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Paparazzo Vincent Hermelin folgt von Paris bis Genf den Spuren einer Kindesentführung. Neben dem Ministersohn ist aber auch dessen Mutter verschwunden. Die wiederum beschuldigt über ihre Anwälte den Minister des Missbrauches des eigenen Kindes. Fotograf Hermelin, der bei diesen Recherchen auch den Part seines schreibenden Kollegen übernehmen muß, stößt schnell auf ein Fluchthilfe-Netzwerk. Dieses hilft scheinbar uneigennützig Frauen und Kindern in Not. Die Affaire ist bald aufgeklärt und Vincent hat die Story seines Lebens. Damit könnte der Fall ad acta gelegt werden. Wäre da nicht die journalistische Neugier. Diese und der Zufall bringen an den Tag, dass das hilfreiche Netzwerk weniger humanistischen Interessen verpflichet ist, sondern ganz eigennützigen Zwecken dient: Vincent findet im Fluchtauto versteckte antike Goldmünzen und macht sich auf die Suche. Darin verwickelt soll die mysteriöse "Schöne von Carnac" sein, so wird eine der Fluchthelferinnen genannt. Vincents Nachforschungen führen ihn in das bretonische Dorf Carnac, wo bis dahin unentdeckt heimliche "Unterwasser-Raubgrabungen" stattfinden. Die Artefakte verschwinden auf dem illegalen Kunstmarkt. Räuber, Kunstschmuggler, Hehler und Käufer gehören den sogenannten besten Kreisen an. Je näher Vincent dem kriminellen Treiben kommt, um so mehr Morde geschehen unter den Beteiligten. Ganz aufklären kann er daher diesen Fall nicht, wohl aber entdecken, um wen es sich bei der "Schönen von Carnac" tatsächlich handelt.
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Seitenzahl: 203
Gisèle Guillo
Die Schöne von Carnac
Kriminalroman
aus dem Französischen von Bärbel Lange
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Copyright © 2007 by Bookspot Verlag GmbH
Originalausgabe: La Belle des Carnac,
Éditions Alain Bargain, Quimper, France
Satz/Layout: Bookspot Verlag
Titelentwurf: Magical Media
Redaktion: Eva Weigl
E-Book: Mirjam Hecht
Made in Germany
ISBN 978-3-937357-56-0 (EPUB)
ISBN 978-3-95669-022-8 (MOBI)
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Das Klingeln ließ sie zusammenfahren. Sie fuhr ein wenig langsamer. Ihre linke Hand griff fester um das Lenkrad, während ihre rechte vorsichtig den leeren Beifahrersitz abtastete. Sie nahm das Handy und hielt es ans Ohr: »Ja bitte?«
»Ich bin’s.«
»Na endlich!«
Einen kurzen Augenblick stellte sie sich das Gesicht der Unbekannten vor, deren Stimme ihr vertraut zu werden begann, eine weibliche Stimme, ein wenig schrill, mit einem fast kindlichen Tonfall.
»Wo sind Sie?«
»Ich bin fast angekommen. Einen Augenblick bitte …«
Sie überholte einen Lieferwagen, reihte sich wieder in die rechte Spur ein, griff erneut nach dem Handy.
»Hallo? Entschuldigen Sie, ich habe überholt …«
»Ich meinte … wo sind Sie genau?«
Die Stimme hatte nun einen schneidenden, ungeduldigen Ton.
»Es sind nur noch wenige Kilometer …«
»Etwas genauer.«
»Etwa drei Kilometer vor dem Grenzübergang. Ich habe gerade das Schild gesehen. Crassier, so heißt es doch?«
Ihre ansteigende Nervosität schien spürbar zu sein, denn der Ton ihrer Gesprächspartnerin wurde beschwichtigend.
»So ist es. Entspannen Sie sich, die Schweizer Zöllner konzentrieren sich auf die Grenzübergänge an der Autobahn. Man sieht sie selten in Crassier. Und Ihr Passagier?«
»Angeschnallt, auf der Rückbank. Er schläft. Ich habe ihm das Nötige verabreicht.«
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht verfolgt werden?«
Sie warf einen Blick in den Rückspiegel.
Da war dieser dunkle, hochrädrige Wagen, der seit einiger Zeit hinter ihr fuhr …
»Ich glaube nicht«, sagte sie.
»Ich will wissen, ob Sie sicher sind.«
Die Stimme klang gereizt.
»Ich bin sicher.«
»Sie tun nun Folgendes«, fuhr die Stimme fort. »Gleich nach Crassier fahren Sie in Richtung Signy, das ist ein Einkaufszentrum. Parken Sie dort in der ersten Etage des Parkhauses. Dort findet die Übergabe statt.«
»Und dann?«
»Dann wird man sich Ihrer annehmen. Wir kümmern uns um alles. Wo sind Sie jetzt?«
»Fast da. Ich sehe den Grenzübergang … Warten Sie! Bleiben Sie dran!«
»Was ist denn?«
»Zöllner!«
»Zöllner oder Polizisten?«
»Ich weiß nicht! Sie halten den Lieferwagen vor mir an! Der Fahrer zeigt seine Papiere … Sie werden auch meine sehen wollen!«
Ihre Gesprächspartnerin schnitt ihr erneut das Wort ab: »Regen Sie sich nicht auf! Tun Sie, was ich Ihnen sage. Fahren Sie langsamer, um die Grenze zu passieren. Sie halten nur selten zwei Wagen hintereinander an. Fahren Sie vor allem wie immer.«
»Ich kann nicht!«
Ihre Hände zitterten auf dem Lenkrad. Sie unterdrückte ein Schluchzen. So nah am Ziel! Es war einfach zu dumm …
»Ich kann nicht!«
Sie bemerkte, dass sie geschrien hatte. Die Unbekannte ließ nicht locker:
»Ihr Motor hat die Drehzahl geändert. Was machen Sie?«
»Ich kehre um …«
»Tun Sie das nicht! Sie werden sich erwischen lassen! Sie werden alles vermasseln!«
»Ich kann nicht!«
Vincent drückte mit aller Macht auf die Bremse. Reifenquietschen. Der Geländewagen blieb sofort stehen. Ohne auch nur einen Zoll von der Spur abzuweichen. Ein guter Kauf, dieser Toyota …
Vor ihm hatte der Peugeot wagemutig zurückgesetzt und versperrte nun quer die Straße. Verblüfft sah Vincent, wie er in die Gegenrichtung davonpreschte. Er konnte gerade noch mit einer heftigen Lenkbewegung in Richtung Straßenrand ausweichen.
Sie hätte mich doch tatsächlich gerammt! Was ist bloß in sie gefahren?
Keine Zeit zu verlieren … eine rasche Kehrtwendung, der Toyota drehte sich auf der Stelle. Wirklich ein toller Wagen.
Die beiden Wagen fuhren hintereinander den Weg in Richtung Divonne zurück, in einer von Gärten gesäumten Avenue. Vincent gelang es, den Namen der Straße zu entziffern: Avenue du Mont-Blanc. Vor ihm wurde die Fahrerin immer langsamer und hielt das Handy ans Ohr gepresst … Vincent war so konzentriert, dass er Selbstgespräche führte.
»Man gibt ihr Anweisungen … wird sie versuchen, die Grenze hier zu passieren? Ganz schön gefährlich! Nach ihrem überstürzten Wendemanöver sind die Zöllner sicherlich alarmiert …«
Der Peugeot bog nach rechts ab, in Richtung Zentrum, und Vincent sah, wie er auf dem Zentralparkplatz vor dem Supermarkt ›Casino‹ einparkte. Drei Plätze weiter parkte auch er ein. Die Fahrerin stieg nicht aus.
Sie wartet auf jemanden.
Er schnappte seine Leica, hatte aber keine Zeit, den Sucher einzustellen: sein Handy klingelte. Es war Jean-Luc.
»Wie läuft’s?«
»Merkwürdig. Sie hat versucht, die Grenze bei Crassier zu passieren. Ganz kurz davor hat sie eine Kehrtwendung gemacht.«
»Wo seid ihr jetzt?«
»In Divonne, auf dem Zentralparkplatz. Im Augenblick steigt sie nicht aus dem Auto aus.«
»Was ist das für ein Wagen?«
»Ein 307, blaumetallic, funkelnagelneu. Sie sitzt immer noch drin, sie wartet.«
»Hat sie dich entdeckt?«
»Ich glaube nicht.«
»Bist du sicher, dass sie es ist?«
»Zu neunzig Prozent. Allerdings habe ich sie bis jetzt nur von hinten sehen können.«
»Hast du Fotos gemacht?«
»Natürlich! Auch vom Nummernschild. Dabei fällt mir ein, rufe den Detektiv mal wieder an. Versuche herauszubekommen, ob sie mit jemandem im Departement Morbihan Kontakt aufgenommen hat. Der Wagen ist dort zugelassen. Warte mal, sie greift wieder nach ihrem Handy, man hat sie wohl angerufen. Sie fährt wieder los. Ich lege auf.«
Der Peugeot hatte sich in die Autoschlange nach Divonne, in Richtung Grenzübergang, eingereiht. Vincent schlängelte sich durch, ihm nach. Die meisten Wagen waren in der Eidgenossenschaft registriert. Das war nicht weiter verwunderlich. Vincent wusste, dass alle ›Waadtländer‹ gerne herüber nach Frankreich zum Einkaufen kamen, der günstigeren Preise wegen.
Die Autos bremsten vor den Zollhäuschen kaum ab. Der Peugeot fuhr ungehindert durch. Vincent passierte seinerseits die Grenze. Zu seinem Erstaunen aber ließ der Peugeot die Autobahn links liegen und bog nach rechts ab. Vincent las das Hinweisschild: Chavannes de Bogis.
Wo fährt sie nur hin?
In diesem Augenblick rief Jean-Luc zurück.
»Wie steht’s?«
»Wir sind gerade über die Grenze gefahren … wir kommen an ein Einkaufszentrum. Sie parkt auf dem Parkplatz. Warte mal … ich halte an … es tut sich was …«
Ein Wagen hatte neben dem Peugeot eingeparkt, ein VW-Coupé, das im Kanton Genf zugelassen war. Die Wagentür ging auf. Vincent hatte die Fahrerin genau im Blickfeld: eher jung, brünett, mit angenehmem Äußeren, soweit er das beurteilen konnte. Sie stieg aus. Die Insassin des 307 stieg ebenfalls aus und setzte sich sofort eine riesige Sonnenbrille auf. Aber Vincent hatte eine Sekunde lang ihr Gesicht sehen können. Er warf einen Blick auf das Foto, das die Titelseite der Zeitung einnahm, die neben ihm lag.
»Kein Zweifel mehr! Das ist sie.«
Die beiden Frauen wechselten ein paar Worte und zogen aus dem Heck des 307 ein in eine Decke eingewickeltes Kind. Dann ging alles sehr schnell. Das Kind wurde auf die Rückbank gelegt, ein Koffer wanderte von einem Kofferraum in den anderen. Die Fahrerin des 307 entfernte sich von ihrem Wagen – Vincent bemerkte, dass sie die Fahrertür nicht abgeschlossen hatte – und stieg in den Volkswagen, der sofort anfuhr. Der Wagenwechsel hatte nicht länger als zwei Minuten gedauert. Keine Sekunde zu verlieren: Zündung, Kavaliersstart zur Autobahn in Richtung Genf.
Kaum auf der Autobahn angekommen, gab der VW Gas. Vincent folgte ihm, achtete aber gleichzeitig darauf, sich zurückfallen zu lassen, um nicht entdeckt zu werden, was durchaus ein schwieriges Unterfangen war: der VW wechselte oft die Geschwindigkeit und führte überraschende Überholmanöver aus. Ortseingang Genf.
Kurz nach dem Parc Mon Repos wurde die Sache schwieriger. Das Schritttempo auf dem Quai du Mont-Blanc ermöglichte es, im Vorbeifahren die Aussicht auf den Quai Gustave-Ador, ein Stück des Sees und die Fontäne zu bewundern. Plötzlich bog der VW rechts in eine der dicht bewohnten Straßen ein, die zum Gare Cornavin führen. Vincent gelang es gerade noch zu folgen. Damit fingen die Probleme aber erst an. Rechts herum, links herum, zurück, Kurven, die in letzter Minute genommen wurden. Die Fahrerin kannte Genf wie ihre Westentasche!
Kein Zweifel, sie versuchen, mich abzuhängen! Die werden sich noch umgucken!
Als Reporter muss man sich oft wie die Paparazzi benehmen. Vincent war in der Beschattung sehr erfahren und bei diesem Spiel immer erfolgreich!
Sie fuhren mit hoher Geschwindigkeit in einem Viertel, das Vincent unbekannt war: eine lange Straße, die direkt auf den Salève zulief … Linkskurve … die Rhône wurde überquert.
Was ist das für eine Brücke?
Er wusste es nicht. Er fand sich erst wieder in Plainpalais zurecht. Dort herrschte Verkehrschaos: das Viertel war aufgrund von Bauarbeiten mit Apparaten aller Art bestückt. Vincent blieb dem VW dicht auf den Fersen und fuhr zwischen aufgerissenen Kreuzungen und abgesperrten Straßen Slalom.
Eine Ampel schaltete auf Rot: zwei Wagen blieben stehen.
Uff!
Plötzlich schoss der VW nach vorne, fuhr bei Rot über die Ampel, streifte einen Behälter mit Bauschutt, bog rasch in eine Seitenstraße ein …
Vincent, halb eingeklemmt hinter einer Betonmischmaschine, konnte nur hilflos mit ansehen, wie er verschwand. Die Ampel schaltete auf Grün. Einige Minuten lang versuchte er, aufs Geratewohl die Spur des Wagens wieder aufzunehmen. Vergebens.
Bei seinen Reportagen in der ganzen Welt hatte sich Vincent eine beträchtliche Sammlung von Beschimpfungen in den verschiedensten Sprachen zugelegt. Er beschimpfte sich nun lauthals selbst mit einigen vollmundigen Ausdrücken. Voller Zorn.
Vincent trat aus der Dusche, rieb sich lange mit dem Badetuch ab und stellte sich, bevor er in seinen Frotteebademantel schlüpfte, vor den Spiegel. Margot neckte ihn oft damit und nannte es eine richtige Manie. Vincent machte sich nichts daraus, er achtete aufmerksam auf seine Linie. Er betrachtete sich kritisch, rollte mit den Schultern, atmete ein, um einen Anflug von Bauchansatz einzuziehen.
Es geht, aber ich muss weiterhin Muskeltraining machen.
Er schlüpfte in seinen Bademantel und schaute sich um. Das Zimmer war zwar nicht groß, aber hell, und durch das Fenster sah man die ersten Ausläufer des Jura, eine angenehme Aussicht.
Und, sowieso, für eine Nacht …
Er hatte gezögert, bevor er sich entschloss, wo er absteigen würde: Annemasse? Saint-Julien? Trotz der Entfernung hatte er sich schließlich für Divonne entschieden.
Warum? Weil ich es kenne. Margot hat recht, ich bin ein Gewohnheitstier.
Er setzte sich auf den Bettrand und sah erneut die Fotos an, die er gerade abgezogen hatte, verglich sie noch einmal mit den beiden Fotos, die die Meldung auf der Titelseite der Zeitung illustrierten.
›MINISTERSOHN MITTEN IN PARIS ENTFÜHRT‹. Die Zeitung war zwei Tage alt, aber die Fotos waren ausgezeichnet, Archivfotos. Im Medaillon: Georges Backermann und seine Frau, na ja, seine Ex-Frau, Christine.
Kein Zweifel, das ist sie.
Der Titel in großen Lettern sagte bereits alles. Der Inhalt des Artikels war eher dürftig, er beschrieb nur die Umstände: nach dem Kindergarten, in einer der vornehmsten Avenuen der Plaine Monceau; das Kind, das ein Eis möchte …
›Es genügten einige Augenblicke der Unaufmerksamkeit seitens des Kindermädchens, das gerade in der Konditorei bedient wurde, und der kleine Junge (fünf Jahre) war verschwunden. Auch wenn sie in Trennung leben, versuchen Minister Backermann und seine Frau mit vereinten Kräften der Polizei bei der Suche nach ihrem Kind behilflich zu sein.‹
Mit vereinten Kräften … von wegen!
In allen Redaktionen waren die abenteuerlichen Episoden der Scheidung des Ministers ein offenes Geheimnis. Was den erbitterten Kampf betraf, den sich seine Frau und er um das Sorgerecht für ihren einzigen Sohn lieferten, so ermöglichte er der Regenbogenpresse hohe Auflagen. Minister oder nicht, Georges Backermann konnte Himmel und Hölle in Bewegung setzen, seine Frau war ihm entwischt.
Mir ist sie auch entwischt, dachte Vincent bei sich. Aber nicht für lange!
Zum dritten Mal rief er Jean-Luc an: immer noch besetzt. Er versuchte es auf dem Handy, erreichte aber nur die Voicebox. Dennoch galt es, und zwar dringend, mehr zu erfahren. Er brannte darauf, ›die Agentur‹, das heißt, den Privatdetektiv, den ›Verbindungsmann‹ von Jean-Luc, anzurufen. Er nahm davon Abstand. Das war vielleicht ungeschickt …
Er bereitete sich gerade vor, zum Abendessen hinunterzugehen, als sein Handy klingelte. Jean-Luc rief ihn zurück.
»Also? Wie steht’s? Ist sie es?«
»Sie ist es, da besteht kein Zweifel. Der Tipp der Agentur war richtig. Ich war eine Viertelstunde vor Ankunft des TGV am Bahnhof von Bellegarde. Ich habe sie aussteigen sehen.«
»Allein?«
»Mit dem Kind.«
»Wer hat auf sie gewartet?«
»Niemand! Ein leerer Wagen stand in der Nähe des Bahnhofs entlang des Trottoirs. Sie ist mit dem Kind eingestiegen. Sie hatte die Wagenschlüssel. Ich habe sie unauffällig verfolgt, bis zur Umgebung von Divonne. Dort startete sie den ersten Versuch, um die Grenze bei einem Dorf, Crassier, zu überqueren. Im letzten Augenblick hat sie eine Kehrtwendung gemacht.«
»Warum?«
»Das habe ich nicht so recht verstanden. Ich glaube, dass ihr jemand per Telefon Anweisungen gegeben hat. Sie fuhr und hatte die ganze Zeit das Handy am Ohr. Also, zurück zur Divonne-Grenze, und dort, auf einem Parkplatz, Fahrzeugwechsel. Sie verlässt den Peugeot. Eine junge Frau wartet am Steuer eines anderen Wagens auf sie, in der Schweiz zugelassen …«
»Welche Automarke?«
»Ein kleiner VW, ein Polo oder so etwas. Ich mach’s kurz. Kurs auf Genf. Und da lasse ich mich wie ein Anfänger reinlegen! Sie haben mich abgehängt!«
Am anderen Ende der Leitung ließ Jean-Luc, der sich selbst und seine Ausdrucksweise sonst so sehr in der Gewalt hatte, eine Schimpfkanonade los, die seiner Enttäuschung entsprach.
»Das heißt, wir fangen wieder bei Null an!«
»Nicht ganz«, erwiderte Vincent. »Auf dem Parkplatz von Divonne ist es mir gelungen, Fotos zu machen.«
»Von Christine Backermann?«
»Natürlich! Und auch vom Nummernschild des Wagens. Ich habe es vergrößert und – wir haben Glück – über der Nummer steht der Name des Autohauses, wo der Wagen gekauft wurde. Autohaus Rodriguez in Carnac.«
»Bravo!«, rief Jean-Luc aus.
»Das ist unsere einzige Spur«, fuhr Vincent fort, »aber sie ist Erfolg versprechend. Im Übrigen, was den Wagen betrifft, brauche ich weitere Einzelheiten. Ich hätte beinahe die Agentur angerufen. Ich habe mich aber zurückgehalten.«
»Das war gut so. Ich erzähl’s dir kurz. Der Detektiv, er heißt Duclos, ist außer sich vor Wut. Backermann hatte ihn auf seine Frau angesetzt. Ziel: sie in flagranti beim Ehebruch zu erwischen. Ein totaler Reinfall.«
»Das geschieht ihm recht«, rief Vincent aus. »Der Typ hat sein Mäntelchen nach dem Wind gehängt, um in die Regierung zu kommen …«
»Er hat Duclos gefeuert, ohne ihm einen Centime zu zahlen … die Redaktion hat akzeptiert, dies zu übernehmen. Duclos gibt mir die Infos nach und nach weiter. Er weiß, dass er ein großes Risiko auf sich nimmt, er weiß auch, dass wir im Team arbeiten, aber, aus Vorsicht wünscht er nur einen Ansprechpartner, mich, in diesem Fall.«
»Einverstanden«, sagte Vincent. »Und zum Schluss, wie geht es deiner Kniescheibe?«
»Gut, meint der Chirurg. Allerdings ist die Physiotherapie alles andere als ein Vergnügen. Und das Unangenehmste ist, dass man sich nicht frei bewegen kann.«
»Das kommt davon, wenn man zuviel Tennis spielt!«
»Das sagt mir Anne-Marie auch immer.«
»Grüße sie herzlich von mir«, sagte Vincent, bevor er auflegte.
Eine Minute später klingelte sein Handy erneut, es war Jean-Luc.
»Das hätte ich beinahe vergessen … wann fährst du nach Carnac?«
»Morgen, bei Tagesanbruch.«
Der Aufzug kam. Die Tür ging auf. Vincent zögerte und ließ zu, dass sie sich wieder schloss. Er hatte das Bedürfnis, sich zu bewegen, sich die Beine zu vertreten. Er eilte die Treppenstufen hinunter, gab seinen Zimmerschlüssel bei der Rezeption ab und fragte nach der Adresse des Office de tourisme sowie nach einem Telefonbuch.
Am besten die Gelben Seiten.
Sein Finger glitt rasch über die Rubrik ›Autohäuser‹, die nicht sehr lang war. Er fand sie sofort: Autohaus Rodriguez – 33 Rue du Crouesty. Er notierte sich Adresse und Telefonnummer, bedankte sich und verließ das Hotel. Der Himmel war klar, die Luft erstaunlich mild.
»Du wirst sehen«, hatte Margot gesagt, als er sie während seiner Kaffeepause angerufen hatte, »in der Bretagne wird es zeitig Frühling.«
Und es war strahlendes Wetter … schon nach wenigen Schritten in der Avenue des Druides erreichte man das Office de tourisme. Er trat hinein, ließ sich einen Stadtplan geben, bog dann im rechten Winkel ab und ging in eine kleine, von Villen gesäumte Straße. Ganz am Ende glitzerte das Meer.
Er war zwar nicht zum Vergnügen hier, aber nach über zehn Stunden am Steuer musste er ungedingt ein paar Schritte an der frischen Luft gehen, bevor er sich auf die Jagd machte. Er erreichte den Strand, ließ sich in den Sand fallen und bewunderte halb liegend, auf den Ellbogen aufgestützt, die Bucht. Es war Flut. Auf der linken Seite erhellte die sinkende Sonne die Zerklüftungen der Pointe de Kerbihan. Rechts von ihm erstreckte sich die lichtdurchglühte Bucht von Quiberon, das Gegenlicht verwischte die Konturen kaum.
»Schön, nicht wahr?«
Vincent drehte sich um. Hinter ihm hatte sich, ohne dass er es bemerkt hätte, jemand hingesetzt.
Ein alter Mann mit Baskenmütze starrte auf den Horizont.
»Sind Sie zum ersten Mal in dieser Region?«
»Nein«, antwortete Vincent kurz angebunden.
Angesichts des enttäuschten Gesichtsausdrucks des alten Mannes fügte er hinzu:
»Ich kenne Vannes … und auch Quiberon.«
»Ah ja«, sagte sein Gegenüber, »Vannes, Quiberon, das ist nicht schlecht, aber hier haben wir etwas Außergewöhnliches, die Steinalleen …«
»Ja, ich weiß«, unterbrach Vincent.
Der Mann ließ sich nicht entmutigen, er hatte offensichtlich Lust, vielleicht auch das Bedürfnis, zu reden, auch wenn es sich um den Erstbesten handelte. »Die Steinalleen, die Megalithen, ich werde es Ihnen erklären …«
Vincent warf einen Blick auf die Uhr: fast halb sechs. Er musste so schnell wie möglich die alte Nervensäge loswerden, wenn er das Autohaus noch geöffnet vorfinden wollte.
»Entschuldigen Sie«, sagte er und erhob sich, »ich habe zu tun.«
Der alte Mann lächelte resigniert.
»Na dann, ein anderes Mal.«
Vincent machte ein wenig verschämt eine Abschiedsgeste. Vergebliche Mühe. Der alte Mann war schon wieder in seinen einsamen Betrachtungen versunken.
Er musste zu seinem Auto am Hotelparkplatz zurück. Bevor Vincent losfuhr, studierte er den Stadtplan. Die Rue du Crouesty befand sich am Ortsausgang von Carnac, ganz in der Nähe der Route d’Auray. Einige Minuten später hielt er etwa zehn Meter vom Autohaus Rodriguez entfernt. Ein schlichtes Autohaus mit Werkstatt: ein großer Schuppen mit einem verglasten Nebengebäude. Hier war sicherlich jeder Kunde bekannt.
Er trat in das Nebengebäude, wo eine dicke Blondine, in einen engen Minirock gezwängt, telefonierte. Es vergingen mehrere Minuten, ohne dass sie ihm auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Vom benachbarten Schuppen drang stoßweise ein Dröhnen herüber. Die Blondine hatte ihren Bericht vom Wochenende beendet, sie legte auf und hob die Augenbrauen.
»Worum geht es?«
Der Empfang war kühl. Vincent sagte in einschmeichelndem Ton: »Es geht um eine Bestellung …«
»Um die Bestellungen kümmert sich Monsieur Corrier, unser kaufmännischer Angestellter. Er ist morgen da.«
Der Ton war unfreundlich.
»Aber ich möchte doch nur Auskünfte zu …«
»Ich gebe Ihnen einen Katalog«, unterbrach ihn die Blondine.
»Sie fragen mich nicht einmal für welches Modell?«
»Doch, das wollte ich gerade tun.«
Der Ton wurde aggressiv. Mit einem solchen Zerberus dürfte das Autohaus Rodriguez keine großen Geschäfte machen! Vincent versuchte es mit einem Lächeln.
»Es geht um einen 307. Ich komme morgen wieder.«
»Das ist besser, denn wir schließen jetzt.«
Hinter ihm ertönten metallische Geräusche, die sich wie Fallbeile anhörten. Er drehte sich um. Ein kleines junges Mädchen knallte Schubladen zu und verschloss Aktenschränke. Die Blondine zog Schutzhüllen über die Maschinen. Er bedankte sich und trat den Rückzug an.
Allerdings nicht vollständig. Er lag in seinem Auto auf der Lauer und sah die beiden Angestellten weggehen. Er stieg aus und ging auf den Schuppen zu, wo ein Motor aufheulte.
»Ist da jemand?«, rief er laut.
Im Schuppen rührte sich jemand, der unter dem Rumpf eines Motorrades auf dem Rücken lag. Ein ölverschmierter Kopf erschien. Der Motor hörte auf zu heulen. Uff! Ein junger Mann im Overall, der sich mit den Ellbogen am Boden aufstützte, sah zu, wie er eintrat.
»Hallo«, sagte Vincent, »sind Sie der Mechaniker?«
»Nein, der ist heute nicht hier. Ich bin der Lehrling. Es ist übrigens geschlossen.«
»Aber Sie sind doch hier … machen Sie Überstunden?«
Der Lehrling war aufgestanden.
»Bei mir liegt die Sache ein wenig anders. Ich arbeite am Motorrad eines Freundes, auch zum Vergnügen …«
»Ich bräuchte nur eine Auskunft.«
»Ich bin in der Werkstatt. Kommen Sie morgen wieder.«
Er wollte sich wieder seiner Maschine zuwenden. Vincent spürte, dass er Leutseligkeit an den Tag legen musste.
»Sagen Sie mal, was machen Sie mit diesem Motorrad? Frisieren Sie etwa gerade den Motor? Das ist doch verboten …«
Der Junge wurde hochrot und Vincent begann zu lachen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich bin diskret. Ich habe das auch gemacht. Als ich in Ihrem Alter war, war ich verrückt nach Motorrädern, ich bin es übrigens immer noch …«
Der Junge wischte sich beruhigt die Hände ab und blickte das Motorrad verliebt an.
»Das stimmt, ich bastle ein wenig an ihm herum – wenn ich fertig bin, wird es sich mit den schweren Maschinen messen können. Was für eine Auskunft brauchen Sie?«
Das Eis war gebrochen.
»Ich suche einen Gebrauchtwagen, ein Schnäppchen.«
»Wir handeln hier nicht so sehr mit Gebrauchtwagen.«
»Ich suche einen 307 in sehr gutem Zustand, neuwertig.«
»Das gibt’s nicht so oft!«
»Und außerdem bin ich wählerisch. Er ist nämlich für meine Frau, Sie wissen ja, wie die Frauen sind …«
Der Junge nickte verständnisvoll mit dem Kopf.
»Meine Frau will einen metallicfarbenen Wagen, ein Blaumetallic, das zu ihren Augen passt!«
Der Lehrling begann zu lachen.
»Nun, Ihre Frau weiß, was sie will! Es stimmt, es gibt ein ganz tolles Blau in der Farbpalette. Wir haben so einen vor Kurzem verkauft.«
Vincent hielt den Atem an.
»Ist er vielleicht zu verkaufen?«
»Das würde mich doch wundern! Wir haben ihn vor kaum zwei Monaten ausgeliefert. Und der Kunde hat schon einen seiner Wagenschlüssel verloren, wir mussten ihm dringend einen Nachschlüssel bestellen! Er hatte es eilig … man fragt sich warum, denn er hat doch einen anderen Schlitten in Paris.«
»Er wohnt in Paris?«, fragte Vincent scheinbar gleichgültig.
»Ja, aber er kommt oft hierher.«
Der Junge wühlte in einem Werkzeugkasten herum, nahm einen Schraubenzieher heraus und ging auf seine Maschine zu.
»Er ist ein Original«, sagte er abschließend.
»Ein Original?«
»Ja, schon! Er soll Architekt sein, aber was ihn interessiert, sind Ausgrabungen, altes Zeug, alte Steine … na, wie Sie sich denken können, ist er da in Carnac gut bedient! Deshalb kommt er oft hierher. Er hat hier eine Villa.«
»Kennen Sie seinen Namen?«
»Nein … ich weiß nicht mehr … Er war mit seinem Neffen gekommen, um das Auto abzuholen … ein sehr gutaussehender Typ, wie nannte er ihn noch mal? Ah, jetzt fällt es mir wieder ein … richtig, Jérémie. Aber er wird seinen Schlitten nicht verkaufen, er hat ihn doch gerade erst bekommen. Wegen eines Gebrauchtwagens sollten Sie zu einem großen Vertragshändler gehen, nach Auray oder nach Vannes.«
»Das werde ich machen«, sagte Vincent.
An der Schwelle der Werkstatt drehte er sich um.
»Und alles Gute für das Motorrad!«
Der Junge schenkte ihm ein breites Lächeln. Der Motor heulte jetzt erst richtig auf.
Vincent probierte seinen Kaffee und zog eine Grimasse: nicht viel besser als der, den man ihm zum Frühstück im Hotel serviert hatte. Warum nur war der Kaffee in allen Hotels der Welt scharf und zu stark? Auf diese Frage hatte er nie eine Antwort gefunden. Aber die Terrasse des Bistros war angenehm, sonnig, trotz der frühen Stunde. Er griff nach seiner Zeitung und überflog den Artikel noch einmal.
›NEUES IN DER AFFÄRE BACKER-MANN: Der Minister verdächtigt seine Frau, die Entführung des kleinen Nicolas initiiert zu haben. Es ist bekannt, dass sich Georges Backermann und seine Frau um das Sorgerecht ihres Sohnes streiten. Das Kind wird vorübergehend bis zum Scheidungsurteil abwechselnd, jeweils eine Woche, von einem der beiden Elternteile betreut. Aber der Minister beschuldigt seine Noch-Ehefrau, ihre Verpflichtungen nicht zu erfüllen. Er hat schon zweimal Klage wegen Vorenthaltung des Kindes eingereicht. Diesmal scheint die Sache noch schlimmer zu sein, da Christine Backermann ihrerseits verschwunden zu sein scheint; sie ist seit fünf Tagen nicht mehr zu ihrem Pariser Wohnsitz zurückgekehrt, und ihre Angehörigen beteuern, nicht zu wissen, wo sie sich aufhält. Georges Backermann verdächtigt sie, die Entführung des Kindes initiiert zu haben. Dies hätte er zumindest, so sein Anwalt, der Polizei anvertraut …‹