetzt sind. Ist ja schön. Bequem. Kinder müssen nicht sein. Richard hatte natürlich recht, sie machten Arbeit und zwangen einen, sich einzuschränken. Und wenn man keine Kinder wollte, war das Heiraten wirklich überflüssig. Sie und Richard wussten auch so, dass sie zusammengehörten.

»Aber hattest du damals nicht gesagt, dass du nicht heiraten möchtest?« Sie hasste sich selbst für den ratlosen Unterton in ihren Worten, aber sie musste es wissen. »Warum hast du deine Meinung geändert?«

Er schnappte sich sein Glas, stand auf und lehnte sich an die Glasbrüstung. Links und rechts von ihm standen zwei große Buchsbäume. Der Gärtner kam zweimal im Jahr, um sie zirkelgenau zu beschneiden. Die reduzierte Bepflanzung der Terrasse musste sein, weil Richard eine Bienenallergie hatte. Da verbot sich alles, was blumig, duftend und insektenfreundlich war. Zum Glück hatten sie noch nie das Notfallset, das im Kühlschrank lag, nutzen müssen.

»Zum einen sind wir nun schon lange zusammen …«, begann Richard zu antworten. Plötzlich hatte Luisa den Eindruck, ein sprechendes Gemälde zu sehen. Erfolgreicher Mann vor Abendhimmel, gerahmt von Buchs, Himmel und Glas könnte es heißen. Oder Heiratsantrag ohne Frau. Oder Nachtentscheidung eines Managers. Oder … »Ich werde zweiundvierzig, du bist achtunddreißig«, fuhr er fort. »Ich finde, da kann man allmählich Nägel mit Köpfen machen. Vor Überraschungen sind wir gefeit. Die Zukunft liegt vor uns. Sie kann nur gut werden. Und wenn wir verheiratet sind, teilen wir sie für immer.«

Luisa drehte das Weinglas in ihren Händen. »Aber um die Zukunft zu teilen, müssen wir nicht verheiratet sein. Dafür muss man nur zusammen sein. Das haben wir doch neulich gesagt, oder?«

Richard fuhr fort, als hätte er ihren Einwand nicht gehört. »Wir sind ein gutes Team. Du unterstützt mich bei meinen gesellschaftlichen Verpflichtungen, dafür unterstütze ich dich und deine Goldschmiede finanziell.«

Das stimmte. Wenn Richard Freunde aus Kultur und Wirtschaft einlud – und das tat er häufig –, sorgte Luisa für einen reibungslosen Ablauf. Sie ließ vom KADEWE catern, den Wein von ihrem bevorzugten Händler anliefern, engagierte eine Servierkraft und bestellte die Putzfrau für den nächsten Tag. Inzwischen hatte sie Routine. »Wir müssen uns sozial nicht verstecken«, erklärte Richard immer wieder. »Lass sie glauben, dass wir so exklusiv leben. Das macht einen guten Eindruck.«

Dafür zahlte er jeden Monat die Miete für die Goldschmiede. Dass er ihre Goldschmiede heute Goldschmiede genannt hatte, bewies, wie ernst ihm dieses Gespräch war. Sonst sagte er Bastelkeller – in der Regel mit ironischem Unterton. Das erlaubte Rückschlüsse darüber, was er von ihrer Arbeit hielt.

»Ja, wir sind ein gutes Team«, sagte sie leise.

»Du tust mir gut. Wir leben harmonisch zusammen, streiten nie«, fügte er noch hinzu.

Auch das stimmte. Luisa hatte zwar zwei Räume hinter ihrer Werkstatt, die sie sich gemütlich eingerichtet hatte, aber tatsächlich wohnte sie bei Richard. Wieso auch nicht? Dachgeschoss versus Souterrain, zweihundert Quadratmeter gegen vierzig, Sonne gegen Schatten. Luxus gegen Minimalismus. Ein Mann, der anerkannt war und der sie verwöhnte.

Und trotzdem fehlte etwas in seiner Argumentationskette, das sie wissen musste.

»Richard, da ist doch noch was«, bemerkte sie.

Er seufzte und beugte sich kurz über die Brüstung, als versteckte sich die wahre Erklärung, warum ihm plötzlich das Heiraten so wichtig war, irgendwo da unten zwischen den parkenden Autos auf dem Mittelstreifen des Kurfürstendamms.

»Du kennst mich zu gut«, sagte er dann. »Also, es ist so: Ich möchte meinen Erfolg gern mit dir teilen. Du müsstest nicht mehr arbeiten und wärst die perfekte Frau an meiner Seite. London ist eine wunderbare Stadt, denk nur an all die Museen! Wenn es dir wichtig ist, finden wir für dich auch etwas zu basteln. Du machst wirklich sehr kreative Sachen«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Glaub nicht, dass ich deine Arbeit nicht schätze. Aber du könntest dich natürlich auch bei Wohltätigkeitsorganisationen engagieren. Du musst kein Geld verdienen, wärst abgesichert. Und du würdest sicher gut ankommen.« Bei wem?, fragte Luisa sich. Richard stieß sich vom Geländer ab, kam auf sie zu und setzte sich wieder neben sie. »Es wäre für meinen Job einfach besser, wenn ich verheiratet wäre. Verstehst du, Luisa? Es wirkt seriöser. Mein Berufsfeld ist nun mal von konservativen Werten geprägt, Banker, Politiker, hochrangige EU-Beamte. Ich kann dich der britischen Premierministerin schlecht mit ›This is my girlfriend‹ vorstellen. Für uns ist Heirat doch nur ein kleiner Schritt, gerade weil wir beide nicht wirklich daran glauben! Wenn du möchtest, können wir auch nach Las Vegas fliegen, dann hätten wir es ruckzuck hinter uns. Eine Formalität. Wir kommen als Mr. und Mrs. Hartung zurück, sparen uns eine Feier und können schon mal alles für London vorbereiten.«

Endlich verstand Luisa. Das war sie, die Wahrheit, schön verpackt.

Er brauchte für seinen Job in London eine Ehefrau. Nur deshalb machte er ihr einen Antrag.

Auf einmal sah sie alles klar vor sich. Das Leben, das sie jetzt führte, würde so weiterlaufen. Materiell ginge es ihr natürlich noch besser. Sie konnte sich auf Richard verlassen, das wusste sie.

Gut, es hatte mal eine kleine Geschichte mit seiner Sekretärin gegeben, aber er hatte sie dann entlassen und Luisa geschworen, dass das eine einmalige Geschichte gewesen war. Mit einem traumhaften Ring, einem großen Amethyst, meisterhaft geschliffen, sodass man den Eindruck gewann, jemand habe ein Feuer darin entzündet, hatte er sich entschuldigt. Den Ring mochte sie allerdings so wenig, dass es sie jedes Mal überraschte, wenn sie ihn in ihrem Schmuckkästchen entdeckte. Vielleicht sollte ich die Fassung ändern, hatte sie neulich überlegt.

Richard erklomm die Karriereleiter, und alles, was an Erfolg und damit auch materiell zu erreichen war, würde er erreichen.

Musste man bei einem Heiratsantrag von Liebe sprechen? Man konnte. Aber man musste nicht. Sagte man nicht, Frauen heirateten aus Liebe und Männer aus Steuergründen? Na ja, Richard heiratete aus Repräsentationsgründen.

Sie sollte eigentlich jubeln, ihm um den Hals fallen, in die Küche rennen, eine Flasche Champagner aus dem Kühlschrank holen wie vor einigen Jahren, als Richard Partner in der renommierten Kanzlei geworden war. Sie hatten noch einen Cristal Rose 2006, der fünfhundert Euro gekostet hatte, mehr als die Monatsmiete ihrer Goldschmiede.

Inzwischen war der Himmel über Berlin ganz dunkel geworden, das unwirkliche Blau war verschwunden. Der Mond war aufgegangen und leuchtete fast so hell wie die Lichter der Stadt.

Irgendwo hoch über sich hörte Luisa das Kreischen von Vögeln. Eine V-Formation glitt am Mond vorbei. Waren bereits Zugvögel unterwegs? War das Ende des Sommers so nah?

Das allerdings brauchte sie Richard nicht zu fragen. Natur war ihm fremd. Sie interessierte ihn nicht, sie passte nicht in sein Weltbild, wahrscheinlich weil sie sich durch menschliche Einflüsse nicht beeinflussen ließ, sich nicht von Macht beeindrucken ließ. Wenn ein Sturm kam, half keine European Compliance and Risk-Association. Gegen Erdbeben und Sturzregen war ein gut gehender Finanzmarkt machtlos.

Die Vögel entschwanden langsam hinter dem Altbau auf der anderen Straßenseite.

Luisa riss sich zusammen. Es konnte nur eine Antwort auf Richards Heiratsantrag geben.

»Richard, ich bin so glücklich, dass du mich das gefragt hast. Aber es kommt wirklich unerwartet. Als wir damals über das Heiraten gesprochen haben, warst du ganz anderer Meinung als heute. Du fandest es überflüssig, wenn man keine Kinder wollte. Das verwirrt mich irgendwie. Bevor ich Ja sage, möchte ich darüber nachdenken. Ich weiß, du verstehst das.«

Sein erstaunter Blick verriet ihr, dass er das überhaupt nicht verstand. Und vielleicht war das besser so, denn sie verstand es selbst nicht wirklich. Es fühlte sich wie etwas an, das sie am wenigsten gern tat: Handeln und Sichentscheidenmüssen.

»Wie viel Zeit brauchst du?«, fragte Richard.

Sie kalkulierte ungefähr so, wie sie es tat, wenn sie einem Kunden ein Angebot machte. »Zwei Wochen.«

»Zwei Wochen?«, fragte Richard hörbar verletzt. »Du musst meinen Antrag so lange hinterfragen?«

Luisa griff nach seiner Hand, streichelte sacht seine Finger, berührte den Siegelring mit dem dunkelblauen Stein, den er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, als er das Jurastudium mit »summa cum laude« abgeschlossen hatte.

»Eine Ehe soll für immer sein. Gegen ein ganzes gemeinsames Leben sind zwei Wochen ein vergleichsweise kurzer Zeitraum. Und du verlangst eine Menge: Ich soll mein Leben in Berlin aufgeben, meine Werkstatt …«

»Nicht aufgeben. Wir kommen doch irgendwann aus London zurück. Im Grunde ändert sich nichts für dich, außer, dass du eine Weile in London lebst, neue Eindrücke bekommt, neue Leute kennenlernst.«

»Das klingt traumhaft, Richard, aber es stimmt nicht ganz. Da machst du dir was vor. Eine Ehe ändert alles.« Und eine Scheidung wie bei meinen Eltern auch, wollte sie schon hinzufügen, aber sie verkniff es sich.

»Na gut. Zwei Wochen.« Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. »Aber länger lass mich nicht warten. Solange machen wir hier weiter wie bisher, ja? Wir gehen essen, treffen Leute, besuchen Partys …«

»Ich werde verreisen. Allein.«

Er ließ den Arm sinken. »Warum das denn?«

»Ich will die Zeit auch nutzen, um an meinem Entwurf zu arbeiten.« Der Gedanke war ihr eben erst gekommen.

»Welchen Entwurf?«

»Den für Bilbao.«

Ein Museum in der spanischen Hafenstadt hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben: Movimiento en oro – Bewegung in Gold lautete das Thema, das Luisa im Goldschmiedeforum ins Auge gesprungen war. Es war ein Widerspruch in sich. Gold als eines der schwersten Metalle verkörperte das Gegenteil von Bewegung. Es setzte sich im Wasser ab, im Sand, es wollte bleiben, wo es war, wollte sich nicht bewegen und verändern, wollte bewahren – das Geld seines Besitzers zum Beispiel. Der Charakter des Edelmetalls entsprach nicht dem Charakter des Wettbewerbs. Das machte die Aufgabe des Umsetzens schwer. Trotzdem hatte Luisa den unerklärlichen Eindruck gehabt, dass es eine direkt an sie gerichtete Aufforderung war.

Sie hatte einen ersten Entwurf gemacht und war gnadenlos gescheitert. Auch der zweite, dritte und vierte Entwurf hatten nicht die Tiefe gehabt, die sie sich erhofft hatte. Was sie machte, war kunstgewerblich, hübsch und gefällig, aber hatte mit moderner Kunst wenig zu tun. Sie war Künstlerin genug, um zu erkennen, dass ihren Arbeiten etwas fehlte, aber zu wenig Künstlerin, um das zu ändern. Es war frustrierend. Vielleicht würde ein Ortswechsel ja helfen. Und selbst gewählte Einsamkeit. Eine Zeit mal nicht in den sozialen Netzwerken unterwegs sein. Nicht whatsappen. Sie war noch nie allein verreist.

»Wo willst du denn hin? Ein bisschen wellnessen?«, fragte er. »Oder nach New York zum Shoppen? Flieg nicht nach London! Da bist du dann ja ab November.«

Luisa bewunderte Richard für seine Größe, nicht zu schmollen. Schon das war eigentlich ein Grund, sofort Ja zu sagen. Egal, was sie sich ausdachte – sie war sicher, dass er sie sogar finanziell unterstützen würde.

Aber in diesem Fall fühlte sich das nicht richtig an.

»Nein«, sagte sie. »Ich brauche Natur. Das Meer. Den Strand.«

»Du fährst nach Zingst?«, fragte er und seufzte. »Dann nimm dir wenigstens eine Suite im Steigenberger.«

»Ach, Richard. Sei nicht albern. Ich wohne natürlich in unserem Haus, wenn es frei ist. Emilia wird das wissen. Ich ruf sie an.« Sie stand auf.

Sie hätte auf der Dachterrasse telefonieren können, aber erstens sprach sie lieber am Festnetz, und zweitens wollte sie nicht, dass Richard jedes Wort mithörte, auch wenn sie nichts vor ihm zu verbergen hatte.

Als sie barfuß über den kühlen Marmorboden der Terrasse in den schummrigen Wohnbereich ging, hörte sie von draußen erneut Vogelrufe. Vielleicht hatte sich die erste Schar verflogen und war umgekehrt. Verflogen sich Vögel überhaupt? War das möglich? Hatten sie nicht so eine Art eingebauten Kompass? Und variierte das von Vogelart zu Vogelart, oder war das bei allen Vögeln gleich?

Wahrscheinlicher war, dass eine zweite Vogelschar in Richtung Süden unterwegs war. Am Himmel über Berlin schien an diesem Abend eine ganze Menge los zu sein. Und die Vögel, die da kreischend über sie hinwegflogen, schienen sich nicht im Geringsten darum zu scheren, dass sie gerade einen Heiratsantrag erhalten hatte und nicht wusste, wie sie antworten sollte.

2. Kapitel

Dass Luisa seit fast zwanzig Jahren in Berlin wohnte, war im Grunde ein biografischer Irrtum.

Sie stammte aus einer Familie, die seit Jahrhunderten an der Küste gelebt hatte. In der Familie Mewelt war es Tradition, dass man Neugeborenen ein weiches Bändchen mit einer kleinen Ostseemuschel um den linken Fuß band und es dort ließ, bis es sich von allein löste. Das sollte, kaum dass man auf der Welt war, die Verbindung zum Wasser festigen.

Luisa war überzeugt, dass ihr Bändchen spätestens beim ersten Baden abgefallen war, auch wenn ihre Mutter dem energisch widersprochen hatte. Denn die anderen Mewelts waren Fischköppe, die beharrlich im Norden geblieben waren, Sturköppe allesamt.

Ihr Großvater Max Mewelt hatte nach dem Krieg, in dem er bei der Marine gewesen war, auf See gearbeitet. Von Rostock waren die Schiffe losgefahren, und oft war er monatelang unterwegs gewesen, genau wie es sein Vater und Großvater schon getan hatten. Ihre Großmutter Elise war allein in dem kleinen Häuschen in Zingst geblieben, genau wie alle anderen weiblichen Verwandten. Das taten Ehefrauen von Seeleuten eben.

In den frühen Fünfzigerjahren, zu Beginn der DDR, war dann die Arbeit knapp geworden, und der Großvater hatte nehmen müssen, was er bekommen konnte, um seine wachsende Familie durchzubringen. Mal war er Aushilfskraft an der Schule für Schifffahrt in Rostock gewesen, mal Hafenarbeiter. In den späten Fünfzigerjahren hatte es für Max Mewelt endgültig keine Anstellung mehr gegeben. Das Haus war renovierungsbedürftig geworden, das Reetdach undicht. Die Familie hatte es hinter sich abgeschlossen und war kurzerhand mit dem Schlüssel in der Tasche über die grüne Grenze in Richtung Nordsee ausgewandert – mitsamt den drei Kindern Walter, Heike und Michael, alle unter sechs Jahren.

Max und Elise waren erst nach Husum und ein Jahr später nach Hamburg gezogen, wo Max endlich in einer Reederei Arbeit gefunden hatte. Aber auch als es ihnen allmählich besser ging, als sie ein kleines Häuschen in Norderstedt bezogen, auch als die Kinder längst zu echten Hamburgern herangewachsen waren – die Sehnsucht nach der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst zwischen Rostock und Rügen, die wie ein Bogen im Meer lag, war geblieben. Eine Schwarz-Weiß-Luftaufnahme von Zingst, dem Dorf am östlichsten Ende zwischen Meer und Bodden, hing bei Max und Elise im Wohnzimmer direkt neben der Tür über dem Lichtschalter. Jedes Mal, wenn man die Deckenlampe anschaltete, blickte man unweigerlich darauf.

Max hatte seine Arbeit, Elise hatte die Familie und ihre Erinnerungen an früher. Statt schwächer zu werden und allmählich zu verblassen, wurden diese lebendiger, je älter Elise wurde. Sie dachte an das mal ruhige, mal wilde Meer mit seinen Holzbuhnen, die von Weitem wie eine dunkle Bernsteinkette aussahen, an den Leuchtturm am Darßer Ort und den wilden Wald, den Bodden, das Windwatt, die Sundischen Wiesen. An ihre Jugend, ihre Zeit als junge Frau.

In den Siebzigerjahren mietete Max jeden Sommer ein Ferienhäuschen in der Lübecker Bucht, und Elise träumte von ihrem verlorenen Paradies. Luisa konnte sich an schöne Urlaube an der Ostsee erinnern, an Ponyreiten am Strand. Emilia hatte ihr Pferd immer zu wildem Galopp angetrieben, sie war vorsichtig im Trab gefolgt.

Dann kam die Wende. Onkel Walter, der Rechtsanwalt geworden war, setzte sich dafür ein, dass die Familie das Haus in Zingst zurückerhielt. Sie waren nicht enteignet worden, und Walter schaffte es. Das war wohl der glücklichste Tag in Elises Leben. Aber auch einer der verstörendsten, denn eine Entscheidung musste getroffen werden. Was sollten sie mit dem Haus anfangen?

Sie fuhren hin und stellten sich als alte neue Eigentümer vor. Jeden Monat wurden ihnen fortan vierzig Mark von den Mietern überwiesen, bis diese in einer nebligen Nacht Anfang der Neunziger auszogen, wahrscheinlich weil sie den Westbesitzern nicht trauten. Das Haus hinterm Deich war heruntergewirtschaftet und sanierungsbedürftig, doch es stand leer. Max und Elise hätten es verkaufen können, Makler aus Hamburg und Berlin standen Schlange, um Ostseeimmobilien zu erwerben, egal wie baufällig sie waren. Sie jagten sie alle zum Teufel. Denn dieser Moment war für Max und Elise der Startschuss in die Vergangenheit. Die Familie legte zusammen, Haus Zugvogel, wie es früher geheißen hatte und nun wieder heißen sollte, wurde neu hergerichtet.

Es dauerte eine Weile, da die Arbeiten am Haus von der Saison abhängig waren. Herbst und Winter eigneten sich nicht so sehr zum Reparieren und Streichen, im Frühling und Sommer hatten die Handwerker, die häufig ein Doppelleben als Vermieter an der Ostsee führten, wenig Zeit.

Als Haus Zugvogel wiederhergestellt war, waren Luisa und Emilia Teenager, das perfekte Alter, um erste Sommerfreiheiten zu genießen. Das undichte Reetdach war frisch gedeckt worden, das Haus hatte neue Fenster bekommen. Die Dielen waren abgezogen, die Wände geweißt und die Balken geschwärzt, Küche und Bad waren komplett erneuert, und die drei Schlafzimmer unterm Dach hatte Elise so maritim-gemütlich einrichten lassen, wie man es sich nur vorstellen konnte. Im Sommer schliefen sie bei offenem Fenster. Man konnte das Meer rauschen, die Möwen schreien und den Regen plätschern hören.

Ende der Neunziger starb Elise mit einundsiebzig Jahren, nur kurze Zeit hatte sie ihre persönliche Wiedervereinigung feiern können. Max war sicher, dass sie länger gelebt hätte, wenn sie Zingst nie verlassen hätten, das erzählte er eines Tages Luisa. Er hatte es gespürt, all die vielen Jahre hindurch, seit sie die Tür von Haus Zugvogel hinter sich zugezogen hatten und Fischland-Darß hinter ihnen am Horizont verschwunden war. All das Sehnen nach und Träumen von der Insel hatte sie Lebenszeit gekostet.

Als Elise für immer gegangen war, dachte die Hamburger Familie, Max würde nun nicht mehr nach Zingst fahren wollen. Sie glaubten, dass dieser Teil der Vergangenheit für ihn endgültig abgeschlossen war und dass er das Haus aus seinem Leben verbannen würde.

Aber genau das Gegenteil war der Fall.

Max verkaufte das Haus in Norderstedt, teilte das Geld unter seinen Kindern auf und zog ganz nach Zingst. Dort fühlte er sich seiner verstorbenen Frau näher als in Hamburg – und wahrscheinlich auch seiner eigenen Vergangenheit. Außerdem war er keine hundert Meter vom Wasser entfernt, vom Meer, das er immer noch so sehr liebte.

Die Kinder, Enkel und schließlich auch die Urenkel besuchten ihn jeden Sommer, bis er mit achtundachtzig Jahren starb. An den Folgen eines Oberschenkelhalsbruchs, den er sich zugezogen hatte, als er im Schwimmbad auf dem Drei-Meter-Brett ausgerutscht war. Todesursache missglückter Kopfsprung. Schwimmen, Segeln, Angeln – alles, was mit Wasser zu tun hatte, war Max wichtig gewesen. Bis zum allerletzten Ende.

Gelegentlich stand zur Debatte, Haus Zugvogel einer Ferienhausvermietung zu geben, die es betreuen und in der Hauptsaison lukrativ vermieten sollte, aber dann hatte die Familie sich dagegen entschieden. Es war einfach schön, jederzeit ein Haus am Meer zur Verfügung zu haben, ein Luxus. Es gab immer jemanden, der gerade Urlaub an der Ostsee machen wollte. Die Familie bestand aus sechzehn Personen, fünfzehn davon wohnten in Hamburg und Umgebung. Luisas Schwester Emilia war seit Jahren verheiratet und hatte mit ihrem Mann Henrik Zwillinge. Nike und Nina waren inzwischen neun.

Nur Luisa passte nicht in dieses Bild. Nach dem Abi war sie nach Berlin gegangen, weil sie dort eine Goldschmiedelehre machen und Kunst studieren wollte. Aber vielleicht war es auch eine stille Rebellion gegen ihre zu eng gestrickte Familie, was sie niemals bei einem der Familientreffen ausgesprochen hätte – zu dem sie seit vielen Jahren nicht mehr ging.

Insbesondere seit sie mit Richard zusammen war, inzwischen seit sieben Jahren, sagte sie sich, dass die räumliche Distanz schuld daran war, dass sie mit den Hamburgern so selten sprach, dass sie kaum noch etwas mit ihnen zu tun hatte. Pflichtschuldig rief sie gelegentlich ihre Mutter an, aber schaltete innerlich ab, wenn diese von den Familienmitgliedern erzählte. Während ihre Mutter plauderte und plauderte, konnte sie prima E-Mails beantworten.

Richard unternahm gern Luxusreisen – im Frühjahr nach Venedig ins Cipriani, Silvester nach New York, zum Indian Summer nach Boston. Im letzten März waren sie auf Bali gewesen, in einer international ausgezeichneten Wellnessanlage inmitten von Reisfeldern. Das waren Urlaube nach Richards Geschmack.

Zingst dagegen hatte Richard nicht gefallen. Ein einziges Mal waren sie nach dem Tod des Großvaters zusammen dort gewesen, aber er hatte sich geweigert, im Haus Zugvogel zu schlafen. Es war ihm zu primitiv. Stattdessen hatte er auf einer Suite im Steigenberger bestanden. Auch war ihm Fischland-Darß zu urig, zu wild und von viel zu vielen Campern frequentiert. Das nächste Sternerestaurant gab es erst in Stralsund, von den Fischbrötchen an den Straßenständen bekam er Ausschlag an den Mundwinkeln. Und überhaupt, wenn schon deutsche Meeresküste, dann wollte er an die Nordsee, nach Sylt. Die Fischbrötchen von Gosch vertrug er offenbar besser. Außerdem fand er, dass die Ostsee »bedeutungslos vor sich hindümpelte«.

Luisa hatte gegen den kleinen Schmerz, den sie bei seinen Worten über ihre geliebte Ostsee empfunden hatte, gelacht und sogar dagegengehalten, aber wie es ihre Art war, eher halbherzig und nicht wirklich darauf aus, ihren Standpunkt klarzumachen. Zingst machte Richard so übellaunig, dass sie keine Lust verspürte, mit ihm noch ein zweites Mal dorthin zu fahren.

Dass sich mit ihrer Entfremdung von der Insel auch das Verhältnis zu Emilia abkühlen würde, damit hatte sie allerdings nicht gerechnet. Seit dem Tod des Großvaters sprach Luisa nur noch selten und sehr oberflächlich mit ihrer Schwester. Sie wusste, dass Richard der Grund war, aber sie tat nichts dagegen. Sie ließ das Schweigen zwischen ihnen anschwellen wie dunkles Wasser, das Unausgesprochenes einfach überspülte und unter sich begrub wie die in der Ostsee versunkene Stadt Vineta.

Nun würde sie dieses Schweigen wohl oder übel brechen müssen.

3. Kapitel

Es fühlte sich seltsam an, die Festnetznummer ihrer Schwester zu wählen. Luisas Hand wurde feucht, während sie den Hörer umklammerte. Hätte sie Emilia vielleicht besser auf dem Handy anrufen sollen? War die Handynummer, die sie von ihr hatte, überhaupt noch die richtige? Es klingelte lange, bis jemand das Gespräch annahm.

»Posny.« Es war eine Männerstimme.

»Henrik? Hallo, hier ist Luisa. Kann ich bitte Emilia sprechen?«

Das Schweigen war kurz, es erschien Luisa aber lang genug, um die Überraschung ihres Schwagers wahrzunehmen. Seine Stimme klang reserviert. »Hallo, Luisa. Ja, Moment.«

Sie hörte, wie er mit dem Telefon durch die Wohnung ging, versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, wie sie geschnitten war, wusste nicht mehr, ob das Arbeitszimmer eine Tür zum Flur hatte, oder ob man von dort direkt ins Wohnzimmer ging. Sie hörte, wie Henrik etwas murmelte.

Dann war Emilia dran. »Lulu? Ist was passiert?«

Luisa musste lächeln. Nicht wegen der Frage, sondern weil Emilias Stimme so vertraut klang und auch weil sie sie Lulu nannte. So nannte Richard sie nie. Sie war sich nicht mal sicher, ob er wusste, dass sie in der Familie nur Lulu hieß.

»Nein, Mila. Es ist nichts passiert. Ich wollte hören, wie es euch geht. Und eine Frage habe ich auch.«

»Du willst nur mal hören, wie es uns geht? Nach so langer Zeit interessiert dich das plötzlich?« Jetzt klang Emilia kühl.

»Du hättest dich ja auch mal melden können«, antwortete Luisa.

»Das hätte ich natürlich«, sagte Emilia schnippisch. »Wenn ich nicht so viel im Büro zu tun hätte, wenn ich mit Nike nicht so oft beim Arzt wäre und Mama mit ihren ewigen Wehwehchen nicht ständig meine wenige Freizeit in Beschlag nehmen würde. Klar, da wäre viel Zeit für Anrufe mit dir gewesen. Regelmäßig, am liebsten jeden Sonntag. Ha! Es hat dir sicher gefehlt, mir von deinen tollen Reisen und illustren Meetings zu erzählen. Entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe. Und was willst du mich fragen?«, fragte sie schließlich.

O nein, Luisa würde auf keinen Fall auf die Vorwürfe eingehen. »Ich möchte gern zwei Wochen nach Zingst fahren. Urlaub in Opas Haus machen.«

»Warum denn das auf einmal? Ist dir das nicht viel zu einfach?«

Da war sie, die Frage.

»Das will ich jetzt nicht sagen«, antwortete Luisa. Sie hatte unwillkürlich die Stimme gesenkt. Schnell warf sie einen Blick auf die Terrasse. Richard hatte sich auf der Liege ausgestreckt und starrte reglos in den dunklen Himmel. Oder er schlief. »Geht das? Steht das Haus leer?«

Sie hatte Glück. Emilia beharrte nicht nur nicht auf einer Antwort, sie verzichtete auch auf weitere Fragen. »Ich denke schon. Die Sommerferien sind vorbei, Nina und Nike sind seit letztem Montag wieder … Ach, egal. Warte mal. Ich seh auf dem Kalender nach. Da trage ich ein, wer wann im Haus Zugvogel ist.«

Luisa hörte, wie ein Stuhl gerückt wurde und dann Emilias Schritte, die sich entfernten. Im nächsten Moment war ihre Schwester auch schon wieder dran. »Ja. Das Haus ist frei, die Nächsten, die hinwollen, sind Bernhard und Marika, aber erst Anfang Oktober. Du hast sturmfreie Bude. Weißt du, wie du reinkommst?«

»Keine Ahnung.«

»Auf der Terrasse steht ein Strandkorb.«

»Der blau-weiße?«

»Genau. Du musst die linke Fußablage herausziehen. Hinten ist die Auflage etwas zerrissen. Da stecken wir den Schlüsselbund immer rein.«

»Gibt es WLAN im Haus?«

»Ja. Der Code lautet maxundelise. Klein geschrieben und in einem Wort. Das Internet ist langsam. Es dauert ewig, ehe sich eine Seite aufbaut.«

»Das passt mir gut. Dann bin ich mal offline.«

»Am besten, du gehst raus auf die Terrasse. Hinter dem Wildrosenstrauch links hast du den besten Empfang. Falls es regnet … Neben der Terrassentür steht ein Regenschirm.«

»Danke.«

»Bettwäsche und Handtücher sind oben im Einbauschrank. Bedien dich. Zum Schluss zieh alles ab und lass es liegen. Ich sag der Putzfrau Bescheid.«

»Perfekt.«

»Fährst du mit Richard nach Zingst?«

»Nein.«

»Das hätte mich auch gewundert. Er hat ja nichts mit unserem Familienrefugium am Hut. Aber interessant, dass du dich mal von ihm losmachst. Sieht dir gar nicht ähnlich, mal etwas ohne ihn zu unternehmen.«

Luisa holte tief Luft. »Emilia, was soll denn das bitte schön heißen?«

»Das soll heißen, dass du ganz schön unter seiner Fuchtel stehst! Dass wir dich vermissen! Dass du dich ruhig mal öfter melden könntest. Dass Mama auch älter wird … Und dass du uns in deinem sorgenfreien Berliner Luxusleben komplett vergessen hast!«

»Mila, ich hab euch doch nicht vergessen …«

»Doch, das hast du! Die Kinder werden größer, und mit Nike ist es manchmal nicht leicht. Du bist nicht nur ihre Tante, sondern auch ihre Patentante, Herrgott noch mal. Da hättest du dich nach ihrer Diagnose wenigstens mal erkundigen können, wie es uns geht! Du weißt nichts über sie. In Kunst zum Beispiel ist sie so gut, wie du es immer warst. Sie würde dir so gern mal im Atelier über die Schulter sehen. Mit den fünfzig Euro, die du ihr immer zum Geburtstag schickst, kommst du ganz schön billig weg. Letztes Mal hab ich ihr einen Aquarellkasten davon gekauft, und ich hab sie bei einem Töpferkurs angemeldet. Und darüber hinaus … Dass du Zingst aus deinem Leben geschmissen hast und mich … uns … versteh ich gar nicht.«

»Es tut mir leid …«, sagte Luisa rasch.

»Ach, verschon mich mit deinen halbherzigen Entschuldigungen.«

»Emilia … Hör auf damit. Lass uns in Ruhe reden. Das ist jetzt nicht der richtige Moment. Ich möchte erst nach Zingst.«

Luisa hörte es rascheln, Emilia putzte sich die Nase. »Wann fährst du, Lulu?«

»Wahrscheinlich schon morgen.«

»Meldest du dich von dort? Reden wir dann?«

»Ja. Ich melde mich. Morgen Abend.« Luisa versprach es sich selbst. »Und grüß die Zwillinge, okay?«

»Die schlafen schon. Aber morgen früh grüß ich sie von dir. Sie werden sich freuen.«

»Du willst morgen schon fahren?«, fragte Richard und setzte sich auf. Offenbar hatte er doch nicht geschlafen.

»Ja. Das Wetter ist traumhaft. Die Ostsee ist bestimmt noch warm genug zum Schwimmen. Und die Leute mit Kindern sind weg, weil die Schule wieder angefangen hat. Also wird es auch nicht so voll sein.«

»Zwei Wochen bleibst du …« Wie eine Frage klang es nicht.

»Ich denke mal so ungefähr. Muss ich doch nicht auf den Tag genau sagen, oder?«, antwortete Luisa ausweichend.

»Lass mich nicht lange auf deine Antwort warten«, sagte Richard, und es klang so bittend, hilflos und liebevoll, dass Luisa das Herz aufging. Sie fragte sich, was sie da eigentlich tat.

Doch dann fiel ihr das Gespräch mit Emilia wieder ein.

Nicht das, das sie eben gehabt hatte, sondern das, das sie morgen haben würde. Sie würde ihre Gedanken ausformulieren müssen. Das war sie ihrer Schwester schuldig. Das war längst überfällig.

Und plötzlich wusste Luisa, dass sie das Richtige tat. Sie würde sich eine Auszeit nehmen. Gründlich nachdenken, wie sie sich ihr gemeinsames Leben mit Richard vorstellte, ob es in der Vergangenheit etwas gegeben hatte, das sie sich für die Zukunft anders wünschte. Alles abwägen, auch mit der Kinderfrage endgültig abschließen, denn dass Richard sich in dieser Hinsicht ändern würde, hatte er ausgeschlossen.

Sie würde noch einmal mit ihm reden. Und dann natürlich Ja sagen. Was auch sonst. Man lehnte ja schließlich auch keinen Hauptgewinn im Lotto ab.

»Komm, wir gehen schlafen.« Richard stand auf, zog sie an sich und küsste sie. »Du fühlst doch genau wie ich, dass wir zwei zusammengehören«, flüsterte er in ihr Haar und streichelte sanft ihren Rücken, genau wie sie es liebte.

Luisa spürte die Wärme seiner Hand durch den leichten Stoff ihres Sommerkleides und wusste, dass der Abend noch lange nicht vorüber war.

4. Kapitel

»Ich fahr dich zum Zoo. Von da kannst du die S-Bahn zum Hauptbahnhof nehmen«, rief Richard am nächsten Morgen von der Küche aus in Richtung Schlafzimmer, wo Luisa packte.

Sie hatte nie einen eigenen Wagen haben wollen. In Berlin war man am besten mit der BVG oder einem Taxi unterwegs, und für weitere Strecken hatten sie Richards Wagen. Er fuhr damit auch zur Arbeit. Zu seinem Arbeitsplatz, der Kanzlei am Gendarmenmarkt, gehörte ein Parkplatz in der Tiefgarage.

Luisa schaute auf. Ihre Reisetasche hatte zwar keine Rollen, aber dafür so viel Stil, sodass sie das Tragen in Kauf nahm.

»Das ist lieb von dir. Aber das musst du nicht. Der Zug nach Stralsund geht um 10:41 Uhr, ich hab noch genug Zeit. Das Ticket hab ich schon ausgedruckt«, rief sie zurück.

Sie machte eine stumme Bestandsaufnahme der Sachen, die auf dem Bett lagen: Lieblingsjeans in Blau und Weiß, eine etwas schickere Hose, zwei luftige Sommerkleider, Fleecejacken, Regenjacke, Jogginganzug, einige Shirts, eine weiße Bluse, Wollpulli, Bermudas, Sportschuhe, Espadrilles, Flip-Flops, schwarze Slipper, Badeanzug, Unterwäsche, Nachthemd, Kulturbeutel. In der Handtasche Zeichensachen, Stifte, Laptop, Handy, Kabel, Geld, Karten, Papiere … alles da. Ihr orangefarbenes Etuikleid hatte sie noch als Option. Brauchte sie das? Nein. Oder vielleicht doch? Es knitterte nicht und wog fast nichts. Sie verstaute es mit den anderen Sachen in ihrer Reisetasche und zog den Reißverschluss zu.

»Ich will dich aber bringen. Es macht nichts, wenn ich heute etwas später im Büro bin«, sagte Richard leise. Luisa fuhr zusammen, als hätte er sie bei etwas Unerlaubtem erwischt. Er stand im Türrahmen, eine schwarz-weiße Espressotasse in der Hand, das zurückgekämmte Haar noch feucht vom Duschen. Aber er trug bereits seine hellgraue Anzughose und ein weißes Hemd mit den silbernen Manschettenknöpfen, die sie zusammen bei Tiffany & Co. in New York gekauft hatten. Es war ihr damals seltsam vorgekommen. Sie hätte für ihn gern selbst Manschettenknöpfe entworfen und gefertigt. Aber das hatte er nicht gewollt. »Ich möchte dich gern bringen«, wiederholte er.