Die Schattenschneise - Gisbert Haefs - E-Book

Die Schattenschneise E-Book

Gisbert Haefs

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Beschreibung

Eine Geschichte, die sich jederzeit in der Bundeshauptstadt ereignen könnte... Lingen ist ein Profikiller, er ist der 'Mann ohne Gesicht'. Im Auftrag einer dubiosen Organisation, die mit Kokain und Waffenschiebereien befasst ist, soll er 'gewisse Amtspersonen' beseitigen. Doch Lingen weiß, dass er nach Erledigung seines Auftrags selbst auf der Abschussliste stehen wird... »Gisbert Haefs führt mitten hinein ins pralle, wüste Leben.« (Der Tagesspiegel)

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Copyright dieser Ausgabe © 2014 by Edel eBooks, einem Verlag der Edel Germany GmbH, Hamburg.

Copyright © Gisbert Haefs 1989/2014 Der Roman erschien zuerst 1989 im Goldmann Verlag

Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München

Konvertierung: Jouve

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

eISBN 978-3-95530-447-8

Inhaltsverzeichnis

TitelImpressum12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637

»Er trieb einen kleinen Finsternishandel.«

Georg Christoph Lichtenberg

»... y la vida no es noble, ni buena, ni sagrada.« [Und das Leben ist nicht edel, noch gut, noch heilig.]

Federico Garcia Lorca, Oda a Walt Whitman

»What is the moral? Who rides may read. When the night is thick and the tracks are blind A friend at a pinch is a friend indeed, But a fool to wait for the laggard behind. Down to Gehenna or up to the Throne, He travels the fastest who travels alone.« [Was ist die Moral? Wer reitet mag lesen. Wenn die Nacht undurchdringlich ist und die Wege versacken, ist ein Freund, wenn es eng wird, ein wahrer Freund, aber ein Trottel, wer auf den Nachzügler wartet. Hinab zur Hölle oder hinauf zum Thron,

1

Kurz nach fünf wurde der Himmel schwarzgrau; Martin Krollmann löschte die Arbeitsleuchte und öffnete das Oberlicht. Der Raum stank – heiße Kunststoffassungen, Schweiß, Farben und Tusche. Gegen zwei hatte es kurz geregnet; ein paar Tropfen fielen vom Fensterrahmen auf die schräge Arbeitsplatte, neben das letzte Blatt. Schwarzweiße Illustrationen zu einer dicken Anthologie literarischen Horrors; Krollmann brachte das Ergebnis der Nacht in Sicherheit. Neben dem überfrachteten Rolladenschreibtisch wand sich das weiße Kabel des Sammelsteckers kaum erkennbar über den Teppich. Martin haßte Schlangen; er verzog das Gesicht und schüttelte sich. Nachtfantasie überlappte die Einrichtung. Auf der Staffelei sahen seine müden Augen einen Teil des Umschlagbilds für den Band. Mit grellem lumineszierenden Scharlach gemalte Krebsspinnen krochen aus dem Rachen und attackierten das Zäpfchen; den Rest – ein aufgerissener, gallegefüllter Mund, in Panik und Ekel verzerrt, dahinter der deformierte Kopf – gab Krollmanns Gedächtnis dazu.

Am fahlschwarzen Nordosthimmel zwinkerte ein Helikopter über dem Verteidigungsministerium. Martin reckte den Kopf in die späte Nacht. Die Luft war frisch, trotzdem sommerweich. Südwestwind; er kam von den Feldern zwischen Flerzheim und Buschhoven und durchquerte einen Ausläufer des Kottenforsts. Krollmann atmete tief. Der Himmel war gerade hell genug, um den Widerschein der wenigen Lichter und Laternen von Volmershoven zu schlucken und Bäume und Felder zu einer vagen schwarzen Masse zu machen.

Ohne Licht ging Krollmann ins Bad, eine halbe Treppe unter dem Dachstudio. Er erleichterte seine Blase, hielt dann einen Moment den Kopf unter den Kaltwasserhahn. Aus der fast schwarzen Küche, noch eine halbe Treppe tiefer, holte Martin eine Flasche Guinness und stieg wieder zum Studio hinauf.

Vor drei Jahren, mit achtundzwanzig, hatte er das Häuschen billig gekauft. Inzwischen bedauerte er das. Damals war es ihm als gute Investition des von der gegnerischen Versicherung gezahlten Schmerzensgelds erschienen – nach dem Motorradunfall. Immer wieder, wenn er sich mit seiner Lage beschäftigte, stellte er die gleiche Rechnung auf: Hätte er irgendwo auf dem Land ein Obergeschoß billig gemietet, statt soviel für Material beim selbstdurchgeführten Umbau des alten Häuschens auszugeben, dann hätte er, zusammen mit den sonstigen Ersparnissen, beinahe schon die für den Flug und die Behandlung nötige Summe zusammen. Aber der wichtigste Faktor in der Gegenrechnung blieb: Damals hatte er nicht wissen können, daß ein Jahr nach dem Unfall amerikanische Ärzte eine Operationsmethode entwickeln würden, die immerhin eine fünfzigprozentige Chance auf Besserung, wenn nicht sogar komplette Wiederherstellung bot.

Das Backsteinhaus stand außerhalb von Volmershoven in einem Waldausläufer unmittelbar an den Gleisen der Bahnstrecke Bonn-Euskirchen. Es hatte – mit dem kleinen Garten – vierzigtausend Mark gekostet und ausgesehen wie eine Kombination aus Bahnwärterhäuschen (unten) und Müllhalde (oben). Nach den Umbauten, die etwa fünfzehntausend Mark für das Material verschlungen hatten, sah es aus wie ein ältlicher Kuhstall mit aufgepfropftem Treibhaus. Wasser, Strom, Installationen, Wände, Zwischendecken, das zur Hälfte gläserne Dach – Krollmann konnte es aushalten und dort arbeiten. Platz gab es reichlich. Über der Grundfläche von fünfzig Quadratmetern hatte Martin eine Art Tiefparterre als Keller und Materiallager ausgebaut; auf halber Treppe ein Vorratsraum; dann Küche und geräumige Wohn-Schlaf-Bibliothek; eine halbe Treppe höher das Bad (die Zwischenetagen jeweils rechts vom Treppenhaus), darüber das große Studio. Er lehnte sich an die Schreibtischkante, gähnte, trank sein Guinness aus der Flasche und blickte durch das schmale Fenster in der hochgezogenen Südwand, die das Glasdach trug. Auf dem schaukelnden Zweig vor dem Fensterbrett hockte eine schlaflose Elster; sie riß den Schnabel auf und schien den Wind zu verschlingen. Zwischen den Baummassen sickerte lichteres Grau auf die Gleise, ein halbhelles V in der Finsternis.

Der Wagen kam von rechts, von der Hauptstraße her. Mit Standlicht hoppelte er über den vor Jahrzehnten einmal befestigten Feldweg, nur für Anlieger und landwirtschaftlichen Verkehr. Unter den Bäumen wurde er abgebremst. Drei Türen öffneten sich. Das Standlicht erlosch. Drei Männer, von der Innenbeleuchtung umrissen, stiegen aus und gingen zum Wagenheck. Die zweite Innenlampe glomm auf; es war ein Kombi. Die Männer hantierten an etwas auf der Ladefläche herum. Dann zogen sie die Ladung heraus. Einer warf die Heckklappe zu. Sie verschwanden unter den Bäumen, traten auf die Gleise.

Krollmann duckte sich, als einer der Männer mit einer Stablampe die Umgebung absuchte. Erst etwa eine Minute später hob er wieder vorsichtig den Kopf.

Sie hatten den Körper auf ein Gleis gelegt, die Beine nach Norden, gespreizt, den Kopf nach Süden. Einer der Männer bückte sich und tastete an dem Liegenden herum; der zweite stand unter den Bäumen, der dritte ließ auf eine Geste des ersten hin die Lampe aufblitzen. Der Liegende hatte die Augen geschlossen. Der Tastende war mit der Untersuchung der Taschen fertig; er hielt etwas hoch. Die Lampe erlosch; die Innenbeleuchtung des Wagens ging wieder an, als die Türen geöffnet wurden. Der Kombi fuhr ein paar Meter, setzte mehrfach vor und zurück – der Weg war an dieser Stelle etwas breiter –, wendete schließlich ganz und fuhr unter die Bäume. Dort blieb er stehen.

Krollmann kaute auf der Unterlippe. Seine Knie waren weich. Er schaute auf die Uhr. In wenigen Minuten würde der erste Zug von Bonn Richtung Meckenheim und Euskirchen kommen. Unter den Bäumen stand der Wagen mit den drei Männern. Sie warteten. Er hatte keine Waffe und war kein Held. Er hatte nicht einmal Telefon. Und der Mann da unten war vielleicht längst tot.

Als der Zug etwa zwanzig Meter zu weit endlich stand, war der Wagen unter den Bäumen verschwunden. Die Elster landete auf dem Zweig, legte den Kopf schief und blickte zum Zug, bis dort fuchtelnde Gestalten erschienen. Dann öffnete sie den Schnabel und flatterte in den Himmel, der rosa geworden war.

2

Die Tochter des Botschafters der Andinischen Republik hielt sich für bestens gestylt und aerodynamisch fast optimal strukturiert. Unter der schmiegsamen Oberfläche steckte ein eiserner Kern – eher sogar stählern; gestählt durch all die Jahre widersprüchlicher Erziehungsversuche. Der Vater hatte es im Guten versucht, wie er meinte; dann ihrer Ansicht nach im Besseren, indem er aufgab. Die Mutter, vor vier Jahren am Arm eines spanischen Architekten entschwunden nach langwierigen Probeläufen mit italienischen Modisten, französischen Pferdezüchtern und mindestens einem amerikanischen Jazztrompeter, hatte solcherlei Verantwortung immer gern und freimütig delegiert, an Ammen, nurses, Gouvernanten, Leiterinnen von Internaten, Direktricen von Pensionaten. Die meisten der Damen, befand Rocío, waren weniger Pädagoginnen als vielmehr katholische Nebelwerfer gewesen. Immerhin, der ständige Wechsel der Bezugspersonen, des Aufenthaltsorts, der Institute und Mitzöglinge hatte ihre Selbständigkeit ebenso gefördert wie ihre generelle Geringschätzung der Erdbevölkerung. Ihr Zynismus war jedoch passiv und äußerte sich nur selten. Meistens hielt man sie für ein besonders apartes, helles, gebildetes und anpassungsfähiges Mädchen.

Ein Teil davon war Routine. Mimikry – Überleben durch äußerliche Anpassung an die Umgebung, ohne jeden inneren Kompromiß. Das polierte Parkett eines Diplomatenempfangs, der Kopilotensitz in der Cessna ihres Vaters, der Asphalt europäischer Landstraßen bei gelegentlichen Ausbrüchen per Anhalter (mit vier Kreditkarten, zur Sicherheit), Bohnerwachs-Schlafsäle in Internaten, Gras am Boden des Pfadfinderzelts, Tanzflächen, Bowlingbahnen, Asche und Bierlachen auf einem Kneipenboden, sie nahm alles mit der gleichen Selbstverständlichkeit, schien immer genau in die Umgebung zu passen und war doch immer sie selbst. Auch hier war es so, in dieser schäbigen Studentenbude im Bonner Norden. Er hieß Carsten; ihre dunkelroten Fingernägel kontrastierten befriedigend mit seiner dunklen Körperbehaarung, und sie haßte sein Laken, das aus irgendeinem widerlichen synthetischen Material bestand. Befriedigung, widerlich, unwichtige Regungen des Moments, der wie alles flüchtig und bedeutungslos war.

Das Tier mit den zwei Rücken. Le jeu de la bête à deux dos. Ihre Gedanken fächerten sich auf, Fetzen mehrerer Sprachen trieben durch ihren Kopf. Sie hörte das zweistimmige Keuchen, wie aus der Ferne, irgendwie unbeteiligt. Bald würde die Faust des Körpers nach ihrem Hirn greifen, sie auslöschen, für flüchtige Momente die Frage wer bin ich zerquetschen, die Leere im Kern des stählernen Kerns mit Betäubung füllen.

Er gab sich Mühe, wie so viele Deutsche. Statements abgeben, statt zu plaudern, Fragen stellen, statt sie für sich zu behalten, Witze auswendig lernen, statt Bonmots zu machen. Die Sinnlosigkeit analysieren, statt sie mit savoir vivre zu umgehen. Alles erklären wollen, statt die Dinge und die Menschen in Ruhe zu lassen. Ruhe lassen. Lassen. Warum sie Rocío heiße? Ein Wallfahrtsort in Andalusien, nuestra Señora del Rocío, die Madonna vom Tau. Madonna. Mühe Mühe Mühe. Er wollte erklären, was Carsten bedeutete, wer Carsten war, wer und was und warum und wie und seit wann Carsten er war oder umgekehrt oder anders. Wenn schon, dann lieber nicht. Die Leere. Rocío, Tau; sie wollte nur gefüllt und benetzt werden. Mühe. Madonna.

»Also der erste Familienname ist vom Vater und der zweite von der Mutter?«

»Ja. Ah, Moment, vom Vater der Mutter. Der Vatername.«

Der junge Mann seufzte. »Ich komme noch dahinter. Langsam.«

Rocío lächelte, hob die Decke, umkreiste mit einem scharfen Nagel seinen Nabel.

»Autsch. Mach weiter.«

»Rocío Villalba Contreras. Villalba nach meinem Vater; er heißt Villalba Narváez. Contreras nach der Mutter.«

Der Junge schloß die Augen und genoß ihre Finger. Halblaut sagte er: »Dann ist also immer der erste Name der eigentliche Familienname.«

»Ja. Francisco Franco Bahamonde heißt Franco. Miguel Cervantes Saavedra heißt Cervantes.«

»Uhhh.« Er seufzte und kicherte gleichzeitig. »Sei vorsichtig mit meinem Sancho. – Dann heißt Lorca also nie Lorca?«

»Er heißt García. Und Márquez heißt nicht Márquez, sondern auch García. Die meisten Spanier heißen García. Wie Schmitz. Oder Müller.«

»Und Andinier?«

»Die heißen nicht alle García. Außerdem sind Namen Schall und Rausch. Oder wie heißt das?«

»Rausch ist gut.«

»Rausch ist besser; am besten der zweite bald nach dem ersten.«

»Ah.«

Er bestand darauf, sie gegen Mitternacht zur U-Bahn nach Godesberg zu bringen, weil sie darauf bestand, im eigenen Bett zu schlafen. Er war schlank und dunkelhaarig wie sie, und in der fast leeren Bahn überlegte sie, daß sie eigentlich ganz gut zusammenpassen würden, daß aber auch ein erfolgreicher erster Abend nicht genug sei, um wirklich darüber nachzudenken.

An der Rheinallee stieg sie aus, Endstation; müde und fröhlich ging sie durch die Nacht. Irgendwann war plötzlich ein dunkler Mercedes neben ihr.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte eine höfliche, milde Stimme. »Kennen Sie sich hier aus? Ich suche eine Straße.«

Sie blieb stehen. »Ein bißchen. Welche Straße?«

Er öffnete die Tür. »Famplausenallee oder so ähnlich. Das hat mir jemand aufgeschrieben, und ich kann es nicht richtig lesen.«

Sie lachte. »Famplausenallee gibt es nicht. Kenne ich nicht. Zeigen Sie mal.«

Der Mann trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und Krawatte. Kein Grund wegzulaufen. Sie nahm den Zettel, den er ihr reichte und warf einen Blick darauf.

»Ah. Das müßte die Camphausenallee sein. Das ist nicht weit. Da fahren Sie ...«

Die Straße war leer und dunkel. Von hinten legte sich ein Arm um sie, eine Hand preßte ihr ein übelriechendes Tuch auf Mund und Nase. Sie war zu überrascht, um sich ernstlich zu wehren. Chloroform, dachte sie. Da muß noch einer ausgestiegen sein sein sein sein

3

Etwas stimmte nicht. Als er den Aufzug verließ, sträubten sich seine Nackenhaare. Geräuschlos stellte er die graue Reisetasche auf den Gang, steckte die Rechte in die Tasche des grauen Straßenanzugs und richtete, ohne sie herauszuziehen, die Smith & Wesson leicht aufwärts vor sich. Die Lizenz der Waffe lautete auf Harald Lingen; dieser Name stand auch in seinen übrigen Papieren und auf dem kleinen Messingschild neben der Tür. Er war so gut wie jeder andere.

Das Apartment lag im vierzehnten Stock eines von vielen gleichen Wohnsilos am Ostrand von Köln. Innerhalb weniger Minuten ließen sich von hier aus mehrere Auffahrten des Autobahnrings erreichen; die Flughäfen Wahn und Lohausen waren nicht allzu weit; es gab Landstraßen hinaus und Stadtstraßen hinein, wenn man es nicht vorzöge oder vorziehen müßte, als Fußgänger oder im Netz der zahlreichen Vorortbahn-, Straßenbahn- und Buslinien zu versickern.

Die Tür des Apartments war angelehnt. Als sie von der Wand zurückprallte, lag der Mann, der sich zur Zeit Lingen nannte, auf dem grauen Teppichboden neben dem Schirmständer. Der auch für derlei Fälle übersichtlich möblierte Raum war leer; der Spiegel über der offenen Tür zum Bad zeigte nur die vertraute Einrichtung. Der Lauf der Waffe beschrieb noch einen Bogen; dann stand der Mann auf, steckte sie ein, holte die Tasche vom Gang, schloß die Tür und sah sich um.

Neben dem Telefon stand eine zum Aschenbecher umfunktionierte Untertasse. Sie quoll über von Kippen. Craven A. Er nahm den Hörer ab; im Display des Telefons leuchtete die absurde Summe von 39999 Gebühreneinheiten auf. Es mochten vielleicht hundert oder hundertfünfzig gewesen sein, als der Mann vor zwei Wochen sein Apartment verlassen hatte. Er fluchte mit zusammengebissenen Zähnen und drückte die Taste für Wahlwiederholung. Die gespeicherte zuletzt gewählte Nummer begann mit 0081. Er notierte und wartete. In unendlicher Ferne begann eine freundliche, sanfte Stimme zu sprechen. Er verstand nichts, hatte aber den Eindruck, daß sich der Text mit geringfügigen Abwandlungen wiederholte, unterbrochen von regelmäßigen Piepstönen.

Er legte auf und setzte sich auf das graue Sofa. Der Intensität des Tabakqualms zufolge war vor höchstens einer Stunde die letzte der Zigaretten geraucht worden. Jemand, der Craven A rauchte und sich auf Sicherheitsschlösser verstand – das Türschloß war nicht beschädigt –, der außerdem wußte, wann er spätestens die Wohnung verlassen mußte, um nicht mit Lingen zusammenzutreffen, hatte äußerst ausgiebig mit der automatischen Zeitansage in Tokio telefoniert.

Der Gast hatte vermutlich auf dem Sofa geruht oder geschlafen, ohne es zum Bett auszuziehen. Er hatte Kaffee getrunken; im Müllbeutel fanden sich mehrere Filter mit Kaffeesatz. Die saubere Pfanne lehnte im Geschirrständer neben dem Becken; sie hätte im Schränkchen sein sollen. Im Kühlschrank fand sich noch eines von zehn Eiern; die Pfundschachtel Margarine war fast leer, ebenso die Flasche Cardhu, vor zwei Wochen kaum angebrochen.

Lingen füllte die Kaffeemaschine, kippte die Zigarettenstummel in den Müll und setzte sich auf das Sofa.

Das Telefon klingelte, noch ehe der Kaffee fertig war. Der Mann hob ab, räusperte sich und sagte: »Nett, daß Sie wenigstens gespült haben, Sullivan.«

Der verrückte Ire, den alle Mad Sullivan nannten, war schon lange in Deutschland. Er rauchte Craven A und hatte einmal erzählt, seinen ersten Mord habe man ihm mit drei Shilling neun Pence honoriert. Die Quersumme der Gebühreneinheiten war neununddreißig. Sullivan war die rechte oder linke Hand – das wechselte nach unerfindlichen Gesetzen – eines aus Surabaja stammenden Halbholländers. Dessen mögliche Geschäftspartner kannte Lingen nicht und wollte sie niemals kennen lernen.

»War ich Ihnen doch schuldig.« Sullivan kicherte; ein unangenehmes Geräusch. »Der Cardhu ist übrigens lecker. Natürlich kein Bushmill’s, aber immerhin.« Der Akzent war kaum zu hören, eher zu ahnen.

Lingen schwieg. Er lauschte dem Gurgeln der Kaffeemaschine.

»Wir haben da einen Job für den Mann ohne Gesicht.« Sullivan sagte es mit einem leicht hämischen Unterton.

Lingen schwieg weiter.

»Sie wollen ja nicht freundlich mit uns zusammenarbeiten, deshalb mußten wir Sie ein bißchen – überreden .«

»Neuntausendeinhundertneunundneunzig Mark siebenundsiebzig«, sagte Lingen.

»Ist doch ein gutes Argument, oder? Und das quergeschlitzte Mädel hat sooo eine Stimme.«

Der Mann ohne Gesicht schwieg.

»Okay, hören Sie zu«, sagte Sullivan schließlich. »Mijnheer will Sie sehen.«

»Ich ihn aber nicht.«

»Das wissen wir; deshalb ja der Eingriff in Ihre Telefonrechnung. Erstattung plus, wenn Sie übernehmen. Sonst ...«

»Was sonst?«

»Wir wissen, daß Sie ein paar Tage in Paris waren.«

Lingen runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

»Da ist gerade ein Libanese erschossen worden; stand in der Zeitung. Einer, an den man sonst nicht rankommen konnte. Profiarbeit.«

Der Mann ohne Gesicht bleckte die Zähne.

»Man könnte natürlich irgendwem einen Tip geben. Die anderen haben bestimmt gern eine offene Stelle weniger auf der Rechnung.«

Der Mann ohne Gesicht schlug die Beine übereinander.

»Sie haben dafür zwanzig Große plus zwei für Spesen gekriegt. Wir denken bei dem kleinen Job an fünfzig, plus Spesen. Plus Telefonrechnung.«

Lingen schnalzte leise mit der Zunge. »Paddy, Sie lassen nach.«

»Ja. Aber es gibt keinen Spielraum zum Feilschen.«

»Das meine ich nicht.«

»Was denn?«

»Sag ich Ihnen nicht. Das mache ich mit Mijnheer ab. Wo und wann?«

Sullivan grunzte. »Heute abend. Nach neun. Bei ihm.«

Lingen legte wortlos auf. Immerhin keine melodramatische Aktion mit Treffen im Hinterzimmer eines Billardlokals oder ähnlichem Kinounfug.

Er trank sein Glas leer und streckte sich auf dem Sofa aus. Fünfzigtausend – das war etwas Größeres. Mijnheer hatte nie mehr als zehntausend gezahlt; das hielt Mijnheer für ein angemessenes Honorar für einen Spitzenmann. Lingen sah das anders. Kleine, billige Jobs ließ der Halbholländer von seinen eigenen Leuten erledigen. In der Klasse zwischen zehntausend und zwanzigtausend gab es einige gute Spezialisten. Fünfzig – das war neu. Das ging über Mijnheers Gepflogenheiten hinaus. Das war etwas Großes. Etwas für einen, der eine Spezialaufgabe übernahm und hinterher sicher schwieg. Todsicher schwieg. Der Mann ohne Gesicht bedachte dies. Dann setzte er sich aufrecht und fuhr mit der Hand über seinen Nacken, als ob er Unebenes glätten müßte.

Bis zum Mittag beseitigte er die Spuren, die der Ire hinterlassen hatte, duschte, zog sich um. Sullivan mochte tausend kleine Geräte versteckt haben; Lingen konnte für das, was er tun mußte, sein Telefon nicht benutzen.

Ein grauer Granada folgte ihm langsam um den Block. Lingen hob nicht einmal die Schultern; er »versickerte« routiniert. Taxi zu einer U-Bahn, hinab, auf der anderen Seite wieder hinauf, in einen großen Laden mit mehreren Ausgängen, zum Bus. Als er den Hauptbahnhof erreichte, war er sicher, nicht mehr beobachtet zu werden. In einem kleinen italienischen Lokal nicht weit vom Dom aß er einen Fisch und bat den Wirt um zwei Tips. Er zahlte mit einem Fünfhunderter.

»Stimmt so?«

»Alles bestens, commendatore. Va bene.«

Die beiden Stränge, die er aufzuriffeln versuchte, kosteten schließlich einen Tausender, ergaben aber letztlich nicht viel. Das übliche Gerede, die üblichen Informationen, teils zuverlässig, teils unzuverlässig. Der Sarde vom Kiosk verwies ihn an den Vormann einer Kolonne von Fensterputzern; dieser – Neapolitaner – wußte immerhin, daß Sullivan in den letzten Tagen mehrmals mit einem Herrn vom BDI getafelt hatte. Der Ire und die Großindustrie? Anderen Andeutungen oder Bruchstücken von Auskünften entnahm Lingen, daß Mijnheer seine Finger in den üblichen Dingen hatte: der alte Kanal nach Bonn, zu einem Ministerium; irgendeine Schieberei mit Bauaufträgen im Kölner Südwesten; ein günstiger Brand in einer Diskothek, kurz vor Mitternacht – für Mitternacht war eine Razzia angesetzt gewesen. Mehr von dieser Art, aber nichts eindeutig Verwendbares. Allenfalls die Bau-Mauschelei; Mijnheer hatte normalerweise keine architektonischen Neigungen. Vermutlich war es ein Geschäft auf Gegenseitigkeit – der Halbholländer zog an bestimmten Fäden, jemand erhielt einen öffentlichen Auftrag und revanchierte sich durch Zupfen an anderen Fäden, die Mijnheer nicht selbst in die dicken Finger kriegen konnte. Ein Türke wußte etwas von einem ehemaligen Wach- und Schließ-Mann; dieser redete von einer Tiefbau-Firma und Vermessungsarbeiten. Offenbar sollten in Bonn demnächst einige hundert Millionen an öffentlichen Geldern ausgegeben werden, um dreißig Arbeitsplätze zu sichern und U-Bahn- oder Straßentunnel zu bauen, die keiner haben wollte. Der Besitzer eines Massagesalons und zweier Kneipen, ein noch relativ junger Kölner (Importeur von Thai-Mädchen) wußte, daß ein bestimmter Professor für ein Baugutachten fünftausend Mark und für eine bestimmte Formulierung in diesem Gutachten fünfundzwanzigtausend Mark erhalten hatte; ein schäbiger kleiner Detektiv, der manchmal von Sullivan für schäbige kleine Nebenjobs eingespannt wurde, hatte – nach Auskunft eines Arbeiters im Straßenbahndepot – für Sullivan irgendwen in Bonn bespitzelt, angeblich einen Diplomaten, und war einen Tag nach Erledigung des befristeten Auftrags volltrunken unter einen Lkw geraten.

Lingen hatte den kleinen Detektiv gekannt; ein Männlein mit Spitzmausgesicht, passionierter Jogger und absoluter Antialkoholiker. Als er von seinem letzten Kontaktmann des Tages erfuhr, daß in der Nähe des Unfallorts am fraglichen Nachmittag der Lastwagen einer bestimmten Bonner Spedition alte Büromöbel geladen hatte, nickte er nur.

Das übliche Gemenge und Gemauschel, Klatsch und Klüngel. Jemand – Lingen wußte nicht mehr, wer – hatte gesagt: Mit der Abschaffung der Korruption entzog sich die Justiz jeder vernünftigen Kontrolle. Nun ja; Justiz und Politik arbeiteten längst wieder kontrolliert; nichts an all den Informationen deutete auf besondere Vorkommnisse. Allenfalls der beschattete Diplomat. Leute von Ämtern und Ministerien steckten in nahezu jedem Dreck, aber Diplomaten trieben ihre Spiele normalerweise auf einer anderen Ebene. Sie war zweifellos ebenso schäbig und schmierig, stand aber nur selten mit der Ebene der gewöhnlichen Dinge im Raum Köln-Bonn in Verbindung.