Die schwierige Tochter - Patricia Vandenberg - E-Book

Die schwierige Tochter E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Dr. Daniel Norden war es gewohnt, von seinen beiden Damen, Dorthe Harling und Franzi Spar, mit einem fröhlichen Guten Morgen begrüßt zu werden, wenn er die Praxis betrat. An diesem Novembermorgen, der trübe und regnerisch war, fand er Dorthe allein vor, und sie machte kein fröhliches Gesicht. »Hallo, was ist denn? Ist Franzi krank?« fragte er. »Sie mußte zum Zahnarzt und kommt etwas später.« »Aber deshalb brauchen Sie doch nicht so kummervoll dreinzuschauen, Dorthe«, sagte er. »Darum geht es auch nicht.« »Dann geht es wohl mal wieder um Jocelyn?« fragte er mitfühlend. Dorthe nickte. Ihre Tochter Jocelyn war für sie ein Sorgenkind. Nach Dorthes Scheidung war Jocelyn bei ihrem Vater in Südafrika geblieben, was Dorthe schon genug Kummer bereitet hatte. Aber als Jocelyn dann langsam erwachsen wurde und es auch mit dem Vater Differenzen gab, wollte sie gern zur Mutter nach München, aber damit war wiederum Dr. Wilm Harling, Arzt in Kapstadt, nicht einverstanden. Nach einigen mißglückten Liebesaffären hatte er nämlich gehofft, daß seine Frau, die inzwischen zudem eine recht beträchtliche Erbschaft gemacht hatte, wieder zu ihm zurückkehren würde. Doch daran dachte Dorthe nicht. Sie hatte in ihrer Ehe zuviel schlucken müssen.

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Dr. Norden Bestseller – 292–

Die schwierige Tochter

Patricia Vandenberg

Dr. Daniel Norden war es gewohnt, von seinen beiden Damen, Dorthe Harling und Franzi Spar, mit einem fröhlichen Guten Morgen begrüßt zu werden, wenn er die Praxis betrat.

An diesem Novembermorgen, der trübe und regnerisch war, fand er Dorthe allein vor, und sie machte kein fröhliches Gesicht.

»Hallo, was ist denn? Ist Franzi krank?« fragte er.

»Sie mußte zum Zahnarzt und kommt etwas später.«

»Aber deshalb brauchen Sie doch nicht so kummervoll dreinzuschauen, Dorthe«, sagte er.

»Darum geht es auch nicht.«

»Dann geht es wohl mal wieder um Jocelyn?« fragte er mitfühlend.

Dorthe nickte. Ihre Tochter Jocelyn war für sie ein Sorgenkind. Nach Dorthes Scheidung war Jocelyn bei ihrem Vater in Südafrika geblieben, was Dorthe schon genug Kummer bereitet hatte. Aber als Jocelyn dann langsam erwachsen wurde und es auch mit dem Vater Differenzen gab, wollte sie gern zur Mutter nach München, aber damit war wiederum Dr. Wilm Harling, Arzt in Kapstadt, nicht einverstanden. Nach einigen mißglückten Liebesaffären hatte er nämlich gehofft, daß seine Frau, die inzwischen zudem eine recht beträchtliche Erbschaft gemacht hatte, wieder zu ihm zurückkehren würde. Doch daran dachte Dorthe nicht. Sie hatte in ihrer Ehe zuviel schlucken müssen. Ihr Stolz hatte sich gegen die Demütigungen durch andere Frauen aufgelehnt, und sie hatte einen zu starken Charakter, um nur wegen des Kindes dies weiter zu erdulden. Aber Jocelyn hatte ihren Vater heiß geliebt und sich auch sehr von ihm beeinflussen lassen.

»Wenn Sie sich aussprechen wollen, Dorthe«, sagte Dr. Norden in das Schweigen hinein, »Sie wissen, daß ich helfen möchte, wenn es möglich ist.«

»Danke«, sagte sie leise. »Wenn später Zeit ist – ich habe einen Brief von Jocelyns Vater bekommen, der mich sehr beunruhigt.«

Aber so wichtig nahm sie sich doch nicht, daß ihretwegen die Patienten warten sollten. Und bei diesem Wetter ging es in der Praxis turbulent zu. Franzi kam gegen neun Uhr. Sie hatte eine dicke Wange, aber sie war trotzdem zu gewissenhaft, um Dorthe allein zu lassen. Dorthe verstand sich mit dem jungen Mädchen, das noch in der Ausbildung war, sehr gut, und wie oft hatte sie schon gewünscht, daß Jocelyn so wäre wie Franzi. Wieviel leichter würde dann alles sein. Aber Jocelyn war schon immer ein schwieriges Kind gewesen, zwischen den Eltern stehend, weil die Mutter das Beste für sie wollte, und der Vater sie sträflich verwöhnte, damit sie gegen Dorthe Partei ergriff.

Dorthe hatte erfahren, wie schnell die erste Liebe dahin sein konnte und welche bitteren Erfahrungen man im Ehealltag machen mußte.

»Dieser blöde Weisheitszahn«, murmelte Franzi, als die Schmerzen wieder anfingen.

»Du gehst heim, nimmst eine Tablette und legst dich hin«, sagte Dorthe. »Ich komme schon allein zurecht. Du kannst dich doch gar nicht konzentrieren, Kleine.«

Aber erst Dr. Norden mußte ein Machtwort sprechen, damit Franzi wirklich ging. Sie konnte kaum noch aus den Augen schauen, und Dorthe hatte dann einfach ein Taxi bestellt.

»Es tut mir ja so leid«, murmelte Franzi.

»Und ich wäre ein sehr schlechter Arzt, wenn ich dich nicht heimschicken würde«, erwiderte Dr. Norden. »Gute Besserung, Franzi.«

Dorthe wurde es aber nicht leicht gemacht an diesem Vormittag, denn Dr. Norden hatte ein paar Patienten und Patientinnen, die von ihm eine Fernheilung erwarteten und ewig lange Telefonate führten, wenn sie mit Dr. Norden verbunden wurden. Aber da blieb Dorthe an diesem Vormittag hart und erklärte, daß der Doktor wirklich keine Zeit hätte und man sich in die Praxis bemühen möge, wenn etwas Besonderes vorläge. Sie kannte ja ihre Pappenheimer.

Aber da war auch die Josefa Grübel, die einen ganz besonderen Tick hatte, dabei aber auch eine besondere Taktik. Sie gab sich nämlich abwechselnd als Josefa und dann als ihre Schwester Lotte aus, wenn sie nicht gleich verbunden wurde. Sie wußte sowieso alles besser als Dorthe, und sie hatte immer wieder neue Krankheiten. Dr. Norden meinte, daß sie ein Gesundheitslexikon zu Rate zöge und dann nach dem Alphabet vorgehen würde. Anfangs hatte er ja noch Nachsicht geübt, aber dann war es ihm zu bunt geworden. Er wollte sie an Fachärzte überweisen, doch dagegen sträubte sie sich.

Dorthe wurde an diesem Morgen aggressiv, als sich nach Josefa diese wieder klagend als Lotte meldete und sich beschwerte, daß man ihrer kranken Schwester keinen Rat erteile.

»Nur per Telefon kann sich der Herr Doktor wirklich kein Bild machen und keine Diagnose stellen«, erklärte Dorthe, »und momentan kann er keinen Hausbesuch machen. Wenn es ein Notfall ist, schicken wir den Notarzt.«

»Wir wollen ja nur ein Rezept«, sagte die Anruferin daraufhin.

»Dann kommen Sie doch, wenn Ihre Schwester bettlägerig ist«, sagte Dorthe ungeduldig.

»Aber ich kann sie doch nicht allein lassen«, bekam sie zur Antwort.

Dorthe stöhnte in sich hinein. Sie hatte bisher weder eine Josefa noch eine Lotte Grübel kennengelernt. Und Dr. Norden hatte bei zwei Hausbesuchen auch nur besagte Josefa vorgefunden, die behauptete, das Haus nicht verlassen zu können. Aber er hatte niemanden bemerkt, der sie versorgt hätte.

Sie war keine eingebildete Kranke, das wollte er gewiß nicht behaupten, aber er stufte sie als schizophren ein. Bewegen konnte er sie allerdings auch mit aller Behutsamkeit nicht, einen Facharzt hinzuzuziehen.

Dorthe fragte Dr. Norden, was sie sagen sollte, falls nun wieder Josefa Grübel anrufen würde, denn das Spielchen kannte sie auch.

Er sagte es selbst, daß er nach der Sprechstunde kommen würde, aber er wünsche dringend, daß sie anwesend wäre. Eine Antwort wartete er nicht ab. Es gab wirklich wichtigere Dinge für ihn, als lange Telefonate zu führen.

Da war Maria Hausner, die mit ungeheurer Tapferkeit gegen den Krebs ankämpfte. Eine Totaloperation hatte sie schon vor zehn Jahren hinter sich gebracht, dann auch die Brustamputation. Aber sie gab nicht auf. Klein und dünn war sie, und sie hätte gewiß genug zu klagen gehabt, aber von ihr hörte man kein Jammern. Sie bekam täglich ihre Spritzen, und sie schwor darauf, daß sie damit auch noch siebzig werden würde, weil niemand in ihrer Familie früher gestorben wäre als mit siebzig. Und sie wollte noch erleben, daß ihr Enkel, der Markus, seinen Doktor machte und ein so tüchtiger Arzt werden würde wie Dr. Norden.

Daran zweifelte Daniel Norden nicht. Er kannte Markus, und er wußte, wie verzweifelt dieser junge Mann nach einer Heilungschance für seine über alles geliebte Großmama suchte.

Daniel Norden bewunderte Maria Hausner. Für sie nahm er sich immer Zeit, aber sie gehörte zu den Rücksichtsvollen, die ihn nicht zu sehr beanspruchen wollte. So war das meistens, daß die Schwerkranken das meiste Verständnis für ihren Doktor aufbrachten, auf den sie sich ja in heiklen Situationen immer verlassen konnten.

»Morgen komme ich bei Ihnen vorbei, Frau Hausner«, sagte er, »damit Sie bei dem Nebel nicht aus dem Haus müssen.«

»Aber meinetwegen sollen Sie doch nicht extra Zeit opfern«, erwiderte sie.

»Das ist kein Opfer, und außerdem ist es ja nicht so weit von uns entfernt. Sie gehen jetzt doch hoffentlich nicht zu Fuß.«

»Nein, nein, ich nehme mir schon ein Taxi«, sagte sie. »Markus würde mich schön schimpfen, wenn ich so weit gehen würde. Er ist ja so ein guter Junge, Herr Doktor. Er wird bestimmt auch ein guter Arzt, und ich wünsche ihm dann auch so eine Frau wie Ihre Fee.«

»Er wird sich schon die Richtige suchen, Frau Hausner«, sagte Daniel Norden.

»Seine Mutter war ja auch eine liebe Frau, aber leider ist sie viel zu früh gestorben. Ja, da fragt man sich doch manchmal, wie das so zugeht im Leben, und vielleicht hätte ich auch aufgegeben, wenn der Bub mich nicht so nötig gebraucht hätte.«

»Sie geben nicht auf. Sie sind eine Kämpfernatur, Frau Hausner. Und es würden mehr fertig werden mit der Krankheit, wenn sie solch ein Kämpferherz hätten.«

Sie lächelte, und ihre gütigen Augen blickten Dr. Norden an. »Aber wenn meine Zeit abgelaufen ist, nützt alles Kämpfen nichts mehr, Herr Doktor. Da setzt der Herrgott den Schlußpunkt. Aber Sie haben mir ja auch so viel geholfen.«

Möge diese Tapferkeit belohnt werden, dachte Dr. Norden. Und wenn sie schon nicht mehr erleben dürfte, daß ihr Markus auch ein Doktor ist, so soll sie einen guten Tod haben, nichts mehr spüren müssen. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Ja, das wäre ihr zu wünschen.

»Eine triste Stimmung«, sagte er zu Dorthe.

»November«, sagte sie.

»Aber die Adventszeit steht vor der Tür. Was ist mit Jocelyn? Hat sie es sich wieder mal überlegt und bleibt doch?«

»Sie ist schon sechs Wochen weg von Kapstadt«, erwiderte Dorthe tonlos. »Ihr Vater schreibt, daß ich doch wenigstens Nachricht geben könnte, ob sie gut angekommen ist und ob sie sich wohl fühlt. Er könnte doch wohl wenigstens erwarten, daß ich ihm Nachricht gebe.«

»Warum erwartet er es von Ihnen, nicht von Jocelyn?«

»Er kennt sie doch. Er bekommt jetzt zurück, was er ihr anerzogen hat, um mich zu kränken. Aber ich mache mir Sorgen. Wo mag sie sein? Hat sie denn genug Geld, um herumzuzigeunern? Sie ist ja abenteuerlustig.«

Dr. Norden runzelte die Stirn. »Ein Mann könnte nicht dahinterstecken?« fragte er.

»Ich weiß nichts dergleichen, aber wahrscheinlich hätte sie mir davon auch nichts geschrieben. Immerhin wissen wir, was jungen hübschen Mädchen, die allein reisen, alles passieren kann«, sagte Dorthe seufzend. »Und hübsch ist sie.«

»Ja, da wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als uns mit Dr Harling in Verbindung zu setzen. Und da ich weiß, daß Sie das nicht tun wollen, werde ich ihn mal anrufen.«

»Das wollen Sie tun?« Dorthes Stimme bebte.

»Sie rackern sich doch auch ab, obgleich Sie es nicht nötig hätten«, sagte er.

»Ich tue es gern, sehr gern, und Abrackern ist das nicht.«

»Und ich helfe Ihnen auch gern, Dorthe«, erwiderte Dr. Norden.

»Wenn Jocelyn doch endlich vernünftig würde«, sagte Dorthe leise. »Es ist so schwer für mich, noch Verständnis für sie aufzubringen. Sie ist mir so fremd geworden. Ihnen darf ich das doch sagen, ohne als Rabenmutter zu erscheinen.«

»Sie haben genug mitgemacht, Dorthe«, erwiderte Dr. Norden. »Ich rufe am Nachmittag in Kapstadt an. Da wird es wohl am besten sein zeitlich. Jetzt werde ich bei den Schwestern Grübel vorbeischauen.«

»Aber wundern Sie sich bitte nicht, wenn es nur eine Josefa Charlotte gibt«, sagte Dorthe.

»Josefa Charlotte?« wiederholte er fragend.

»So ist sie getauft. Ich habe mir erlaubt, mich beim Einwohnermeldeamt zu erkundigen, weil mir das spanisch vorkam. Eine Lotte Grübel ist nicht gemeldet.«

»Ich weiß tatsächlich nicht, was ich mit ihr machen soll, wenn es in ihrem Oberstübchen nicht stimmt«, sagte Daniel nachdenklich. »Man kann sie doch nicht sich selbst überlassen.«

»Aber sie denkt immerhin noch so normal, daß sie nicht gegen ihren Willen in ein Heim gebracht werden kann. Und sie ist nicht arm, das dürfen Sie auch nicht vergessen. Sie hat bestimmt einen Anwalt.«

»Danke für den Hinweis, Dorthe, ich bin heute auch nicht gerade fit im Denken.«

»Sie denken über Frau Hausner nach«, sagte Dorthe sinnend. »Sie ist ja so was von lieb. Heute hat sie mir wieder Pralinen mitgebracht. Für Franzi auch eine Tüte, und wirklich vom Allerfeinsten. Warum geht es nur so ungerecht zu in der Welt?«

»Wir haben heute beide einen Moralischen, Dorthe«, sagte Dr. Norden. »Es muß wohl am Wetter liegen, oder an der Mondfinsternis.«

»Wir sind doch nicht abergläubisch«, meinte Dorthe.

»Solange nichts passiert, bin ich es nicht. Im nachhinein sage ich doch manchmal, daß alte Volksweisheiten was für sich haben.«

*

Er war zu Josefa Grübel gefahren. Es war ein altes Haus, und gewiß war es einmal ein schönes Haus gewesen. In diesem Viertel hatten die vornehmen Leute gewohnt, die sich schon um die Jahrhundertwende schöne Häuser leisten konnten, ohne dem Adel oder den damals bereits Etablierten anzugehören.

Die meisten Häuser waren auch sehr gepflegt, oder sie waren neuerdings bereits moderneren Bauten gewichen, aber immerhin waren hier hohe Miethäuser nicht gestattet, und deshalb gefiel Daniel Norden diese Gegend.

Josefa Grübels Haus machte schon einen recht verwahrlosten Eindruck, aber es war vollgestopft mit Wertsachen, die davon zeugten, daß sie kein Sozialfall war.

Sie mußte in ihrem Rollstuhl schon in der engen Diele gewartet haben, denn er brauchte nicht lange vor der Tür zu stehen.

»Nun, wo ist denn die besorgte Schwester Lotte?« fragte er in harmlosem Ton.

»Sie mußte etwas erledigen. Es duldete keinen Aufschub«, antwortete Josefa.

»Ich möchte Ihre Schwester nun aber wirklich mal kennenlernen. Es geht doch nicht an, daß sie uns in der Praxis die Hölle heiß macht und dann fortläuft und Sie allein läßt. Das ist in Ihrem Fall sogar strafbar.«

»Wieso?« fragte Josefa Grübel erregt.

»Weil Sie ein Pflegefall sind und sonst was passieren könnte, wenn Sie allein sind. Als Ihr Arzt habe ich dafür Sorge zu tragen, daß Sie gut betreut sind.«

»Aber wenn ich anrufe, bekomme ich nicht mal gesagt, was ich nehmen kann«, sagte sie anklagend.

»Sie könnten es sich ja doch nicht aus der Apotheke holen, Frau Grübel.«

»Aber Lotte kann es«, sagte sie störrisch.

»Und wenn ich gegangen bin, zieht Lotte sich an und geht zur Apotheke«, sagte er ganz beiläufig. Sie warf ihm einen schrägen, tückischen Blick zu.

»Was soll das heißen?« stieß sie hervor.

»Daß es keine Lotte gibt, Frau Grübel. Ich will Ihnen helfen, aber so, wie Sie sich das denken, geht es nicht.«

»Ich habe nicht gedacht, daß Sie auch so gemein sind«, schluchzte sie. »Bestimmt war Fritz bei Ihnen und hat Sie aufgehetzt, damit er mich entmündigen lassen kann. Er will doch nur mein Geld. Kümmern tut er sich nicht um mich.«

»Wer ist Fritz?« fragte Dr. Norden.

»Mein Bruder. Er wohnt in Kassel. Er will mich in ein Heim stecken, und er will mein Geld. Aber er kriegt es nicht. Lotte kriegt es.«

Da war wieder die Verwirrung, hatte eben alles auch recht klar und vernünftig geklungen.

»Mit Lotte kann ich reden«, sagte sie triumphierend.

Dr. Norden überlegte blitzschnell. »Wie wäre es, wenn Sie dann mit Lotte darüber reden würden, daß Sie in ein schönes Seniorenheim gehen. Das kostet schon allerhand Geld. Da bleibt für Ihren Bruder nichts übrig, und entmündigen lassen kann er Sie auch nicht, Frau Grübel.«

»Stimmt das?« fragte sie zitternd, »können Sie das beschwören, Herr Doktor?«

»Ja, das kann ich«, erwiderte er.

»Dann werde ich mit Lotte reden. Jetzt glauben Sie doch auch, daß es Lotte gibt.«

»Ja, ich glaube es«, sagte er.

»Schreiben Sie nur die Medizin auf. Lotte wird sie gleich besorgen wenn sie wiederkommt.«

»Aber die Medizin gibt es nur in der Augustus-Apotheke«, sagte er.

»Da holen wir doch sowieso alles«, sagte sie.

Ich hätte vorher daran denken und mit dem Apotheker über Josefa Grübel sprechen sollen, ging es ihm durch den Sinn. Er schalt sich, warum er nicht mehr über diese Frau nachgedacht hatte, deren Geist wohl manchmal verwirrt sein mochte, die aber vor allem unendlich einsam war und sich von ihrem Bruder verraten fühlte. Sofern es natürlich stimmte, daß sie einen Bruder hatte.

»Sie haben doch sicher auch einen guten Anwalt, Frau Grübel«, sagte er dann auch noch.

»Den Dr. Haubold, aber vielleicht steckt der auch mit Fritz unter einer Decke. Ich bin sehr mißtrauisch.«

»Mir gegenüber brauchen Sie es aber nicht zu sein. Ich will doch nur, daß gut für Sie gesorgt ist.«

Sie verschlang die Hände ineinander. »Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn ich in so ein Seniorenheim gehen würde, damit Lotte keine Rücksicht mehr auf mich zu nehmen braucht«, murmelte sie. »Aber ihr schwatzt Fritz das Haus erst recht ab. Aber wenn Sie das Heim aussuchen, dann ist es gut. Zu Ihnen habe ich Vertrauen.«

Und wenn ich es in die Hand nehme und sie wird entmündigt, ging es ihm durch den Sinn. Es war ein unbequemer Gedanke. Jetzt sah sie ihn nämlich wieder so hilflos an, und dann sagte sie: »Lotte wird Sie nicht mehr mit Anrufen belästigen, Herr Doktor. Ich rufe jetzt immer selber an.«

Er betrachtete sie an diesem Tag besonders kritisch. Sie war ordentlich gekleidet, sauber und auch gut frisiert, und obgleich das Zimmer überladen war, wirkte es nicht schmuddelig. Wenn sie das alles noch allein bewältigte, dann mußte er sich wirklich fragen, ob sie psychisch krank war oder nur bemitleidenswert weltfremd.

Organisch konnte man sie nicht als krank bezeichnen. Sie hatte Beschwerden, wie die meisten älteren Menschen, sie litt unter Rheumaschüben und Gelenkbeschwerden und Stoffwechselstörungen.

Aber als er sich verabschiedete, ahnte er schon, daß sie nun in die Rolle der Lotte schlüpfen würde, um bald das Haus zu verlassen und zur Apotheke zu gehen. Er hätte es gern beobachtet, aber dazu fehlte ihm nun wirklich die Zeit, denn seine Familie wollte ihn wenigstens beim Essen dabei haben, und dazu war es jetzt ohnehin schon ziemlich spät geworden.

Die Zwillinge waren schon gefüttert worden und Lenni hatte sie nach oben gebracht, damit sie ihren Mittagsschlaf halten konnten. Da sie erkältet waren, hatten sie sich nicht gesträubt. Sie waren müde.

Die andern drei, Danny, Felix und Anneka, waren auch erkältet, aber müde waren sie nicht, und sie hatten auch auf den Papi gewartet.

»Dorthe hatte angerufen, daß du noch zu Frau Grübel mußt«, sagte Fee. »Sie hält dich ganz hübsch in Atem.«

»Sie hat keinen Menschen, mit dem sie reden kann. Sie ist nicht im eigentlichen Sinne geistesgestört, wie ich vermutet habe, Fee, sie ist nur so einsam, daß sie eine Schwester erfindet, die bei ihr ist, weil man ihr wohl nicht zutraut, daß sie noch selbst für sich sorgen kann.«

»Kann sie das, Daniel?«

»Ich konnte nichts Gegenteiliges feststellen. Sie ist sogar bereit, in ein Seniorenheim zu gehen, wenn ihr Geld nicht an ihren Bruder fällt, der sie entmündigen lassen will.«

»Stimmt das auch?« fragte Fee skeptisch.

»Ich werde alles nachprüfen.«

»Aber du kannst doch darauf keinen Einfluß nehmen.«