Die Schwestern vom See - Dem Glück entgegen - Lilli Beck - E-Book

Die Schwestern vom See - Dem Glück entgegen E-Book

Lilli Beck

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Beschreibung

Zwei Schwestern, die familieneigene Pension und der traumschöne Bodensee – mit vereinten Kräften kann der Weg in eine goldene Zukunft gelingen!

In der Pension König stehen die Zeichen auf Veränderung: Nach der Geburt ihrer Tochter hat sich Iris ins Privatleben zurückgezogen. Und auch Rose würde nichts lieber tun, als die Leitung des Hotels abzugeben und mit ihrem frisch angetrauten Ehemann zu neuen Ufern aufzubrechen. Da trifft es sich gut, dass die Schwestern mit Lissi, der unehelichen Enkelin von Hotelgründer Max König, eine neue Teilhaberin gewonnen haben. Wer aber soll nun den dringend benötigten Job der Hausdame übernehmen? Auf eine Stellenanzeige melden sich genau zwei Bewerber. Die Wahl der Schwestern fällt auf Philip, einen Hotelfachmann. Und der nun bringt Lissis Leben gehörig aus den Fugen …

Bewegende Schicksale, große Gefühle und brisante Verwicklungen vor der Kulisse des idyllischen Bodensees!

Wenn Sie alles über die Anfänge in der Pension König erfahren wollen, lesen Sie auch die Vorgängerbände.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 404

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Buch

Auerbach am Bodensee: Über der Pension König ziehen dunkle Wolken auf. Iris, mürbe vom jahrelangen Kampf um schwarze Zahlen, hat sich nach der Geburt ihrer Tochter ins Privatleben zurückgezogen. Und auch Rose würde nichts lieber tun, als die Leitung des Hotels abzugeben und mit ihrem frisch angetrauten Ehemann zu neuen Ufern aufzubrechen.

Doch davon kann keine Rede sein, denn das Hotel steckt in der Krise: Seine Stammgäste sind wie das Haus selbst älter geworden und reisen kaum noch. Was also tun? Als Rose eine zündende Idee hat, scheint der Aufbruch ins Glück zum Greifen nah. Doch zuvor müssen noch einige Klippen umschifft werden …

Autorin

Lilli Beck wurde 1950 in Weiden/Oberpfalz geboren und lebt seit vielen Jahren in München. Nach der Schulzeit begann sie eine Ausbildung zur Großhandelskauffrau. 1968 zog sie nach München, wo sie von einer Modelagentin in der damaligen In-Disco Blow up entdeckt wurde. Das war der Beginn eines Lebens wie aus einem Hollywoodfilm. Sie arbeitete zehn Jahre lang für Zeitschriften wie »Brigitte«, »Burda-Moden« und »TWEN«. Neben »Die Schwestern vom See« hat sie bei Blanvalet mit großem Erfolg historische Romane veröffentlicht.

Weitere Informationen unter: https://lilli-beck.de/

Von Lilli Beck bereits erschienen:

Glück und Glas – Wie der Wind und das Meer – Mehr als tausend Worte – Wenn die Hoffnung erwacht – Die Farben unserer Träume

Die Bodensee-Saga von Lilli Beck:

Band 1: Die Schwestern vom See

Band 2: Die Schwestern vom See – Neue Wege

Band 3: Die Schwestern vom See – Dem Glück entgegen

LILLI BECK

Die Schwestern vom See

Dem Glück entgegen

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 2024 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © 2024 by Lilli Beck

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Arcangel Images (Evgeniia Tankova; Anke Doerschlen); www.buerosued.de

KW·Herstellung: lor/DiMo

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-28095-6V001

www.blanvalet.de

Backen ist aus Teig geformte Liebe.

Prolog

Lissi legte ihre Hand auf das zierliche Gliederarmband, das sie in Erinnerung an Großvater Max König an diesem Tag trug. Dieses goldene Armband mit dem Herzanhänger hatte sie an den Bodensee gebracht. Nun saß sie zwischen Annemarie und Herbert König, den Kindern von Max König, im Büro des Familienanwalts Bachmann.

Der Jurist öffnete die vor ihm auf dem Schreibtisch liegende schwarze Ledermappe. Mit konzentrierter Miene blätterte er die Dokumente durch, als wollte er sich der Vollständigkeit versichern. Schließlich schenkte er den Anwesenden einen freundlichen Blick, räusperte sich hinter vorgehaltener Hand und begann in nüchternem Tonfall: »Vor mir erschienen sind …«

Lissi hörte aufmerksam zu, als Bachmann alle Namen inklusive deren Geburtsdatum, Adressen und Berufen vorlas und abschließend den Anlass der Zusammenkunft verkündete.

Für diesen besonderen Tag war sie in ihren besten schwarzen Hosenanzug geschlüpft, wobei in ihrem Kleiderschrank Schwarz ohnehin vorherrschte, und hatte ihn mit weißen Sneakers aufgestylt. Schließlich war dies keine Beerdigung, sondern ein Grund zur Freude. Die Augen hatte sie wie gewöhnlich dunkel geschminkt, den Mund mit naturfarbenem Lippenstift betont, sich sogar die Fingernägel lackiert, und ihr welliges schwarzes Haar war vor wenigen Tagen frisch geschnitten worden. Seit sie vor einem Jahr im Tortenhimmel die Ausbildung zur Konditorin begonnen hatte, war der streichholzkurze Look perfekt.

Annemarie, deren Markenzeichen ein verstrubbelter grauer Haarschopf und knallrote Lippen waren, trug ein schmales blaues Kleid, im runden Ausschnitt eine Kette aus dicken silbernen Perlen und hohe Pumps. Ihre zweiundsechzig Jahre sah man ihr nicht an.

Herbert hatte seinen »Konfirmationsanzug«, wie er den dunkelgrauen Anzug gern nannte, angezogen. Dazu trug er ein blassrosa Hemd und hatte eine dunkelrote Krawatte mit grauen Tupfen umgebunden. Anscheinend fühlte er sich nicht besonders wohl darin, wie seine Versuche verrieten, den Schlips möglichst unauffällig zu lockern.

Lissis Gedanken schweiften ab. Mit knapp dreißig würde sich ihr größter Traum verwirklichen, obwohl es noch vor zwei Jahren nicht danach ausgesehen hatte.

Sie erinnerte sich noch sehr deutlich an den Tag, als ihre Mutter Charlotte erfahren hatte, dass sie das uneheliche Kind von Max König war, dem Gründer der Pension König in Auerbach am Bodensee. Als junger Konditorgeselle war er in den späten 1950er-Jahren nach Wien gegangen, um dort im Hotel Sacher die Geheimnisse der berühmten österreichischen Backkunst zu erlernen. Im Sacher war er abgewiesen worden, aber stattdessen hatte er bei Georg Haas in seinem Wiener Kaffeehaus eine Anstellung gefunden. Dort hatte er bald eine leidenschaftliche Affäre mit Georgs Frau Elfie begonnen und Charlotte mit ihr gezeugt. Und am Ende war er enttäuscht an den Bodensee zurückgekehrt, als Elfie behauptet hatte, sie sei von ihrem Ehemann schwanger, und ihren Mann nicht verlassen wollte. Eine verzweifelte Schutzbehauptung, denn damals war Ehebruch in Österreich eine Straftat, die sowohl Elfie als auch Max ins Gefängnis hätte bringen können.

Zurück in seiner Heimat am Bodensee, heiratete Max die junge Margarete, deren Mitgift ein Haus mit Fremdenzimmern und eigenem Seezugang war. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor: Annemarie und Herbert. Im Laufe der Jahre ließ Max das einfache Gästehaus in eine ansehnliche Pension mit Seeterrasse umbauen. Später entstanden das Wintergartencafé und die Konditorei Tortenhimmel. Als Max dann vor gut zwei Jahren verstarb, erbten die Kinder den Betrieb und entdeckten zufällig das Wiener Geheimnis. Charlotte, als Max’ uneheliche Tochter, war ebenfalls erbberechtigt, hatte aber nie irgendwelche Ansprüche gestellt.

»Hat jemand dazu noch Fragen?«

Die Stimme des Anwalts holte Lissi aus den Betrachtungen zu einer Familie, die jetzt auch die ihre war. Auch wenn sie als uneheliche Enkelin eine Außenseiterin war, zählte doch nur die Herzlichkeit, mit der sie aufgenommen worden war. Allen voran die der kinderlosen Tante Annemarie, die nicht Tante genannt werden wollte und die sie eines Tages fest umarmt und gesagt hatte: »Du bist die Tochter, die ich mir immer gewünscht habe.«

Auch Iris und Rose, die Töchter von Herbert und seiner aus Frankreich stammenden Frau Florence, hatten ihr das Einleben leicht gemacht.

Bis vor wenigen Wochen hatte der Plan noch so ausgesehen, dass Rose und Iris den Betrieb samt Konditorei in dritter Generation weiterführen sollten. Doch im Leben läuft nicht immer alles wie geplant, und Pläne ändern sich.

Iris, die das Hotelfach erlernt hatte, war von ihrem ersten Mann geschieden, inzwischen mit dem Journalisten Fritz verheiratet, zweifache Mutter und wünschte sich noch mehr Kinder. Mindestens vier, hatte sie gesagt und dabei so glücklich ausgesehen, dass niemand bezweifelte, wie sehr die Mutterrolle sie erfüllte.

Rose war als Geschäftsführerin für den reibungslosen Ablauf der Pension und für alles verantwortlich, was sonst noch damit zusammenhing. Doch auch sie war mittlerweile verheiratet und hatte leise angedeutet, irgendwann mit ihrem Mann Nico in seiner Heimat England leben zu wollen.

Herbert hatte sich mächtig aufgeregt. »Und wie soll es mit dem Betrieb weitergehen, wenn meine Töchter sich einbilden, andere Ziele verfolgen zu müssen? Vielleicht sollen wir Max Königs Lebenswerk an den Meistbietenden verscherbeln?« So abwegig war Herberts Vorwurf nicht. Bereits im Jahr zuvor, als der Betrieb eine finanzielle Durststrecke erlebt hatte, war über einen Verkauf gesprochen worden. Doch darüber auch nur nachzudenken, war für die Familie ähnlich beunruhigend wie ein ehrgeiziger Lebensmittelkontrolleur vom Gesundheitsamt, der letztes Jahr unbedingt etwas finden wollte, weil ihm die vorherrschende klinische Sauberkeit suspekt war.

Bis zum heutigen Tage war es nicht ausgeschlossen gewesen, dass Lissis erhoffter Neustart durch den Verkauf der Pension König oder irgendeinen Schicksalsschlag in eine vollkommen andere Richtung gelenkt wurde. Womöglich sogar wieder zurück in ihre Heimatstadt Wien, wo sie als studierte Ökotrophologin bei einem Süßwarenkonzern gearbeitet hatte. Denn die Familie, zu der Lissi nun gehörte, war in den letzten beiden Jahren hart geprüft worden. Sie hatte den Tod von Gründer Max König verkraften müssen, mit dem sie auch einen genialen Konditormeister verloren hatten. Viola, die jüngste Tochter von Herbert und Florence, die als preisgekrönte Konditormeisterin die Nachfolge von Max König angetreten hatte, war bei der Geburt ihres Babys Jasmin gestorben. Das Kind war mittels Verwandtenadoption Iris zugesprochen worden. Und Roses Liebesglück hatte sich durch einen schweren Unfall tragisch gewandelt.

Um Max Königs Lebenswerk zu sichern, war Lissi auf die Idee gekommen, eigene Finanzmittel zu investieren. Denn arm war sie ja weiß Gott nicht: Georg Haas, in dessen Kaffeehaus Max König zwei Jahre lang gebacken und die Ehefrau des Chefs verführt hatte, war als reicher Mann gestorben. Sein Vermögen hatte er Charlotte und Lissi hinterlassen, ohne je erfahren zu haben, dass Charlotte nicht seine leibliche Tochter und Lissi nicht seine leibliche Enkelin war. Charlotte hatte es erst nach dem Tod ihrer Mutter Elfie aus deren Tagebuch erfahren und später durch Anwalt Bachmann die Bestätigung erhalten.

»Kommen wir nun zu den Unterschriften!« Bachmann schob jedem ein Exemplar des siebenseitigen Dokuments über den Tisch, dessen Inhalt er in der letzten halben Stunde vorgelesen hatte. »Bitte auf dem letzten Blatt …« Er holte drei identisch aussehende leuchtend gelbe Kugelschreiber aus der Schreibtischlade und schob sie ihnen zu.

Lissi war direkt feierlich zumute, als sie einen der Stifte in die Hand nahm. Sie hatte schon öfter Verträge unterschrieben – den Mietvertrag ihrer ersten eigenen Wohnung, den Anstellungsvertrag bei der österreichischen Süßwarenfirma oder den Kaufvertrag für ein Auto. Aber dieses Abkommen war etwas ganz Besonderes. Sie investierte einen ansehnlichen Betrag in ihre Zukunft. Und das war es wert, sich vor der Unterschrift einen Atemzug lang zu besinnen. Noch konnte sie den Deal platzen lassen, mit ihrem Geld eine hübsche Wohnung kaufen oder eine Weltreise unternehmen und spannende Abenteuer erleben. Aber das wäre eine andere Zukunft, in der ihr Traum nicht vorkäme.

Sie schaute zu Annemarie. Als die ihr zuzwinkerte und Herbert sie anlächelte, schrieb sie ohne Zögern Lissi Strasser auf die gestrichelte Zeile.

Sie war Mitinhaberin!

Wie auf der Hinfahrt zur Kanzlei Bachmann nach Konstanz lenkte Lissi den firmeneigenen Viertürer auch auf der Rückfahrt nach Auerbach. Annemarie besaß keinen Führerschein, und Herbert düste nach einem leichten Herzinfarkt vor zwei Jahren nur noch mit dem Rasenmähertraktor über die Grünflächen des weitläufigen Gartens.

Es war still im Wagen, die Aufmerksamkeit für den monoton vorgetragenen und ungewohnten juristischen Text war anstrengend gewesen. Lissi konzentrierte sich auf den Verkehr, Annemarie lehnte an der Kopfstütze, und Herbert schaute auf den Bodensee.

Die Strecke von Konstanz nach Auerbach führte dicht am Ufer vorbei. Die Aprilsonne stand um sechs Uhr abends schon ziemlich tief am intensiv blauen Horizont. Durch das einen Spaltbreit geöffnete Fenster wehte kaum Fahrtwind in den Wagen. Die dunkelblaue Wasseroberfläche schimmerte im späten Sonnenlicht, und die Schönwetterwolken vom Mittag hatten sich aufgelöst.

»Was für ein wunderschöner Frühlingstag«, sagte Lissi, die sich auf angenehme Weise entspannt fühlte und diesen Zustand sehr genoss.

»Bald wird es heiß werden«, sagte Herbert.

Annemarie drehte sich um. »Hast du umgeschult auf Wetterfrosch?«

»Klimawandel«, antwortete Herbert gelassen.

»Das glaube ich erst, wenn der Bodensee austrocknet«, entgegnete Annemarie, immer zu einem Scherz aufgelegt.

»Glaub doch, was du magst. Ich glaube, dass wir zur Feier des Tages gleich ein Fläschchen öffnen werden.«

»Unbedingt!«, stimmte Annemarie zu und lächelte ihren jüngeren Bruder über ihre Schulter an.

Lissi musste schmunzeln. Sie hatte sich längst an die kleinen Sticheleien zwischen den Geschwistern gewöhnt. Sie und alle Mitglieder der Familie wussten, dass es vollkommen normale und liebevolle Kabbeleien waren.

Wenig später fuhr sie auf den Parkplatz vor der Pension.

»Dann sehen wir uns zur Feier. Ich möchte bei den Vorbereitungen helfen«, verkündete Annemarie, noch ehe Lissi den Motor abgestellt hatte.

»Und ich begebe mich sofort in den Keller, um für diesen besonderen Tag ein gutes Tröpfchen auszusuchen.«

Lissi stieg aus, schloss den Wagen ab und blieb stehen. Sie war jetzt tatsächlich Miteigentümerin und wollte den Anblick der Pension König noch einen Moment auf sich wirken lassen.

Als sie vor zwei Jahren zum ersten Mal mit ihrer Mutter vor dem Pensionsgebäude gestanden hatte, war sie sofort verliebt gewesen in dieses romantisch anmutende dreigeschossige Anwesen. In den sonnengelben Anstrich. Die weißen Sprossenfenster mit den weißen Holzläden und den Fenstergauben, die wie kleine Nasen aus dem roten Ziegeldach herausragten. Links vom Hauptgebäude befand sich das Wintergartencafé, von dem aus die Gäste auf den Bodensee blicken konnten. Davor lag die angrenzende Terrasse, die auch im Winter an warmen Tagen gut besucht war. Im Sommer saß man dort beschattet von gelben Sonnenschirmen oder unter flach ausladenden Dachplatanen. Und schließlich der niedrige Seitenflügel, in dem der Tortenhimmel untergebracht war. An diesem Ort, wo himmlisch-köstliche Torten und Gebäckstücke erschaffen wurden, durfte sie unter Aufsicht des nach Violas Tod eingestellten Konditormeisters Müller die Konditorenkunst erlernen: ein Handwerk, das ihr im Blut lag, schließlich waren beide Großväter, Max König und Georg Haas, Meister dieser Zunft gewesen.

Während sie langsam auf den Rundbogeneingang mit den goldenen Lettern Pension König zuging, hoffte sie, hier für den Rest ihres Lebens glücklich sein zu dürfen.

Lissi legte ihr Telefon zu Seite. Sie hatte ihren in der Wachau lebenden Eltern von dem Termin beim Anwalt berichtet, der letzte Woche stattgefunden hatte. Ihr war wohl deutlich anzuhören gewesen, wie aufgeregt sie immer noch war. Obwohl es sich sieben Tage später schon viel normaler anfühlte, ein Teil der Familie König zu sein. Die Konditorentradition fortzusetzen. Nach Großvater Max König, Herbert König und Viola König die vierte Konditorin in der Familie zu werden.

Bis zur Gesellenprüfung Ende Juni würden aber noch viele Wochen vergehen, und sie hatte genügend Zeit, in einem Backbuch zu blättern: ihre zweitliebste Beschäftigung nach dem Backen. Sie hatte es sich mit einigen Kissen auf dem Rattanbett bequem gemacht. Das breite Bett und die restliche Einrichtung hatte sie von Iris übernommen, nachdem diese zu Fritz in dessen Wohnung gezogen war. Vorher hatte Lissi in einem der Pensionszimmer mit Duschbad gewohnt. Ein sehr hübscher Raum mit Blick auf den Bodensee und vollkommen ausreichend für eine Person. Dieses Zimmer unterm Dach war doppelt so groß und einfach nur wunderschön. Die Einrichtung im Boho-Stil stammte noch von der verstobenen Viola. »Du kannst es natürlich neu möblieren, wenn dir die Sachen nicht gefallen«, hatte Iris gesagt. Aber Lissi gefielen die grüne Samtcouch, der helle Kelim-Teppich mit dem floralen Muster und die beiden Korbsessel, in denen bunte Kissen lagen. Sie hatte nur den niedrigen Holztisch gegen einen runden Glastisch getauscht, zwei hellere Nachttischlampen und einen Minikühlschrank für Getränke angeschafft. Sie fühlte sich sehr wohl in diesem Zimmer mit der Dachschräge; schließlich war sie ja Violas Nachfolgerin, wie Annemarie es einmal formuliert hatte. »Ohne dich wäre die Konditorei vielleicht eines Tages in fremde Hände gefallen. Wir sind alle sehr glücklich, dass du aufgetaucht bist und noch dazu Konditorin werden willst. So bleibt der Tortenhimmel in der Familie.«

Annemarie, unverheiratet und kinderlos, ging Familie über alles. Auch für Lissi war sie wichtig, und sie schätzte sich überglücklich, seit dem Notartermin ganz offiziell zwei Familien zu haben. Das Backbuch in ihren Händen war auch nicht irgendein beliebiges, sondern das berühmte rote Rezeptbuch von Opa Georg. Es war ihr wertvollster Besitz, und sie erinnerte sich, was er einmal zu ihr gesagt hatte: »Hier drin sind alle von mir entwickelten Rezepte notiert. Es stellt mein gesamtes Vermögen dar; ohne dieses Buch wäre ich ein armer Mann.« Damals war sie fünf oder sechs Jahre alt gewesen, hatte aber gleich verstanden, was er damit ausdrücken wollte. Einige der klassischen Rezepte wie die Sachertorte hatte er natürlich oft genug gebacken, dass er nicht mehr ins Buch schauen musste. Für andere hatte er die exakten Zutatenmengen nicht im Kopf, und bei Kuchen und Torten war es unerlässlich, alles ganz genau abzuwiegen. Ein paar Gramm oder ein Deka, wie in Österreich gemessen wurde, zu viel oder zu wenig, und der Teig war ruiniert. Dann fiel der Biskuit zusammen, oder der Hefeteig »blieb hocken«, wie Opa Georg es genannt hatte, wenn der Teig nicht aufging. Sie sah sich noch neben ihm in der Backstube stehen und zusehen, wie er Eier gewissenhaft trennte. Eiweiß mit dem Schneebesen aufschlug. Schokolade über Wasserdampf schmolz oder Schokoladenguss über Torten fließen ließ. Mit ungefähr acht Jahren, als sie gut lesen konnte, durfte sie ihm die Zutaten vorlesen und bald auch beim Abwiegen helfen. In dieser Zeit war ihr Wunsch erwacht, Konditorin zu werden. Wie ihr Großvater wollte sie den köstlichen Duft von frisch gebackenem Kuchen einatmen, Rührschüsseln ausschlecken, Kuchenkrümel naschen und eines Tages die Zutaten zu ihrer ersten eigenen Torte in dieses rote Buch schreiben.

Noch hatte sie kein eigenes Rezept entwickelt, aber bereits eine Idee, die sie demnächst ausprobieren wollte. Wenn das Ergebnis so aussah und schmeckte, wie sie es sich vorstellte, würde sie hoffentlich Meister Müller damit begeistern können. Vielleicht würde er dann das neue Gebäck ins Sortiment aufnehmen: das höchste Lob, das sie sich vorstellen konnte. Der Meister war extrem wählerisch, was das Angebot im Tortenhimmel betraf. Alles, was in der Vitrine stand, war ungemein köstlich, und vieles war weit über Auerbach hinaus bekannt. Modernere Kreationen wären ihrer Meinung nach kein Nachteil. Gerne auch eine Neuschaffung, die ihren Namen trug, immerhin war sie nun Miteigentümerin und hatte somit ein Recht darauf erworben. In der Familie König gab es nämlich die Tradition, für jedes Kind zur Geburt ein neues Gebäck zu entwickeln, das den Namen des neuen Erdenbürgers erhielt. Als Tante Annemarie geboren wurde, hatte Großvater Max die Anatorte gebacken: eine Kuppeltorte mit Ananas-Buttercreme-Füllung und Schokoladenguss. Sie wurde noch heute angeboten und war sehr beliebt bei der älteren Kundschaft. Für Onkel Herbert hatte Max sich den Schokoberg ausgedacht, eine üppige Kalorienbombe aus Biskuitteig und Schokoladenbuttercreme auf einem Knusperboden. Als Herbert Vater wurde, führte er die Tradition fort. Er kreierte pastellbunte Petit Fours für seine Töchter und verzierte sie mit kandierten Blüten; eine Kunst, die er in Paris erlernt hatte. Für Baby Jasmin, deren Vater unbekannt war, hatte Herbert zarte Mandel-Macarons, gefüllt mit Schokoladen-Ganache, gebacken. Und Lissi als das uneheliche Enkelkind musste sich eben selbst darum kümmern, dass bald eine Lissi-Torte in der Vitrine stand.

Aber heute war keine Zeit, um sich ein neues Rezept auszudenken.

Morgen sollte ihre Teilhaberschaft offiziell gefeiert werden. Annemarie hatte gemeint, das wäre der geeignete Anlass für ein festliches Abendessen. Herbert, der jede Gelegenheit nutzte, um eine Flasche Wein zu öffnen, hatte seiner Schwester sofort zugestimmt. Für diesen Anlass war die Sachertorte der perfekte Nachtisch. Hergestellt nach Opa Georgs Rezept, der die Torte auch in seinem Kaffeehaus angeboten hatte. In Wien und in ganz Österreich existierten von der berühmten Spezialität vermutlich mehr Rezeptvarianten als von jeder anderen landestypischen Mehlspeise. Doch die Rezeptur in dem roten Büchlein unterschied sich erheblich von den üblichen, denn sie kam mit deutlich weniger Mehl aus. Stattdessen wurde der Teig mit blanchierten und gemahlenen Mandeln angerührt, weshalb sie länger frisch blieb, weitaus saftiger war und eigentlich erst am zweiten Tag ihr volles Aroma entfaltete.

Als Lissi am späten Abend das Wohnzimmer betrat, war sie wie erwartet allein. Die Familie hatte nach dem Essen noch bei Kräutertee und Apfelschorle zusammengesessen, hatte wie üblich die Ereignisse des Tages besprochen, Termine abgeglichen und sich gegen zehn in die jeweiligen Privatzimmer unterm Dach zurückgezogen. So konnte sie nun ungestört in der vorbildlich aufgeräumten Küche werkeln.

Während sie Mandeln, Mehl und Zucker aus dem Vorratsschrank holte und auf der Arbeitsplatte abstellte, kam ihr plötzlich eine geniale Idee. Anstatt einer normal großen runden Torte wollte sie Törtchen backen. Die sahen nicht nur auf den Tellern hübscher aus als einzelne Stücke, es war auch wesentlich mehr von dem köstlichen Schokozuckerguss dran, der ähnlich wie Fondant schmeckte. Und nur mit diesem zuckrigen Guss war es eine original Sachertorte.

Zur Vorbereitung zog sie das Blech aus dem Backrohr, belegte es mit Backpapier und schaltete das Rohr auf Mittelhitze ein. Beim Trennen der sechs Eier musste sie an Opa Georg denken, der es mit einer Hand beherrscht hatte. Sie hatte es oft versucht, doch meist waren ihr dabei kleine Stücke von der Eierschale ins Eiklar geraten, die sie dann mühsam hatte herausfischen müssen. Auch Alex, der Geselle, beherrschte die Einhandkunst. Meister Müller vermutlich auch, obwohl er das Eieraufschlagen Alex oder ihr überließ. Sie blieb bei der klassischen Methode mit zwei Händen, ließ das Eiklar direkt in die Rührschüssel der Küchenmaschine laufen und schaltete dann das Rührwerk ein. Bis aus der flüssigen Masse steifer Eischnee wurde, blieb Zeit, die Butter abzuwiegen, die sie schon vor dem Abendessen aus dem Kühlschrank genommen hatte. Die zimmerwarme Butter kam zusammen mit dem Zucker in eine zweite Schüssel. In der Backstube der Konditorei standen zwei große professionelle Teigmaschinen bereit, in der pro Rühr- oder Knetzyklus bis zu 45 Kilo Teig hergestellt werden konnten. Aber für kleine Mengen waren sie ungeeignet. Großvater Haas war prinzipiell gegen Maschinen in der Backstube gewesen, er hatte Schaummassen stets mit der Hand aufgeschlagen. Nur dann wurden sie angeblich perfekt. Aber wer schon einmal auf diese altmodische Weise gearbeitet hatte, was locker fünfzehn Minuten dauerte und zu einem Krampf in der Hand führen konnte, der wusste die moderne Technik durchaus zu schätzen. Dennoch dauerte es auch mit dem elektrischen Rührwerk einige Minuten, bis die Butter-Zucker-Masse lange Spitzen zog. Dann war sie locker genug, um nach und nach die Eigelbe in die schaumige Masse zu geben. Das Ganze wurde nochmals gut zehn Minuten gerührt, ehe die geschmolzene Schokolade, die restlichen Zutaten und ganz zum Schluss der Eischnee nach und nach vorsichtig untergehoben wurden.

Mit routinierten Handgriffen und einem Teigschaber beförderte Lissi den Teig aus der Schüssel auf das Backblech. Er glänzte samtig, duftete nach Butter und Schokolade. Nun noch mit der Palette glätten und in das vorgeheizte Rohr befördern!

Bald zog ein himmlischer Duft durch die Küche. Dieser Wohlgeruch war Lissis Lebenselixier. Eingehüllt in dieses Aroma, fühlte sich zurückversetzt in ihre Kindheit, in der sie unzählige Stunden bei Opa Georg in der Backstube verbracht hatte. In seiner Obhut hatte ihr nichts geschehen können, außer dass sie sich vielleicht an einem heißen Backblech die Finger verbrennen konnte, wenn sie nicht aufpasste. Doch das war nie passiert, darauf hatte der Opa stets geachtet.

Die zwanzigminütige Backzeit nutzte sie, um die Zutaten für den Guss abzuwiegen, die Marillenmarmelade für die Füllung zu erwärmen und auch ein passendes Weinglas zu suchen, das sich zum Ausstechen der runden Stücke für die Törtchen eignete.

Die antike Standuhr im Salon, die noch von Max König stammte, schlug halb zwei, als Lissi mit einem Tablett voller ansehnlicher Sachertörtchen in die Backstube marschierte. Der Konditormeister hatte ihr den Schlüssel überlassen, damit sie das fertige Backwerk in den großen Kühlschrank stellen konnte. Er würde Augen machen, wenn er sah, was sie gezaubert hatte.

Zwei Uhr und zehn Minuten zeigte ihr Handy an, als sie es auf dem Nachttisch ablegte, sich zufrieden in die Kissen fallen ließ und sofort einschlief.

Annemarie schlüpfte in graue Jogginghosen, wählte dazu ein schlichtes rotes Shirt und grüne Sneakers. In dieser für sie ungewöhnlich simplen Aufmachung assistierte sie wenig später Herrn Otto, dem langjährigen Oberkellner des Wintergartencafés, beim Zusammenstellen der Vierertische. Weiße Tischtücher, bequeme Kaffeehausstühle mit Armlehnen – und fertig war die Tafel, an der heute Abend Lissis neue Position groß gefeiert werden sollte.

Zufrieden begutachtete sie die lange Tafel, an der die kleine Gesellschaft ausreichend Platz finden würde. Spätes Abendlicht malte sonnengelbe Streifen auf den weißen Damast, durch die bodentiefen Fenster glitzerte der tiefblaue Bodensee, die Fenster waren geöffnet, und frische Luft flutete den weitläufigen Raum. Der Aufenthalt im Café hatte zu jeder Jahreszeit eine beruhigende Wirkung auf alle, die hier verweilten. Auch sie saß in der Mittagspause so oft wie möglich an einem der Tische am Fenster, genoss eine halbe Stunde Nichtstun und eines der berühmten Sandwiches von Frau Waltraud, der Küchenchefin des Cafés.

Familienfeiern und Mahlzeiten fanden gewöhnlich im Salon statt: ein großes Wohnzimmer im Erdgeschoss mit Kamin, einem Esstisch aus massivem Holz, Sitzgruppe, Fernseher und einer angrenzenden Küche, in der Florence manchmal köstliche französische Gericht zubereitete. Hier wurden auch Kaffee und Tee getrunken, Geburtstage, Jubiläen, Ostern und Weihnachten gefeiert. Aber Lissis finanzieller Einstieg in den Betrieb bot Gelegenheit, alle Mitarbeiter wieder einmal einzuladen: ein längst überfälliges Zeichen der Wertschätzung. Und für sechzehn Personen hätte der Platz im Familiensalon nicht ausgereicht. Deshalb war das Wintergartencafé, in dem die Pensionsgäste frühstückten und auch externe Gäste bewirtet wurden, heute schon um sieben statt wie sonst um acht geschlossen worden.

Annemarie liebte Feiern jeglicher Art. Zu Lebzeiten ihres Vaters Max König hatten sie jedes Jahr am ersten Advent eine Weihnachtsparty für alle Mitarbeiter veranstaltet. Nach Max’ Tod und den darauf folgenden schwierigen Monaten während der Pandemie hatten sie den Betrieb komplett schließen müssen. Und auch private Feste waren nicht erlaubt. Zum Glück waren diese Maßnahmen Geschichte, dachte Annemarie und beschloss, die Adventstradition bald wieder aufleben zu lassen.

»Dieses Jahr wird unsere Adventsfeier wieder stattfinden«, sagte sie zu Herrn Otto, während sie auf großen Tabletts das Goldrand-Service aus dem Salon in den Wintergarten schleppten.

Herr Otto stellte noch zwei dreiarmige Kerzenleuchter auf den Tisch und bestückte sie mit rosaroten Kerzen. »Oh, das würde mich freuen, es waren immer so nette Abende.«

Annemarie nickte zustimmend. Nicht nur dass es schön war, zusammenzusitzen und einmal nicht nur über Geschäfte zu reden, solche Abende waren auch wichtig, um die Belegschaft ans Haus zu binden. Ohne Personal wäre ein Betrieb wie die Pension König nicht lebensfähig. Die Familie wäre nicht in der Lage, allein die zwanzig Pensionszimmer zu reinigen, den Service im Wintergarten und den Verkauf im Tortenhimmel zu bewältigen. Bislang hatte Rose, die für Personalfragen verantwortlich war, jede offene Stelle problemlos neu besetzen können, was in Zeiten von Personalmangel – gerade im Gastgewerbe – ein kleines Wunder war. Momentan waren sie sozusagen komplett, obwohl … Annemarie erinnerte sich, dass Horst, der »Allrounder«, neulich etwas angedeutet hatte, was sie geflissentlich überhört hatte. Horst war zuständig für Ausfahrten, diverse Notfälle, kleine Reparaturen oder die Abholung besonderer Gäste vom Bahnhof in Konstanz. Seit Herberts leichtem Herzinfarkt übernahm Horst bis auf das Rasenmähen auch alle Gartenarbeiten. Ohne ihn würde ein wichtiges Glied in der Kette fehlen. Bloß nicht dran denken, ermahnte sie sich und widmete sich voller Hingabe dem Falten von sechzehn blütenweißen Damastservietten.

Die Speisen für das festliche Abendessen hatte Annemarie in Absprache mit der Familie bei der Cateringfirma bestellt, die auch für Frau Trautmann, die Inhaberin der Eventagentur Trau Dich, arbeitete.

Florence hatte zuerst protestiert, sie sei durchaus in der Lage, für mehr als vier oder fünf Personen zu kochen. Herbert war es dann gelungen, seine Frau davon zu überzeugen, dass sie mit dem Job der Hausdame, den sie von Iris übernommen hatte, reichlich ausgelastet wäre. Iris befand sich nach der Geburt des kleinen Maximilian (benannt nach Großvater Max) noch in Elternzeit, und solange war Florence für diese Aufgabe verantwortlich.

Die Menüfolge für das große Essen hatten sie und Lissi nach Fotos auf der Caterer-Homepage ausgesucht: Rote-Bete-Crêpe-Röllchen mit Ziegenfrischkäse-Dattel-Füllung auf Rucolasalat mit Balsamicodressing als Vorspeise. Zum Hauptgang wurden Bodenseefelchen in Kräuterbutter mit Kartoffeltürmchen serviert, ein Klassiker am Bodensee. Die Sachertorte, die Lissi zum Dessert versprochen hatte, würde diese Feier adeln.

Kate und Konrad, das Caterer-Ehepaar, erschienen wie vereinbart eine Stunde vor Partybeginn. Die beiden Spitzenköche hatten jahrelang in Sternerestaurants gekocht und sich danach in die Selbstständigkeit gewagt. Ihr Food-Truck, ein zur Küche umgebauter orangefarbener Bus, war eine fahrende Sensation. Und das Essen war mindestens so spektakulär wie der Bus, das bezeugten Fotos und zahlreiche Kundenbewertungen auf der Homepage.

Nach den Vorbereitungen begab sich Annemarie in ihr Badezimmer, um sich für den Abend zurechtzumachen. Sie lebte in einem Zimmer mit eigenem Bad unterm Dach, wie die anderen Familienmitglieder. Ihr Refugium hatten früher Max und Margaret, ihre Eltern, bewohnt. Bis zu Max’ Tod war es allen streng verboten gewesen, den Raum zu betreten. Nur ihr hatte Max erlaubt, die Bettwäsche zu wechseln, sauber zu machen oder sich um die Wäsche zu kümmern. Als der Raum nach seinem Tod dann ausgeräumt wurde, hatten sie unter der Matratze etwas gefunden, was sein eigenwilliges Verhalten erklärte: eine Zigarrenkiste, darin die Fotografie von drei Frauen nebst einem unbeendeten Brief, der mit folgenden Worten begann: Meine liebe Charlotte, liebes Kind …

Annemarie erinnerte sich noch gut an die Verblüffung der ganzen Familie. Niemand war je auf die Idee gekommen, dass Max ein Geheimnis hütete, dass er ein uneheliches Kind hatte. Die volle Wahrheit kam erst Monate später ans Licht, als Charlotte und Lissi unerwartet auftauchten. Auch dass er gar nicht im Sacher beschäftigt gewesen war, wie er zeitlebens behauptet hatte, sondern als Konditorgeselle in Georg Haas’ Kaffeehaus, stellte sich erst jetzt heraus. Und dass er ein Verhältnis mit Elfie Haas gehabt hatte, aus dem seine Tochter Charlotte hervorgegangen war. Heute Abend würde also seine Enkelin Lissi eine Sachertorte kredenzen, deren Rezept aus dem roten Rezeptbuch von Großvater Georg Haas stammte. Wie zur Erinnerung an Lissis beider Großväter, die auf diese Weise indirekt auch mit am Tisch saßen.

Seltsam, was das Leben für Haken schlägt, dachte Annemarie und wusste plötzlich, mit welchen Worten sie ihre kurze Ansprache beginnen würde. Eine solche Feier verlangte schließlich nach einer Rede!

Um zehn vor acht marschierte sie mit beschwingten Schritten über die Holztreppe zwei Etagen nach unten ins Erdgeschoss. Sie hatte ein rotes Kleid mit Tulpenrock und weiße Sneakers mit grünen Schnürbändern angezogen. In farbenfroher Kleidung und flachen Schuhen fühlte sie sich am wohlsten. In ihrem Schrank fanden sich zwar auch ein, zwei dunkle Teile für Ämter, Anwälte oder Beerdigungen. Manchmal war es halt angebracht, nicht wie Pippi Langstrumpf im Ruhestand aufzutreten. Ihre Grundstimmung war aber fröhlich, positiv, lebensbejahend, und in einem bunten Outfit fühlte sie sich auch um Jahre jünger. Oder wie Berthold Müller, ihr Konditormeister, es ausgedrückt hatte, nachdem sie einander nähergekommen waren: »Das Alter ist nur eine Zahl, und auf niemand trifft das mehr zu als auf dich.« Berthold war nicht nur ein genialer Konditormeister, sondern auch ein zärtlicher Liebhaber, der es nebenbei verstand, zauberhafte Komplimente zu machen.

Annemarie war die Erste im Wintergarten. Die Fenster waren geöffnet, ein frischer Abendwind wehte in den Raum. Das fröhliche Gezwitscher von Vögeln in Frühlingsstimmung war zu hören. Auf dem See fuhren die Linienschiffe unter einem rosa-blauen Himmel. Eine fast kitschig anmutende Postkartenstimmung, die sie in der Tageshektik viel zu selten beachtete, breitete sich aus. Doch heute realisierte sie sehr deutlich, wie glücklich sie sein musste, hier zu leben.

Ihr blieben noch einige Minuten, um sich ein paar knackige Sätze einzuprägen, ehe die Gäste eintrudelten.

Zuerst Lissi, die den schwarzen Hosenanzug gegen ein schwarzes, ärmelloses Sommerkleid mit Plisseerock getauscht hatte. Irgendwann würde sie es vielleicht schaffen, das Mädchen für ein farbiges Outfit zu begeistern, in dem sie nicht wie ein Grufti mit Freude an Okkultismus aussah.

Danach betraten Rose und ihr Ehemann Nico den Wintergarten. Händchen haltend! Die beiden waren seit über einem Jahr verheiratet, immer noch verliebt wie am ersten Tag und in ihren Augen das glücklichste Paar der Welt. Trotz des schwierigen Beginns: Während des Polterabends hatte Rose erfahren, dass Nico der Sohn des Immobilienkonzerns war, für den er die Pension ausspioniert hatte, um sie aufzukaufen. Rose war fassungslos, als die Wahrheit ans Licht kam, hatte ihm den Verlobungsring vor die Füße geworfen und war weggerannt, ohne Nicos Erklärung anzuhören. Vollkommen aufgewühlt war er daraufhin in seinen Oldtimer gestiegen und hatte bei regennasser Straße einen schweren Unfall gebaut. Wochenlanges künstliches Koma war die Folge gewesen. In dieser schweren Zeit war Rose erst so richtig bewusst geworden, wie sehr sie Nico liebte.

Dieses junge Ehepaar war die Bestätigung, dass es die große Liebe tatsächlich gab. Die auch eine Frau mit über sechzig Jahren noch erleben konnte, wie sie selbst wusste, seit sie Berthold gefunden hatte.

Marcella und Antonella, die blonden italienischen Zimmermädchen, erschienen gemeinsam, beide in wadenlangen dunkelgrünen Halterneck-Kleidern mit weißen Blumen auf weit schwingenden Röcken.

Horst, ganz ungewohnt in einem hellen Sommeranzug, fragte, ob er noch etwas helfen könne.

»Danke, Horst. Heute bist du nur Gast, genießt die Aperitifs.« Annemarie wies mit einer Kopfbewegung zu Kate und Konrad, die Prosecco, Aperol Spritz oder Mineralwasser mit Limettenschnitz anboten.

Paula, die zuverlässige Kraft hinter dem Verkaufstresen im Tortenhimmel, heute mal ohne Schürze und in einem hellgrauen zweiteiligen Sommerkleid, betrat kurz nach Horst den Wintergarten. Ihr folgten Alex, der Konditorgeselle, und gleich darauf Berthold, den Annemarie schon sehnlichst erwartete.

»Wie ging es in der Backstube?«, erkundigte sich Annemarie, als Berthold sie mit Wangenküsschen begrüßte. Sie wusste, dass er Lissis Torte begutachtet hatte, die vielleicht ins Sortiment übernommen werden sollte. Aber das würden sie gemeinsam nach der Verkostung entscheiden.

»Lissi macht das echt prima. Und ich bin sehr gespannt, wie das Gebäck schmeckt, auch wenn das Aussehen nicht der Norm entspricht.«

»Nicht der Norm, wie soll ich das verstehen?« Annemarie schaute Berthold lauernd an. Lissi hatte sich doch bislang in der Backstube bewährt, und die Gesellenprüfung würde sie bestimmt mit Bravour bestehen! Hoffentlich bahnte sich da keine Katastrophe an, davon hatten sie in den letzten Wochen und Monaten mehr als genug gehabt.

»Lass dich einfach überraschen«, antwortete Berthold mit verschmitztem Lächeln.

Herbert kam Arm in Arm mit seiner Frau. Florence trug ein auberginefarbenes Seidenkleid und hatte das dunkle, wellige Haar zu einem Nackenknoten aufgesteckt, wodurch ihre goldenen Ohrringe vorteilhaft zur Geltung kamen. Dass sie zweifache Großmutter war, sah man ihr nicht an. Herbert, wieder einmal im »Konfirmationsanzug«, aber ohne Schlips und Brille, ging neben ihr. Die Brille benötigte er nur noch zum Lesen, seit der Graue Star mittels Laser-OP entfernt und neue Linsen eingesetzt worden waren.

»Jetzt bin ich doch ganz froh, das Kochen nicht übernommen zu ’aben«, sagte Florence, deren Deutsch fehlerfrei war, bis auf den kleinen Makel mit dem h. Sehr zu Herberts Freude, der es liebte, wie sie seinen Namen aussprach.

Frau Waltraud im wadenlangen flaschengrünen Seidenkleid statt in weißer Kittelschürze zu sehen, war im ersten Moment sehr ungewohnt, gefiel Annemarie aber umso mehr. Ebenso wie der Anblick von Herrn Otto ohne Oberkellneruniform. Stattdessen trug er einen dunkelgrauen Anzug mit hellblauem Hemd.

Endlich tauchte auch Iris mit Ehemann Fritz und dem kleinen Maximilian auf. Das Baby hatte sie im Tragetuch bei sich. Iris stillte noch und hatte angekündigt, dass sie vielleicht nur eine Stunde bleiben konnte.

Nachdem jeder mit einem Aperitif versorgt war, forderte Annemarie alle auf, Platz zu nehmen. Sie wollte ihre kurze Ansprache noch vor dem ersten Gang loswerden, und mit Kate und Konrad war vereinbart, dass der um zwanzig nach acht servieren sollte. Es war also höchste Zeit, damit auch Iris in den Genuss des ganzen Menüs kam.

Als alle suchend um den Tisch liefen, merkte Annemarie, dass sie etwas vergessen hatte: die Namenskärtchen! Ach was, Kleinigkeit. Sie breitete die Arme aus und verkündete: »Heute ist freie Platzwahl.«

Herbert hatte mittlerweile drei Flaschen Weißwein in Kühlern auf der Tafel verteilt, und Kate und Konrad füllten die Gläser bis auf das von Iris, die natürlich auf Alkohol verzichtete.

Annemarie hatte sich am Tischende positioniert, atmete kurz ein und begann: »Mit dem heutigen Tag hat sich der Kreis geschlossen.« Sie legte eine winzige Pause ein und lächelte in die Runde. »Inzwischen wissen ja alle, dass Lissi finanziell in die Firma eingestiegen und per Vertrag ganz offiziell zur Miteigentümerin geworden ist. Max König, der Vater von Herbert und mir und Lissis Großvater, hätte sich ganz bestimmt gefreut über diese glückliche Fügung. Ich für meinen Teil tue es jedenfalls sehr, und ich freue mich auf viele gemeinsame glückliche Jahre …«

»Sehr schön, sehr schön, wunderbare Rede«, unterbrach Herbert sie voller Ungeduld. »Wir freuen uns alle, deshalb würde ich vorschlagen, wir stoßen darauf an.« Er hob sein Glas. »Auf das neue Mitglied der Familie. Und auf Max König, wo auch immer er jetzt ist.«

Annemarie lachte über die Ungeduld ihres Bruders und griff nach ihrem Glas. »Auf Lissi und Max! Ohne seinen ›Fehltritt‹ hätten wir Lissi nie kennengelernt.«

»Auf Lissi und Max!«, stimmte die Familie in den Toast ein.

Lissi fühlte, wie ihr bei Annemaries Worten das Blut in die Wangen schoss. Sie wurde tatsächlich rot wie ein Schulmädchen, das vor versammelter Klasse ein Lob erhielt. Als hätte sie den besten Aufsatz des Jahres geschrieben. Auch ein Abend zu ihren Ehren war ein völlig neues Gefühl für sie. Ein wunderschönes Gefühl, wie ihr in diesem Moment bewusst wurde. Sie gehörte nun zu dieser Familie. Alles war so wunderschön! Die stilvolle Tafel, die schick gekleideten Gäste und das romantische Kerzenlicht.

So ähnlich musste es sich anfühlen, wenn man sich nach dem Jawort in die Augen blickte und einander die Ringe ansteckte. Eilig verdrängte sie diese unpassende Assoziation, in der ein ganz bestimmter Mann vorkam. Dessen Namen auszusprechen oder auch nur zu denken sie sich verboten hatte. Um den sie nie wieder weinen wollte.

Etwas zu hektisch nahm sie einen großen Schluck Wein und musste husten. Sie konnte sich gerade noch die Hand auf den Mund pressen, sonst hätte sie den Wein über den Tisch gespuckt.

Alle starrten sie besorgt an.

»Vielleicht ein Schluck Wasser?« Herr Otto griff in professioneller Routine nach einer Mineralwasserflasche.

Annemarie, die neben ihr saß, sprang auf und klopfte ihr sanft auf den Rücken. »Alles in Ordnung?«

Lissi tupfte sich mit der Serviette die Tränen aus den Augenwinkeln, die glücklicherweise nur eine Folge des Hustenanfalls waren. »Geht schon wieder.«

»Na, dann auf die Gesundheit!«, meinte Herbert sichtlich erleichtert.

Nach Herberts Trinkspruch ließ die Anspannung nach, und alle freuten sich auf die Vorspeise, die von Kate und Konrad aufgetischt wurde. Bald waren begeisterte Urteile wie »superlecker«, »einfach göttlich« oder »fantastisch« zu hören.

Lissi aß bewusst langsam und genoss dieses köstliche Abendessen. So exotisch die Vorspeise auf der Website geklungen hatte, die Aromen von Roter Bete, Datteln und Ziegenfrischkäse mit dem Rucolasalat verbanden sich zu einem außergewöhnlichen Geschmackserlebnis. Und die zarten Bodenseefelchen in Kräuterbutter mit den Kartoffeltürmchen mundeten nicht weniger. Ein winziger Wermutstropfen war der Anblick von Iris mit ihrem Baby und Fritz, der sich rührend um seine Frau und seinen Sohn kümmerte. Dieses Paar war so glücklich miteinander, wie sie es heute auch wäre, wenn nicht …

Sie ermahnte sich mit einem stummen Stopp, nicht länger an die gescheiterte Beziehung in Wien zu denken. Ihre Zukunft lag hier am Bodensee. Und sie konnte auch ohne Mann glücklich werden. Ach was, sie war glücklich. Sie hatte die dunklen Tage des Liebeskummers und der Selbstzweifel überwunden. Beziehungen wurden ihrer Erfahrung nach ohnehin vollkommen überschätzt. Sie war auch als Singlefrau vollständig: Sie hatte ihr Studium in Ökotrophologie mit Auszeichnung bestanden, eine erfolgreiche Karriere hinter sich und einen vielversprechenden Neustart vor sich. Nicht zum ersten Mal schwor sie sich, einen großen Bogen um alle Männer zu machen. Ganz besonders um die attraktiven, denen die Frauen nachliefen, ohne dass sie sich groß anstrengen mussten. Deren Bettpfosten von »Kerben« übersät waren, die nicht an einer echten Partnerschaft interessiert waren, sondern nur ihren Spaß haben wollten.

»Ein rundum gelungener Einstand«, sagte Annemarie zu Lissi, als die Teller des Hauptgerichts abgeräumt wurden.

»Danke schön für diesen traumhaften Abend«, entgegnete Lissi, erleichtert, dass die Tante sie auf andere Gedanken brachte.

»Wir haben zu danken!« Annemarie nahm ihr Glas und lächelte ihr zu. »Mit dir bleibt der Tortenhimmel in der Familie. Ich kann es gar nicht erwarten, dass du die Gesellenprüfung bestehst und damit ganz offiziell die Tradition der Familie König weiterführst. Und mach uns ja keine Schande …«

Lissi legte die Hand an die Brust wie zum Schwur. »Versprochen! Nächstes Jahr um diese Zeit bin ich geprüfte Konditorgesellin. Und jetzt werde ich mich um den Nachtisch kümmern.« Sie schob ihren Stuhl zurück und verließ den Wintergarten, um die Törtchen aus der Kühlung zu holen.

Als sie mit dem Tablett zurückkam und es auf den Tisch stellte, sah sie an den staunenden Mienen, dass ihr die Überraschung gelungen war. »Ich dachte, eine normale Sachertorte kennt doch jeder und hat vermutlich auch jeder schon mal gegessen. Deshalb die Törtchen mit dem original Schokoladenzuckerguss.«

Alle klatschten Beifall. Rose zückte ihr Handy und schoss Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven, um sie sofort auf dem Insta-Account der Pension König hochzuladen.

Von Annemarie kam der Ausruf: »Meinem Vater hätte die Idee bestimmt auch gefallen.«

»Sie schauen sehr verlockend aus«, urteilte Herbert und betrachtete Lissis Werk. »Wenn sie auch so schmecken, sollten wir sie ins Sortiment aufnehmen.«

Lissi strahlte. Von Herbert, der in Paris als Konditor gearbeitet, dort die Kunst der Zuckerblütenherstellung erlernt und etliche Wettbewerbe gewonnen hatte, war das ein gewichtiges Lob. Mit zufriedener Miene verteilte sie die Törtchen.

Kate und Konrad servierten eine große Schüssel mit geschlagener Sahne, die bei einer Sachertorte nicht fehlen durfte. Dazu boten sie Espresso an, den aber fast alle dankend ablehnten. Im Gastgewerbe konnte man sich keine von Koffein aufgeputschten Nächte erlauben, denn Ausschlafen war ein seltener Luxus. Nur Fritz und Nico nahmen das Angebot an.

Während Lissi das nächste Kompliment von Meister Müller genoss, der die zuckrige Glasur mit »sündig lecker« beurteilte, ertönte ein helles Klirren.

Iris hatte mit der Kuchengabel an ihr Wasserglas geklopft. »Bevor wir leider gleich aufbrechen müssen, wollte ich noch etwas bekannt geben.«

Florence schaute ihre älteste Tochter besorgt an. »Geht es dir gut?«

»Alles bestens, maman, mach dir keine Sorgen. Es betrifft den Job, also indirekt alle Anwesenden, deshalb wollte ich die Gelegenheit …«

»Also eine offizielle Angelegenheit«, unterbrach Florence sie.

»Ja, maman … Du weißt, dass ich immer eine große Familie wollte, und auch Fritz wünscht sich noch weitere Kinder.« Iris streichelte sanft über den Rücken des Babys, das nach einigem Quengeln nun friedlich auf ihrem Bauch schlief.

Lissi wunderte sich, dass Iris sich die Tortur der Geburt nochmals antun wollte. Hatte sie doch schon Wochen vor Maxis Niederkunft schreckliche Angst gehabt, das gleiche Schicksal wie ihre Schwestern Viola zu erleiden, die an einer Fruchtwasserembolie gestorben war. Außerdem war der kleine Max kein so pflegeleichtes Kind wie Jasmin, die trotz der Frühgeburt wenig geweint hatte und ein sehr friedliches Baby gewesen war. Maxi hatte bisher noch keine einzige Nacht durchgeschlafen. Auch tagsüber war er ein munteres Kind, das sehr viel Aufmerksamkeit verlangte.

Auch Rose musterte ihre ältere Schwester mit erstauntem Blick. »Noch mehr Kinder?« Der leicht schrille Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Nur noch ein oder zwei«, antwortete Iris und schaute Fritz verliebt an, der ihren Blick lächelnd erwiderte.

Ein frischer Wind wehte durch ein noch offen stehendes Fenster herein. Gut möglich, dass noch ein Gewitter drohte. Herr Otto erhob sich und schloss alle Fenster.

»Soll das heißen, dass wir dich als Hausdame endgültig verlieren?« Rose kniff die Augen zusammen und musterte ihre Schwestern lauernd, als wünschte sie, sich geirrt zu haben.

Iris nickte. »Ich hoffe, die Nachricht ist kein allzu großer Schock und verdirbt euch nicht den restlichen Abend.« Sie wandte sich wieder ihrer Mutter zu. »Du verstehst mich bestimmt.«

»Natürlich, ma chérie. Rose und ich werden schon eine Lösung finden, mach dir darüber keine Gedanken.« Florence lächelte sanft. »Nicht wahr, Rose?«

Rose schnaufte leicht genervt.

Iris und Fritz verabschiedeten sich. Florence begleitete sie hinaus, während sich für einige Minuten Stille über den Raum senkte. Nur das leise Kratzen von Kuchengabeln auf Porzellan war zu hören.

»Dann werden wir uns nach einer neuen Hausdame umsehen müssen«, griff Florence das Thema wieder auf, als sie zurückgekommen war und sich an den Tisch setzte. »Ich fühle mich nämlich nicht fit genug, um diesen anstrengenden Job auf Dauer zu erledigen. Außerdem wollen ’erbert und ich unseren Lebensabend in Frankreich verbringen.«

Irgendwo donnerte es leise.

»Wollen wir?« Herberts Frage suggerierte, dass er sich nicht erinnern konnte, vielleicht auch nicht erinnern wollte, jemals etwas in dieser Richtung geäußert zu haben.

»Oui, ’erbert, du ’ast mir einen längeren Urlaub versprochen. Und du solltest dich auch an den Rat von Doktor Rossa erinnern. Er hat dir dringend geraten kürzerzutreten. Auch wenn du nicht mehr in der Konditorei stehst und dich nur noch um den Rasen kümmerst. Der ’erzanfall vor zwei Jahren war nur ein Warnschuss, den nächsten würdest du vielleicht nicht überleben.«

»Der Ross-Doktor übertreibt wie alle Ärzte. Die reden einen doch grundsätzlich krank, um sich ihre Kundschaft zu erhalten. Aber ich bin kerngesund!« Herbert schnaufte entrüstet.

Lissi wusste, was Florence vor der Familie nicht aussprechen wollte: Es ging um Herberts heimlichen Schnapskonsum. Er konnte Violas Tod einfach nicht überwinden und tröstete sich mit Alkohol. Immer wieder fand Florence die kleinen Schnapsfläschchen in seinen Hosentaschen.

»Im Moment magst du dich gesund fühlen, aber wir werden doch beide nicht jünger, nicht wahr, ’erbert?«

Dem Donner von vorhin folgte ein erneuter Blitz, der kurzzeitig die Nacht erhellte.

Herbert widmete sich wieder mit Hingabe dem winzigen Rest des Törtchens auf seinem Teller. »Wird nicht einfach werden, eine qualifizierte Hausdame zu finden. Wir wissen doch alle, wie gravierend der Personalmangel in unserer Branche ist. Erst recht vor Beginn der Hochsaison.«

»Wie auch immer«, überging Florence seine pessimistische Einschätzung. »Rose und ich werden das Problem schon in den Griff kriegen, und ich werde natürlich bleiben, bis wir jemanden gefunden ’aben.«

Herbert hob den Kopf. »Ich drücke die Daumen«, wandte er sich an Rose, was vielleicht eher ironisch gemeint war, wie das leicht spöttische Lächeln vermuten ließ.

»Danke, Papa. Bis jetzt habe ich noch jedes Personalproblem gemeistert.«

»Meine geliebte Rose kann Berge versetzen und Halbtote aufwecken«, bestätigte Nico, beugte sich zu Rose und küsste sie auf die Wange. »Notfalls könnte ich einspringen. Florence müsste mich natürlich einarbeiten …«

Rose lachte laut auf. »Das ist wirklich süß von dir, Nico, aber du in Gummihandschuhen, nein!«

»Wieso Gummihandschuhe?« Nicos ratloser Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er vom Job einer Hausdame nur sehr wenig Ahnung hatte.

»Weil wir ein kleiner Familienbetrieb sind und eine Hausdame notfalls auch mal mit anpacken muss. Manchmal überschneiden sich Ab- und Anreisen, dann müssen Zimmer in Turbogeschwindigkeit gereinigt werden«, erklärte Rose und küsste nun ihn auf die Wange.

»Schade! Es hätte mir Spaß gemacht, die Damen mit Rat und Tat zu unterstützen.«

»Du weißt, ich liebe deine Scherze, Nico-Liebling, aber im Moment ist mir nicht zum Lachen zumute. Also, Themenwechsel.« Rose schob ihren Teller mit dem noch unberührten Sachertörtchen von sich weg. Ihre angestrengte Miene zeigte deutlich, dass sie doch besorgter war, als sie zugeben wollte.

»Eine Frage hätte ich noch …«, sagte Nico.

Rose schenkte Nico einen genervten Seitenblick. »Ja?«

»Muss eine verhältnismäßig kleine Pension mit zwanzig Zimmern überhaupt eine Hausdame beschäftigen?«

Nico hatte sofort die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Allerdings nur in Form von staunenden Blicken.

Rose holte Luft, sagte aber nichts.

»Berechtigte Frage«, sagte Annemarie. »Theoretisch kämen die Zimmermädchen sicher auch ohne ›Aufsicht‹ zurecht. Dass wir eine Hausdame beschäftigen, geht auf unseren Vater zurück, der dafür sorgen wollte, dass wir den allerhöchsten Standard bieten können. Dazu gehörten für ihn nicht nur eine Hausdame, sondern auch die weißen Tischdecken im Wintergarten. Die ein ›unnötiger Luxus‹ sind und zusätzliche Arbeit plus Kosten verursachen.«

»Dem Café aber genau den gewissen Touch Luxus verleihen«, meldete sich Frau Waltraud nun zu Wort. »Ich habe hier angefangen, als Max König noch lebte. Wir sind klein, aber besonders fein, hat er immer gesagt und großen Wert darauf gelegt, dieses Versprechen einzuhalten.«

»Unser verehrter Altchef hat auch verfügt, dass ich als Herr Otto anzusprechen sei, wie es in Österreich üblich ist. Niemand sollte ungehörig mit den Fingern schnippen, wenn er bedient werden möchte. Auch nicht Hallo rufen. Er war der Meinung, niemand ist ein Hallo.«

Lissi lauschte gespannt der Unterhaltung. Sie liebte es, Episoden aus dem Leben ihres Großvaters zu hören, den sie leider nicht mehr kennengelernt hatte. Von zahlreichen Eigenheiten würde sie sonst vielleicht nie erfahren.

»Wir hätten einen Vorschlag«, sagte Antonella, die mit Marcella getuschelt hatte.

»Raus damit«, kommandierte Annemarie, die vor Iris als Hausdame gearbeitet hatte und damals die Vorgesetzte von Antonella und Marcella gewesen war.

»Wir sind jetzt seit fast drei Jahren hier, und Sie waren doch immer zufrieden mit unserer Arbeit«, sagte Marcella.

»Stimmt, da gab es nichts zu meckern«, antwortete Annemarie.

»Ihr macht ausgezeichnete Arbeit«, bestätigte auch Florence.

»Mille Grazie«, bedankten sich die Schwestern und lächelten selbstbewusst, bevor Antonella weitersprach. »Wie wäre es, wenn wir versuchsweise allein arbeiten? Nur solange noch keine neue Kraft gefunden wurde.«

»Die Abläufe haben wir voll im Blut, egal, was anliegt, das beherrschen wir im Schlaf«, ergänzte Marcella.

Rose strich sich nachdenklich eine Strähne ihrer schulterlangen blonden Haare zurück. Dann schaute sie von Florence zu Annemarie und zu den Zimmermädchen. »Schafft ihr das auch wirklich?«

»Ganz bestimmt«, versicherte Marcella.

»Jetzt im April ist das Haus ja auch noch nicht voll belegt, da schaffen wir die Arbeit locker«, merkte Antonella an.

»Gut, machen wir ein, zwei Probewochen«, entschied Rose. »Wenn es nicht funktioniert …«

»Dann darf ich einspringen?«, startete Nico einen neuen Versuch.

Diesmal musste Rose doch lachen. »Deine Hartnäckigkeit kenne ich ja zur Genüge. Aber vielleicht habe ich doch eine Aufgabe für dich, wenn du dafür überhaupt Zeit hast.«

Nico strahlte. »Meine Immobiliengeschäfte kann ich sofort auf Eis legen. Was soll ich machen?«

»Mich bei den Buchungen und der Kontrolle für den Belegungsplan unterstützen. Vielleicht auch bei der Wäsche, aber das ist nicht schwierig. Maschinen befüllen, Waschpulver dazugeben und einschalten.«

»Perfekt. Kontrolle kann ich, und Knöpfe drücken schaffe ich auch.« Nico strahlte.

Florence war deutlich anzusehen, wie erleichtert sie über die Lösung war. »Sobald sich das Arrangement eingespielt ’at, können wir den Urlaub antreten, ’erbert.«