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Grianne Ohmsford, die Vorsteherin des Druidenrats, ist immer noch eine Gefangene der Dämonenwelt. Die Zeit drängt, denn durch Griannes Verbannung wurde ein Dämon freigesetzt, der alles daran setzt, weitere Dämonen aus der Verfemung zu befreien und in die Welt der Vier Länder herüberzuholen. Sollte ihm das gelingen, wäre der Untergang der Vier Länder so gut wie besiegelt …
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Seitenzahl: 673
Terry Brooks
Die Shannara-Chroniken
Die Verschwörung der Druiden
Roman
Deutsch von Andreas Helweg
Buch
Durch Verrat ist Grianne Ohmsford, die Vorsteherin des Druidenrats, in der Dämonenwelt gefangen. Die Hoffnungen ruhen jetzt auf ihrem Neffen Pen, der sie mit Hilfe des Dunkelstabs vom magischen Baum Tanequil befreien könnte. Doch die Zeit drängt, denn durch Griannes Verbannung wurde ein Dämon freigesetzt, der alles daran setzt, weitere Dämonen aus der Verfemung zu befreien und in die Welt der Vier Länder herüberzuholen. Dann wäre der Untergang der Vier Länder so gut wie besiegelt …
Autor
Im Jahr 1977 veränderte sich das Leben des Rechtsanwalts Terry Brooks, geboren 1944 in Illinois, USA, grundlegend: Gleich der erste Roman des begeisterten Tolkien-Fans eroberte die Bestsellerlisten und hielt sich dort monatelang. Doch "Das Schwert von Shannara" war nur der Beginn einer atemberaubenden Karriere, denn bislang sind mehr als zwanzig Bände seiner Shannara-Saga erschienen.
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Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »High Druid of Shannara, vol. 3: Straken« bei Ballantine Books, New York.
Der vorliegende Roman ist bereits 2005 im Goldmann Verlag und im Blanvalet Verlag unter dem Titel „Die Magier von Shannara 3 – Die Verschwörung der Druiden“ erschienen.
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1. Auflage Copyright der Originalausgabe © 2005 by Terry Brooks Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München Redaktion: Waltraud Horbas Covergestaltung und Illustration: Max Meinzold HK • Herstellung: at
eISBN 978-3-641-18124-6V001
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In Gedenken an Christina Michelle George und Caleb Alexander Delp und zum Dank für alle Leser, die ihnen gleichen.
Pen Ohmsford!«, rief die schwarz gekleidete Gestalt ihm über den Abgrund hinweg zu, der die Insel des Tanequils vom Rest der Welt trennte. »Wir haben schon auf dich gewartet!«
Ein Druide. Er trat ein paar Schritte vor, zog die Kapuze vom Kopf und enthüllte die kräftigen dunklen Gesichtszüge. Pen hatte ihn nie zuvor gesehen.
»Komm über die Brücke, damit wir uns unterhalten können«, sagte der Druide.
Im Schein des Feuers ragte sein Schatten dunkel über die Steinbrücke bis in die Spalte hinein und verhieß nichts Gutes. Pen wünschte nur, er wäre nicht so voreilig und unachtsam ins Licht getreten. Aber er hatte geglaubt, das Schlimmste hinter sich zu haben. Die Begegnung mit dem Tanequil hatte er überlebt, dazu hatte er den Dunkelstab geschenkt bekommen, den Talisman, der ihm Zugang zur Verfemung gewähren würde. Zwei Finger hatte er eingebüßt, doch betrachtete er dies inzwischen als einen kleinen Preis. Viel teurer dagegen war für ihn der Verlust von Cinnaminson. Doch hatte er akzeptiert, dass er daran zunächst nichts ändern konnte, nicht bevor er seine Tante befreit hatte, und so hoffte er, später hierher zurückkehren zu können. Zum Schluss war er auch dem Ungeheuer entkommen, das ihn seit Anatcherae verfolgt hatte. Jetzt war es tot, lag zerschmettert auf dem Boden des Abgrunds.
Und nun dies.
Er schloss die Finger um den Dunkelstab und suchte die Gesichter der gefangenen Trolle ab. Alle waren dort, stellte er fest. Keiner fehlte. Niemand schien verletzt zu sein. Offensichtlich waren sie überrascht worden und hatten gar keine Gelegenheit zur Gegenwehr gehabt. Er fragte sich, wie das hatte passieren können, wie die Druiden sie überhaupt aufgespürt hatten, doch es war sinnlos, nach den Antworten auf diese Fragen zu suchen.
Einige der Trolle schauten nun auf, unter ihnen Kermadec. Unmissverständlich zeigten sich Zorn und Enttäuschung auf seinem Gesicht. Er hatte Pen gegenüber versagt. Wie sie alle. Der Junge entdeckte Tagwen hinter den großen Gefährten.
Nur von Khyber war keine Spur zu sehen.
»Komm über die Brücke, Pen«, wiederholte der Druide gar nicht unfreundlich. »Mach es nicht noch schlimmer für dich.«
»Ich glaube, ich bleibe lieber, wo ich bin«, antwortete Pen.
Der Druide nickte, als würde er ihn verstehen. »Gut, das kannst du tun, wenn du willst. Ich habe die Warnung auf dem Stein vor der Brücke gelesen, und ich werde mich hüten, zu dir hinüberzugehen.« Er hielt kurz inne. »Sag mal. Wenn diese Gefahr tatsächlich besteht, wie hast du es geschafft, unverletzt nach drüben zu gelangen?«
Pen erwiderte nichts.
»Was machst du eigentlich hier? Willst du deiner Tante helfen? Hast du gedacht, du könntest sie hier finden?«
Schweigend starrte Pen ihn an.
»Wir haben deine Freunde in unserer Gewalt. Alle. Du siehst es ja mit eigenen Augen. Wir haben auch deine Eltern; die sind in Paranor eingesperrt.« Seine Stimme klang ruhig und geduldig. »Es bringt dir nichts ein, dort drüben zu bleiben, wenn alle, an denen dir etwas liegt, auf dieser Seite sind. Durch die Weigerung, dich deiner Verantwortung zu stellen, hilfst du ihnen nicht.«
Meine Verantwortung, wiederholte Pen im Stillen. Was wusste dieser Kerl schon über seine Verantwortung? Und was scherte er sich darum, einmal abgesehen davon, dass er glaubte, Pen daran hindern zu können, sie wahrzunehmen?
Ein zweiter Druide gesellte sich zu dem ersten, tauchte aus der Dunkelheit auf und trat ins Licht. Er war klein und schlank, hatte das frettchenartige Gesicht eines Gnomen und erweckte einen besonders hinterhältigen Eindruck. Sein Blick fuhr rasch zwischen dem ersten Druiden und Pen hin und her. Er murmelte etwas, und der erste Druide sah ihn verärgert an.
»Woher soll ich wissen, dass das, was Ihr mir über meine Eltern erzählt, keine Lüge ist?«, fragte Pen plötzlich; schließlich hatte er diese Behauptung schon mehrmals gehört. Glauben wollte er sie nicht.
Der erste Druide wandte sich ihm wieder zu. »Nun, woher, ja. Ich kann dir nur sagen, dass sie mit einem Schiff namens Schnell und Sicher flogen, als sie in den Keep kamen. Sie haben uns geholfen, dich zu finden. Dein Vater hat sich Sorgen wegen des Verschwindens seiner Schwester gemacht, aber natürlich noch mehr wegen dir. Auf diese Weise haben wir dich gefunden, Pen.«
Pen starrte ihn an, und Kälte kroch ihm bis in die Knochen. Die Erklärung ergab Sinn. Sein Vater hatte ihnen vermutlich geholfen, ohne es zu wissen, in dem guten Glauben, das Richtige zu tun, weil auch die Druiden sich wegen Pens Tante Sorgen machten. Der König vom Silberfluss hatte seine Eltern vor den Druiden warnen sollen, aber das war ihm wohl nicht gelungen. Demnach hatte sein Vater nichts von dem Verrat gewusst. Woher auch?
Pen strich sich das wirre rote Haar aus dem Gesicht und überlegte, was er nun tun sollte.
»Ich will es mal so ausdrücken«, fuhr der größere Druide fort und schob sich ein wenig vor den anderen. »Mein Ordensbruder ist nicht so geduldig wie ich, hat allerdings auch wenig Lust, die Brücke freiwillig zu überqueren. Aber sobald es Morgen ist, nehmen wir die Luftschiffe, und dann fangen wir dich, auf die eine oder andere Weise. Es gibt nur eine endliche Anzahl von Stellen, an denen du dich verstecken kannst. In Anbetracht des Ausgangs, den die Sache schließlich nehmen wird, ist das alles nur Zeitverschwendung.«
Vermutlich stimmte das. Trotzdem war seine Freiheit gleichzeitig sein letzter Trumpf. »Lasst Ihr meine Freunde frei, wenn ich hinüberkomme?«
Der Druide nickte. »Mein Wort drauf. Wir lassen alle frei. Für sie haben wir keine Verwendung, außer dich zu überreden, uns zu begleiten. Sobald du hier bist, sind sie frei.«
»Und meine Eltern?«
Der Druide nickte. »Wenn wir in Paranor sind, können auch sie gehen. Und nachdem du uns gesagt hast, was wir wissen wollen und welchen Zweck es hatte, hierher zu reisen, bist du ebenfalls frei.«
Er log. Zwar ließ er es glaubhaft klingen und erweckte durch die Wahl seiner Worte und seines Tonfalls den Anschein von Offenheit und Vernunft, dennoch durchschaute Pen ihn sofort. Der Druide hätte ihm besser etwas weniger Besänftigendes erzählen sollen, doch sah der Mann vermutlich noch ein Kind in ihm und dachte, Pen würde auf eine Lüge eher wie gewünscht reagieren als auf die Wahrheit.
Pen überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Die wichtigen Fragen hatte er dem Druiden gestellt und darauf Antworten erhalten, die er erwartet hatte. Sie bestätigten seinen Verdacht, was mit ihm geschehen würde, wenn er hinüberginge und sich ergäbe. Andererseits würden sie ihn, falls er hier bliebe, früher oder später erwischen, sogar, wenn er wieder in den Abgrund hinunterstiege, wobei er allerdings bezweifelte, ob er das konnte. Wollte er seine Verantwortung jedoch tatsächlich in dem Maße wahrnehmen, wie er es sich vorstellte, genügte es nicht, sich lediglich zu verstecken.
Die Entscheidung war leichter getroffen, als er gedacht hätte. Er musste sowieso nach Paranor, denn nur dort konnte er den Dunkelstab einsetzen und zu seiner Tante gelangen. Die Ard Rhys zu retten war schließlich der Grund, warum er überhaupt aufgebrochen war, und um dies zu tun, musste er unbedingt in den Druidenkeep. Er hätte es zwar vorgezogen, auf andere Weise nach Paranor zu kommen, doch am Ende spielte das keine Rolle. Wichtig war allein, dass der Dunkelstab in seinem Besitz blieb, bis er das Zimmer der Ard Rhys erreicht hatte.
Er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte.
»Ich möchte mit Tagwen sprechen«, rief er. »Schickt ihn zur Brücke und tretet zurück, damit ich sie sicher überqueren kann.«
Die Druiden sahen sich fragend an. »Wenn du dich ergibst, lassen wir dich mit Tagwen reden«, sagte der Größere.
Pen schüttelte den Kopf. »Ich ergebe mich erst, nachdem ich mit Tagwen gesprochen habe. Ich möchte von ihm wissen, wie er über Eure Versprechungen denkt und für wie verlässlich er Euer Wort hält. Solange Ihr mich nicht mit ihm reden lasst, bleibe ich hier.«
Er beobachtete ihre Gesichter genau und schaute zu, wie sie sich im Flüsterton berieten. Die Forderung gefiel ihnen nicht, und sie suchten nach einer Möglichkeit, sie ihm zu verweigern.
»Wenn Ihr denkt, es sei so leicht, herüberzukommen, dann wartet doch einfach bis zum Morgen«, sagte er plötzlich. »Vielleicht ist es gar nicht so einfach, wie Ihr meint. Dieses Spinnenwesen habt Ihr doch geschickt, damit es mich einfangen soll? Oder sollte es mich einfach nur umbringen? Ihr habt es doch geschickt, nicht wahr?«
Diese Frage entsprang einer plötzlichen Eingebung, und obwohl er nicht wusste, wie sie reagieren würden, hatte er doch eine Vermutung. Er wurde nicht enttäuscht. Beide Druiden starrten ihn überrascht an. Derjenige, der bisher geredet hatte, verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben ihn nicht geschickt. Aber wir wissen, wer ihm den Auftrag gab. Allerdings glaubten wir, er sei schon in den Schlacken ums Leben gekommen.«
Pen schüttelte den Kopf und blickte zu Tagwen, der ihn nun wachsam anschaute, weil er ahnte, dass etwas im Gange war, und herausfinden wollte, was. »Er? Nicht es?«
»Aphasia Wye. Ein Mann, allerdings hast du Recht, er sieht eher wie ein Insekt aus als wie ein Mensch. Willst du sagen, er sei nicht tot? Wo ist er?«
»Doch, inzwischen ist er tot. Aber gestorben ist er nicht in den Schlacken. Er hat uns bis hierher verfolgt. Gestern Abend hat er die Brücke überquert. Genau, wie Ihr es vorhabt. Immerhin hat er einen Weg gefunden. Und mich hat er auch entdeckt, doch gleichzeitig etwas anderes, das ihn getötet hat. Wenn Ihr wissen wollt, was dieses Etwas ist, fliegt mit Eurem Luftschiff herüber. Ich erwarte Euch hier.«
Es war ein Bluff, jedoch einer, den zu versuchen sich lohnte. Aphasia Wye war ein Jäger erster Güte – und die Druiden würden vielleicht zögern, gegen etwas anzutreten, das ihn ausgeschaltet hatte. Außerdem stellte es Pen in einem anderen Lichte dar, verlieh ihm einen gefährlichen Zug, denn er lebte noch, während sein Gegenspieler tot war. Er musste sie dazu bringen, sich genau zu überlegen, ob es die Sache wert war, sich seiner Bitte zu widersetzen.
Der größere Druide brach die Beratung mit seinem Gefährten ab und blickte zu Pen. »Also gut. Wir lassen dich mit Tagwen reden. Aber bitte keine Mätzchen! Sobald wir glauben, du würdest unser Vertrauen missbrauchen, bringst du deine Trollfreunde und deine Eltern in Gefahr. Treib es also nicht auf die Spitze. Unterhalte dich mit dem Zwerg, und dann tust du, was du, wie du weißt, tun musst, und ergibst dich uns.«
Pen wusste nicht, ob er sich daran halten würde oder nicht, doch konnte es ihm hilfreich sein, wenn er zunächst mit Tagwen darüber sprach. Er schaute zu, wie der Zwerg sich auf Befehl des größeren Druiden erhob und zum Anfang der Brücke ging. Die Druiden zogen sich zurück und gaben den Gnomenjägern einen Wink, sich ebenfalls ein Stück zu entfernen. Pen wartete, bis sich im Bereich der Brücke niemand mehr außer dem Zwerg aufhielt, dann betrat er den steinernen Bogen und ging hinüber. Den Dunkelstab benutzte er wie einen Wanderstab, stützte sich darauf, als sei er verletzt, und täuschte vor, darin bestehe der eigentliche Zweck des Stocks. Vielleicht durfte er ihn behalten, wenn sie glaubten, er brauche ihn zum Gehen. Vielleicht würde dieses Wunder ja tatsächlich geschehen. Er hielt nach unerwarteten Bewegungen Ausschau, nach Schatten, die ungewöhnlich erschienen, oder nach Geräuschen, die fehl am Platze waren. Er benutzte seine kleine Magie und suchte nach warnenden Hinweisen, die ihn auf unsichtbare Gefahren aufmerksam machen würden. Aber nichts zeigte sich ihm. Ungehindert gelangte er nach drüben, die Gefangenen und die Häscher blieben hinter dem Feuer, zogen sich tiefer in die Gärten zurück und hielten sich von der Schlucht fern.
Als er die andere Seite erreicht hatte, ging er in die Hocke und nutzte die Widerlager der Brücke als Deckung. Er glaubte zwar, die Druiden beabsichtigten nicht, ihn zu töten, allerdings war er sich dessen nicht sicher.
Tagwen trat zu ihm. »Sie haben uns mit heruntergelassenen Hosen erwischt, junger Pen. Wir haben uns eingebildet, wir würden gut auf dich aufpassen, allerdings haben wir wohl zu sehr in die falsche Richtung Ausschau gehalten.« Angewidert verzog er das schroffe Gesicht. »Sie bedrohten uns bereits mit Speeren und Pfeilen, ehe wir uns zur Verteidigung auch nur bereitmachen konnten. Wir wären alle umgekommen, wenn wir uns gewehrt hätten. Tut mir Leid.«
Pen legte dem Zwerg die Hand auf die stämmige Schulter. »Ihr habt euer Bestes gegeben, Tagwen. Wir alle haben unser Bestes gegeben.«
»Vielleicht.« Er klang nicht überzeugt und studierte forschend das Gesicht des Jungen. »Geht es dir gut? War das die Wahrheit, über dieses Ding, das uns verfolgt hat? Ich dachte, wir hätten es ein für alle Mal abgehängt, als wir in die Berge gezogen sind. Ist es endlich tot?«
Pen nickte. »Der Tanequil hat es getötet. Das ist eine lange Geschichte. Aber alles, was diese Brücke überquert, bringt sich in ernste Gefahr. Ich lebe nur deswegen noch.«
Er deutete mit dem Kopf auf den Dunkelstab, der flach neben ihm auf der Brücke im Schatten lag.
Der Zwerg sah sich den Stab an, dabei fiel sein Blick auf Pens versehrte Hand. »Was ist mit deinen Fingern passiert?«
»Der Baum hat sie im Tausch gegen den Stab genommen. Blut für Saft, Fleisch für Rinde, Knochen für Holz. Es musste sein. Mach dir keine Gedanken darüber.«
»Ich soll mir keine Gedanken darüber machen?«, fragte Tagwen entsetzt. Er schaute kurz über Pens Schulter in die Dunkelheit, die auf der Insel des Tanequils herrschte. »Wo ist Cinnaminson?«
Pen zögerte. »Sie bleibt noch hier. Und ist für den Moment in Sicherheit. Tagwen, hör mir zu. Ich muss tun, was sie von mir verlangen. Ich muss mit ihnen nach Paranor gehen.«
Tagwen starrte ihn an. »Nein, Penderrin. Du würdest den Keep nicht lebendig wieder verlassen. Sie haben nicht die Absicht, dich jemals freizulassen. Und auch deine Eltern nicht. Man wird dich zu Shadea a’Ru bringen. Sie ist die Drahtzieherin hinter allem, was der Ard Rhys zugestoßen ist, und sie wird dich verhören und wissen wollen, was du vorhast. Und nachdem du es ihr gestanden hast – was du ohne Zweifel irgendwann tun wirst –, ist es mit dir und deinen Eltern aus. Da brauchst du dir nichts vorzumachen.«
Pen nickte. »Das glaube ich dir, Tagwen. Doch schau dir unsere Lage an. Wir sitzen hier alle in der Falle. Auch ohne die Druiden würden wir in den Ruinen festsitzen, umzingelt von Urdas. Aber ich muss fort, um meiner Tante zu helfen, und zwar je schneller, desto besser. Die Sache dauert schon viel zu lange. Wenn ich nicht bald Paranor erreiche und den Dunkelstab zum Einsatz bringe, wird es zu spät sein. Und jetzt habe ich eine Möglichkeit. Mithilfe der Druiden gelange ich schneller dorthin, als ich es allein schaffen könnte. Ich weiß, was sie mit mir vorhaben. Und mit meinen Eltern. Dennoch muss ich es riskieren.«
»Du riskierst zu viel!«, regte sich der Zwerg auf. »Sicherlich kommst du schnell nach Paranor. Und dann? Sie werden dich niemals in das Schlafgemach der Ard Rhys lassen. Und sie werden erst recht nicht zulassen, dass du den Talisman einsetzt. Shadea wird in dir die Bedrohung sehen, die du ja auch tatsächlich für sie darstellst, und dich beseitigen, ehe du eine Chance erhältst, deine Pläne in die Tat umzusetzen.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Er blickte hinüber zu den Gärten, ihren bunten, wogenden Farbmustern und den flackernden Schatten, die Druiden und Gnomenjäger im Schein des Feuers warfen. »Jedenfalls ist das die einzige Möglichkeit, die Sinn ergibt.« Er wandte sich wieder Tagwen zu. »Wenn ich zustimme, mit ihnen zu gehen, wird dieser große Druide dann sein Wort halten und euch ziehen lassen? Kann ich mich auf sein Wort verlassen? Ist er besser als die anderen?«
Tagwen dachte darüber einen Moment lang nach. »Traunt Rowan. Er ist kein so übler Kerl wie der andere, Pyson Wence, und bestimmt nicht so verdorben wie Shadea. Allerdings hat er sich mit ihnen zu dem Komplott gegen deine Tante zusammengeschlossen.« Er schüttelte den Kopf. »Sie dachte stets, er hätte Prinzipien, obwohl er in seiner Abneigung gegen sie irregeleitet war. Möglicherweise hält er sein Wort.«
Pen nickte. »Ich muss es auf einen Versuch ankommen lassen.«
Der Zwerg packte mit seinen starken Händen Pens Schultern. »Tu das nicht, junger Penderrin«, flüsterte er.
Pen wich seinem Blick nicht aus. »Wenn du in meiner Lage wärst, Tagwen, würdest du es nicht auch tun? Um sie aus der Verfemung zu retten und ihr eine Chance zu geben, würdest du nicht das Gleiche machen wie ich?« Tagwen starrte ihn schweigend an. Pen schenkte dem Zwerg ein Lächeln. »Natürlich würdest du es tun. Du brauchst gar nichts zu sagen. Ich bin schon selbst draufgekommen. Wir wussten von Anfang an, dass wir alles unternehmen, was notwendig ist, um sie zu erreichen, gleichgültig, wie hoch das Risiko ist. Das wussten wir, auch wenn wir nie darüber geredet haben. Daran hat sich nichts geändert. Ich muss nach Paranor. Und dann in die Verfemung.«
Er schloss die Augen, denn plötzlich stieg Panik in ihm auf. Die Ausmaße dessen, was er sich vorgenommen hatte, drohten ihn auf einmal zu überwältigen. Er war doch nur ein Junge. Er verfügte weder über nützliche Talente noch besondere Fähigkeiten. Eigentlich war er doch nur zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle gewesen.
Er holte tief Luft. »Kommst du mir nach? Nur für den Fall, dass ich es nicht schaffe? Dass ich im Kerker eingesperrt werde und meine Eltern nicht befreien kann? Würdest du dann versuchen, die Sache weiterzuführen?« Er seufzte tief. »Selbst wenn ich es hinüberschaffe und meine Tante finde, werden die Druiden bei unserer Rückkehr auf uns warten. Wir brauchen Hilfe, Tagwen.«
Der Druide packte ihn fester. »Wir kommen. Gleichgültig, wie lange wir brauchen, gleichgültig, wo du sein wirst. Wir werden schon einen Weg finden, zu dir zu gelangen. Wenn du uns brauchst, werden wir da sein.«
Pen legte seine Hände auf die des Zwergs und drückte sie auf seine Schultern. »Sucht einen Weg, wie ihr hier herauskommt, Tagwen. Lasst euch von nichts aufhalten.« Er zögerte. »Und versucht nicht, Cinnaminson zu finden.« Rasch schüttelte er den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an. »Verlang jetzt keine Erklärung von mir. Tu einfach nur, worum ich dich gebeten habe. Ja?«
Der Zwerg nickte. »Ja.«
»Ich schaffe das schon«, flüsterte Pen und schluckte heftig. »Ich weiß es.«
Tagwen drückte fest seine Hände. »Bestimmt. Bis hierher hast du es auch geschafft. Alles schaffst du, was man nur von dir verlangen kann.«
»Ich werde schon eine Möglichkeit finden. Wenn ich erst in Paranor bin, wird sich ein Weg zeigen.«
»Deine Tante hat immer noch treue Gefolgsleute«, sagte Tagwen. »Halte die Augen offen. Einer von ihnen wird dir vielleicht helfen.«
Erneut sah Pen zum Dunkelstab. »Was kann ich mit dem Stab machen? Um ihn zu verstecken, ist er zu groß, aber ich muss ihn mitnehmen. Ich weiß nicht, ob die Druiden ihn mir lassen, wenn sie ihn sehen. Andererseits darf er ihnen auch nicht in die Hände fallen.«
Aus dem Schatten rief der größere der beiden Druiden: »So langsam solltest du alles gesagt haben, Pen. Beende das Gespräch, und denk an dein Versprechen. Sag Tagwen, er soll zur Seite treten, und dann komm zu uns!«
Pen schaute hinüber zum Feuer, zu der Gruppe von gefangenen Trollen, die dort zusammenhockten, zu den schemenhaften Gestalten der Gnomenjäger, die sie umzingelt hatten, und zu den in ihren Roben verhüllten Druiden. Die Szene erschien ihm wie aus einer anderen Welt, wie aus einer Zeit und von einem Ort, die er sich kaum vorstellen konnte. Er selbst war noch immer in der Welt des Tanequils gefangen; in der Welt von gesprenkelter Rinde und Blättern mit orangefarbenen Spitzen, in der Welt riesiger Äste und Wurzeln, in der Welt eines weisen Wesens, das älter war als die Menschheit. Seine Erinnerungen an die vergangenen zwei Tage waren schmerzlich frisch, überlagerten die Gegenwart und drohten seine schwache Entschlossenheit zu übermannen.
Er war der Verzweiflung nahe.
»Das ist ein hübsches Stück Holz«, sagte Tagwen plötzlich und deutete auf den Dunkelstab. »Es wäre vielleicht hilfreich, wenn es nicht so sehr glänzen würde.«
Der Zwerg ging in die Hocke, nahm sich ein wenig feuchte Erde und rieb damit den Stab ein, wobei er die Runen überdeckte und die glänzende Oberfläche matter machte. Bei dieser Arbeit versteckte er sich im Schatten und schirmte sein Tun mit dem Körper ab.
»Wenn sie ihn dir wegnehmen wollen«, sagte er, nachdem er fertig war, »sag ihnen, du hättest den Stab in den Ruinen gefunden. Sag ihnen, du wüsstest nicht, was es ist. Wenn sie glauben, du hättest den Stab erhalten, damit du der Ard Rhys helfen kannst, wirst du ihn nie wiedersehen. Solange sie keinen Verdacht hegen, worin sein wahrer Zweck besteht, lassen sie ihn dir vielleicht.«
Pen nickte. Er erhob sich und nahm mit einer Hand den Stab. Erneut lehnte er sich darauf, als würde er ihn als Stütze brauchen. »Geh zu ihnen zurück. Sag Kermadec, er soll sich bereithalten. Irgendwo dort draußen ist Khyber. Vielleicht schaut sie sogar im Augenblick zu, und ich habe keine Ahnung, was sie tun wird.«
Der Zwerg sah sich um, als hoffe er, sie in der Dunkelheit zu entdecken, dann nickte er und erhob sich. Ohne ein Wort kehrte er mit gesenktem Kopf zu den Gnomenjägern und den umzingelten Felstrollen zurück. Die Trolle blickten ihm entgegen, erhoben sich jedoch nicht, um ihn zu begrüßen. Pen wartete, bis er sich wieder zwischen sie gesetzt hatte, dann sah er zu den Druiden, die sich ein wenig abseits hielten.
»Versprecht Ihr, dass meinen Freunden nichts passieren wird?«, fragte er nochmals.
»Wir, und damit meine ich auch unsere Begleiter, werden ihnen nichts tun«, erwiderte der größere Druide und trat einen Schritt vor. »Wir lassen sie hier, wenn wir abfliegen. Was danach mit ihnen geschieht, ist ihre eigene Sache.«
Mehr durfte sich Pen nicht erhoffen. Er hätte gern eine Möglichkeit für sie gefunden, nach Taupo Rough zurückzukehren, doch konnte er in dieser Hinsicht jetzt nichts für sie tun. Kermadec war einfallsreich. Er würde das schon schaffen.
Pen betrachtete den Dunkelstab. Die Erde verbarg die Runen fast vollständig. Die glatte Oberfläche sah stumpf aus. Wenn er Glück hatte, würde niemand dem Stab Aufmerksamkeit schenken. Wenn man ihm den Stab wegnahm, würde er ihn sich später zurückholen müssen.
Sein Blick schweifte zur Insel des Tanequils, zu der schweigenden dunklen Wand des Waldes, der den weisen Baum verbarg. Die Sache hier war noch nicht beendet, das wusste er, und dennoch konnte es durchaus sein, dass er niemals die Chance erhalten würde, zurückzukehren und alles in Ordnung zu bringen. Der Drang, jetzt gleich zu handeln, drohte ihn zu überwältigen und von dem Pfad zu drängen, der zur Ard Rhys führte. Seine Tante kannte er doch kaum, Cinnaminson hingegen umso besser.
Also holte er tief Luft und schaute zu den wartenden Druiden. »Ich bin bereit«, rief er und hoffte, seine Stimme würde mutig klingen.
Dann benutzte er den Stab wie eine Krücke und humpelte auf sie zu.
Aus dem tiefen Schatten am Rand der Gärten beobachtete Khyber Elessedil mit einer Mischung aus Wut und Unentschlossenheit, wie sich das Drama entwickelte.
»O nein, Pen«, flüsterte sie.
Sie war früher als er zurückgekehrt, hatte die Luftschiffe der Druiden über den Gärten schweben sehen wie Spinnen in einem unsichtbaren Netz. Die Gnomenjäger umzingelten die Angehörigen ihrer kleinen Gesellschaft, die in Gefangenschaft geraten waren, die Druiden beobachteten die Brücke, und sie selbst hatte entschieden, dass sie den Jungen auf irgendeine Weise warnen musste.
Doch sie kam zu spät. Urplötzlich war er da und zeigte sich, ehe er es sich anders überlegen oder sie ihn aufhalten konnte. Nun wartete sie ab, was geschehen würde, denn eine übereilte Reaktion würde niemandem weiterhelfen, und sie wusste auch gar nicht, was sie tun sollte. Entweder den Jungen oder den Rest der Gesellschaft konnte sie retten, nicht jedoch beide, jedenfalls nicht ohne viel Glück, und darauf wollte sie sich nicht verlassen. Gegen zwei Druiden würde sie nicht ankommen, ihre Fähigkeiten waren zu rudimentär, ihr Wissen zu gering. Wenn die Druiden vielleicht einen Moment unachtsam waren, hatte sie möglicherweise eine Chance, aber garantiert wäre ihr der Erfolg keineswegs.
Nein, sie musste warten.
Sie musste sich vorerst zurückhalten.
Das tat sie und lauschte dem Gespräch, das zwischen Pen und Traunt Rowan stattfand. Sie konnte aus dem, was sie sagten, und der Art, wie sie sich bewegten, erahnen, welche verborgenen Absichten sie hegten. Natürlich begriff sie, was auf dem Spiel stand, doch nicht, wie sich für diese verfahrene Situation eine Lösung finden ließe. Verzweifelt versuchte sie, sich einen Plan auszudenken, dem sie folgen könnte, denn sie wusste, früher oder später würde der Zeitpunkt zum Handeln kommen. Als Tagwen gestattet wurde, sich mit Pen unter vier Augen zu unterhalten, dachte sie, es sei der richtige Moment, um zu tun, was immer in ihrer Macht stand, doch sie konnte sich nicht überwinden. Was ihr einfiel, versprach ein schlimmes Ende zu nehmen, denn für alles hätte sie Hilfe gebraucht, die jedoch nicht verfügbar war. Sie suchte Ausflüchte. Die Unentschlossenheit ließ sie verharren.
Bis es schließlich zu spät war. Pen kam von der Brücke und überstellte sich Traunt Rowan, dem er offensichtlich vertraute, was sein Wort in Hinsicht auf Tagwen und die Trolle anging, und damit ließ er sich auf ein Schicksal ein, das ihm längst unausweichlich erscheinen musste. Die Hauptsache war, so dachte er vermutlich, dass er nach Paranor gelangte. Das wusste sie, man musste es ihr nicht erst sagen.
Sie schaute zu, wie er heranhumpelte und sich auf seinen Stab stützte. Die Entschlossenheit drückte sich auf seinem jungen Gesicht in tiefen Falten aus. Er opferte sich. Für die Ard Rhys. Für Tagwen. Für Kermadec und seine Felstrolle. Sogar für sie. Zwar hatte er keine Ahnung, wo sie sich zurzeit befand, allerdings würde er sie irgendwo in der Nähe vermuten, in Freiheit und vielleicht in der Lage zu helfen. Aber in diesem Augenblick erwartete er ihr Eingreifen nicht. Seine Absicht musste darin bestehen, nach Paranor zu gehen und dort Hilfe zu finden.
Der Stab lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie hatte ihn schon vorher gesehen, als Pen durch den Wald auf der Insel des Tanequils gelaufen war. Aber da hatte das Holz viel heller und schöner gewirkt. Das musste also der Dunkelstab sein, der Talisman, um dessentwillen Pen hergekommen war. Offensichtlich hatte er ihn von dem Baum bekommen, hatte den Tanequil auf eine Weise überredet, die nur er beherrschte, so, wie der König vom Silberfluss ihm versichert hatte, dass er diesen Weg zur rechten Zeit finden würde. Wenn es tatsächlich der Talisman war. Wenn …
Aber natürlich war er es. Pen hatte die Oberfläche mit Erde eingerieben und benutzte den Stab als Krücke, um zu verbergen, worum es sich handelte. In seiner Verzweiflung ging er das Risiko ein, dass die Druiden darin womöglich nicht nur ein Stück alten Holzes sehen würden. Denn ohne den Stab konnte er nicht nach Paranor, und nach Paranor musste er unbedingt. Diese Absicht verfolgte er, als er sich stellte.
Das alles wurde ihr plötzlich klar. Tapferer Pen. Sie zog eine Schlussfolgerung, die sie nicht mehr in Frage stellte, weil sie sich so sicher war.
Sekunden später hatte sie sich in Bewegung gesetzt und huschte am Rand der Bäume entlang zu dem Luftschiff, das sich ihr am nächsten befand. Sie musste ihm helfen, so gut sie konnte, und dazu musste sie in seiner Nähe bleiben. Sie würde sich an Bord schmuggeln und als blinder Passagier nach Paranor reisen, dort heimlich aussteigen und Pen finden, bevor man seine Absichten entlarvte. Denn dazu würde es letztendlich kommen. Er war weder klug noch stark genug, um sie alle zu täuschen. Einer der Druiden würde ihn durchschauen.
Innerhalb des Lichtkreises, den das Feuer erzeugte, bewegten sich die Druiden auf Pen zu. Ihr Freund leistete keinen Widerstand, als Traunt Rowan seinen Arm nahm und ihn auf die Athabasca zuführte. Rowan benahm sich fast väterlich. Er sprach leise mit dem Jungen und ging neben ihm, als hätte er nur die besten Absichten. Bisher hatte er sich nicht um den Stab gekümmert, ja, er schien ihn gar nicht zu bemerken. Pen humpelte immer noch, vielleicht, weil die Druiden denken sollten, er sei verletzt und müsse sich auf den Stab stützen. Der andere Druide, der die beiden verstohlen fixierte, ging entschlossen hinter ihnen her, und Khyber traute ihm nicht im Mindesten. Wenn er derjenige gewesen wäre, der versprochen hätte, Tagwen und die Trolle freizulassen, hätte sie sofort gehandelt, redete sie sich ein. Dann hätte sie nicht gezögert.
Sie erreichte die Strickleiter, die von dem Luftschiff herunterbaumelte, welches sie sich ausgesucht hatte – unglücklicherweise nicht dasjenige, auf das Pen gebracht wurde –, und stieg rasch hinauf. Sie warf keinen Blick zurück, ehe sie an Bord war. Vorn standen Gnomenjäger an der Reling, doch die waren abgelenkt von den Ereignissen unten und bemerkten sie nicht. Sie schlich in den Schatten hinter dem Hauptmast, dann hinüber in den Schutz einer Bordschleuder an Backbord. Von hier aus konnte sie beobachten, wie Pen zu der Leiter des anderen Schiffs geführt wurde, während die Druiden ihn aufmerksam bewachten. Sie sah, wie die Gnomenjäger spukenden Gespenstern gleich durch das Licht auf ihre Schiffe zueilten. Tagwen blickte mit traurigem, verzweifeltem Gesicht zu Pen, der jetzt die Leiter hinaufkletterte. Kermadec rieb sich die starken Hände und erweckte den Eindruck, er würde unmittelbar davorstehen, etwas zu unternehmen.
Noch konnte sie alles aufhalten, redete sie sich ein. Sie konnte Druidenfeuer entfachen, einen Elementarwind beschwören und die Gnomenjäger niederwerfen. Oder sie könnte Pen von den Druiden trennen, indem sie die Leiter unter ihm verbrennen ließ, und ihm so eine Chance zur Flucht geben. Aber damit wäre die Sache auch nicht erledigt, und für die Trolle, die nicht schnell genug in den Schatten oder zu den Waffen gelangten, die man ihnen abgenommen hatte, würde es übel aussehen.
Vergiss nicht, Pen will gar nicht fliehen. Er will nach Paranor. Er hat sich entschieden.
Sie stellte sich erneut vor, wie sie ihn vor nicht ganz zwei Stunden auf der anderen Seite der Schlucht gesehen hatte. Sie sah vor ihrem inneren Auge das Ungeheuer, Aphasia Wye, wie Traunt Rowan es genannt hatte. Sie sah Pen, wie er sich wappnete, es aufzuhalten, obwohl es eigentlich nichts gab, was er tun konnte. Für ihn musste es gewesen sein, als schaue er dem sicheren Tod ins Auge, und er hatte weder versucht, sich zu verstecken noch zu fliehen. Er hatte sich dem Ungeheuer gestellt.
Und hätte sich ihm tatsächlich stellen müssen, wäre sie nicht da gewesen, um ihm zu helfen.
Vielleicht verließ er sich jetzt ebenfalls auf sie.
Vielleicht wusste er, dass sie ihn nicht im Stich lassen würde; dass sie verantwortlich für sein Leben war, weil sie ihn einmal gerettet hatte. Den alten Legenden zufolge verhielt es sich so. Sie hatte nie daran geglaubt.
Doch in diesem Moment tat sie es.
»Bist du verletzt?«, fragte Traunt Rowan freundlich, fasste Pen unter dem freien Arm, um ihn zu stützen, und sah ihn nicht an, während er sprach, sondern führte ihn unbeirrt auf die Athabasca zu.
Pen zuckte mit den Schultern. »Nicht sehr schlimm.«
»Aphasia Wye?«
»Ich bin falsch aufgetreten, als ich vor ihm weglaufen wollte.«
»Aber der Knochen ist nicht gebrochen?«
Pen schüttelte den Kopf.
»Du hast Glück gehabt. Wenn du ihm nicht entkommen wärest, wären gebrochene Knochen jetzt dein geringstes Problem.«
Der zweite Druide, den Tagwen Pyson Wence genannt hatte, trat plötzlich von der anderen Seite zu Pen. »Wie bist du ihm denn entkommen?«
»Darüber möchte ich nicht reden.« Er riskierte einen Blick zu Traunt Rowan, dem offensichtlich freundlicheren der beiden Druiden. »Nicht, solange wir nicht weit fort von hier sind.«
Pyson Wence packte seinen Arm und drückte mit den groben Fingern so fest zu, dass Pen zusammenzuckte. »Mir gefällt dein Ton nicht, kleiner Mann«, zischte er. »Was du möchtest, ist uns ehrlich gesagt gleichgültig.«
Pen wich vor ihm zurück. »Ehe ich nicht Gewissheit habe, dass meine Freunde in Sicherheit sind, sage ich gar nichts.«
»Lass ihn los, Pyson«, flüsterte der Große. »Feindliche Augen beobachten uns. Wir können warten.«
Der mit dem Namen Pyson ließ los. Pen befreite sich von Traunt Rowan und rieb sich den Arm. Er hielt den Kopf gesenkt und den Blick abgewendet. Bevor die Luftschiffe abgehoben hätten und seine Freunde in Freiheit wären, wollte er die Druiden nicht unbedingt verärgern. Was er später zu erwarten hatte, wusste er nicht, doch würde er sich eine Geschichte ausdenken, mit der er sich ein wenig Zeit verschaffte.
Sie erreichten die Leiter, und er versuchte, mit dem Dunkelstab hinaufzusteigen, doch Pyson Wence nahm ihm den Stab ab und warf ihn zur Seite. »Von jetzt an brauchst du die Krücke nicht mehr«, fuhr er ihn an.
Pen erstarrte, hatte die Hände an der Leiter und einen Fuß auf der ersten Sprosse. Er durfte seinen Talisman nicht zurücklassen.
Dann ging Traunt Rowan hin und hob den Stab auf. »Vielleicht braucht er ihn noch, Pyson. Ich nehme ihn besser mit. Steig hoch, Pen.«
Pen atmete auf und begann zu klettern, wobei er sein angeblich verletztes Bein schonte. Er blickte nicht nach unten zu den Druiden. Er hielt auch nicht inne, ehe er an Bord des Luftschiffs war, wo er sich umdrehte und auf sie wartete. Kurz darauf waren sie oben, und weil der Feuerschein nur mehr schwach bis hier heraufreichte, wirkten ihre Gesichter dunkel und unergründlich. Unten setzten sich auch die Gnomenjäger in Bewegung, alle außer denen, welche die Gefangenen umzingelt hatten.
Traunt Rowan kam zu Pen und reichte ihm seinen Stab. »Du wirst ihn doch nicht als Waffe einsetzen wollen, oder?«, sagte er und lächelte schief.
Pen schüttelte den Kopf.
»Gut. Gehen wir nach unten, damit du dich einrichten kannst.«
Doch Pen bewegte sich von ihnen fort zur Reling. »Nicht, bis ich weiß, dass meinen Freunden nichts passiert«, sagte er. »Ich möchte zuschauen, was als Nächstes geschieht.«
Pyson Wences Gnomengesicht rötete sich vor Zorn, aber Traunt Rowan zuckte lediglich mit den Schultern. »Dann bleib, wo du bist.«
Er wandte sich an Wence und nickte, und Letzterer erteilte den Jägern auf den Luftschiffen Befehle. Die Gnomenjäger liefen auf Deck herum, setzten die Segel und bereiteten die drei Schiffe zum Abflug vor. Mit einem letzten finsteren Blick auf Pen betrat Pyson Wence die Pilotenkanzel und gesellte sich dort zum Kapitän der Athabasca.
Jetzt fehlten nur noch die wenigen Gnomen, die Tagwen und die Trolle bewachten, und diese zogen sich mit bereitgehaltenen Waffen einer nach dem anderen zu den Luftschiffen zurück. Pens Gefährten saßen still da und schauten dem Rückzug ihrer Gegner zu, wobei sie keinerlei Anstalten machten, sie aufzuhalten. Atalan starrte zu Pen nach oben, sein düsteres Gesicht zeigte einen seltsamen Ausdruck, als könne er nicht recht glauben, was er hier mit ansah. Tagwen beugte den Kopf zu Kermadec vor und flüsterte dem Troll etwas ins Ohr. Ihre Gesichter wirkten finster und angespannt.
Pen suchte den Bereich am Rande des Feuerscheins ab, wo Mauern die letzten Reste des flackernden gelben Lichts einfingen und die Schatten aus dem umgebenden Wald herankrochen. Die Ruinen von Stridegate lagen im Dunklen. Seine Gefährten erhoben sich auf die Beine, standen beieinander und schauten ihm hinterher. Rasch wurden sie kleiner und undeutlicher, schließlich verschwanden sie. Auch die Ruinen blieben zurück, bis Pen nur noch den kleinen hellen Punkt des Feuers sah.
Als auch dieser nicht mehr zu erkennen war, blieb von der Insel des Tanequils eine dunkle Silhouette, die sich vor den Sternen am Horizont abzeichnete. Nun erschien Traunt Rowan an seiner Seite und führte ihn nach unten.
An Bord des Schiffs, das an der Steuerbordseite der Athabasca flog, saß Khyber Elessedil im Schatten der Heckschleuder und beobachtete das Luftschiff der Druiden. Pen war die Kajütstreppe hinuntergestiegen und nicht mehr zu sehen. Die Ruinen von Stridegate waren in der Ferne verschwunden, und mit ihnen die Gefährten. Der Feuerschein war verblasst, anhand der Sterne konnte sie erkennen, dass sie entlang des Klu-Gebirges südwärts zum Oberen Anar flogen, und weit unter ihnen breitete sich das Inkrim wie ein dunkler See aus.
Außer Abwarten gab es für sie nichts zu tun.
Mit zwölf Jahren war sie zum dritten Mal weggelaufen. Damals hatte sie ihrer Familie und deren diktatorischem Gebaren entkommen wollen und sich an Bord eines Luftschiffs nach Callahorn versteckt. Natürlich war es nicht so, dass ihre Familie sie nicht liebte. Es war eher so, dass sie nicht liebte, was die Familie für sie plante. Ihr Bruder und davor ihr Vater hatten sehr fest gefügte Vorstellungen davon, wie sich eine Elessedil-Prinzessin zu benehmen hatte, und Khyber hatte Schwierigkeiten damit, sich als Prinzessin zu betrachten. Ihr Platz im Leben war ein Missgeschick der Geburt, und sie konnte sich nie überwinden, die damit verbundenen Pflichten zu akzeptieren. Ihrer Familie gefiel das nicht. Diese Aufsässigkeit, so ließ man sie spüren, würde man nicht tolerieren.
Sie reagierte darauf, indem sie davonlief. Mit acht zum ersten Mal. Mit zwölf, nach zwei vergeblichen Versuchen, war sie entschlossen, es diesmal endgültig zu schaffen und dem Einfluss der Familie zu entfliehen. Callahorn war das Land der Freien, und dort waren Angehörige aller Rassen willkommen, einerlei, wer sie waren oder woher sie stammten. Jeder wurde gleich behandelt. Das Königtum gab es seit Hunderten von Jahren nicht mehr, und es würde vermutlich in der nächsten Zeit kaum wieder eingeführt werden. Wenn sie es bis dorthin schaffte, konnte sie untertauchen und würde niemals gefunden werden. Zumindest sah sie die Dinge mit zwölf so.
Sie erreichte ihr Ziel tatsächlich, wurde jedoch vom Kapitän entdeckt, ehe sie von Bord gehen konnte, und, obwohl sie sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, zu ihrer Familie zurückgebracht. Das Wiedersehen fiel nicht gerade herzlich aus. Aber sie hatte etwas sehr Wertvolles gelernt. Wenn man sich nur Mühe gab, so zu wirken, als würde man an einen Ort gehören, hatte man durchaus die Chance, nicht als Fremde aufzufallen. Auf jener Reise hatte sie sich als Kabinenjunge und sehr junges Mitglied der Mannschaft getarnt, und zu ihrer Überraschung hatte niemand je den Verdacht geschöpft, sie könnte möglicherweise nicht dazugehören. Zugegeben, sie zeigte sich so selten wie möglich und hielt sich die meiste Zeit außer Sicht. Doch wann immer sie auftauchte, weil sie Essen und Wasser brauchte oder nur frische Luft schnappen wollte, konnte sie sich frei bewegen, ohne dass jemand neugierig wurde.
An Bord des Druidenluftschiffes wollte sie dieses Wissen erneut anwenden. Sie hatte sich bereits einen der kurzen Mäntel besorgt, wie ihn die Gnomenjäger trugen, aus denen die Mannschaft bestand, und die Kapuze verbarg zudem ihr Gesicht. Nachts und wenn man nicht genauer hinschaute, würde sie aussehen wie einer von ihnen. Tagsüber, so hatte sie entschieden, würde sie sich unter Deck verstecken, an Stellen, welche die Mannschaft nur selten aufsuchte. Auf diesem Schiff befanden sich keine Druiden, daher brauchte sie sich nur vor den Gnomen zu hüten. Außerdem kannte sie sich gut genug mit Luftschiffen aus, und die Bauweise von diesem war ihr vertraut. Da es wie die Athabasca ein Kriegsschiff war, gab es bestimmt jede Menge Verstecke. Und weil es sich um ein Druidenschiff handelte, kümmerten sich alle nur um ihre eigenen Aufgaben und stellten keine Fragen.
Also saß sie an der Bordschleuder, derweil das Schiff in die Nacht hineinflog, und tat so, als würde sie deren Mechanik inspizieren, und während die Gnomenjäger sie nicht weiter beachteten und ihrer Arbeit nachgingen, dachte sie über ihre Möglichkeiten nach. Ihr stand die Druidenmagie zur Verfügung, obwohl ihr Arsenal eher klein und sie in der Ausübung größtenteils nicht sehr erfahren war. Dazu besaß sie die Elfensteine. Auch diese waren trotz ihrer großen Kräfte nur von beschränktem Nutzen. Überwiegend musste sie sich demnach auf ihren Verstand und ihre Entschlossenheit verlassen, und sie glaubte, diese beiden Faktoren würden ihr vermutlich am besten dienen.
Um sie herum wurde es ruhiger. Der Kurs war gesetzt, die Segel waren gehisst. Nacht umschloss ihr Schiff und die anderen beiden, deren Silhouetten sich vor dem sternhellen Horizont abzeichneten. Wenn sie nur an Bord von Pens Schiff gewesen wäre, dann hätte sie ihn wissen lassen können, dass er nicht allein war. Nun allerdings hielt sie es für unwahrscheinlich, ihn wiederzusehen, bevor sie in Paranor eintrafen. Selbst dort würde es schwierig sein, zu ihm vorzudringen. Aller Voraussicht nach würde man ihn in einer Zelle unterbringen und bewachen, und man würde ihn zu Shadea a’Ru führen, sobald diese von seinem Eintreffen erfahren hatte.
Khyber lehnte sich an die Bordschleuder. Folglich musste sie Pen schnellstmöglich erreichen, sobald sie in Paranor gelandet waren, sonst würde sie vielleicht gar nicht mehr zu ihm gelangen. Die Druiden fanden sicherlich heraus, dass er etwas vorhatte, und damit auch den Grund, weshalb er so weit nach Norden gereist war. Und dann wäre es aus und vorbei.
Falls er überhaupt so lange lebte. Traunt Rowan und der andere Druide könnten ebenso gut entscheiden, sich seiner während der Rückreise zu entledigen. Vielleicht hatten sie sogar dementsprechende Befehle.
Diesen Gedanken konnte sie nicht ertragen. Andererseits vermochte sie im Augenblick nichts daran zu ändern. Sie musste ausharren. Und hoffen.
Rasch schlich sie zum Lagerraum, ließ sich durch die Luke hinunter und fand ein Versteck zwischen den Reservelichtsegeln, wo sie sich niederließ und auf den Schlaf wartete.
Sie führten Pen Ohmsford in einen Lagerraum, auf dessen einer Seite ein Schlafplatz eingerichtet war, und sagten ihm, er solle sich während des Rückflugs nach Paranor hier aufhalten. Seine Hälfte des Raums war mit einer Hängematte, einer Truhe für Kleidung, einer Bank, einem kleinen Tisch und einer Lampe ausgestattet. In der anderen waren Strahlungssammler, Reservelichtsegel, Wasserfässer und Zwieback gestapelt, dazu mehrere Kisten mit Werkzeugen und Dichtmasse.
»Tut mir Leid, etwas Besseres können wir dir nicht anbieten, denn es ist ein Kriegsschiff, und wir haben nicht viel Platz für Unterkünfte«, sagte Traunt Rowan.
Sie haben drei solche Kriegsschiffe ausgeschickt, um mich zu suchen, dachte Pen, was mehr über ihre Absichten aussagte als der angebliche Mangel an Unterkünften. Trotzdem nickte er, denn durch Widerspruch würde er auch nicht viel gewinnen. Er war ihr Gefangener, ob sie es nun so bezeichneten oder nicht.
Sie ließen ihn allein, traten in den Gang und verschlossen die schwere Lagerraumtür hinter sich. Pen hörte das leise Einschnappen des Riegels, das seinen Status ebenfalls unterstrich. Er wartete, bis ihre Schritte verhallt waren, dann setzte er sich auf die Bank und dachte nach.
Den Dunkelstab hatten sie ihm gelassen, ein Versehen, das ihn überraschte. Nachdem Pyson Wence ihm den Stab einmal weggenommen hatte, erwartete Pen, ihn abermals abgeben zu müssen. Aber keiner der beiden Druiden hatte Interesse an dem Stab gezeigt. Diese Nachlässigkeit, so schwor er sich, würden sie noch bedauern, doch dann ermahnte er sich, keine Drohungen auszustoßen – nicht einmal im Stillen –, die er nicht in die Tat umsetzen konnte.
Nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, entschied er sich, den Stab nicht zu verstecken. Er hätte ihn leicht zwischen den gelagerten Vorräten verbergen können, doch würden sie das Fehlen bemerken, sobald er zum ersten Mal im Raum ohne Stab herumhumpelte – und humpeln musste er wenigstens die nächsten ein oder zwei Tage noch, damit nicht auffiel, dass er seine Verletzung nur vorgetäuscht hatte. Nein, den Stab zu verstecken, würde lediglich Aufmerksamkeit darauf lenken.
Er schob ihn einfach unter die Bank und zwang sich, so zu tun, als wäre ihm der Stab nicht weiter wichtig.
Nach einer Weile brachte ihm ein Gnomenjäger einen Teller mit Essen und einen Becher Bier. Beides verschlang Pen hungrig und durstig, weil ihm plötzlich bewusst wurde, wie leer sein Magen war. Länger als einen Tag hatte er nichts gegessen, und nur die Aufregung der Ereignisse hatte ihn auf den Beinen gehalten. Er brauchte auch Schlaf. Nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte, legte er sich hin und war wenige Sekunden später eingeschlafen.
Das Geräusch des Riegels, der zurückgezogen wurde, weckte ihn, und erneut wurde ihm ein Teller mit Essen gebracht und auf den Boden gestellt. Der Gnomenjäger sah ihn kaum an, während er sich zurückzog und den Riegel wieder vorlegte. Pen spähte durch die Ritzen des Fensterladens, mit dem die einzige Fensteröffnung des Lagerraums gesichert war. Der Himmel leuchtete rot, entweder ging die Sonne gerade auf oder unter, das war nicht festzustellen, weil er die Richtung nicht festlegen konnte. Nach einem Moment entschied er, es müsse der Sonnenuntergang sein. Er hatte einen ganzen Tag verschlafen.
Nun setzte er sich und verspeiste sein Mahl, wobei er zum ersten Mal, seitdem er eingesperrt worden war, an seine Freunde in den Ruinen von Stridegate dachte. Zumindest befanden sie sich in Sicherheit. In Sicherheit vor den Druiden. Allerdings wurden sie weiterhin von den Urdas bedroht und waren meilenweit von jeglicher Hilfe entfernt. Kermadec würde sie in die Freiheit führen. Und Khyber konnte sie mit ihrer Elementarmagie unterstützen. Aber selbst danach brauchten sie noch mindestens eine Woche, um Paranor zu erreichen. Tagwen hatte es mit seinem Versprechen gut gemeint, ihm zu folgen, aber Pen wusste, er konnte sich darauf nicht verlassen. Er hatte ihnen eine Chance zum Überleben verschafft, als er sich den Druiden übergeben hatte, doch zog er daraus nicht viel Hoffnung für sich selbst. Gleichgültig, was Tagwen versprochen hatte, Pen wäre auf sich allein gestellt.
Er überlegte, was das bedeutete. Falls er nicht unerwartete Unterstützung von Druiden bekam, die der Ard Rhys treu ergeben waren, musste er das Schlafgemach seiner Tante mit dem Dunkelstab allein erreichen und den Talisman dort rasch verwenden. Das setzte einige Dinge voraus, die er nicht absehen konnte, und an erster Stelle die Frage, ob er herausfinden würde, wie der Talisman zu benutzen war. Er hatte keine Ahnung, auf welche Weise er funktionierte. Was musste er tun, um seine Magie zu beschwören? Musste er überhaupt irgendetwas tun? Oder brauchte er nur dazustehen und zu warten, bis er fortgeholt wurde?
Die schiere Größe dessen, worauf er nur hoffen konnte, erschütterte ihn für einen Moment, und ehe er die Fassung und zumindest eine gewisse Selbstsicherheit zurückerlangt hatte, dass er einen Weg aus dieser Zwickmühle finden würde, öffnete sich die Tür des Lagerraums, und die beiden Druiden standen da.
Er saß auf seiner Bank, starrte sie an und suchte in ihren Gesichtern nach einem Anhaltspunkt dafür, was er zu erwarten hatte. Traunt Rowan wirkte angespannt. Pyson Wence schien einfach nur verärgert zu sein. Sie betraten den Raum, strahlten unmissverständlich Autorität aus, und Pen wusste, die Zeit des Zögerns war vorüber. Er holte tief Luft, zwang sich, nicht zu dem Dunkelstab unter der Bank zu schielen, und erhob sich.
»Ich bin bereit, Euch zu sagen, was Ihr wissen wollt«, verkündete er.
Am besten drückt man sich nicht vor dem Unvermeidlichen, entschied er und bemerkte, wie seine Worte sofort eine beruhigende Wirkung auf beide Druiden ausübten, obwohl die Stirn des Gnomen gerunzelt und sein Blick skeptisch blieben. »Was denkst du denn, was wir erfahren wollen, kleiner Mann?«, fragte er leise.
»Ihr wollt wissen, was ich hier draußen gemacht habe. Warum ich eine solch lange Reise unternommen habe. Ihr wollt wissen, ob es etwas mit meiner Tante zu tun hat. Stimmt das nicht?«
Pyson Wence wollte schon antworten, doch Traunt Rowan hielt ihn mit erhobener Hand davon ab. »Ich denke, du solltest lieber keine Spielchen mit uns treiben, junger Pen, dann werde ich auch kein Spielchen mit dir treiben. Dass du dich uns ergeben hast, um deine Freunde zu retten, verrät mir etwas über deinen Charakter. Ich respektiere das. Deshalb werde ich keine Zeit mehr damit vergeuden, dich davon zu überzeugen, dass dein Leben wieder in Ordnung kommen wird, wenn diese Sache vorüber ist. Wie es nun einmal ist, liegt die Entscheidung darüber nicht bei mir. Aber du kannst dir selbst – und deinen Eltern – beträchtliche Schwierigkeiten ersparen, wenn du genau das tust, was du vorschlägst. Sag uns, was wir wissen wollen, und ich werde sehen, was ich tun kann, um dir zu helfen. Ich habe in dieser Angelegenheit ein wenig Einfluss. Shadea a’Ru ist unsere Anführerin, doch Pyson und ich verfügen durchaus ebenfalls über einen gewissen Einfluss.«
»Über mehr Einfluss, als sie denkt«, fügte der Gnom hinzu und starrte düster ins Leere, wobei sein Blick durch den Raum schweifte, als mache er sich Sorgen, dass jemand lauschen könnte.
»Ich möchte noch einmal wiederholen: Nicht wir haben Aphasia Wye auf dich gehetzt«, fuhr Traunt Rowan fort. »Zufällig sind wir deiner Meinung. Er war ein Ungeheuer. Über seinen Tod sind wir froh. Doch musst du eines verstehen: Auch deine Tante halten wir für ein Ungeheuer. Ein Ungeheuer von ganz anderer Art.« Er hielt kurz inne. »Weißt du, was wir mit ihr gemacht haben?«
Pen nickte. »Ihr habt sie in die Verfemung geschickt.«
Er las den beiden Männern die Überraschung von den Augen ab. Pen wusste mehr, als sie vermutet hatten.
»Woher weißt du das?«
»Sie hat es mir erzählt«, antwortete er. »Sie ist mir im Traum erschienen und sagte zu mir, sie würde von den Druiden gefangen gehalten. Dann bat sie mich um Hilfe. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte, aber dann tauchte Tagwen in Patch Run auf und berichtete, sie sei verschwunden, also entschied ich mich zu tun, worum sie mich gebeten hat.«
»Und was wäre das genau?«
»In die Ruinen von Stridegate zu gehen. Um Hilfe zu suchen, die ich nur dort finden kann.«
Pyson Wence runzelte die Stirn. »Was für Hilfe? Warum sollte sie dich um Hilfe bitten und nicht ihren Bruder?«
Pen überlegte hektisch. »Ich weiß es nicht. Zumindest wusste ich es nicht sofort. Eigentlich habe ich es gar nicht für real gehalten. Andererseits hatte ich Angst, den Traum zu ignorieren.«
»Also hast du dich entschlossen, auf eigene Faust aufzubrechen?«
Pen holte tief Luft. »Tagwen kam und wollte meinen Vater um Hilfe bei der Suche nach der Ard Rhys bitten. Tagwen glaubte, mein Vater könne seine Magie einsetzen, um herauszufinden, wohin sie verschwunden war. Aber mein Vater und meine Mutter waren unterwegs, und ich war allein zu Hause. Dann tauchte dieser andere Druide, der Zwerg, mit der Galaphile auf, und wir flohen. Wir wurden verfolgt, und erst in den Schwarzen Eichen konnten wir ihn abschütteln. Wir flogen mit meinem Skiff ins Westland, wo wir Ahren Elessedil um Hilfe bitten wollten, und er besorgte ein größeres Luftschiff und brachte uns nach Anatcherae. Aber die Galaphile spürte uns wieder auf und verfolgte uns über den Lazareen in die Schlacken. Dort kam es zum Kampf, die Galaphile explodierte, und Ahren und der Zwerg kamen ums Leben.«
Er unterbrach sich und versuchte, ihre Reaktion einzuschätzen. Glaubten sie ihm? Er gab sich Mühe, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben, ohne etwas Wichtiges zu verraten.
»Terek Molt war immer ungeduldig«, knurrte Pyson Wence und machte eine abschätzige Geste. »Diesmal hat ihn das mehr gekostet, als er erwartet hat.«
»Was hast du anschließend getan, Pen?«, fragte Traunt Rowan.
»Wir sind aus den Schlacken nach Norden weitergeflogen. Das Luftschiff hatten wir ja noch. Also brachen wir nach Taupo Rough auf. Dort trafen wir Kermadec, und er erklärte sich einverstanden, uns nach Stridegate zu führen. Dann seid Ihr aufgetaucht, und wir waren wieder auf der Flucht.«
Es entspann sich ein langes Schweigen, währenddessen die beiden Männer ihn anstarrten und den Wahrheitsgehalt seiner Geschichte abwägten. Pen blickte sie offen an, sah ihnen in die Augen und hoffte, sie auf diese Weise zu überzeugen.
»Und die ganze Zeit über hat Aphasia Wye dich gejagt?«, fragte der Südländer leise.
Pen schüttelte den Kopf. »Zuerst hatte ich keine Ahnung. Zum ersten Mal tauchte er in Anatcherae auf, nachdem wir dem Zwerg entkommen waren. Er hetzte uns durch den Hafen zum Schiff. Dann sahen wir ihn nicht wieder, bis wir das Land jenseits der Schlacken erreicht hatten. Dort holte er uns erneut ein. Aber wir konnten ihn abermals loswerden. Nun erschien er in den Ruinen wieder. Diesmal hat ihn außer mir niemand gesehen. Irgendwie gelangte er auf die Insel und suchte nach mir.«
Er zögerte. »Wenn Ihr ihn nicht geschickt habt, wer dann?«
Traunt Rowan schob die Lippen vor. »Deine Tante hat viele Feinde, Pen. Und nicht alle sind Druiden.«
Diese Antwort war keine Antwort auf die Frage, dachte Pen.
»Ich habe ein komisches Gefühl bei der Sache«, meinte Pyson Wence plötzlich. »Aphasia Wye verfolgt dich den ganzen Weg bis nach Stridegate, und zweimal kannst ihm unterwegs entkommen, was noch niemand geschafft hat. Dann begegnest du ihm auf der anderen Seite der Brücke, von der du behauptest, niemand außer dir könne sie überqueren, und es gelingt dir, ihn zu töten? Du? Ein Junge? Hältst du uns für Narren?«
Pen schüttelte rasch den Kopf. »Ich habe ihn nicht getötet. Die Geister haben es getan. Die auf der Insel leben. Sie heißen Aeriaden. Die haben ihm eine Falle gestellt, ihn an den Rand der Schlucht gelockt. Im Dunkeln verlor er die Orientierung. Er stürzte ab, und bei dem Sturz ist er ums Leben gekommen. Bis zum Grund der Schlucht ist es sehr tief. Unten gibt es ein Wirrwarr aus Wurzeln und Felsen.«
Pyson Wence war innerhalb einer Sekunde bei ihm, packte ihn am Hemd und drückte ihn an die Wand. »Aphasia Wye konnte im Dunkeln besser sehen als die meisten Katzen«, fauchte ihn der Gnom an. »Er war ein hervorragender Jäger, der nicht so einfach mal eben die Orientierung verlor. Wenn er einmal Witterung aufgenommen hatte, ließ er sich durch nichts von der Fährte abbringen. Bestimmt nicht von ein bisschen Dunkelheit! Du lügst uns an, kleiner Mann!«
Der Gnom presste die Hand so fest gegen Pens Kehle, dass der Junge kaum atmen konnte, geschweige denn sprechen. »Es war die Magie!«, stieß er schließlich hervor.
Pyson Wence ließ ihn zu Boden fallen und versetzte ihm einen harten Tritt. »Magie? Welche Magie? Die Magie dieser Geister, von denen du gesprochen hast? Was für eine Magie sollen sie schon haben, um Aphasia Wye aufzuhalten? Du hast dir das ausgedacht, Junge!«
Pen schüttelte heftig den Kopf und umklammerte mit beiden Händen seinen Hals. »Nein, es ist die Wahrheit! Ich wusste nichts von ihnen, als ich nach Stridegate gegangen bin. Ich wusste nichts bis auf das, was mir meine Tante im Traum gesagt hat. Sie sagte, ich solle dorthin gehen und herausfinden, wie ich ihr helfen könne. Also habe ich mich aufgemacht. Durch die Geister hatte sie die Möglichkeit, aus der Verfemung heraus mit mir in Kontakt zu treten. Sie kam auf der Insel durch die Geister zu mir und erklärte mir, es gebe noch eine Chance für ihre Flucht, solange einige der Druiden noch an sie glauben würden. Der Glaube daran sei es, der eine Verbindung zu ihr schaffen und ihr helfen werde, den Rückweg zu finden!«
Pyson Wence trat noch einmal zu, härter diesmal. »An sie glauben? Das soll sie aus der Verfemung holen? Und das hat sie dir gesagt?« Erneut versetzte er Pen einen Tritt und blickte daraufhin Traunt Rowan an. »Bringen wir ihn einfach jetzt um, dann ist die Sache erledigt!«
Der große Südländer schien über diesen Vorschlag ernsthaft nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf. »Ich denke, nein.« Er kam dazu, schob den kleineren Mann zur Seite, streckte die Hand aus und zog Pen auf die Beine. Nun packte er ihn an den Schultern, steuerte ihn zurück zur Bank und setzte ihn.
Daraufhin hockte er sich vor Pen hin und sah ihm in die Augen. »Mit einer Sache hat er Recht«, sagte er leise. »Du lügst. Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, bei dieser Sache keine Spielchen zu spielen.«
Pen spürte, wie sich ihm die Kehle zusammenschnürte und der Magen umdrehte.
»Deine Tante hat dich den weiten Weg nach Stridegate geschickt, um dir zu sagen, der Glaube ihrer Getreuen würde ihr bei der Befreiung helfen? Warum hat sie dir das nicht einfach in deinem Traum gesagt, Pen? Oder warum hat sie es nicht deinem Vater gesagt, der vielleicht in der Lage gewesen wäre, etwas zu unternehmen? Aus welchem Grund hat sie dich ausgesucht, einen Jungen, der ihr nicht besonders viel nutzen kann?«
Pen starrte auf seine geballten Fäuste. »Also gut. Das war nicht alles. Während ich auf der Insel war, musste ich etwas tun. Ich sollte diesen seltsamen Baum finden, einen, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Ich musste ihren Namen in die Rinde ritzen. Der Saft des Baums blutete in die Buchstaben, und eine Magie wurde freigesetzt. Die hat mich vor Aphasia Wye gerettet. Sie hielt ihn mir vom Leib, verwirrte ihn und ließ ihn in die dunkle Schlucht stürzen. Die Magie stammte von meiner Tante, wurde aus der Verfemung durch ihren Namen zurückgebracht. Nicht ihr Körper oder ihre Seele oder irgendetwas, was man berühren kann. Ich glaube, es war ihr Geist.«
Diese Geschichte klang plausibel genug, angesichts des Wesens von Magie und ihrer Funktionsweise, denn oft war sie elementar und wurde von den Kindern der Natur freigesetzt. Fast entsprach es sogar der Wahrheit.
Traunt Rowan lächelte. »Trotzdem seltsam. Dein Vater hätte das nicht tun können? Unbedingt du solltest es sein? Ein Junge, der noch keine zwanzig ist, Pen?«
Pen nickte. »Ich verfüge über eine Art Magie, über die mein Vater nicht verfügt. Es ist keine große Sache. Ich kann das Denken und die Absichten von Vögeln und Pflanzen und Tieren aus ihren Bewegungen und Lauten verstehen. Das ist nicht gerade richtiges Reden, aber so ähnlich. Meine Tante hatte begriffen, dass ich wissen würde, auf welche Art ich die Buchstaben in den Baum ritzen musste, damit es ihm nicht wehtat und er ihr erlauben würde, durch ihn aus der Verfemung zu mir zu sprechen.«
Diesmal log er, aber er hatte sich inzwischen zu weit vorgewagt, um einen Rückzieher machen zu können, und er musste seine Geschichte mit einem Fundament stützen, wieso die Dinge sich so entwickelt hatten. Er spürte, dass seine Glaubwürdigkeit litt, und mit vorgetäuschter Empörung warf er die Hände in die Luft.
»Ich verstehe es auch nicht. Glaubt mir oder nicht, mir ist es einerlei! Aber ich mag meine Tante sehr gern, und ich wollte ihr nur helfen. Wenn sie mich wieder darum bitten würde, täte ich das Gleiche! Sie ist kein Ungeheuer, egal, was Ihr sagt.« Er blickte Traunt Rowan böse an. »Ich habe die Nase voll davon! Ihr glaubt mir sowieso kein Wort! Gut! Ich habe Euch nichts mehr zu erzählen!«
Auf der anderen Seite des Raums schnaubte Pyson Wence. Traunt Rowan blieb, wo er war, und studierte Pens Gesicht auf eine Weise, die den Jungen beunruhigte. Der Druide hatte die Lügen durchschaut, erkannte Pen. Zwar verstand Pen nicht wie, aber so war es.