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Ein idyllischer Ort am Bodensee und drei Schwestern, die alles daransetzen, die familieneigene Pension in eine blühende Zukunft zu führen ...
Auerbach am Bodensee: Als Max König im Alter von 86 Jahren stirbt, hinterlässt er eine große Lücke. Er war die Seele der Pension, die mit viel Herz und Verstand von ihm geführt wurde. Zur Beisetzung sind seine Enkelinnen Iris, Rose und Viola und der Rest der Familie nach langer Zeit wieder vereint. Doch ausgerechnet am Tag der Beerdigung entdecken die Schwestern ein verheerendes Geheimnis des Großvaters. Bald mischen sich auch Sorgen um die Pension in die Trauer: Eine anonyme Anzeige bringt den Lebensmittelkontrolleur ins Haus. Führt jemand absichtlich eine Schmutzkampagne gegen den Betrieb?
Wenn Sie wissen wollen, wie es weitergeht, lesen Sie auch Band 2 und 3 der Bodensee-Saga!
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Seitenzahl: 449
Buch
Auerbach am Bodensee: Als Max König im Alter von 86 Jahren stirbt, hinterlässt er eine große Lücke. Er war die Seele der Pension, die mit viel Herz und Verstand von ihm geführt wurde. Zur Beisetzung sind seine Enkelinnen Iris, Rose und Viola und der Rest der Familie nach langer Zeit wieder vereint. Doch ausgerechnet am Tag der Beerdigung entdecken die Schwestern ein verheerendes Geheimnis des Großvaters. Bald mischen sich auch Sorgen um die Pension in die Trauer: Eine anonyme Anzeige bringt den Lebensmittelkontrolleur ins Haus. Führt jemand absichtlich eine Schmutzkampagne gegen den Betrieb?
Autorin
Lilli Beck wurde in Weiden/Oberpfalz geboren und lebt seit vielen Jahren in München. Nach der Schulzeit begann sie eine Ausbildung zur Großhandelskauffrau. 1968 zog sie nach München, wo sie von einer Modelagentin in der damaligen In-Disko Blow up entdeckt wurde. Das war der Beginn eines Lebens wie aus einem Hollywood-Film. Sie arbeitete zehn Jahre lang für Zeitschriften wie »Brigitte«, »Burda Moden« und »Twen«. Neben »Die Schwestern vom See«, dem fulminanten Auftakt einer zeitgenössischen Reihe um das Erbe dreier Schwestern, hat sie bei Blanvalet mit großem Erfolg historische Romane veröffentlicht.
Weitere Informationen unter: https://lilli-beck.de/
Von Lilli Beck bereits erschienen
Glück und Glas · Wie der Wind und das Meer · Mehr als tausend Worte · Wenn die Hoffnung erwacht
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LILLI BECK
Roman
Diese Arbeit wurde gefördert im Rahmen des Stipendienprogramms der VG WORT in NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
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Originalausgabe 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2022 by Lilli Beck
Redaktion: Gisela Klemt
Covergestaltung: www.buerosued.de
Covermotiv: Getty Images (Cavan Images/Cavan; Thomas Barwick/DigitalVision);www.buerosued.de
DK · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-28060-4V003
www.blanvalet.de
Geschwister sind nie alleine. Sie tragen immer den anderen im Herzen! – Unbekannt
Durch das offene Fenster wehte seidige Sommernachtluft ins Zimmer und verfing sich in den zartgelben Vorhängen. Das gleichmäßige Geräusch der Wellen vom nahe gelegenen Bodensee war zu hören. Silbriger Vollmondschimmer lag auf den Baumkronen. Und irgendwo rief ein einsames Käuzchen nach seiner Gefährtin.
Doch Iris und ihre beiden Schwestern hatten keinen Sinn für besonders stimmungsvolle Nächte, denn morgen würde Iris heiraten und anschließend ihre Heimat verlassen – und heute war ihr letzter gemeinsamer Abend.
Iris, die Älteste mit den kurzen kastanienbraunen Haaren, Rose die zierliche blonde Zweitgeborene und das dunkelhaarige Nesthäkchen Viola, hatten es sich auf dem Polsterbett gemütlich gemacht. Iris streckte ihre Hände nach denen von Rose und Viola aus und drückte sie liebevoll. »Ich werde jeden Tag mit euch Kontakt halten, und ihr müsst mich anrufen und mir alles erzählen, was in eurem Leben passiert!«
»Logisch, wir schreiben uns über WhatsApp oder skypen«, versprach Rose, die mit dem kindlich-runden Gesicht nicht aussah, als sei sie mit neunundzwanzig bereits erwachsen.
»Oder wir telefonieren ganz oldschool«, flüsterte Viola, deren blaue Augen tränenfeucht glänzten. »Wen soll ich denn sonst um Rat fragen, wenn es um die wichtigen Dinge des Lebens geht?«
Iris sah ihre kleine Schwester neugierig an. Viola, mit den dunklen glänzenden Haaren und den veilchenblauen Augen, war schon in der Schule umschwärmt, aber oft unglücklich verliebt gewesen. »Wenn es um Männer geht?«
Viola drehte verlegen eine Haarsträhne um einen Finger. »Zum Beispiel.«
»Frag Rose, ihr laufen die Jungs in Scharen nach, die kennt sich aus in Sachen Liebe«, scherzte Iris mit belegter Stimme. Nichts war so tröstend wie Gespräche mit den Schwestern.
»Haha«, lachte Rose trocken. »Es gibt momentan nicht einen, den ich nehmen wollte. Und überhaupt, ich hätte auch gern solch ein Prachtexemplar wie deinen Christian mit einem Lächeln, bei dem einem die Knie weich werden. Solange ich den nicht gefunden habe, bleibe ich lieber Single, Larifari-Beziehungen sind nicht mein Ding. Ich würde mich auch niemals auf Tinder umsehen und mich in ein Blind Date stürzen. Weder den Angaben noch den Fotos auf diesen Portalen würde ich jemals trauen. Männer machen sich gern fünf bis zehn Jahre jünger, und die Bilder sind meist bearbeitet.«
Aufmunternd lächelte Iris ihrer Schwester Rose zu. »Eines Tages marschiert dein Traummann vielleicht direkt zu dir an die Rezeption, und du musst ihn nur aufmunternd anlächeln.« Abermals ergriff sie die Hände ihrer Schwestern. »Ich möchte, dass wir uns etwas versprechen … oder noch besser, schwören!«
Rose und Viola blickten sie gespannt an.
»Wenn eine von uns in Not gerät oder warum auch immer Hilfe benötigt, werden die anderen beiden alles in ihrer Macht Stehende unternehmen, um zu helfen.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Die antike Standuhr im Foyer schlug Mitternacht, als wolle sie den Bund bekräftigen. Dann war es wieder ruhig.
»Habt ihr die Uhr gehört? Genau die richtige Zeit für ein Gelöbnis«, sagte Iris feierlich.
»Wir schwören …«, sagte Rose mit feierlicher Miene.
»Wir schwören, uns in allen Notlagen beizustehen«, flüsterte auch Viola und nickte bestätigend.
Weit nach Mitternacht lag Iris endlich im Bett. Einschlafen konnte sie nicht, die Gedanken an den nächsten Tag hielten sie wach. Morgen war es tatsächlich so weit, morgen würde sie Christians Frau werden. Er war ihre große Liebe, der einfühlsamste und zärtlichste Liebhaber, den sie sich nur wünschen konnte. Gemeinsam würden sie die Familie mit mindestens drei Kindern gründen, von der sie schon als Teenager geträumt hatte. Ein Leben ohne Kinder konnte sie sich nicht vorstellen. Und es würden besonders hübsche Kinder werden, Christian war nämlich unfassbar attraktiv: dunkelblondes Haar, kantiges Gesicht, groß gewachsen, athletische Figur. Ein Traummann, um den sie von allen Mädchen in der Hotelfachschule beneidet worden war. Dort hatte sie ihn vor zwei Jahren kennengelernt und schon beim ersten Blick in seine graugrünen Augen lichterloh gebrannt. Als wären das noch nicht genug Argumente, seinen Antrag anzunehmen, war er auch noch ein wohlhabender Hotelerbe. Aber es hätte sie nicht gestört, wenn er nur ein armer Kellner gewesen wäre. Iris war überzeugt, dass Liebe alle Hürden überwinden konnte, egal, welche das Schicksal für ein liebendes Paar bereithielt. Außerdem war sie selbst auch keine arme Kirchenmaus.
Ihre Familie besaß die Pension König in Auerbach am Bodensee. Ein etabliertes Traditionsunternehmen, zu dem auch ein Café und eine Konditorei gehörten, und das ihr Großvater, Max König, preisgekrönter Konditormeister, Ende der 1950er gegründet hatte. Das Anwesen mit einfachen Fremdenzimmern hatte er zusammen mit seiner Frau Margarete »geheiratet«, wie er gern scherzte. Margarete hatte dann stets lachend hinzugefügt, dass sie ihn nur wegen ihrer Schwäche für Sahnetorten genommen und Max sie damals mit seinen köstlichen Kreationen verzaubert habe.
Später übergaben sie die Geschäfte ihren Kindern Annemarie und Herbert, die sie in absehbarer Zukunft wiederum an eine der drei Schwestern übergeben wollten. Iris hätte den idyllisch gelegenen Betrieb übernehmen und ihn allein oder nach einer Heirat mit ihrem Ehemann weiterführen können. Nun aber würde Rose, die einen Abschluss in Betriebswirtschaft hatte, eines Tages die Chefin werden. Sollte Rose irgendwann keine Lust mehr haben auf Pensionsgäste und die nie enden wollende Arbeit, war da noch Viola, die Jüngste im Bunde.
Ihre geliebten Schwestern waren auch der Grund, warum Iris der Abschied so unendlich schwerfiel. Wäre sie vor einigen Monaten gefragt worden, ob sie sich ein Leben ohne Rose und Viola vorstellen könne, hätte sie ohne Zögern verneint. Die beiden gehörten zu ihr, waren ein Teil von ihr. Ihnen hatte sie ihre Ängste, ihre geheimsten Gedanken und Träume anvertraut. Sie hatten zusammen gelacht, geweint, sich getröstet und aufgemuntert und waren durch dick und dünn gegangen. Und sie als Älteste hatte sich stets für die anderen verantwortlich gefühlt.
Heute Abend hatten sie sich mit leiser Wehmut an die gemeinsamen Erlebnisse, Heimlichkeiten und auch an die Schulzeit erinnert. An die ungeliebten Matheaufgaben, die Rose, das Rechengenie der Familie, ganz nebenbei löste. An den kleinen schwarzen Hund mit den weißen Pfoten, den sie zu Weihnachten bekommen und Blacky genannt hatten – als Teenager fanden sie englische Namen todschick. An die Entenmutter mit den sieben flauschigen Küken, die eines Tages im Planschbecken herumgepaddelt und zwei Wochen später wieder verschwunden waren. Oder an die Barbie-Puppen, die sie an Violas sechzehntem Geburtstag als Zeichen für das Ende ihrer aller Kindheit im Garten feierlich begraben und dazu ein Glas Piccolo getrunken hatten. Sie hatten versucht, die heimlich gerauchten Zigaretten zu zählen, und über die verschlossene Haustür gelacht, die sie stets vorfanden, wenn sie nicht rechtzeitig von einer Party nach Hause gekommen waren. Oder die Steinchen, die sie an die Zimmerfenster geworfen hatten, um eine Schwester zu wecken. Rose, die Zierliche, hatte selbst kleine Steine mit der Wucht einer durchtrainierten Diskuswerferin gegen die Fenster geschleudert, weshalb einmal sogar eine Scheibe zu Bruch gegangen war. Das klirrende Geräusch hatte zuerst Blacky geweckt, sein Gebell dann die Eltern, und es hatte Rose drei Monate Taschengeldentzug eingebracht.
Sie hatten sich an unzählige Wochenenden erinnert, wenn sie sich für Partys zurechtgemacht hatten: Augenbrauen zupfen, Quark-Eigelb-Masken auflegen, Haare waschen, gegenseitig trocken föhnen, Fingernägel lackieren, Klamotten ausprobieren. Iris war noch einmal in ihr Hochzeitskleid geschlüpft; eine schmal geschnittene, lange cremefarbene Satinrobe, gänzlich ohne Verzierungen. Hatte überprüft, ob das Traumkleid noch passte oder sie vielleicht den ganzen Hochzeitstag lang den Bauch würde einziehen müssen. Alles saß perfekt, doch erst der kurze Tüllschleier, der mit einem Kranz aus Seidenblüten in ihr kastanienbraunes kurzes Haar gesteckt werden würde, adelte es zu einem Hochzeitskleid. Zu einem Kleid, in dem sie sich wie ein Wesen aus einer anderen Welt fühlte und einen Tag lang nicht die tüchtige Iris sein musste.
Rose und Viola hatten die pastellfarbenen Brautjungfernkleider angezogen, sich hinter die Braut gestellt und wie in einem dieser kitschigen Filme ergriffen geflüstert: »Oh, Iris, du siehst einfach wunderschön aus!« Minutenlang hatten sie gekichert und die Anspannung weggelacht.
Längst hingen die kostbaren Gewänder wieder unter weißen Stoffhüllen auf den Kleiderbügeln, und bei jedem Blick darauf verspürte Iris einen dicken Kloß im Hals. Sie konnte es kaum erwarten, Christian das Jawort zu geben und Frau Bonhoff zu werden. Und sie hoffte, bald das erste gemeinsame Baby in den Armen zu halten. Es würde ein aufregendes Leben im weit entfernten Köln werden, aber sie würde ihre Heimat bestimmt an manchen Tagen vermissen – und ihre Schwestern jeden Tag.
Iris lehnte sich an die Spiegelwand des Aufzugs und drückte auf die Sieben. Erst als sich die Tür automatisch schloss, erlaubte sie sich aufzustöhnen.
Rose hatte eben angerufen, um ihr eine traurige Nachricht mitzuteilen: Großvater Max war in der Nacht gestorben. Mit sechsundachtzig Jahren friedlich im eigenen Bett für immer eingeschlafen. Damit war er seiner geliebten Frau Margarete gefolgt, die im Frühjahr 2020 vorausgegangen war. Auch das war ein trauriger Tag gewesen, weil die Familie ein wichtiges Mitglied verloren hatte. Doch mit Max König, dem prämierten Konditormeister und Gründer der Pension König am Bodensee, endete eine Ära, die 1956 begonnen hatte. In jenem Jahr war er aus Wien zurückgekehrt, wo er seine Konditorkünste im berühmten Hotel Sacher verfeinert hatte. Wenige Monate nach seiner Heimkehr heiratete er Margarete, deren Mitgift dieses Haus am See war, in dem damals nur einfache Zimmer mit Waschgelegenheit vermietet wurden. Ein schlichtes Emailleschild mit der Aufschrift Fremdenzimmer zu vermieten prangte neben dem Haupteingang und hing bis heute als liebe Erinnerung an der Wand in Roses Büro hinter der Rezeption. In den 1950ern beherbergte man die Fremden praktisch noch unter seinem eigenen Dach, und manche wurden zu Stammgästen. Doch es waren vor allem Großvaters köstliche Backwaren, Torten und Kuchenstücke aus der eigenen Konditorei, die bald die Kasse kräftig hatten klingeln lassen, wie er voller Stolz zu sagen pflegte. Nach und nach wurden die Zimmer renoviert, der Pensionsbetrieb um den Wintergarten und ein Terrassencafé vergrößert, das sich schon bald großer Beliebtheit erfreute. Bis ins hohe Alter hatte Max König am täglichen Geschehen teilgenommen, und sein Interesse für den Betrieb war nie erloschen.
Der Lift hielt mit sanftem Ruck in der siebten Etage, die automatische Tür öffnete sich, und Iris eilte in ihr privates Reich. Die Schwiegereltern hatten vor drei Jahren als Hochzeitsgeschenk den noch leer stehenden Teil des Dachgeschosses ausbauen lassen. Sie und Christian lebten seitdem in dieser letzten Etage des privat geführten Hotels im Belgischen Viertel. Neben der Lobby und dem Restaurant im Erdgeschoss verfügte das Haus über 65 Gästezimmer, die auf fünf Etagen verteilt waren.
Aus der breiten Fensterfront des Lofts hatte man einen fantastischen Ausblick über die Dächer der Kölner Innenstadt und nachts auf die erleuchteten Fenster der gegenüberliegenden Häuser. Aber Iris war nicht in der Stimmung, die Nachbarn zu beobachten oder das einzigartige Panorama zu genießen, das auch an einem regnerischen Aprilmorgen wie heute beeindruckend war. Nicht einmal die zahlreichen Kissen auf dem weichen Sofa lockten sie, sich wie gewöhnlich hineinfallen zu lassen und die Beine nach dem anstrengenden Stehen hochzulegen.
Sie benötigte dringend ein Taschentuch, um ihre Tränen zu trocknen, und griff nach der Box auf dem Couchtisch aus hellem Birkenholz. Die Schachtel war leer. Gedankenlos wischte sie sich die Nase mit dem Ärmel ihrer weißen Baumwollbluse ab, und zu spät wurde ihr bewusst, dass es die Uniformbluse war, die sie während der Arbeit trug. Sich die Nase wie ein Kleinkind am Blusenärmel abzuwischen passte zum heutigen Tag. Einer von der Sorte, den man nicht einmal seinen ärgsten Feinden wünschen würde.
Morgens um sechs, vor Beginn ihrer Frühschicht, hatte sie sich mit Christian über das ewig gleiche Thema gestritten. Er wollte einfach nicht verstehen, dass sein männliches Ego durch eine Fruchtbarkeitsuntersuchung keinen Kratzer bekommen würde. Sosehr sie ihn auch darum bat, er beharrte darauf, zeugungsfähig zu sein. Aber warum wurde sie dann nicht schwanger? Seit drei Jahren versuchten sie nun ein Baby zu bekommen, aber es wollte einfach nicht klappen. An ihr konnte es nicht liegen, das hatte ihr die Gynäkologin versichert.
Seufzend begab sich Iris zu dem Sideboard aus hellem Holz, auf dem sie ihre ganz persönliche Bildergalerie aufgestellt hatte; glückliche Momente aus ihrem Leben und dem ihrer Familie. Sie griff nach dem silbernen Rahmen mit dem Familienfoto, das zu Großvaters achtzigstem Geburtstag aufgenommen worden war.
Der glücklich lachende, silbergraue Patriarch im feinen Anzug, umringt von all seinen Lieben. Seine weißhaarige Frau Margarete in einem dunkelblauen Kleid mit dreireihiger Perlenkette, direkt neben ihm. Hinter dem Paar die erstgeborene Tochter Annemarie, daneben Sohn Herbert mit seiner Frau Florence, die Eltern der drei Schwestern Iris, Rose und Viola, die zu Füßen ihrer Großeltern saßen.
So agil und lebensfroh wie auf diesem Bild wollte Iris den Großvater in Erinnerung behalten. Sie wollte sich an die Worte erinnern, die er ihr kurz vor ihrer Abreise in die Flitterwochen zugeflüstert hatte: »Auch wenn ich bedauere, dass du uns verlässt: Junge Menschen müssen in die Welt hinausgehen! Auch ich habe als junger Spund wichtige Erfahrungen im wunderschönen Wien gesammelt. Ich wünsche dir nur das Allerbeste. Behalte dein freundliches Wesen, sei offen für Neues und besuche uns so oft wie möglich.«
Liebevoll strich Iris über das Bild, bevor sie den Rahmen zurückstellte. Wie magisch angezogen fiel ihr Blick auf ihren getrockneten Brautstrauß; pinkfarbene Rosen eingebunden in Seerosenblätter. Daneben der größte Bilderrahmen, mit dem Lieblingsfoto vom Hochzeitstag: Christian und sie auf der Tanzfläche. Ein Profifotograf war engagiert worden, der sich unter die Gäste gemischt und mit seiner Kamera die schönsten Motive eingefangen hatte. Von ihrem frisch angetrauten Ehemann war nur der Rücken zu sehen, und es musste schon ziemlich spät gewesen sein – ihr Kopf lag auf seiner Schulter, ihre Augen waren geschlossen. Iris erinnerte sich ganz deutlich daran, was er ihr während eines Tanzes zugeflüstert hatte: »Ich verspreche dir ewige Liebe und ein glückliches Leben.« Nichts war geblieben von seinem Schwur. Die Liebe war von Streitereien zermürbt worden und ihr Traum von einer eigenen Familie und drei Kindern gleich mit. Begonnen hatte es mit kleinen Unfreundlichkeiten, die schließlich zu einem Berg aus Schuldzuweisungen gewachsen waren. Die Erkenntnis trieb ihr erneut die Tränen in die Augen.
Im angrenzenden Badezimmer riss Iris Toilettenpapier ab und putzte sich geräuschvoll die Nase. Was sie dann in dem von Wand zu Wand reichenden Spiegel über dem Doppelwaschbecken erblickte, stoppte die Tränen augenblicklich. Ihre goldbraunen Augen waren rot unterlaufen. Die Nase geschwollen. Hektische Flecken blühten auf Hals und Wangen. Und ihr kurzes kastanienbraunes Haar benötigte dringend einen neuen Schnitt. Ähnlichkeiten mit der strahlenden Braut auf dem Foto konnte sie nicht mehr erkennen.
Resignierend trieb sie sich zur Eile an. Sie wollte duschen, die Haare waschen und musste auch noch Koffer packen, aber wenn sie weiter über verschüttete Milch heulte, würde sie den Zug verpassen. Ohnehin drehten sich die Streitereien im Kreis, und schon oft hatte sie überlegt, Christian eine Eheberatung vorzuschlagen.
Unter der heißen Regendusche wurde sie ruhiger. Es war, als könne der angenehm weiche Wasserstrahl auch ihre aufgewühlten Gedanken besänftigen.
Der auf sieben Minuten eingestellte Timer ihres Handys beendete das Vergnügen. Sie liebte es, von Wasser umspült zu werden, und vermisste das morgendliche Schwimmen im Bodensee. Von April bis Oktober war das früher ihr tägliches Ritual gewesen, und danach war sie voller Elan in den Tag gestartet. Im Rhein zu schwimmen, war ihr zu gefährlich und die Regendusche ein kleiner Ersatz. Den verschwenderischen Luxus zeitlich zu begrenzen hatte sie sich selbst auferlegt, da sie sonst stets alles vergessen und dadurch zu spät zur Arbeit erscheinen würde. Christian hätte großzügig darüber hinweggesehen, und auch die Schwiegereltern hätten es niemals kommentiert, doch ihr Pflichtbewusstsein war groß genug, sodass sie sich disziplinierte. Vom Wasserverbrauch ganz zu schweigen. Unter diesem Aspekt waren selbst sieben Minuten beinahe unmoralisch.
Gewickelt in ein großes Handtuch, verließ Iris das Badezimmer und erschrak, als Christian im selben Moment den Raum betrat.
Einen Augenblick lang starrten sie einander an wie zwei Hotelgäste, von denen sich einer im Zimmer geirrt hatte.
»Tut mir leid … ich wollte dich nicht erschrecken …«, murmelte er übertrieben höflich, als käme er vom Zimmerservice. »Hier, dein Koffer.« Er hob den silbernen Leichtmetallkoffer in seiner Hand etwas an, stellte ihn dann neben dem Bett ab und legte einen Papierausdruck auf den Bettüberwurf. »Das Ticket für den Zug. Olga aus der Buchhaltung hat es für dich erledigt.«
»Danke. Einen lieben Gruß an Olga, das hilft mir sehr. Und danke deiner Mutter noch einmal, dass sie meine Arbeit an der Rezeption übernimmt, obwohl sie doch kürzertreten wollte.« Iris lächelte verbindlich, während sie das über der Brust verschlungene Handtuch festhielt. Drei Jahre und zwölf Tage waren sie inzwischen verheiratet, doch sie fand ihren Mann noch genauso attraktiv wie bei der ersten Begegnung. Christian war fünf Jahre älter als sie und kein perfekter Schönling mit ebenmäßigen Gesichtszügen. Die Narbe über der linken Augenbraue, die er sich als Sechsjähriger zugezogen hatte, und die große, leicht schiefe Nase trugen jedoch zu seiner umwerfenden Ausstrahlung bei. Dazu die einen Meter fünfundachtzig große, gut trainierte Figur mit Muskeln, die nicht übertrieben ausgebildet waren, doch genug, um sie unter der dunkelblauen Uniformjacke zu erahnen. Sein besänftigendes Lächeln beruhigte jeden gestressten Gast in Sekunden. Und ein Blick aus seinen graugrünen Augen konnte Iris immer noch zum Erzittern bringen. Sie liebte ihn, daran änderten auch die andauernden Streitereien nichts. Im Moment verkniff sie sich aber zu sagen, dass es unnötig gewesen war, sich zu entschuldigen, schließlich wohnten sie beide hier.
»Ich werde es ausrichten. Wenn du möchtest, kann ich dich zum Bahnhof fahren«, sagte er, als sei sie ein Hotelgast.
Höflichkeiten, nichts als Höflichkeiten, dachte Iris traurig. Noch vor einem Jahr hätte er mich in seine Arme gezogen, mir gesagt, wie sehr er mich liebt und dass alles gut werden wird. Er hätte ihr das Handtuch vom Leib gerissen, sie zum Bett getragen und heiser geflüstert, wie sehr er sie begehrte, wie sehr auch er sich Kinder wünschte und jetzt sofort eines zeugen wollte. Doch der Anblick ihrer nackten Schultern, ihrer feuchten Haut und der Wassertropfen in ihren Haaren schien ihn nicht mehr so zu stimulieren, wie er es einmal getan hatte. Das brennende Verlangen schien erloschen zu sein.
»Danke, nicht nötig, ich nehme ein Taxi«, erwiderte sie ebenso wohlerzogen. »Du wirst sicher an der Rezeption gebraucht.«
»Wie du meinst.« Seine Miene wirkte gleichgültig. Er zuckte die breiten Schultern und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Iris’ Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Würden sich ihr Kinderwunsch und der nach einer eigenen Familie jemals erfüllen? Würden sie dann zur alten Vertrautheit zurückfinden, wieder glücklich werden? Oder würde ihre Ehe zerbrechen?
Nachdenklich legte sie den Koffer aufs Bett. Sie wollte zwei, vielleicht drei Wochen in Auerbach bleiben, ihrer Familie bei der Organisation für die Beerdigung helfen und natürlich anpacken, wo sie gebraucht wurde. Für die relativ kurze Zeit packte sie ausreichend Unterwäsche, Jeans, Shirts, auch wärmere Pullis für kühle Tage und ein schwarzes Kleid ein. Durch Großvaters Tod war sicher jede Menge zu regeln, vielleicht musste man einen Anwalt oder den Notar einbeziehen, um eventuelle Nachlassfragen zu klären. Rose hatte am Telefon zwar versichert, alles unter Kontrolle zu haben, aber moralische Unterstützung sei trotzdem willkommen. Für Iris hatte sich die Formulierung ein wenig widersprüchlich angehört, allein deshalb hatte sie Rose nicht ganz geglaubt.
Iris freute sich sehr auf ihre Schwestern, die sie zuletzt bei Margaretes Beisetzung gesehen hatte, und auch darauf, das vor ihrer Hochzeit gegebene Versprechen einlösen zu können. Auch wenn sie regelmäßig miteinander telefonierten – Umarmungen waren einfach nicht zu ersetzen. Für ihre Ehe würde eine kleine Auszeit vielleicht auch heilsam sein. Seit sie sich vor drei Jahren das Jawort gegeben hatten, waren sie und Christian sieben Tage die Woche zusammen, hockten so gut wie vierundzwanzig Stunden aufeinander. So viel Nähe vermochte wohl auch die größte Liebe nicht zu verkraften.
»Ach, Großvater«, flüsterte sie, »wie gern würde ich dir meine Sorgen erzählen. Du hattest nicht nur die weltbesten Rezepte für Torten, sondern auch eines für eine glückliche Ehe; deine war es jedenfalls über viele Jahre.«
Iris konnte nach der langen Zugfahrt endlich die unangenehme Maske abnehmen und tief einatmen. Der Konstanzer Hauptbahnhof lag parallel zum Seeufer, und es roch eindeutig nach würziger Seeluft, die belebend auf sie wirkte. In ihren Adern floss Bodenseewasser, und dieser Duft war ein Lebenselixier für sie. Genau wie die strahlende Aprilsonne am tiefblauen Himmel, die ihr ein herzliches Willkommen bot.
Als sie vor knapp sechs Stunden in Köln in den ICE gestiegen war, hatte es aus dicken grauschwarzen Wolken geregnet. Die Reisenden waren mit düsteren Blicken zu den Zügen, öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxiständen gehetzt. Manche waren vielleicht nur Tagesgäste, um den berühmten Dom zu besichtigen, entspannte Gesichter hatte man dennoch lange suchen müssen. Ein Durchgangsbahnhof wie der in Köln, auf dessen elf Gleisen täglich zwölfhundert Züge einliefen oder abfuhren, die über dreihunderttausend Reisende in die Stadt brachten oder fortfuhren, lud eben nicht zum Verweilen ein. Dagegen erschien der Konstanzer Hauptbahnhof an der deutsch-schweizerischen Grenze, erbaut nach dem Vorbild des Palazzo Vecchio in Florenz, mit gerade mal drei Bahnsteigen wie ein Puppenbahnhof.
Iris amüsierte sich über ihr gutes Gedächtnis für Daten und Zahlen. Damit hatte sie schon in der Schule brilliert und Urlaubsgäste der Pension oder die Hotelgäste in Köln beeindruckt. Besucherinnen und Besucher aus kleineren Städten, die vom quirligen Großstadtleben vollkommen überwältigt waren, interessierten sich für Historie und freuten sich über Informationen zu Gebäuden, Bahnhöfen oder der Umgebung.
Im Moment fühlte sich Iris auch wie eine Touristin, die Konstanz zum ersten Mal besuchte und darauf wartete, abgeholt zu werden. Über den Köpfen der Reisenden entdeckte sie schließlich das weiße Schild mit schwarzer Aufschrift Pension König, mit dem sie selbst schon Gäste abgeholt hatte. Rose hatte wegen der momentanen Situation selbst keine Zeit, wollte aber einen der Boten schicken. Sie, Iris, solle auf jeden Fall warten, falls der Abholer nicht sofort einen Parkplatz fand.
Beim Näherkommen sah Iris, wen Rose mit dem Abholen beauftragt hatte: einen jungen Mann mit sehr kurz geschnittenen Haaren in abgewetzten Jeans und einem rosa T-Shirt, der sich neugierig umschaute.
Lächelnd ging sie auf ihn zu. »Ich bin Iris Bonhoff, die Schwester von Rose …«
Sichtlich erleichtert strahlte er sie an. »Herzlich willkommen … ich bin der Horst, Mädchen für alles. Bin ich froh, dass Sie gesund eingetroffen sind!« Er klang, als wäre er ganz persönlich dafür verantwortlich. »Die Chefin hat mir mit Kündigung gedroht, falls ich Sie nicht heil nach Hause bringe.«
»Das war bestimmt nur ein Spaß«, entgegnete Iris und musste grinsen. Die zerbrechlich wirkende Rose hatte mehr Power als drei Hotelkettenmanager zusammen. Warum sie wohl moralische Hilfe benötigte, überlegte Iris und fragte sich plötzlich, warum Rose am Telefon so kurz angebunden war. Während des Gesprächs war ihr das nicht aufgefallen. Der Tagesbetrieb in der kleinen Pension verbreitete oft Hektik, alles musste in Kürze abgehandelt werden, für privates Geplänkel blieb kaum Zeit. Doch wenn sie jetzt darüber nachdachte, war die Eile untypisch für Rose, die so schnell nichts aus der Ruhe brachte. Hoffentlich warteten nicht noch mehr Hiobsbotschaften auf sie.
»Das Auto steht ums Eck.« Horst schnappte sich den Alukoffer und schulterte die Papptafel.
Es war einer von zwei weißen Lieferwagen, auf dem die pinkfarbene Aufschrift Tortenhimmel prangte und mit dem Besorgungen erledigt, aber auch Kuchen und Torten ausgefahren wurden. Horst verfrachtete den Koffer auf die rückwärtige Ladefläche und hielt zuvorkommend die Beifahrertür auf, damit Iris bequem einsteigen konnte.
Während sie den Sicherheitsgurt in den Verschluss einhakte, stieg ihr der verführerische Duft nach Konditorei in die Nase, eine Komposition aus Vanille, kandierten Früchten, sahnigen Cremes, dem buttrigen Aroma fluffiger Cremeschnitten, dem Wohlgeruch von Marzipan. Dies alles hatte sich im Laufe der Jahre in den Sitzpolstern und den Seitenverkleidungen festgesetzt. Als sie dann auch noch den Duft schokoladiger Wiener Schnitten wahrnahm, die Spezialität von Großvater Max, musste sie schlucken. Tiefe Trauer überfiel sie, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn nie wieder würde umarmen können. Nie wieder seine faltige Wange an ihrer spüren. Nie wieder sein polterndes Lachen hören, wenn er vergnügt auf dem Rasenmäher-Traktor über die weitläufigen Grünflächen tuckerte. Nie wieder zusehen können, wie er die Rosenrabatten pflegte oder Sträuße für seine Margarete schnitt. Bei mildem Wetter hatte er oft bis abends auf der Terrasse gesessen, auf den Bodensee geblickt, eine Zigarre gepafft und für jeden Gast ein paar freundliche Worte gehabt. Iris erinnerte sich auch deutlich an seine oberste Regel: »Die Gäste stehen an erster Stelle, es gilt, sie glücklich zu machen. Dann ist auch unsere Familie glücklich.« Solange sie denken konnte, war die Pension voller glücklicher Gäste gewesen. Genau wie das Terrassencafé am Ufer des Bodensees, in dem man sich unter den alten Dachplatanen entspannen und die köstlichen Torten genießen konnte. Ob Großvater jetzt im Himmel seine Kunstwerke zauberte?, überlegte Iris. Sollte ein Jenseits nach kindlich-naiven Vorstellungen existieren, würde er dort alle mit seinen Werken beglücken.
»Waren Sie mal im Rhein schwimmen?«, unterbrach Horst ihre traurigen Erinnerungen.
»Nein, das ist zu gefährlich, obwohl man grundsätzlich dort schwimmen darf. Aber an vielen Stellen herrscht Lebensgefahr, wenn man da ins Wasser ginge, würde man innerhalb von zehn Minuten zwei Kilometer stromabwärts getrieben«, erklärte Iris ihm wie so manchem Hotelgast.
»Zwei Kilometer?«, wiederholte Horst staunend. »Das kann einem bei uns nicht passieren. Und der Dom, steht der tatsächlich über dem Bahnhof?«
»Beinahe, zumindest ist er direkt vom Bahnhof aus über eine Treppe oder mit einem Lift zu erreichen.« Iris wurde bewusst, dass sie wie eine Fremdenführerin über Köln sprach, nicht wie eine Frau, die vor gut drei Jahren dorthin gezogen war. Ja, sie hatte sich schnell eingelebt, mochte die fröhlichen Rheinländer, aber wenn sie ehrlich war, gab es eine Stelle in ihrem Herzen, die für alle Zeiten Auerbach am Bodensee, ihrer Heimat, gehörte. Umso mehr genoss sie jetzt die Fahrt am See entlang, das Glitzern des intensiv blauen Wassers, die sanft dahingleitenden Segelboote, die aus der Ferne wie weiße Striche auf leuchtendem Blau wirkten, und den lautlos dahinschwebenden Zeppelin, den sie am Horizont erspähte. Die Rundflüge über den See waren beliebte Vergnügungen, weil die meisten Touristen wegen des Sees und der Landschaft kamen. In Köln fehlte es natürlich auch nicht an gepflegten Grünanlagen wie dem Rheinpark, dem Beethovenpark oder dem Kölner Zoo, wo man sich erholen und Energie tanken konnte. Wer allerdings weitläufige Natur suchte, die man hier direkt vor der Haustür genießen konnte, musste über die Kölner Stadtgrenze fahren oder direkt ins nahe gelegene Bergische Land.
»Wir sind da«, verkündete Horst nach zwanzig Minuten, in denen er munter über seinen Job als Ausfahrer geplaudert und noch zahlreiche Fragen zu Köln gestellt hatte. Er bog auf den seitlich des Haupteingangs gelegenen Parkplatz ein und stellte den Motor ab.
Iris ahnte, wie erleichtert er über die unproblematische Fahrt war. Auch hier hatte der Verkehr merklich zugenommen. »Sie sind ein sehr guter Chauffeur«, lobte sie ihn für seine umsichtige Fahrweise.
»Oh, das ist mein Job …« Horst schien das Lob peinlich zu sein. Er sprang flink vom Sitz, umrundete den Wagen und riss so beflissen die Beifahrertür auf, als habe er eine wichtige Persönlichkeit transportiert. »Ich bringe das Gepäck schon mal rein und sage Bescheid.«
Iris nickte ihm lächelnd zu, blieb aber noch einen Moment auf dem Parkplatz stehen, um den vertrauten Anblick des Hauses mit den weißen Sprossenfenstern und den klassischen Fensterläden zu genießen. Die Großeltern hatten Anfang der 1960er-Jahre begonnen, die einfachen Fremdenzimmer mit Waschbecken nach und nach mit Duschbädern und Toiletten auszustatten. Heute verfügte die renommierte Pension über neunzehn komfortable Zimmer und eine Luxussuite auf zwei Etagen, zusätzlich zum Erdgeschoss. Unter dem hohen, ziegelgedeckten Dach ragten die Fenstergauben der privaten Räume wie kleine Nasen heraus. Im rechten, niedrigen Seitenflügel des Gebäudes war das Herzensprojekt von Großvater Max untergebracht, der Tortenhimmel. Links vom Gebäude der Wintergarten, in dem die Pensionsgäste frühstücken und durch die Glasfront auf das Terrassencafé blicken konnten, das hinter einer halbhohen Mauer am Uferrand Schutz fand. Hier saß man an Vierertischen unter leuchtend gelben Sonnenschirmen mit freiem Blick auf den See.
Der sonnengelbe Anstrich des Gebäudes war vor zwei Jahren aufgefrischt worden und vermittelte bei jeder Witterung das Gefühl von Sommerurlaub. Über dem Rundbogeneingang verkündete ein goldener Schriftzug, dass man die Pension König erreicht hatte.
Instinktiv wanderte Iris’ Blick zum Café. Natürlich saß Großvater nicht auf seinem Stammplatz. Und erst jetzt, als sie direkt vor seinem Lebenswerk vergebens nach ihm Ausschau hielt, realisierte sie seinen Tod tatsächlich.
Nachdenklich schritt sie auf das Haus zu. Was würde sich durch Großvaters Tod alles ändern? Wie würde es weitergehen ohne den freundlichen Patriarchen, dem »Fundament« des Betriebs? Wie lange würde es dauern, bis sich die Familie daran gewöhnt hatte, ihn nie wieder um Rat fragen zu können?
»Iris!«
Rose trat mit ausgestreckten Armen aus dem Haupteingang und eilte lächelnd auf sie zu. »Da bist du ja. Wie geht es dir? War die Reise anstrengend?«
Iris vernahm die Erleichterung in Roses Stimme. Sie musterte die Zweitälteste: Auf den ersten Blick vermochte sie keine Anzeichen der Erschöpfung bei der zierlichen Schwester zu erkennen. Das nachtblaue Uniformkostüm saß nicht besonders eng, es schien, als habe Rose einige Kilo abgenommen. Ihre großen hellgrünen Augen, betont von dunkler Wimperntusche, strahlten wie eh und je. Insgesamt war sie zurückhaltend geschminkt und hatte das lange naturblonde Haar im Nacken zu einem untadeligen Knoten frisiert. Niemals wäre Rose auf den Gedanken gekommen, ihre schulterlangen Haare offen zu tragen. Sie war nicht davon abzubringen, dass sie damit trotz ihrer knapp zweiunddreißig Jahre wie eine Auszubildende aussehen würde, der man die Leitung der Rezeption eines kleinen Hotelbetriebes nicht zutraute.
Iris umarmte die Schwester und drückte ihr Küsschen auf beide Wangen. »Ich bin jedenfalls heilfroh, nach knapp sechs Stunden Zugfahrt endlich wieder ohne Maske atmen zu können. Ansonsten geht es mir gut«, antwortete sie ausweichend. »Aber sag, wie geht es dir, wie kommt Viola in der Konditorei zurecht? Ich freue mich riesig, wieder hier zu sein und dich unterstützen zu können.«
Rose nahm Iris’ Arm. »Wir sind natürlich alle sehr traurig, und Großvater wird uns schrecklich fehlen. Ich bilde mir laufend ein, ihn irgendwo zu sehen, oder zu hören, wie er langsam die Treppen herunterkommt und dabei schimpft, dass er nicht mehr so springen kann wie noch vor ein paar Jahren.«
»Ich habe auch in alter Gewohnheit zum Tisch auf der Terrasse geschaut, wo er …« Iris stockte, ihr kamen die Tränen.
Rose drückte sie und zog sie vor die Auslage der Konditorei. »Wir haben ja schon am Telefon darüber geredet, dass es Großvater nicht gefallen hätte, wenn wir uns der Trauer hingeben, der Betrieb muss weiterlaufen. Die Saison beginnt jetzt im Frühjahr gerade, und die preisgekrönte Tortenbäckerin werkelt in der Backstube an einer dringenden Bestellung.«
Iris schluckte den dicken Kloß im Hals hinunter. »Unser Nesthäkchen, wer hätte gedacht, dass sie einmal die Tradition so erfolgreich fortführen würde …« Beeindruckt betrachtete sie die realistisch wirkende Attrappe einer dreistöckigen Hochzeitstorte im Schaufenster. Um die einzelnen Ebenen des schneeweißen Kunstwerks wand sich eine Kaskade aus weißen Seidenrosen mit blassrosa Rändern, die bei den essbaren Torten aus Marzipan modelliert wurden. Gekrönt war das ausgestellte Modell von einem nicht essbaren Turteltaubenpaar. »Viola ist wirklich eine Künstlerin.«
»Sie hat doch schon als Fünfjährige behauptet, ihr Leben lang nur Torten backen zu wollen«, sagte Rose.
Nickend stimmte Iris der Schwester zu. »Aber damals war es die Verlockung, niemals das Sahne-und-Zucker-Paradies verlassen zu müssen.« Sie lächelte versonnen und sah Viola noch vor sich, mit Sahneklecksen auf der zierlichen Nasenspitze oder deutlichen Schokoladenspuren um den hübschen Mund.
»Heute sind es die Wettbewerbe, die unsere kleine Schwester zu immer neuen Kreationen und Höchstleistungen anspornen«, bemerkte Rose mit hörbarer Bewunderung. »Wir können wirklich stolz auf sie sein …« Sanft zog sie Iris ins Haus. »Na komm, du bist bestimmt erschöpft von der Reise.«
Gemeinsam traten sie durch den Rundbogeneingang, durchquerten den Windfang und gelangten durch die Schwingtüre in die Lobby – eine etwas übertriebene Bezeichnung für die nicht besonders große Rezeption einer Pension Garni.
Was das familiengeführte Haus an Größe nicht bieten konnte, war von jeher durch Geschmack und Stil wettgemacht worden. Gefrühstückt wurde im Wintergarten an weiß gedeckten Tischen mit Blick auf den See, und das Frühstücksbüfett musste sich nicht hinter denen der großen Hotels verstecken. La réception, wie ihre Mutter Florence, eine gebürtige Französin, den Empfangsbereich getauft hatte, wurde im Zehn-Jahres-Rhythmus renoviert oder neu gestaltet.
Seit Iris zuletzt hier gewesen war, hatte es offensichtlich weitere Veränderungen gegeben, die sie staunend betrachtete. »Wann ist das denn passiert?«
»Hab ich das nicht bei einem unserer Telefonate erwähnt? Es war bald nach Großmutters Beerdigung, da kam doch der erste und letztes Jahr dann der zweite Lockdown über uns, da hatten wir reichlich Zeit, um notwendige Renovierungen anzugehen.« Rose schubste sie sanft mit dem Ellbogen. »Wie findest du’s?«
»Sehr elegant«, antwortete Iris. »Wände in Hellgrau hatten wir noch nie.«
»Eine Idee unserer maman. Und die beiden Sessel …«
»Die kommen mir irgendwie bekannt vor«, unterbrach Iris ihre Schwester.
»Sie standen ewig im Keller, aber seit wir sie mit diesem dunkelroten Samt haben beziehen lassen, sehen sie aus wie vom teuersten Designer. Nur der Glastisch ist neu, oder neu-gebraucht, über Kleinanzeigen erstanden.«
»Und wo ist die antike Standuhr hingekommen? Die hatte doch Großvater angeschafft.« Iris fand das Schlagen zu jeder Viertelstunde immer besonders heimelig.
»Die passte nicht mehr recht zum neuen Design, aber keine Sorge, wir halten sie natürlich in Ehren, sie steht jetzt im Salon, in unserem privaten Wohnzimmer«, antwortete Rose.
»Die Veränderung ist wirklich gelungen, einfach wunderschön.« Iris war begeistert. Ihr gefiel auch der halbrunde Anmeldetresen an der Stirnseite des rechteckigen Raumes, der ebenfalls in Dunkelrot lackiert und mit einer schwarzen Steinplatte als Ablagefläche versehen worden war. Das modern anmutende Ambiente erhielt den nötigen Stilbruch durch den schweren, antiken Kristallspiegel in einem verschnörkelten Rahmen, der aus Frankreich stammte.
»Willst du erst auspacken und dich frisch machen oder was essen und trinken?«, unterbrach Rose ihre Betrachtung.
»Genau in dieser Reihenfolge, aber zuerst möchte ich kurz die Eltern begrüßen und Papa trösten. Er ist sicher sehr traurig.«
Rose biss sich kurz auf die Unterlippe, wie schon als Kind, wenn sie etwas angestellt hatte. »Die Eltern zu begrüßen wird schwierig …«, murmelte sie merkwürdig verlegen.
»Sind sie unterwegs in Sachen Beerdigung?«
»Sie sind verreist«, antwortete Rose leise, weil in dem Moment ein älteres Ehepaar die Treppe herunterkam und die Rezeption mit freundlichem Gruß durchquerte. »Frau Brandl, Herr Brandl, viel Vergnügen«, wünschte Rose mit verbindlichem Lächeln. »Ganz liebe Stammgäste, die praktisch zur Familie gehören, vielleicht erinnerst du dich an das Paar, die kommen ja schon ewig zu uns«, flüsterte sie Iris zu.
»Hast du gesagt, verreist? Die Eltern sind verreist, oder habe ich mich verhört?«, verlangte Iris zu wissen, als die Brandls das Haus verlassen hatten.
»Nein, du hast dich nicht verhört. Am Telefon wollte ich nicht darüber reden, du hättest dich unnötig verrückt gemacht und doch nichts ändern können.«
»Ich bin platt! Großvater stirbt, und Sohn und Schwiegertochter brechen ihren Urlaub nicht ab?«
»Die Reise war seit Langem geplant.« Rose griff nach dem Alukoffer. »Ich bringe dich jetzt erst mal nach oben, dort können wir ungestört weiterreden.«
Über die schwach nach Honigwachs duftende Treppe aus hellem Eichenholz stiegen sie hinauf ins Dachgeschoss. Ähnlich wie das letzte Geschoss im Hotel ihrer Schwiegereltern war es im Laufe der Jahre immer weiter ausgebaut worden. Nun befanden sich hier oben insgesamt sechs Privatzimmer und drei Badezimmer. Mit jeder der über die Jahrzehnte leicht ausgetretenen Stufen fühlte Iris die Anspannung abfallen. Oben angekommen atmete sie tief durch. Zuhause.
Max König hatte hier unterm Dach mit seiner Frau Margarete den größten, zum See gelegenen Raum bewohnt. Daneben befand sich das Zimmer seines Sohnes Herbert und dessen Frau Florence. Am Ende des Flurs wohnte Tante Annemarie. Iris, Rose und Viola hatten jeweils eigene »Stübchen«, aus deren Fenstern man den Ort überblicken konnte, und ein gemeinsames kleines Badezimmer. Nach Iris’ Heirat war ihr Zimmerchen unverändert geblieben, damit sie so oft wie möglich zu Besuch kommen und sich heimisch fühlen konnte.
»Das Bett ist frisch bezogen«, erklärte Rose, während sie die Tür öffnete und den Koffer neben dem Bett abstellte.
Iris musste schlucken, als sie eintrat. Bei ihrem letzten Aufenthalt hatte sie in diesem Zimmer mit Christian gewohnt. Heute meinte sie, den Duft seines Aftershaves noch zu riechen. »Das ist sehr lieb, aber es hätte mir nichts ausgemacht, das selbst zu erledigen.«
»Gehört alles zum Service.« Rose grinste und deutete auf den Stapel Handtücher, der auf dem Bett bereitlag. »Unser Bad findest du ja allein?«
»Wenn es sich immer noch auf der anderen Flurseite befindet, dann bestimmt«, alberte Iris und ließ sich auf dem Rand des Bettes nieder. »Aber jetzt setz dich bitte und erzähle, warum die Eltern auf Reisen sind.«
»Willst du nicht erst auspacken?«, versuchte Rose das Thema zu wechseln.
»Nein, will ich nicht«, entgegnete Iris unwirsch. »Aber du scheinst mir etwas zu verheimlichen. Ist was passiert? Muss ich mir Sorgen machen?«
Endlich nahm Rose neben ihr auf dem Bett Platz. »Nein, reg dich ab, alle sind gesund und munter. Die Eltern sind sozusagen auf ärztlich verordneter Kreuzfahrt.«
»Kreuzfahrt klingt sehr schön, ärztlich verordnet allerdings weniger. Also, was steckt dahinter?«, verlangte Iris zu wissen.
»Papa brauchte dringend Erholung, du weißt, wie er immer geschuftet und sich nie Ruhe gegönnt hat. Die Pension, die Gäste und auch das Backen … Morgens der Erste, abends der Letzte. Auf Dauer geht das an die Substanz, na ja … und bei Papa führte das zu einem leichten Infarkt …«
Erschrocken presste Iris die Lippen aufeinander. Erst der Großvater und jetzt auch noch der Vater. »Herzinfarkt? Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«
Rose tätschelte beruhigend ihren Arm. »Ich wollte dich nicht noch zusätzlich aufregen. Außerdem war es nicht weiter schlimm, nur ein Warnsignal, das nach Meinung des Arztes unbedingt beobachtet werden sollte. Papa bekommt Medikamente, und Mama bestand darauf, endlich den Urlaub zu machen, den Papa ihr seit dreißig Jahren immer wieder versprochen hat. Er braucht Erholung, und es sollte eine Reise sein, die man nicht so ohne Weiteres abbrechen kann.«
»Da bot sich eine Kreuzfahrt an«, folgerte Iris. »Unsere maman war schon immer sehr einfallsreich. Aber mich wundert, dass Papa nicht zurückkommen will. Die Schiffe laufen doch während der Reisen verschiedene Häfen an, da könnten sie problemlos von Bord gehen.«
»Könnten sie«, stimmte Rose ihr zu. »Aber das würde Großvater auch nicht aus dem Jenseits zurückholen.«
Iris musterte ihre Schwester irritiert. »Jenseits – seit wann redest du so blumig?«
»Das waren Mutters Worte, als ich mit ihr telefoniert habe«, sagte Rose. »Sie konnte Papa überzeugen, die Reise nicht vorzeitig zu beenden, denn Großvater wird eingeäschert, und die Beisetzung der Urne findet sowieso erst in zwei Wochen statt. Bis dahin sind sie zurück. Die Organisation übernimmt der Bestatter, wir müssen uns um nichts kümmern, beziehungsweise nur um Kleinigkeiten, wie den Blumenschmuck auszusuchen, was ich bereits erledigt habe. Was hätte es geändert, den gesundheitsfördernden Urlaub abzubrechen? Papa soll sich auskurieren, anständig erholen und gesund wiederkommen. Da war ich mit Mama einer Meinung. Aber umso schöner und hilfreich für mich ist es, dass du gekommen bist.« Rose blickte auf ihren linken Arm.
»Neue Uhr?« Iris betrachtete das schwarze Modell an Roses Handgelenk, das die Uhrzeit mit leuchtenden Zahlen anzeigte wie ein Smartphone und in seiner Größe eher an einen Männerarm gepasst hätte.
Rose strich kurz über das Armband. »Hat mir ein Personal Trainer, der Privatstunden anbietet, als Dankeschön für das Auslegen seiner Visitenkarten geschenkt.«
»Personal Trainer?« Iris überlegte, ob vielleicht mehr dahintersteckte, und suchte im Gesicht ihrer Schwester nach verräterischen Spuren wie gerötete Wangen oder glänzende Augen.
Rose grinste. »Ich weiß, was du denkst. Aber es ist eine rein geschäftliche Angelegenheit, und ich habe die Uhr auch erst angenommen, als er schon einigen Gästen Stunden geben konnte. Er hat außerdem behauptet, es sei ein Werbegeschenk. Wenn du magst, leihe ich sie dir mal aus …«
»Danke, ausprobieren würde ich sie tatsächlich gern mal.«
»Ich muss wieder runter, wir quatschen später weiter …« Rose schnellte hoch, drückte Iris einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging zur Tür. »Pack in Ruhe deine Sachen aus und mach dich frisch.« Mit einer raschen Handbewegung zog sie den schmalen Rock zurecht und verschwand im Halbdunkel des Flurs.
»In Ordnung, dann bis später!«, rief Iris der Schwester nach.
Iris öffnete die beiden Flügel und lehnte sich ans Fensterbrett, um die Aussicht in sich aufzunehmen.
Gedankenverloren wanderte ihr Blick über die Dächer von Auerbach. Inmitten der meist rot gedeckten Häuser des kleinen Orts ragte der Zwiebelturm der weiß gekalkten Kirche heraus, in der sie und Christian getraut worden waren. Am Arm ihres Vaters war sie den kurzen Weg zum Altar geschritten, wo Christian sie mit glänzenden Augen erwartet hatte. Nie würde sie die Aufregung, das Zittern am ganzen Körper und den rasenden Herzschlag vergessen. Das Glücksgefühl, das durch ihren Körper geströmt war, als Christian dem Priester mit »Ja« geantwortet und sie dann lächelnd angeschaut hatte. Würde Christian sie heute noch einmal fragen, sie würde ihm wieder um den Hals fallen und mit Freuden seine Frau werden, trotz der unerfüllten Träume von einer Familie mit Kindern. Sie war jetzt dreiunddreißig Jahre alt, und mit jedem verstreichenden Monat tickte ihre biologische Uhr lauter.
Seufzend riss sie sich vom vertrauten Anblick ihres Heimatdorfes los, um den Koffer auszupacken. Der Inhalt war schnell im Schrank verstaut, dann kurz ins Bad und etwas Leichteres anziehen.
Sie zog die Jeans und den weiß-blau gestreiften Baumwollpulli aus und verließ in Unterwäsche das Zimmer. Im Flur verharrte sie einen Moment und überlegte, in Großvaters Zimmer zu gehen, um dort eine Weile an ihn zu denken. Das Betreten war zu seinen Lebzeiten ein großes Tabu gewesen. Die Zimmermädchen durften dort weder Staub wischen, noch die Böden reinigen oder die Betten frisch beziehen. All das hatte seine Frau erledigt und nach ihrem Tod Tante Annemarie – allerdings unter seiner Aufsicht. Als hätte er etwas zu verbergen gehabt. Iris drückte auf die Türklinke – verschlossen. Der Eintritt war also immer noch verboten.
Im Badezimmer lag frische Seife in der weißen Porzellanschale, und im dreitürigen Spiegelschrank war eine Seite für sie leer geräumt worden.
Die liebe Rose, dachte Iris, sie kümmerte sich stets auch um Nebensächlichkeiten. Mit einem warmen Gefühl für ihre toughe Schwester verstaute sie den Inhalt des Kulturbeutels im Schrank. Sie besaß nur wenig Pflegeprodukte: feste Seife für das kurz geschnittene Haar und zum Duschen, Creme fürs Gesicht und eine Bodylotion. In einer Seitentasche entdeckte sie einen noch unbenutzten Schwangerschaftstest. Er musste noch von der letzten Reise nach Auerbach stammen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie Christians Handschrift erkannte: Love hatte er mit rotem Stift in ein Herz gemalt.
Der Beginn ihrer Ehe war wie das Betreten eines fremden, verheißungsvollen Landes gewesen, in dem die Sonne schien, Blumen an den Wegen blühten, Schmetterlinge umherflogen, Vögel vergnügt zwitscherten – das jedenfalls war ihre romantische Vorstellung gewesen. Liebe überwindet alle Hürden, hatte sie geglaubt und ihr Leben an Christians Seite so deutlich vor sich gesehen, als könne sie in eine gläserne Kugel schauen und ganz klar erkennen, was sie erwartete. Die Flitterwochen auf den Seychellen waren dann wie der Himmel auf Erden. Die ersten Monate ihrer Ehe glichen einem ruhigen, von der Sonne gewärmten See, auf dem Seerosen blühten und über dessen spiegelglatte Oberfläche schillernde Libellen schwirrten.
Iris dachte zurück an den allerersten Babytest kurz nach der Hochzeitsreise. Voller Hoffnung hatte sie auf das Ergebnis gewartet und fühlte noch heute die Enttäuschung, als es negativ war. Christian hatte es sportlich genommen. »Nicht jeder Schuss kann ein Treffer sein«, hatte er gesagt und ihr dann monatlich einen wunderschönen Blumenstrauß überreicht, in dem ein Schwangerschaftstest eingebunden war. Anfangs war sie gerührt von der liebevollen Geste, doch mit jedem »negativen« Monat wurden ihre Nerven dünner. Sie diskutierten darüber, wessen Schuld es war. Ob sie zu viel arbeitete, zu ungesund aß oder vielleicht gar keine Kinder bekommen konnte.
Im verheißungsvollen Land ihrer jungen Ehe zogen die ersten Wolken auf, Windböen verscheuchten die Libellen, und die Sonne verdunkelte sich. Als sie es schließlich gewagt hatte, anzudeuten, ob das Problem nicht auch bei ihm liegen könne, hatten sie sich zum ersten Mal heftig gestritten. Danach hatte Christian drei Tage lang kein einziges Wort mit ihr gesprochen.
»Iris, bist du da drin?«
Das war Violas sanfte Stimme. Unverkennbar.
»Moment, bin gleich fertig …« Eilig wusch sie sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, bevor sie die abgeschlossene Badezimmertür öffnete und von ihrer jüngsten Schwester angestrahlt wurde.
Viola, in schwarzen schmalen Hosen, einer knapp sitzenden weißen Patisserie-Jacke mit Stehkragen, schwarzen Druckknöpfen und schwarzer Paspeleinfassung, war noch schöner geworden. Zwar hatte sie einige Kilo angesetzt, was ihrer betörenden Ausstrahlung jedoch keineswegs schadete. Etwas moppelig war sie schon als Kind gewesen, tägliche Naschereien in einer Backstube gingen an niemandem spurlos vorbei. Dennoch war Viola mit den glatten, dunklen Haaren, den veilchenblauen Augen und der hellen Haut eine ungewöhnliche Erscheinung, die an eine Porzellanpuppe erinnerte. Wo auch immer Viola auftauchte, zog sie alle Blicke auf sich, und junge Männer buhlten um ihre Aufmerksamkeit. Violas letzter Freund war der Ansicht gewesen, sie sehe der jungen Elizabeth Taylor ähnlich, was zu einem heftigen Streit geführt hatte. Viola wollte nicht mit einem toten Filmstar verglichen werden.
»Schwesterchen, herzlich willkommen, Begrüßungs-Kuchen!« Lächelnd streckte Viola ihr einen vanillegelben Teller entgegen. Darauf eine Spitzenserviette und drei schneeweiße Petits Fours in Form kleiner Kissen: eines mit Zuckerglasur, zartlila Perlen und Blüten, eines mit rosaroter Schleife, das dritte gekrönt von kandierten Veilchen.
Diese zuckersüßen »Stückchen« hatte Vater Herbert jeweils zur Geburt seiner Töchter kreiert, eine Tradition in der Konditorfamilie König. Jedes Neugeborene wurde mit einem Gebäck oder einer Torte begrüßt. Als Tante Annemarie auf die Welt gekommen war, hatte Max die Anna-Torte für sie gebacken, eine Kuppeltorte gefüllt mit leichter Buttercreme und Ananas, von Schokolade überzogen, die bis heute sehr beliebt bei Kunden und Gästen war. Seinem Sohn Herbert widmete Max den Schokoberg, ein Biskuit-Gebäck mit Nougatfüllung, Rumrosinen und Schokoladenüberzug.
Iris nahm den Kuchenteller entgegen und schob Viola über den schmalen Flur in ihr Zimmer. »Wie lieb von dir! Ich muss mir nur schnell etwas anziehen, dann können wir runtergehen, eine Tasse Kaffee dazu trinken und vorübergehend alle Sorgen vergessen.«
Viola musterte sie mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Streit mit Christian?«
»Nein, nein«, versicherte Iris eilig. »Aber ich würde mich gern auf die Terrasse an Großvaters Tisch setzen und ihn auf diese Weise ehren. Vielleicht sogar eine Zigarre im Aschenbecher verbrennen. Ich glaube, das würde ihm gefallen, und dann stellen wir uns vor, er säße neben uns. Oder findest du das albern?« Iris sah, dass Violas Augen tränenfeucht glitzerten.
»Nein … das ist …« Die Stimme ihrer Schwester klang belegt, doch dann holte sie Luft und hatte sich offensichtlich wieder unter Kontrolle. »Eine sehr schöne Idee, wir locken Rose hinter der Rezeption hervor und setzen uns gemeinsam auf die Terrasse.«
»Ich hoffe, Rose hat eine halbe Stunde Zeit«, überlegte Iris halblaut, während sie in ein dunkelblaues Baumwollkleid mit halblangen Ärmeln und weitem Rock schlüpfte und dazu weiße Turnschuhe anzog.
Viola wischte sich mit fahrigen Händen einen unsichtbaren Krümel von der weißen Jacke. »Wer hat in der Gastronomie und in einer Pension schon jemals für irgendwas Zeit, man muss sie sich einfach nehmen. Großvaters Tod ist Anlass genug, und du warst vor zwei Jahren das letzte Mal zu Hause.«
Iris drückte der Schwester einen Kuss auf die rundliche Wange. »Na ja, genau genommen bin ich in Köln zu Hause.«
»Du hast nach Köln geheiratet«, korrigierte Viola altklug, während sie Arm in Arm die Treppen nach unten stiegen. »In deinen Adern fließt Bodenseewasser, und Auerbach, wo du geboren und aufgewachsen bist, wird immer deine Heimat bleiben. Egal, wie lange du im Rheinland lebst.«
Iris nickte versonnen. Ziemlich genau das hatte sie bei ihrer Ankunft auch gedacht.
Die Gedenkzeit für Großvater Max fiel dann doch dem niemals ruhenden Pensionsbetrieb zum Opfer. Überraschungsgäste ohne Reservierung wollten versorgt und das einzige noch freie Doppelzimmer vor der Vergabe auf Makellosigkeit geprüft werden. Rose bat Iris, die Aufgabe zu übernehmen, die gewöhnlich Tante Annemarie innehatte, da die Zimmermädchen nur bis mittags im Haus waren.
»Wo ist denn Tante Annemarie? Ich habe sie noch gar nicht begrüßt«, erkundigte sich Iris.
»Ja … also … die ist im Moment … ach, das ist schwierig zu erklären«, stotterte Rose ausweichend. »Du kannst ihr später Hallo sagen.«
Das Zimmer in der ersten Etage, das größte und schönste des Hauses, auch Hochzeitssuite genannt, verfügte über einen Balkon, von dem aus man einen grandiosen Blick auf den Bodensee hatte. Die langsam sinkende Sonne tauchte alles in rötlichen Schimmer und ließ den See glitzern wie ein Meer aus rosaroten Kristallen. Das Zimmer selbst, ausgestattet mit einem extra breiten Himmelbett, war in warmes Licht getaucht.
Der erste Eindruck war tadellos. Dennoch kontrollierte Iris alles besonders gründlich mit weißen Handschuhen, wie es in guten Häusern üblich war. Auch die weniger sichtbaren Stellen unterm Bett, hinter den Vorhängen oder die oberen Fächer im Schrank. Die weißen Handschuhe blieben staubfrei, und sie nahm sich vor, den Zimmermädchen ein Lob auszusprechen. In der Hotel- und Gaststättenbranche brachte gutes Personal den halben Umsatz – eine Grundregel, die sie schon als Kind verstanden hatte und die ihnen in der Hotelfachschule täglich eingetrichtert worden war.
Als sie kurz darauf die Gäste, ein etwa siebzig Jahre altes Ehepaar, in das Zimmer geführt hatte, entschlüpfte der Frau ein bewundernder Seufzer. »Oh, das ist einfach zauberhaft, da möchte man glatt noch einmal auf Hochzeitsreise sein.«
»Hier werden wir uns bestimmt wohlfühlen«, fügte der grauhaarige Ehemann hinzu und legte den Arm um seine Gattin.
»Angenehmen Aufenthalt«, wünschte Iris und übergab lächelnd den Schlüssel.
»Den werden wir sicher haben«, erwiderte der Mann, sagte »Moment noch« und kramte nach Kleingeld.
»Nicht nötig, ich gehöre zum Haus«, unterbrach Iris ihn mit einer Handbewegung. »Wenn Sie zufrieden waren, können Sie Trinkgelder für den Zimmerservice gern unters Kopfkissen oder vor Abreise an der Rezeption hinterlegen.«
Er nickte freundlich. »Wird gemacht.«
Auf dem Weg nach unten dachte Iris an ihre Hochzeitsnacht, die sie in diesem Himmelbett verbracht hatten, bevor sie auf die Seychellen geflogen waren. Bedrückt fragte sie sich, ob sie und Christian im Alter noch zusammen sein, Kinder haben und sich noch genauso lieben würden wie heute. Dass sie sich liebten, daran zweifelte sie nicht, auch wenn es sich im Moment nicht so anfühlte.
Hör auf, über die Zukunft nachzudenken, das bringt doch nichts, schalt sie sich und lief zwei Stufen auf einmal hinunter, um von Rose neue, ablenkende Aufträge zu erhalten. Ständig über ihre Ehe zu grübeln, der sie doch für eine Weile hatte entkommen wollen, war so unsinnig, wie das Bodenseewetter fürs nächste Jahr vorherzusagen.
In la réception sah sie von Rose hinter dem Tresen nur das blonde Haar und die Stirn. Die Schwester blickte auf, als sie Schritte hörte, und schaute sie erwartungsvoll an. »War alles in Ordnung?«
»Besser ginge es nicht«, antwortete Iris. »Das Personal war sehr gründlich, und du weißt, mir entgeht nichts.«
Rose verdrehte amüsiert die hellgrünen Augen. »Du und deine weißen Handschuhe … Aber es stimmt, Marcella und Antonella, zwei Schwestern, sind wahre Goldstücke.«
»Die Namen klingen italienisch.«
»Die Eltern stammen aus den Dolomiten, führen aber seit dreißig Jahren eine Eisdiele in Meersburg. Die beiden sind übrigens dunkelblond, mit blaugrünen Augen, und könnten genauso gut aus Norddeutschland stammen. Nach einer Probezeit habe ich sie letzten Sommer fest angestellt, nachdem ich vorher eine Zeit lang schlechte Erfahrungen mit wechselndem Personal von verschiedenen Reinigungsfirmen gemacht hatte. Die Mädchen gehören jetzt praktisch zur Familie, sie werden dir gefallen«, berichtete Rose, während sie nebenbei Blätter verschob. »Absolut loyal und zu tausend Prozent ehrlich.«
»Jetzt erinnere ich mich, du hast die neuen Zimmermädchen in einem unserer Telefonate erwähnt.« Iris lehnte sich an den dunkelroten Anmeldetresen und sah den chaotischen Papierstapel, dessen System sie auf die Schnelle nicht durchschaute. »Hast du sie mit deinem altbewährten Geldschein-Trick getestet?«
Rose legte den Kugelschreiber zur Seite und zwinkerte ihr vergnügt zu. »Keiner ist zuverlässiger.«
»Erzähl!«
»Drei Wochen nach ihrer Einstellung habe ich einen Fünfzigeuroschein in der Nachttischschublade eines Abreisezimmers deponiert, auch um zu testen, ob sie wirklich überall Staub wischen. Sie kamen völlig aufgelöst zu mir, übergaben den Fünfziger geradezu feierlich und versicherten, dass sie nur diesen einen Schein und sonst nichts in dem Zimmer gefunden hätten. Sie bestanden sogar darauf, dass ich sofort ihre Taschen durchsuche.«
»Wie außergewöhnlich! Jetzt bin ich wirklich gespannt, die italienischen Schwestern persönlich kennenzulernen.«
»Die beiden sind eine Bereicherung für uns, und ich habe sie auch sehr gelobt für ihre Ehrlichkeit.«
»Wenigstens das! Denn eigentlich ist es ja ziemlich hinterhältig, Personal ohne Vorkommnisse zu verdächtigen«, rügte Iris ihre Schwester.