Die Schwester  - Psychothriller - B.C. Schiller - E-Book

Die Schwester - Psychothriller E-Book

B. C. Schiller

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Beschreibung

"Ich darf mich nicht erinnern..."

Die Anwältin Louisa Schönberg wird 30 Jahre nach dem dramatischen Tod ihrer Schwester Anna von der Vergangenheit eingeholt. Alles beginnt mit der Verteidigung des wegen Mordes angeklagten Malers Tom Berger. Was zunächst wie ein Routinefall aussieht, wird nach und nach zu einem raffinierten Psychospiel. Als die Künstlerin Betty Dee in dem Prozess auftaucht, die Louisa auf erschreckende Weise an ihre tote Schwester erinnert, muss sie sich der grausamen Wahrheit stellen: Ist Louisa schuld am Tod ihrer Schwester?

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Sämtliche Figuren und Ereignisse dieses Romans sind der Fantasie entsprungen. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist zufällig und von den Autoren nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung der Blue Velvet Management GmbH urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

Copyright Blue Velvet Management GmbH,

Linz Oktober 2014.

ISBN: 978-3-9503399-9-4

Lektorat: Wolma Krefting, www.bueropia.de

Titelgestaltung: www.afp.at

Bildernachweise: grey rock texture: 123147532, michelecaminati, copyright shutterstock

Young woman beauty portrait. Natural soft make up.: 169323734, Aleksandra Kovac, copyright shutterstock

Anmerkung

Wir haben uns erlaubt einige Namen und Örtlichkeiten aus Spannungsgründen neu zu erfinden, anders zu benennen und auch zu verlegen. Sie als Leser werden uns diese Freiheiten sicher nachsehen.

Wichtige Hinweise für im Buch vorkommende juristische Fragen bekamen wir von Rechtsanwalt Dr. Stefan Knaus. Für diesen Support möchten wir uns herzlich bedanken.

Musik spielte beim Verfassen dieses Psychothrillers eine entscheidende Rolle um die beklemmende Atmosphäre zu erzeugen: Heartbreak Hotel in der Version von John Cale jagt uns noch immer kalte Schauer über den Rücken. Gleiches gilt für Venus in Furs von Velvet Underground und für Sycamore Feeling von Trentemøller & Marie Fisker. Songs die ebenfalls eine düstere Stimmung kreieren stammen von Joy Division, Bauhaus, David Sylvian, Dead Can Dance, Bedouin Soundclash & Coeur de Pirate und natürlich von Nick Cave.

Über die Autoren B.C. Schiller

Barbara und Christian Schiller leben und arbeiten mit ihrem Rhodesian Ridgeback Jabali in Wien und auf Mallorca. Gemeinsam waren sie über 20 Jahren in der Marketing- und Werbebranche tätig und haben ein totales Faible für packende Thriller.

DIE SCHWESTER ist der zweite Psychothriller von B.C. Schiller nach dem Nummer 1 Kindle Bestseller DIE FOTOGRAFIN. Auch dieser Thriller verzichtet auf viel Blut, brutale Szenen und lässt die Spannung und das Entsetzen erst im Kopf des Lesers entstehen.

Neben den Psychothrillern gibt es weitere Thriller:

Der erste Tony Braun Thriller TÖTEN IST GANZ EINFACH und der zweite Tony Braun Thriller FREUNDE MÜSSEN TÖTEN gehören zu den Amazon Jahresbestsellern 2012 und somit zu den erfolgreichsten Top 20 ebook Krimi/Thrillern 2012. Der dritte Tony Braun Thriller ALLE MÜSSEN STERBEN war einige Wochen die Nummer 1 der Bestseller Krimi/Thriller. Mit dem vierten Tony Braun DER STILLE DUFT DES TODES konnte dieser Erfolg noch übertroffen werden, denn der Thriller war längere Zeit Nummer 1 der Bestseller Charts.

B.C. Schiller haben auch noch zwei Thriller mit dem Ex-Agenten und Hundeflüsterer David Stein verfasst – mehr Infos zu diesen finden Sie hinten im Anhang.

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B.C. Schiller

Die Schwester

Psychothriller

„Es gibt ein Gehen über nachtschwarze Blüten.

Und es gibt ein Lächeln in der Finsternis.“

(Schiller Version)

Prolog:

„Hallo, hallo! Kannst du mich hören? Bitte hilf mir doch! Er hält mich hier schon länger gefangen! Hol mich hier raus! Ich flehe dich an!“

„Wer sind Sie? Mit wem spreche ich?“

„Psst! Er kommt.“

„Wer kommt?“

„Er eben. Ich kann nicht mehr reden!“

„Wo sind Sie? Und sagen Sie mir doch Ihren Namen.“

„Hier gibt es keine Namen. Hier ist alles nur dunkel. Er tut mir immer so weh!“

„Wer tut Ihnen weh?“

„Warum hilfst du mir nicht? Hilf mir!“

Klack.

Die Verbindung ist bereits wieder getrennt. Ratlos blicke ich mein Handy an und sehe, dass es eine unterdrückte Nummer ist. Vielleicht nur ein dummer Scherz, denke ich und will wieder zurück in mein weiches Bett. Doch die panische Stimme lässt mir keine Ruhe. Es war die Stimme einer Frau, soviel steht fest. Und es war eine Stimme, die ich noch nie gehört hatte.

Nachdenklich stehe ich in meinem Schlafzimmer. Die Digitalanzeige des Weckers zeigt an, dass es bereits drei Uhr morgens ist. Die ideale Zeit für anonyme Anrufe, die eine Idylle zum Einsturz bringen können. Doch im Schlafzimmer ist alles ruhig und friedlich. Durch die hohen Fenster sieht man direkt auf die Stadt, sieht die Lichter, die niemals erlöschen und selbst um diese Zeit das Zimmer ein wenig erhellen.

„Er hält mich hier schon länger gefangen!“ Dieser Satz hat sich in meinem Kopf festgesetzt, will einfach nicht wieder verschwinden. Vor dem Bett bleibe ich unschlüssig stehen, drehe das Handy in meiner Hand. Dann gehe ich in die Küche, von wo ich das Bett nicht mehr sehen kann und beginne nachzudenken, versuche, mir ein Gesicht zu dieser Stimme vorzustellen, aber es gelingt mir nicht.

„Er tut mir immer so weh!“ Dieser Satz genügt, um mir den Schlaf endgültig zu rauben. Natürlich könnte ich mich einfach wieder ins Bett legen, die Augen schließen und mir einreden, ich hätte alles nur geträumt. Aber mein Verstand ist hellwach und meine Gedanken beginnen bereits, ein Eigenleben zu führen.

Über eine Stunde sitze ich in der Küche und starre auf die erleuchteten Straßen von Wien, dann habe ich mich soweit beruhigt, dass ich wieder zurück ins Schlafzimmer gehen kann. Noch immer ist alles friedlich und der Raum ist nur schwach von den Straßenlaternen erhellt. Ich bleibe in der Tür stehen und blicke umher, sehe das breite Bett, den großen Einbauschrank. Ich sehe verschiedene Kleidungsstücke achtlos über einen Stuhl geworfen. Vor allem aber sehe ich noch immer die Abdrücke eines Körpers auf dem Leintuch. Die schattenhaften Abdrücke eines Mannes, der noch vor wenigen Stunden in diesem Bett gelegen hat. Verwirrt betrachte ich das zerknüllte Laken und die Erinnerung an zärtliche Momente zerplatzt wie eine Seifenblase, die gegen ein Hindernis stößt. An dieses Hindernis bin jetzt ich gestoßen, als ich diesen mysteriösen Anruf erhielt. Jetzt wird der leichte Schatten eines Zweifels, der nie ganz aus meinen Gedanken verschwand, wieder größer, wird zu einer dunklen Wolke, die sich über meinem Kopf zusammenzieht. Denn ich weiß nicht, ob der Mann, der noch bis vor Kurzem in meinem Bett lag, nicht doch ein dunkles Geheimnis hat.

1.

„Sind Sie bereit, sich in der Therapie ganz fallen zu lassen, Louisa?“

„Ja, ich will das so. Ich will wissen, ob diese Tragödie die Ursache für meine Höhenangst ist. Ich will endlich wissen, ob ich schuldig bin!“

„Gut dann fangen wir an: Erzählen Sie mir von Ihrer Schwester. Was war sie für ein Mensch? Hat es zwischen Ihnen so etwas wie Eifersucht gegeben?“

„Nein, ich war nicht eifersüchtig auf sie. Wir waren normale Geschwister wie viele andere auch. Haben uns natürlich manchmal gestritten. Wie gesagt, es war eine ganz normale Beziehung.“

„Nein Louisa, so normal war ihre Beziehung nicht. Schließlich ist Ihre Schwester jetzt tot und Sie fühlen sich schuldig.“

Ich heiße Louisa Schönberg, bin Anwältin und werde in zwei Monaten vierzig Jahre alt. Es ist neun Uhr morgens und ich sitze in der Praxis meines Therapeuten Dr. Nathan Wolf. Er ist Spezialist für Hypnotherapien und durch seine Methode will ich von meiner Höhenangst geheilt werden. Aber im Augenblick gehen mir seine Fragen ziemlich auf die Nerven. Denn was hat meine Schwester Anna mit meiner Höhenangst zu tun? Vielleicht sollte ich ihn das fragen.

Überhaupt geht es mir auf die Nerven, dass er mich Louisa nennt. Weshalb sagt er nicht einfach Frau Schönberg zu mir? Aber wahrscheinlich ist das Anreden mit dem Vornamen etwas, das zu seiner Therapie gehört. Es soll Nähe oder Vertrauen schaffen.

„Was hat meine Schwester mit meiner Höhenangst zu tun?“, will ich von Dr. Wolf wissen und blicke ihn vorwurfsvoll an.

„Hat sie etwas damit zu tun?“, antwortet er mit einer Gegenfrage. Oh, wie ich diese Art von Befragung hasse.

„Nein, verdammt, es hat nichts mit ihr zu tun! Meine Schwester und ich waren ganz normale Geschwister, in einer ganz normalen Familie, in einem ganz normalen Vorort von Wien. Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?“, krächze ich und bringe kein Wort mehr heraus. Wortlos reicht mir Dr. Wolf einen Becher mit Wasser aus dem Spender, der griffbereit hinter seinem Stuhl steht. Wahrscheinlich kommt das öfter vor, dass Patienten vom vielen Reden durstig werden. Das Wasser beruhigt mich und für einen kurzen Moment habe ich Dr. Wolf im Verdacht, die Flüssigkeit mit einem Beruhigungsmittel versetzt zu haben. Aber das kann ich dann doch nicht glauben.

„Erzählen Sie von Ihrer Familie“, sagt Dr. Wolf ganz ruhig, so als hätte er meine Aggressionen überhaupt nicht mitbekommen. Wenigstens erwähnt er meine Schwester Anna nicht mehr.

„Wir führten ein normales und behütetes Leben.“ Ich presse die Augen zusammen und versuche ein Bild meiner Familie hervorzuzaubern, ein Bild, das vielleicht dreißig Jahre alt ist. Ein Bild, auf dem wir angezogen sind wie für eine Bergtour. Doch noch ehe ich das Bild fixieren kann, ist es auch schon wieder verschwunden.

„Meine Mutter war eine ganz normale Hausfrau, die sich um das Haus und um uns Kinder gekümmert hat. Mein Vater war normal arbeiten. Wie ich schon sagte: Wir hatten ein ganz normales Familienleben.“

„Warum sind Sie immer so auf dieses Wort ‚normal‘ fixiert, Louisa?“, fragt mich Dr. Wolf und betont meinen Vornamen absichtlich so stark, dass er noch scheußlicher klingt.

„Nennen Sie mich nicht immer Louisa. Sagen Sie meinetwegen Lou, so hat mich meine Schwester immer genannt“, unterbreche ich ihn aufgebracht, denn ich kann meinen Namen nicht mehr hören. Lou, ja, Lou gefällt mir. Außer meiner Schwester hat mich niemand so genannt. Lou klingt intim und doch kühl, klingt distanziert bei gleichzeitiger Nähe. Aber Dr. Wolf geht nicht auf mich ein.

„Louisa, wir wollen doch die Familiensituation unverfälscht darstellen, um die Akrophobie wirksam zu bekämpfen. Seien Sie bitte nicht so aggressiv. So kann ich Ihnen nicht helfen.“

„Bin ich aggressiv? Ist mir noch gar nicht aufgefallen. Tut mir leid.“ Ich mache eine Pause, versuche mich an die Frage zu erinnern. „Ach ja richtig: Es ging um unser normales Familienleben: Es war eben alles ganz normal.“

Dr. Wolf schweigt und sieht mich an, ohne mich wirklich zu sehen, jedenfalls habe ich den Eindruck. Er hat seine Hände an den Fingerspitzen zusammengelegt und scheint in Gedanken versunken zu sein. Da er keinerlei Anstalten macht zu sprechen, erzähle ich weiter Episoden aus meiner Kindheit, um dieses peinliche Schweigen zwischen uns zu überbrücken.

„Oft habe ich mir vorgestellt, ein Einzelkind zu sein, wenn meine Schwester Anna im Förderunterricht war und ich endlich einmal einen Nachmittag für mich alleine hatte. Dann wäre das ruhige Zimmer, das hinaus in den Innenhof mit dem großen Kastanienbaum ging, mein Zimmer gewesen und ich hätte am Fenster sitzen und stundenlang hinausschauen können. Ich hätte die Vögel zwitschern hören. Aber es war das Zimmer meiner Schwester. Mein Zimmer ging nach vorne auf die verkehrsreiche Straße hinaus.“

„Sie erwähnten, dass Ihre Schwester nachmittags Förderunterricht hatte? Können Sie mir darüber etwas Genaueres erzählen?“ War er also doch nicht so abwesend, wie ich gedacht habe, geht es mir durch den Kopf, als mich Dr. Wolf unterbricht. Erstaunlich, denn er hat seine Position überhaupt nicht verändert, sieht mich weiterhin abwesend an und scheint trotzdem alles mitzubekommen.

„Ja, ja Förderunterricht. Wissen Sie, sie war ein wenig begriffsstutzig“, erwidere ich und gönne mir ein zynisches Lächeln.

„War sie zurückgeblieben?“, hakt Dr. Wolf sofort nach.

„Nein, im Gegenteil. Das war nur ironisch gemeint. Im Gegenteil. Sie besuchte den Förderunterricht für Hochbegabte.“ Ich stocke und presse die Lippen zusammen. „Sie war ein kleines Genie.“

„Da waren ja sicher alle mächtig stolz auf Ihre Schwester.“

„Natürlich, besonders Papa. Der hat sie vergöttert!“

„Papa? Nennen Sie so Ihren Vater?“

„Nein, so hat ihn Anna immer genannt. Ich habe Vater zu ihm gesagt.“

„Und wie sagen Sie jetzt zu ihm?“

„Ich spreche nicht mehr mit ihm, denn er ist tot.“

„Oh, das tut mir leid.“

„Muss es nicht. Das ist schon lange her“, antworte ich patzig. „Er hatte vor vielen Jahren einen Autounfall.“

„Für den Tod Ihres Vaters fühlen Sie sich aber nicht verantwortlich?“, fragt Dr. Wolf ganz nebenbei.

„Wieso? Das eine hat mit dem anderen überhaupt nichts zu tun.“ Meine Finger krallen sich in die Lehnen des Stuhls und angespannt richte ich mich auf. „Ich bin hier, weil Sie mich von meiner Höhenangst kurieren sollen und nicht, damit wir endlos über meine Familie reden.“ Jetzt bin ich richtig wütend und das tut gut. Schließlich bezahle ich Dr. Wolf auch, damit er mir zuhört.

„Können Sie sich vorstellen, wie man sich als Kind fühlt, wenn man immer nur die zweite Geige spielt. Wenn alles, was man macht, an der genialen Schwester gemessen wird, an einer wunderschönen hochtalentierten Schwester, an die man nie herankommt? Die von der Familie wie eine Heilige verehrt wird? Das ist beschissen, absolut beschissen, da kann man schon Hassgefühle bekommen. Sich zu einer unüberlegten Handlung hinreißen lassen.“

Stopp! Jetzt ist es aber genug. Ich ziehe die gedankliche Reißleine und halte Dr. Wolf meinen Becher hin. „Bitte noch etwas Wasser.“

„Natürlich, natürlich Louisa“, schreckt er hoch und wirkt so, als hätte er überhaupt nicht mitbekommen, was ich gerade gesagt habe und das ist auch gut so.

„Wir müssen ein wenig ins Detail gehen“, sagt er nach einem schnellen Blick auf seine Armbanduhr, die neben ihm auf dem Schreibtisch liegt.

„Ich möchte, dass Sie eine Zeichnung Ihrer Familie anfertigen.“ Er schiebt mir ein leeres Blatt Papier zu und legt einen schwarzen Kohlestift darauf.

„Das ist aber nicht Ihr Ernst“, erwidere ich verwirrt. „Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Und überhaupt kann ich gar nicht zeichnen.“

„Das macht nichts“, wischt Dr. Wolf meinen Einwand beiseite. „Sie können auch ein paar Strichmännchen machen. Die Hauptsache ist, Sie zeichnen. Und zwar alle Familienmitglieder.“

Wie er das Wort ALLE betont, so als wäre ich begriffsstutzig.

Ich zögere und das bemerkt er sofort.

„Entspannen Sie sich Louisa.

Beginnen wir einfach ganz von vorne. Erzählen Sie mir doch von den zwei Briefen, die Sie schon seit Tagen so beschäftigen.“

2.

Ich bin wieder zurück in meinem Büro und jetzt endlich kann ich mich diesen beiden Briefen widmen, die ich vor ein paar Tagen erhalten habe und die bisher ungeöffnet in der Schublade lagen.

Der eine Brief steckt in einem großen braunen Umschlag und trägt als Absender den Stempel der Rechtsanwaltskanzlei Dimitrovitsch & Bergmann. Unschlüssig drehe ich den Umschlag in meinen Händen, muss mich zusammenreißen, um ihn nicht einfach ungeöffnet in den Papierkorb zu werfen. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass ein Wutausbruch die ganze Situation nur noch verschlimmern würde, deshalb reiße ich mich auch zusammen, so wie ich das immer gemacht habe.

Ich nehme einen langen spitzen Brieföffner aus Stahl von meinem Schreibtisch, halte ihn unbewusst wie einen Dolch, als ich den Umschlag öffne. Mit zitternden Fingern kippe ich den Inhalt auf meinen Schreibtisch. Es ist ein Konvolut von eng beschriebenen Papieren und ein Anschreiben mit dem Briefkopf der Rechtsanwaltskanzlei, das daran festgeklammert ist.

Mit nassen Augen überfliege ich die wenigen Zeilen, die in nüchternen Worten alle meine Hoffnungen, an die ich mich in den letzten Wochen geklammert hatte, auf den Kopf stellen. In dem Brief steht, dass ich – Louisa Schönberg, neununddreißig Jahre alt und Anwältin – rechtskräftig geschieden bin. Der beigefügte, von mir unterzeichnete Vertrag enthält eine penible Aufzeichnung all jener Klienten, Güter und Wertgegenstände, die ich an meinen Exmann abtreten muss. Darunter ist neben der Kanzlei auch das kleine Haus in Grinzing, das ich so geliebt habe. Dieses Haus ist also für immer verloren. Mir bleibt nur noch die winzige Wohnung meiner Mutter Friederike, in die sie nach dem Tod meines Vaters gezogen ist. Diese Wohnung steht schon seit Jahren leer, denn meine Mutter verbringt ihren Lebensabend in einem komfortablen Sanatorium.

In dieser Wohnung habe ich mich mehr schlecht als recht eingelebt, einfach weil mir die Lust fehlte, mir ein Heim zu schaffen. In einem der Räume habe ich ein provisorisches Büro eingerichtet, denn ich arbeite ja weiterhin als Anwältin. Die Zimmer sind klein und die Luft ist heiß und stickig, wahrscheinlich von den negativen Schwingungen des einen Briefes vergiftet. Ich spüre bereits einen dicken Kloß im Hals und stürze schnell zu dem großen französischen Fenster und reiße es weit auf. Gierig atme ich die abgasgeschwängerte Luft ein, beuge mich dabei für meine Verhältnisse viel zu weit über das Geländer und das darf ich doch nicht! Sofort beginnt sich die Welt draußen zu drehen und ich spüre den schwarzen Sog, der mich auf die weit unter meinem Fenster vorbeiführende Straße ziehen will. Meine Arme und Beine gehorchen mir nicht mehr, doch im letzten Winkel meines Gehirns kann ich noch den Befehl aktivieren: Weg vom Fenster!

Erschöpft kauere ich wenige Augenblicke später am Boden neben meinem Schreibtisch und schiebe mit der Schuhspitze das Fenster wieder zu, sperre den Autolärm der Schnellstraße aus. Seit dreißig Jahren leide ich unter Höhenangst, das ist nicht weiter schlimm, ich habe mich daran gewöhnt und kann ganz gut damit leben. Nur in Momenten, in denen ich mich aufrege, vergesse ich es und da kann es zu gefährlichen Situationen kommen, so wie eben jetzt.

„Das hast du nun von deiner beschissenen Karriere“, sage ich im Bad zu der Frau im Spiegel, deren Gesicht im letzten halben Jahr schmaler geworden ist und das zwei Falten von den Nasenflügeln bis zu den Mundwinkeln bekommen hat. Doch noch immer ist diese Frau attraktiv und sieht nicht aus wie vierzig. Noch immer lassen sie die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken mädchenhaft wirken und noch immer trägt sie ihr rotes Haar in langen Locken und ihre grünen Augen funkeln. Doch bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass dieses Feuer in ihren Augen am Erlöschen ist.

Als ich mich anschließend wieder an meinen Schreibtisch setze, um die wenigen Akten darauf zu studieren, fällt mein Blick auf den zweiten Brief, den ich in der Aufregung komplett vergessen habe.

Der Absender ist ein gewisser Tom Berger aus der Justizstrafanstalt Josefstadt. Stirnrunzelnd betrachte ich den Brief, halte ihn einen Moment lang in den Händen, zögere, ihn zu öffnen, so als könne er eine Bombe enthalten. Mein Name und meine Adresse stehen in einer schön geschwungenen Handschrift auf dem Umschlag und erst beim zweiten Hinsehen fällt mir auf, dass dieser Tom Berger nur Lou Schönberg geschrieben hat. Woher kommt bloß diese merkwürdige Vertrautheit, in der er mich mit diesem Namen anspricht, den früher immer nur meine Schwester für mich verwendet hat. Ich weiß es nicht, aber jetzt bin ich neugierig geworden und entschlossen öffne ich den Umschlag und lese den Brief:

„Liebe Lou,

Sie müssen mir helfen. Man wirft mir vor, meine Geliebte ermordet zu haben.“

3.

Tom Berger ist Maler und dringend verdächtig, seine Lebensgefährtin, die Galeristin und Kunsthändlerin Ruth Kluger ermordet zu haben. Es gibt zwar keine Leiche, aber anscheinend Indizien, die Tom Berger belasten. Unbewusst habe ich den Eindruck, als sei er ein wenig stolz darauf, dass er unter Mordverdacht steht und in Untersuchungshaft sitzt. Denn von Anfang an konzentrierten sich die Ermittlungen ausschließlich auf ihn und seine Vergangenheit.

In kurzen knappen Sätzen schildert Tom Berger, weshalb er verdächtigt wird und warum er unschuldig ist. Eine Seite des Briefes besteht nur aus Rechtfertigungen und der Zauber, den der erste Satz auf mich ausgeübt hat, verfliegt, weicht der üblichen Routine, die ich ansonsten beim Aktenstudium habe. Der Prozess gegen ihn findet bereits in zwei Wochen statt und er weiß, dass es beinahe unmöglich ist, in so kurzer Zeit die Verteidigung für einen Mordprozess zu übernehmen. Aber seinen Pflichtverteidiger hat er bereits gefeuert, weil er an mich glaubt. Das ist schön gesagt. Der Brief endet mit der nochmaligen Bitte, seine Verteidigung zu übernehmen und schließt mit den Worten: „Alles Liebe, Tom“.

„Alles Liebe, Tom“, wiederhole ich die Worte und bin wieder irritiert über diese merkwürdige Vertrautheit. Du darfst diese Verteidigung auf gar keinen Fall übernehmen, sagt mir mein Bauchgefühl, auf das ich mich bisher immer verlassen konnte. Nur nicht im Fall meiner Scheidung, da hat mich dieses Bauchgefühl im Stich gelassen, doch das ist eine reine Privatsache, wie ich ständig versuche mir einzureden.

Dann aber sehe ich die Zeichnung unter den Worten, unter dem „Alles Liebe, Tom“. Es ist ein Porträt, mit einem Kohlestift auf das Papier gezeichnet. Das Porträt einer Frau mit sinnlichen Lippen und einem romantischen Blick. Unschwer erkenne ich mich auf der Zeichnung, aber weder die leicht geöffneten Lippen noch der schmachtende Blick stimmen. Es ist die sehr freie Interpretation eines Studioporträts, das in einer Juristenzeitung abgedruckt wurde.

„Zu kitschig!“ Schon will ich den Brief zusammenknüllen und in den Papierkorb werfen, doch dann zögere ich. Wegwerfen kann ich das Papier auch morgen! Die Zeichnung ist ja wirklich schön und schmeichelt mir. Es gibt also doch noch Männer, die mich attraktiv finden. Deshalb betrachte ich sie als Aufmunterung für diesen Tag, der so negativ begonnen hat. Morgen ist sicher wieder alles anders, morgen werden Brief und Zeichnung weggeworfen.

Dennoch hat mich der Brief neugierig gemacht und ich will Näheres über Tom Berger wissen. Wie erwartet, gibt es keine aktuellen Einträge von ihm. Er ist weder auf Facebook noch auf Twitter noch in den einschlägigen Kunstforen zu finden. Kein Wunder, denn im Untersuchungsgefängnis hat er auch nur sehr eingeschränkt Zugang zu Computer und Internet. Also surfe ich auf gut Glück umher, um vielleicht doch etwas Interessantes über ihn zu entdecken. Über das mysteriöse Verschwinden von Ruth Kluger vor einiger Zeit wurde in den Medien viel berichtet, es gab eine Fülle von Spekulationen über diesen Fall. Die Leiche von Ruth Kluger wurde zwar noch immer nicht gefunden, aber es gibt laut Staatsanwaltschaft eindeutige Indizien, die Tom Berger schwer belasten. Nähere Details kann ich allerdings nicht finden und die wenigen Statements der Polizei lesen sich trocken und sind nichtssagend.

Ich klicke auf einen Zeitungsartikel. Die Fotos, die Tom Berger mit der wesentlich älteren Ruth Kluger zeigen, sind schon einige Jahre alt. Tom Berger sieht geheimnisvoll, aber auch etwas verwegen aus, hat einen Kohlestift hinter das Ohr geklemmt, sein Markenzeichen, so steht es dazu im Bildtext. Er trägt schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd, das bis zum Nabel offen steht. Seine dunklen Haare sind an den Seiten hochrasiert und vorne hängt ihm eine Tolle in die Stirn. „Der geheimnisvolle Gangster-Maler“ lautet die Überschrift dieses besonders grellen Artikels. Tom Berger stammt aus einem schwierigen sozialen Umfeld, wuchs in einem Heim auf, konnte sich aber durch seine malerische Begabung aus diesem tristen Milieu lösen. Auf die Frage der Journalistin, welchen Berufsweg er eingeschlagen hätte, wenn er nicht Maler geworden wäre, antwortete er: „Gangster-Rapper!“

Damals fand man das sicher witzig, aber jetzt hat sich das Blatt gewendet und das Wort „Gangster“ geistert in Verbindung mit „Mord“ durch den gesamten Artikel. Noch etwas fällt mir auf: Seit einigen Jahren hat niemand mehr ein gemaltes Bild von Tom Berger gesehen, aber seine Galeristin Ruth Kluger hält ihn trotzdem für das größte Genie dieses Jahrhunderts. Auch auf dem Kunstmarkt gäbe es keine Bilder von Tom Berger mehr, obwohl reiche Russen bereits Unsummen für neue Gemälde von seiner Hand geboten hätten. Allem Anschein nach hat Ruth Kluger seinen aufwendigen Lebensstil finanziert und dafür gesorgt, dass genügend Gerüchte über sein Genie in Umlauf blieben. Eine clevere Marketingstrategie, denke ich. Doch jetzt hat sich der Rummel um seine Bilder gelegt, denn vor einigen Monaten ist Ruth Kluger verschwunden und Tom Berger sitzt bereits seit einem halben Jahr als Mordverdächtiger in Untersuchungshaft. Das war’s auch schon. Nicht sehr informativ, denke ich. Außer dass er in einem Fürsorgeheim aufwuchs, kann ich nichts über seine Vergangenheit finden.

Über Ruth Kluger gibt es hingegen massenhaft Artikel und Berichte aus dem Kulturbereich. Nach dem Tod ihres Mannes, einem reichen Bankier, wurde sie zur Kunstmäzenin und Förderin von jungen aufstrebenden Künstlern. Hauptsächlich von männlichen Künstlern. Aber Tom Berger war ihr erster offizieller Lebenspartner seit dem Tod ihres Mannes. Ihn scheint sie wirklich geliebt zu haben. Sie wurde auch seine Galeristin und sorgte für den genialen Status von Tom Berger. Wie gesagt, bis vor einem Jahr boomten die Preise für seine nie ausgestellten Bilder.

„Ich bin also im Besitz eines echten Tom Berger“, sage ich nachdenklich und betrachte die Kohlezeichnung auf dem Brief genauer. Ich bin zwar kein Kunstexperte, aber selbst ich kann feststellen, dass sie alles andere als dilettantisch ist. Sie ist das Werk eines Künstlers. Vielleicht sollte ich die Zeichnung verkaufen und mich von dem Geld anschließend mit einem jungen Liebhaber zur Ruhe setzen?

Aber wie ich mich kenne, werde ich morgen einfach die Zeichnung wegwerfen und den Brief von Tom Berger vergessen. Ich höre auf mein Bauchgefühl, das mir dringend rät, von diesem Fall die Finger zu lassen, da ich mir damit nur Schwierigkeiten einhandeln werde.

4.

„Liebe Lou,

Sie müssen mir helfen. Man wirft mir vor, meine Geliebte ermordet zu haben.“

Der Nachhall dieser Sätze hat sich in meinem Kopf festgesetzt und wird lauter, je näher der Termin mit Tom Berger in der Haftanstalt rückt. Ich wehre mich dagegen, aber der Gedanke, dass mich irgendjemand braucht, dass ich doch nicht ganz nutzlos und sinnlos lebe, dieser Gedanke wird stärker. Manchmal erkenne ich mich selbst nicht mehr, denn logisch betrachtet ist der Fall nur sehr schwer zu gewinnen. Die Zeit ist mehr als knapp und die Indizien sind tatsächlich erdrückend. Aber für mich ist das erste Zusammentreffen mit Tom Berger entscheidend: Erst dann weiß ich, ob wir eine Chance haben.

Es ist eigenartig. Noch letzte Woche war ich felsenfest davon überzeugt, dass ich Tom Berger nicht verteidigen werde. Denn seine vertrauliche Anrede „Liebe Lou“ hat mich ziemlich irritiert und ich musste deshalb häufiger als üblich an meine tote Schwester denken. Auch mein Bauchgefühl hat mir dringend davon abgeraten, seinen Fall zu übernehmen. Hätte ich nur darauf gehört. Aber dann kam eine Steuernachzahlung, die sich gewaschen hat und in einem Anflug von Existenzangst habe ich Tom Berger meine Honorarrichtlinien geschickt. Schon zwei Tage später kam seine Antwort und als ich den Brief mit der Anschrift „Lou Schönberg“ sah, begann mein Herz wie verrückt zu pochen und die Alarmglocken in meinem Bauch spielten verrückt. Diesmal war es ein kurzer Brief, in dem Tom Berger meine Honorarforderungen akzeptierte und mich gleichzeitig um ein erstes Treffen bat.

„Es gibt ein Gehen über nachtschwarze Blüten.

Und es gibt ein Lächeln in der Finsternis.“

Diese Zeilen fand ich auf der Rückseite des Briefes und darunter war mein Gesicht gezeichnet, diesmal nicht mit sinnlich geöffneten Lippen, sondern mit einem feinen Lächeln, das meinen Zügen etwas Entrücktes gab.

‚Findet er mein Gesicht wirklich so interessant, dass er es immer zeichnet. Oder ist es nur eine Strategie, um mich für ihn einzunehmen?‘, dachte ich damals und legte den Brief mit der Zeichnung zu dem anderen, der noch immer auf meinem Schreibtisch lag, weil ich es einfach nicht übers Herz gebracht habe, ihn wegzuwerfen. Jetzt gab es kein Zurück mehr, denn Tom Berger hatte mein Honorar akzeptiert und ich musste daher wohl oder übel einem ersten Treffen mit ihm zustimmen. Ab diesem Zeitpunkt begannen auch seine Sätze ein merkwürdiges Eigenleben in meinem Kopf zu führen und zogen mich mehr und mehr in eine Welt, die ich so nicht gekannt hatte.

Die nächsten Tage waren mit Papierkram ausgefüllt, denn um die Verteidigung eines Untersuchungshäftlings in einem laufenden Verfahren übernehmen zu können, braucht es eine Menge Formulare, Stempel und Beglaubigungen. Auch eine Vollmacht von Tom Berger war notwendig, doch dazu musste ich ihn nicht selbst aufzusuchen. Erst am Tag vor unserem ersten Treffen übermittelte mir die Staatsanwaltschaft die komplette Akte und so blieb mir nichts anderes übrig, als mir die Nacht um die Ohren zu schlagen, um mich in die Details seines Falls einzuarbeiten.

Tom Berger hat seine Lebensgefährtin Ruth Kluger aus Geldgier ermordet. Das ist die Annahme der Staatsanwaltschaft. Aber Tom Berger leugnet die Tat und es gibt keine Leiche. Ruth Kluger ist seit knapp einem halben Jahr wie vom Erdboden verschwunden. Tom Berger selbst hatte ihr Verschwinden bei der Polizei angezeigt, sich aber dann bei der routinemäßigen Einvernahme so sehr in Widersprüche verwickelt, dass die Polizei ihn festnahm und eine Hausdurchsuchung bei ihm durchführte. Im Zuge dieser Durchsuchung wurde ein blutiger Malerspachtel in einem Müllcontainer entdeckt. Eine DNA-Überprüfung ergab zweifelsfrei, dass es sich bei dem Blut um jenes von Ruth Kluger handelte. Darüber hinaus wurden in einem Safe die Police einer Lebensversicherung mit Tom Berger als Begünstigtem und drei auf Ruth Kluger ausgestellte Überbringersparbücher mit je 14.000 Euro gefunden. Tom Berger hat also ein klassisches Motiv für einen Mord. Schwer belastend ist auch, dass die Polizei in seinem alten Mercedeskombi Blutstropfen fand, die ebenfalls Ruth Kluger zugeordnet werden konnten.

Es existiert zudem die Aussage einer Nachbarin, die angibt, dass Ruth Kluger einen Tag vor ihrem Verschwinden bei ihr gewesen wäre, weil sie Angst vor Tom Berger gehabt habe. Diese Zeugin hatte ihr geraten, zur Polizei zu gehen, aber Ruth Kluger hat das dann doch abgelehnt.

‚Sieht nicht gut aus für dich, Tom Berger‘, dachte ich, während ich konzentriert die Akten studierte. In der Tat waren die Indizien schwerwiegend und die Aussagen von Berger sehr, sehr widersprüchlich. Einmal gab er zu, mit Ruth Kluger gestritten und sie geschlagen zu haben, deshalb auch das Blut in seinem Wagen. Während einer späteren Vernehmung konnte er sich aber daran nicht mehr erinnern und schwor, dass heftiges Nasenbluten der Grund für die Blutstropfen gewesen sei.

„Mit dem Malerspachtel hat sie sich selbst geschnitten, als sie Farbe von einer Leinwand kratzen wollte“, lautete seine Erklärung zu dem Blut auf dem Werkzeug. Soweit eine Aussage vom Februar. Im März klang das dann aber wiederum so: „Ruth wollte mir demonstrieren, dass man als Künstler mit seinem Blut malen muss. Deshalb hat sie sich mit dem Spachtel einen Schnitt zugefügt und das Blut auf der Leinwand verschmiert.“ Diese Aussage klang selbst für mich so naiv unglaubwürdig, dass ich laut auflachte.

Zählt man all diese belastenden Fakten zusammen, dann ist die Beweislage gegen Tom Berger erdrückend. Losgelöst ist aber jedes Indiz durchaus zu seinen Gunsten zu interpretieren. In der Aussage der Nachbarin beispielsweise steht, dass sie während des Gesprächs mit Ruth Kluger gemeinsam eine Flasche Eierlikör geleert hätten. Wurde durch den Alkohol also die Wahrnehmung der Zeugin getrübt oder nicht? Und der Malerspachtel ist alles andere als eine klassische Tatwaffe. Hat er Ruth Kluger damit den Hals durchgeschnitten? Dann müsste ja in seinem Atelier noch Blut zu finden gewesen sein. Bleiben noch die Spuren im Wagen, die Tom Berger mit Nasenbluten erklärt. ‚Das ist ein Schwachpunkt, den ich unbedingt noch entkräften muss‘, dachte ich seufzend.

Merkwürdig, je länger ich über den Akten und Protokollen brütete, desto mehr war ich von der Unschuld Tom Bergers überzeugt. In den Vernehmungen redete er sich um Kopf und Kragen, das würde ein wirklicher Täter doch niemals tun! Oder bezweckte er mit seinen widersprüchlichen Aussagen gerade das Gegenteil? Dass man ihn so wie ich für unschuldig hielt? Nein, das wäre zu kompliziert gedacht, entschied ich. Berger ist wie alle Beschuldigten, er hat Angst und kann nicht mehr logisch denken, deshalb auch die vielen Widersprüche. Aber bis zur Hauptverhandlung musste ich alles daran setzen, ihm diese Widersprüche auszutreiben und ihn für das Gericht zu präparieren.

„So werden wir den Fall nicht gewinnen, Tom Berger“, flüsterte ich und sah mir die Daten durch. Tom Berger war fünfunddreißig Jahre alt, seine Lebensgefährtin neunundfünfzig. Das machte einen Altersunterschied von vierundzwanzig Jahren.

‚Nicht schlecht‘, dachte ich und bewunderte Ruth Kluger insgeheim für ihren Mut, sich mit einem wesentlich jüngeren Mann einzulassen. Ich könnte mich niemals in einen jüngeren Mann verlieben. Eine Frau muss zu ihrem Mann aufsehen können, hat mein Vater immer gepredigt und diesen Spruch habe ich verinnerlicht. Jüngere Männer sind also ein Tabu. Als ich sämtliche Akten durchgearbeitet hatte, graute bereits der Morgen. In wenigen Stunden würde ich zum ersten Mal Tom Berger gegenübertreten.

5.

Mein Mandant Tom Berger ist ein gutaussehender Mann, mit weichen sensiblen Gesichtszügen, die in starkem Kontrast zu seinen hellen eiskalten Augen stehen. Jetzt ist mir auch klar, weshalb er auf den Fotos immer eine Sonnenbrille trägt. Wäre ich in einem Lokal von ihm angesprochen worden, dann hätte ich wahrscheinlich den Tisch gewechselt, denn seine Ausstrahlung ist düster und man spürt sofort, dass man mit diesem Mann Ärger bekommen könnte. Wie auf den Fotos trägt er auch in der Untersuchungshaft seine schwarzen Jeans und ein schwarzes Hemd. Doch seine schwarzen Haare sind jetzt länger und ein wenig gelockt, was ihn noch etwas verletzlicher und verlorener erscheinen lässt. Diese Veränderung kann aber auch mit der ungesunden Blässe seiner Haut zu tun haben, immerhin ist Tom Berger bereits seit einigen Monaten in Untersuchungshaft. Auch jetzt, wie auf den Fotos, trägt er einen Kohlestift hinter das Ohr geklemmt. Ich spüre, dass er mir eine Inszenierung, eine Performance bieten will: „Der Künstler als Gangster“. Aber darüber brauche ich mir nicht weiter den Kopf zu zerbrechen, denn ich bin als seine Anwältin in das Untersuchungsgefängnis gekommen. Wir haben bereits einige Aufwärmrunden mit Smalltalk hinter uns und können uns endlich dem wesentlichen Thema widmen, nämlich einer neuen Verteidigungsstrategie.

„Schildern Sie mir noch einmal den Tag, an dem Sie das Verschwinden Ihrer Lebensgefährtin bei der Polizei gemeldet haben.“ Aufmunternd nicke ich ihm zu, doch Tom Berger macht überhaupt keine Anstalten, auf meine Frage zu antworten.

„Schade, dass wir uns nicht früher kennengelernt haben“, sagt er stattdessen. „Dein Gesicht ist so inspirierend.“ Er kneift die hellen Augen zusammen, taxiert mich von oben bis unten, verharrt schließlich peinlich lange auf meinem Gesicht. „Du erinnerst mich an die Ophelia der Präraffaeliten. Diese blasse Haut und diese roten Haare. Millais hat die ertrunkene Ophelia gemalt.“

Ich habe noch nie davon gehört, finde es aber nicht sehr sympathisch, mich mit einem Bild zu vergleichen, auf dem eine ertrunkene Frau zu sehen ist. Ich fürchte, diese erste Begegnung steht unter keinem guten Stern und ich aktiviere bereits meinen Abwehrmechanismus.

„Bleiben wir sachlich, Herr Berger“, antworte ich deshalb – vielleicht ein wenig zu scharf, doch das scheint ihm nichts auszumachen. Im Gegenteil, er sieht mich mit seinen eisblauen Augen weiter unverwandt an.

„Du bekommst nicht viele Komplimente, Lou, nicht wahr? Bist schon ein wenig verhärmt, schon lange nicht mehr geküsst worden.“

„Noch eine derartig dumme Bemerkung und Sie können sich einen anderen Anwalt für Ihre Verteidigung suchen, Herr Berger.“

„Sorry, tut mir leid“, rudert Tom Berger schnell zurück. „Ich hatte das eigentlich als Kompliment gedacht. Tut mir echt leid, wenn du es falsch aufgefasst hast.“

„Können wir nicht beim Sie bleiben?“, werfe ich zum wiederholten Mal ein, aber genauso gut könnte ich gegen die leere Wand des Besucherzimmers sprechen. Tom Berger reagiert nicht darauf.

„Es hat mit dieser langen Untersuchungshaft zu tun. Da kann ich ja mit niemandem sprechen und weiß daher auch nicht mehr, wie ich mich einer attraktiven Frau gegenüber verhalten muss. Nochmals, ich wollte dich auf gar keinen Fall beleidigen, Lou.“

„Weshalb nennen Sie mich Lou? Ich heiße Louisa. Louisa Schönberg.“

„Lou ist doch die Abkürzung von Louisa. Lou klingt vertraut und doch ein wenig geheimnisvoll. Lou passt zu dir.“

Mit verschränkten Armen lehnt sich Tom Berger breitbeinig zurück und schließt die Augen. Er hat lange seidige Wimpern, um die ihn jede Frau beneiden würde. Mit geschlossenen Augen sieht Tom Berger wirklich sehr interessant aus. Und er findet mich geheimnisvoll. Das schmeichelt mir.

Ich räuspere mich und setze eine geschäftige Miene auf.

„Schon gut, zurück zu unserem Fall. Wer hat Sie bisher verteidigt? Dr. Hoffmann ist zwar als Ihr Pflichtverteidiger in der Liste eingetragen, aber es gibt kein einziges Gesprächsprotokoll zwischen Ihnen in den Akten.“

„Ich habe auch nie mit ihm gesprochen“, antwortet Tom Berger kurz und desinteressiert, ohne seine Augen zu öffnen. „Die Wellenlänge zwischen uns passte eben nicht.“

„Das heißt, Sie haben alle Aussagen ohne anwaltlichen Beistand gemacht, stimmt das so?“

„Wenn du so willst, ja. Schließlich habe ich meine Lebensgefährtin ja nicht umgebracht, wie anscheinend alle hier glauben. Auch dieser Pflichtverteidiger war dieser Meinung, ich spürte das ganz deutlich. Was also soll ich mit einer derartigen Pfeife anfangen? Ein Anwalt, der von vorneherein kapituliert. Das ist doch wohl ein schlechter Witz“, redet sich Tom Berger in Rage. Jetzt sieht er mich durchdringend an. Der Blick seiner hellen Augen gefriert und sendet eisige Blitze aus.

„So kann man das aber auch nicht sehen“, unterbreche ich ihn und nehme meinen Kollegen in Schutz. „Dr. Hoffmann hätte Ihnen sicher helfen können. Denn Ihre Aussagen sind alles andere als entlastend.“ Mit der flachen Hand schlage ich auf die Akten und sehe Tom Berger herausfordernd an.

„Tja, da habe ich mich wohl getäuscht. Mein Fehler“, ist sein einziger Kommentar.

„Allerdings war das ein großer Fehler, ohne Anwalt einer Vernehmung zuzustimmen, Herr Berger.“

„Tom, sag einfach Tom zu mir, da kann ich mich besser konzentrieren.“

„Also gut, Tom, wie sehen Sie selbst Ihre Chancen?“ Normalerweise rede ich meine Mandanten nicht mit Vornamen an, aber Tom hat mich einfach überrumpelt und außerdem will ich nicht als spießig dastehen, deshalb streiche ich seinen Nachnamen auch in meinem Kopf.

„Weiß nicht, Lou, ich denke fünfzig zu fünfzig.“ Tom zuckt gelangweilt mit den Schultern, starrt gegen die Wand, so als würde er dort eine Antwort auf meine Frage finden.

„Das sehe ich bedeutend pessimistischer, aus meiner Sicht steht die Chance, dass Sie mit heiler Haut davonkommen, dreißig zu siebzig. Sie bekommen lebenslänglich, wenn Sie Pech haben. Ist Ihnen das gleichgültig, Tom?“

„Warum verteidigst du mich dann, Lou, wenn du nicht an meine Unschuld glaubst? Ich spüre doch, dass es dir nicht ums Geld geht.“

„Interpretieren Sie nicht zu viel hinein, Tom. Ich finde Ihren Fall einfach interessant und eine Herausforderung.“

„Ist das alles?“ Tom wirkt sichtlich enttäuscht und das tut mir leid.

„Nein, natürlich nicht. Ich bin von Ihrer Unschuld überzeugt.“ Ich lese ihm aus meinen Notizen vor und seine Miene hellt sich auf.

„Ja, ich bin unschuldig“, flüstert Tom. „Die Polizei begreift das einfach nicht, Lou. Sie verurteilen mich wegen meiner Herkunft, meiner Vergangenheit.“

„Das Gericht urteilt unparteiisch, Tom“, wende ich ein. „Je stärker wir die belastenden Fakten entkräften können, desto größer ist unsere Chance, den Prozess zu gewinnen. Nur mit Fakten werden wir die Geschworenen von Ihrer Unschuld überzeugen können. Da braucht es eben handfeste Beweise.“

„Du hast ja so recht, Lou“, seufzt er und beugt sich vor, fixiert mich mit seinen hellen Augen. „Das Leben ist eben brutale Realität, da bleibt kein Platz für wahre Empfindungen.“ Schwer lässt er seine Unterarme auf die Tischplatte fallen und erst jetzt fällt mir das Tattoo auf der Innenseite seines linken Unterarmes auf: „Coeur de Pirate“ ist in schnörkeliger Schrift rund um ein verblasstes rotes Herz geschrieben.

„Gefällt dir das Tattoo, Lou?“, fragt Tom, der meinen Blick bemerkt hat.

„Nein!“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. „Ich kann Tattoos bei Männern nicht ausstehen.“

Während dieser Unterredung habe ich manchmal das Gefühl, dass Tom der Ernst seiner Situation überhaupt nicht bewusst ist. Er erinnert mich an einen kleinen Jungen, der diese Gefängnisatmosphäre spannend und aufregend findet. Aber sein Fall ist ernst, sehr ernst sogar. Es gibt auch noch andere Zeugen, die kurz vor dem Verschwinden von Ruth Kluger eine heftige Auseinandersetzung zwischen den beiden mitbekommen haben. Das steht ebenfalls in den Protokollen, die ich noch in der Nacht gelesen habe. In einem bekannten Lokal in der Wiener Innenstadt haben sich Ruth und Tom angebrüllt, dann hat Tom ein Glas auf der Tischplatte zerschmettert und Ruth mit dem abgebrochenen Stiel bedroht. Wer weiß, was passiert wäre, wenn nicht ein Ober die Polizei gerufen hätte. Beide wiegelten den Vorfall ab, aber der Anruf bei der Polizei ist eben aktenkundig und wird von der Staatsanwaltschaft natürlich als Beweis für Toms Aggressivität herangezogen.

Ich will, dass sich Tom zu diesem Vorfall äußert, um seine Version der Geschichte zu hören.

„Ach das. Ich wusste, dass man diese Aktion ausgraben würde.“ Genervt richtet er sich in seinem Stuhl auf. „Ich wollte eine Ausstellung meiner Bilder machen. Ruth hat das aber abgelehnt. Dabei ist es eben zu diesem heftigen Streit gekommen. Liebende streiten sich nun mal. Kennst du das nicht?“

„In den Zeitungsberichten steht, dass Sie überhaupt nicht malen.“ Auf seine Anspielung gehe ich nicht ein. „Sie sind ein Maler, der nicht malt. Es gibt keine neuen Bilder mehr von Ihnen.“

„Das war die Idee von Ruth. Den Marktwert in die Höhe treiben. Einen Mythos schaffen.“

„Das ist ihr ja gelungen. Weshalb dann die Ausstellung?“, frage ich weiter und mache mir eifrig Notizen.

„Ich wollte endlich mit einem Paukenschlag an die Öffentlichkeit. Absurde Preise für meine Bilder verlangen und alles sollte bereits bei der Vernissage ausverkauft sein. Ich wollte viel Geld verdienen, das war mein Plan. Aber sie wollte das nicht“, seufzt Tom und presst die Hände zwischen seine Oberschenkel wie ein kleiner Junge, der unartig gewesen ist.

„Wozu brauchten Sie das Geld?“, frage ich. „Ruth Kluger hatte doch genug für Sie beide.“

„Ich hatte vor, mich von Ruth zu trennen. Ich benötigte Startkapital. Das Leben als Künstler ist teuer.“

Sein Gesicht nimmt einen verzweifelten Ausdruck an und irgendwie tut mir Tom leid. Für einen kurzen Augenblick habe ich das Bedürfnis, mich über den Tisch zu beugen, um ihm die unrasierten Wangen zu streicheln und ihn zu trösten. Stattdessen streiche ich meinen Notizblock glatt und starre auf meinen Ringfinger, dorthin, wo früher einmal mein Ehering gewesen war.

6.

Geld ist immer ein handfestes Mordmotiv, da muss ich der Staatsanwaltschaft leider recht geben. Ich schärfe Tom ein, nichts über Bilderverkäufe, seine beabsichtigte Trennung von Ruth Kluger und über seine Zukunftspläne, für die er Startkapital brauchte, zu erwähnen. Aber die Polizei fand auch die Lebensversicherungspolice und die drei Sparbücher. Verständlich, dass der Staatsanwalt keinen Augenblick zögerte und Anklage erhob.

„Du bist meine Anwältin, Lou“, meint Tom schließlich, nachdem er sich schweigend alles angehört hat. „Du musst meine Unschuld beweisen. Ich kann hier nichts dazu beitragen.“ Resigniert zuckt er mit den Schultern. „Ich kann nur wiederholen, dass ich keinen Grund hatte, Ruth umzubringen.“

„Was ist mit Ihrem Wagen? Auf der Ladefläche wurden Blutspuren von Ruth Kluger gefunden. Die Polizei geht davon aus, dass Sie die Leiche mit Ihrem Auto wegtransportiert und irgendwo entsorgt haben.“ Ich mache eine kurze Pause und blättere in meinen Unterlagen. „Die Blutspuren auf der Ladefläche, wie kommen sie dahin?“

„Habe ich doch schon zu Protokoll gegeben. Ruth hatte Nasenbluten, das kam bei ihr öfter vor, wenn sie unter Stress stand.“

„Nasenbluten auf der Ladefläche hinten im Wagen?“ Ich verziehe skeptisch das Gesicht, mache neben den Satz ein Fragezeichen.

„Wir haben Bilder für eine Ausstellung verladen, da ist es eben auf der Ladefläche passiert.“

„Wieso Ausstellung? Sie haben doch vorhin gesagt, dass Ruth keine Ausstellung machen wollte. Deshalb ja auch der Streit mit ihr.“ Genervt balle ich meine Hände zu Fäusten. So ist das immer mit den Mandanten. Sie merken sich nicht, was sie zuvor gesagt haben und verstricken sich daher ständig in Widersprüche. Bei Tom ist das nicht anders.

„Sagen Sie endlich, was war das für eine Ausstellung? Davon steht nichts im Protokoll.“ Hastig blättere ich durch die Seiten.

„Ich habe das auch nie erwähnt, denn die Ausstellung hat nie stattgefunden. Sie wurde im letzten Augenblick verschoben. Der Künstler hatte eine schwere Existenzkrise.“

„Sie meinen sich selbst, Tom. Nicht wahr? Geht es um die geplatzte Ausstellung und den anschließenden Streit mit Ruth?“ Nervös klopfe ich mit meinen Fingerspitzen auf einen verschlissenen grünen Aktendeckel. Darin befinden sich die fragmentarischen Daten aus Toms Vergangenheit. Darüber muss ich auch noch mit ihm reden.

„Nein!“ Toms Miene verschließt sich und er verschränkt die Arme vor der Brust. Seine hellen Augen gefrieren wieder zu Eis. „Nein! Ich bin nicht damit gemeint. Es war ein anderer Künstler.“

„Wie heißt der Künstler?“, frage ich aufgeregt. Vielleicht ergibt sich dadurch eine Möglichkeit, das Blut in dem Wagen zu erklären und Tom zu entlasten. Wenn auf einem der Bilder, die damals in den Wagen von Tom verladen wurden, Blutspuren zu finden wären, dann würde das seine Behauptung untermauern, dass Ruth Kluger Nasenbluten hatte. Dann gäbe es außer dem blutigen Spachtel und der Nachbarin kein stichhaltiges Indiz mehr für die Mordtheorie. Bis auf die Lebensversicherung und die Sparbücher natürlich. Das klassische Mordmotiv.

„Wie heißt der Maler?“, wiederhole ich meine Frage, da Tom keinerlei Anstalten macht, zu antworten.

„Es ist eine Künstlerin. Ich möchte sie aber nicht in die ganze Sache hineinziehen“, antwortet er knapp und sein Blick wird noch eine Nuance kälter. „Stopp. Keine Diskussion mehr!“

„Tom, es geht um Ihren Kopf, begreifen Sie das doch endlich. Da können Sie keine Rücksicht auf andere Menschen nehmen.“

„Das kann ich sehr wohl, wenn es um eine Frau geht“, antwortet er  – so, als würde das alles erklären.

„Haben Sie mit dieser Frau ein Verhältnis?“, frage ich ganz direkt und fühle mich plötzlich merkwürdig enttäuscht. Tom ist auch nur ein Mann wie alle anderen, ein Betrüger, ein Dieb der Herzen.

„Ist das alles, was dir dazu einfällt, Lou?“ Seine ganze Verachtung liegt in diesen Worten und seine Stimme zittert. „Muss jeder Mann neben seiner Frau auch ein Verhältnis haben? Bloß, weil das bei dir so ist?“

„Lassen Sie mein Privatleben aus dem Spiel, Tom“, sage ich beherrscht, doch am liebsten würde ich gleich losschreien: Ja, genauso ist es! Alle Männer versprechen dir den Himmel auf Erden und dann landet man in der Hölle! Aber ich habe meine Gefühle unter Kontrolle und zucke nicht einmal mit der Wimper. „Nun gut, wie heißt diese Künstlerin?“, frage ich geschäftig und betone „diese Künstlerin“ so stark, dass es sich fast wie eine Beleidigung anhört.

„Ich habe es dir doch schon gesagt, Lou, ich will nicht, dass sie in diese ganze Sache hineingezogen wird“, beharrt Tom auf seiner Weigerung. Diese Uneinsichtigkeit macht mich wütend.

„Dann kann ich Ihre Verteidigung nicht übernehmen, Tom. Dann sehe ich keine Möglichkeit, den Prozess zu gewinnen.“

„Gib mir ein paar Minuten, Lou. Ich muss nachdenken.“ Tom legt seine Hände auf die Tischplatte und schließt die Augen. Langsam sinkt sein Kopf auf seine Hände. ‚Schläft er?‘, denke ich kurz.

„Okay!“ Mehr sagt er nicht, als er nach kurzer Zeit wieder den Kopf hebt.

„Wer ist diese Künstlerin, wo wohnt sie und wo sind die Bilder, die Sie damals verladen haben?“, bemühe ich mich weiter um einen geschäftsmäßigen Ton, denn die Besprechung droht, eine bizarre Wendung zu nehmen.

„Sie heißt Betty Dee“, sagt er schließlich überraschend sanft. „Betty ist sehr empfänglich für Schwingungen. Bitte füge ihr keinen Schmerz zu.“

Als er diese Worte ausspricht, spüre ich einen Stich tief in meinem Inneren.

„Hier geht es um Sie, Tom, nicht um eine zartbesaitete Betty“, antworte ich mit einer Schärfe, die ich sonst so nicht an den Tag lege. „Betty Dee, klingt wie ein Künstlername.“

„Ist auch einer!“

„Wie heißt Betty denn mit bürgerlichem Namen?“, frage ich und komme mir vor wie bei einer altmodischen Quizshow. Jede Information muss ich Tom mühsam herauslocken.

„Sie heißt Bettina Droste. Daraus wurde dann eben Betty Dee.“

Tom nennt mir noch eine Adresse und wieder ersucht er mich, diese Betty nicht allzu sehr mit seinem Fall zu belasten.

„Warum haben Sie davon nichts der Polizei erzählt?“, frage ich, nachdem ich mir die Adresse notiert habe. „Das hätte Sie doch entlastet, wenn man das Blut auf einem der Bilder entdeckt hätte.“

„Betty will nichts mit der Polizei zu tun haben.“ Wieder sieht er mich mit seinem Polarblick durchdringend an. „Sie ist ein Genie. Man kann sie nicht mit normalen Maßstäben messen.“