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Der Fantasy-Klassiker endlich wieder verfügbar – in überarbeiteter Neuausgabe.
Eine bunt zusammengewürfelte Schar von Abenteurern befindet sich mit dem Luftschiff
Jerle Shannara auf Reisen, um die Edelsteine von Shannara zu suchen. Ihr Anführer ist Walker Boh, der letzte noch lebende Druide. Als sie die geheimnisvollen Ruinen von Schlossstadt erreichen, geraten sie in tödliche Gefahr: Während seine Gefährten auf dem Luftschiff gegen finstere Mächte um ihr Leben kämpfen, wird Walker Boh von Antrax, einem unheimlichen Wesen aus der Vergangenheit, gejagt.
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Seitenzahl: 646
Buch
Seit die Föderation mithilfe der Talismane von Shannara besiegt werden konnte, ist es Walker Bohs Bestreben, dem Rat der Druiden neues Leben einzuhauchen. Er ahnt nicht, dass er bald andere Probleme lösen muss: An Bord des Luftschiffs Jerle Shannara bricht er auf, um einen geheimnisvollen Schatz zu suchen, der über das Schicksal der Menschen entscheiden wird. Der Beginn einer Reise ins Unbekannte, die von großen Abenteuern und Gefahren begleitet wird – denn die mächtige Ilse-Hexe will den Druiden unter allen Umständen vernichten! Sie will die Macht des Schatzes für sich selbst.
Als die Abenteurer auf der Jerle Shannara die geheimnisvollen Ruinen von Schlossstadt erreichen, geraten sie in tödliche Gefahr: Während seine Gefährten auf dem Luftschiff gegen finstere Mächte um ihr Leben kämpfen, wird Walker Boh von Antrax, einem unheimlichen Wesen aus der Vergangenheit, gejagt und schwer verletzt.
Autor
Im Jahr 1977 veränderte sich das Leben des Rechtsanwalts Terry Brooks, geboren 1944 in Illinois, USA, grundlegend: Gleich der erste Roman des begeisterten Tolkien-Fans eroberte die Bestsellerlisten und hielt sich dort monatelang. Doch Das Schwert der Elfen war nur der Beginn einer atemberaubenden Karriere, denn bislang sind mehr als zwanzig Bände seiner Shannara-Saga erschienen.
Die Shannara-Chroniken bei Blanvalet:
1. Das Schwert der Elfen
2. Elfensteine
3. Das Lied der Elfen
Die Erben von Shannara bei Blanvalet:
1. Heldensuche
2. Druidengeist
3. Elfenkönigin
4. Schattenreiter
Die Reise der Jerle Shannara bei Blanvalet:
1. Die Elfenhexe
2. Das Labyrinth der Elfen
3. Die Offenbarung der Elfen (in Vorbereitung)
Weitere Bände in Vorbereitung
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Terry Brooks
DIE SHANNARA-CHRONIKEN
Die Reise der Jerle Shannara 2
Das Labyrinth der Elfen
Roman
Deutsch von Andreas Helweg
Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »The Voyage of the Jerle Shannara Trilogy 2 – Antrax« bei Del Rey, New York.
Dieser Roman ist bereits früher erschienen unter dem Titel Die Labyrinthe von Shannara.
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Copyright der Originalausgabe © 2001 by Terry Brooks
This translation published by arrangement with Del Rey,
an imprint of Random House, a division of Random House LLC.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2002 by Blanvalet Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Waltraud Horbas
Umschlaggestaltung und -illustration: Max Meinzold, München
HK · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-23302-0 V002
www.blanvalet.de
FÜR JOHN SAUL UND MIKE SACK Und fünfzehn Jahre sarkastischer Einsichten, böser Scherze und unschätzbarer Ratschläge
Eins
Am letzten Tag ihrer Kindheit zählte Grianne Ohmsford sechs Jahre. Für ihr Alter war sie klein, daher mangelte es ihr sowohl an übermäßiger Körperkraft als auch an Lebenserfahrung, und so war sie nicht sonderlich gut darauf vorbereitet, aus heiterem Himmel ins Erwachsenenleben einzutreten. Ihr ganzes bisheriges Leben hatte sie am östlichen Rand der Ebene von Rabb verbracht, als ein behütetes Kind von zweien in einem liebevollen Heim. Araden und Biornlief Ohmsford hießen ihre Eltern, der Vater ein Schriftgelehrter und Lehrer, die Mutter eine Hausfrau. In ihrem Haus gingen die Leute wie in einer Schenke ein und aus – Schüler ihres Vaters, Klienten, die seine Fähigkeiten brauchten, Reisende aus allen Vier Ländern. Sie selbst hatte noch keine fernen Länder besucht, als ihr die kleine Welt, die ihr bis dahin gehört hatte, unvermittelt geraubt wurde.
Obwohl ihre Erscheinung unauffällig war und man nicht wirklich damit rechnen konnte, dass sie eine derartige traumatische Veränderung ihres Lebens überwinden würde, besaß sie in Wahrheit überraschende Fähigkeiten und außergewöhnliche Stärke. Zum Teil war es allerdings an den enorm blauen Augen erkennbar, deren Blick das Gegenüber durchbohrte und bis in die Seele drang. Fremde, die den Fehler begingen, in diese Augen zu schauen, ertappten sich recht bald dabei, wie sie den Blick wieder abwandten. Mit diesen Männern und Frauen sprach sie weder, noch nahm sie von den Begegnungen etwas mit, und trotzdem überkam die Fremden das Gefühl, sie hätten einen Teil von sich aufgegeben. Manchmal lief sie in Haus und Garten herum, das lange dunkle Haar fiel ihr locker über die Schultern, und sie wirkte wie ein Streuner, der nicht weiß, was er tun oder wohin er gehen soll. Dann wieder saß sie allein in einer Ecke, derweil die Erwachsenen sich unterhielten, beanspruchte eigenen Raum für sich selbst und sorgte für dessen Ungestörtheit.
Zudem war sie hart, ein stures und widerspenstiges Kind, das sich von nichts abbringen ließ, was es sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte. Eine Zeit lang konnten ihre Eltern mithilfe der üblichen Strafen und Belohnungen auf das Mädchen einwirken, schließlich jedoch stellten sie fest, dass sie keinen echten Einfluss auf sie hatten. Grianne schien zu ihrer eigenen Identität zu finden, indem sie bei Auseinandersetzungen klar Stellung bezog, sich auf Herausforderungen einließ und die Folgen akzeptierte, wie auch immer sie aussahen. Häufig bestanden sie aus einer strengen Zurechtweisung und der Verbannung in ihr Zimmer, oder ihr wurde einfach nur das versagt, wovon andere glaubten, es würde ihr gefallen. Nichtsdestotrotz schien sie solche Konsequenzen nicht zu scheuen und war zu geschickt, um sich dem Willen ihrer Eltern wirklich beugen zu müssen.
Den Kern des Ganzen bildete ein Erbe, wie es in dieser Art schon seit Generationen nicht mehr in Erscheinung getreten war. Sie wusste bereits früh, dass sie sich von ihren Eltern, ihren Freunden und sonstigen Bekannten unterschied. Alles deutete auf die berühmtesten Vorfahren ihrer Familie hin – auf Brin und Jair und Par und Coll Ohmsford, auf die sie ihre Abstammung direkt zurückführen konnte. Dies erklärten ihr ihre Eltern schon früh, nahezu sofort, nachdem sich die Begabung offenbart hatte. Sie war mit der Magie des Wunschliedes geboren worden, einer Kraft, die in der Familie Ohmsford nur alle vier oder fünf Generationen zutage trat. Wünsch es dir, singe dafür, und es wird geschehen. Nichts war unmöglich. Solange ihre Eltern zurückdenken konnten, hatte sich das Wunschlied in keinem Ohmsford gezeigt, und so besaß auch keiner der beiden persönliche Erfahrungen im Umgang damit. Immerhin kannten sie die Überlieferungen, die ihnen wieder und wieder von ihren eigenen Eltern erzählt worden waren, die Geschichten über jene Magie, die seit den Zeiten der großen Königin Wren existierte, einer ihrer Vorfahren. Aus diesem Grund wussten sie recht gut, was es zu bedeuten hatte, wenn ihr Kind allein durch Gesang einen Blumenstiel beugen oder einen knurrenden Hund aus dem Weg schieben konnte.
Zunächst benutzte sie das Wunschlied auf einfache Weise und ohne jede Disziplin, und dass es sich um eine sehr besondere Gabe handelte, begriff sie lange Zeit nicht. In ihrem kindlichen Denken schien es ihr, jeder müsse sie besitzen. Ihre Eltern halfen ihr, den Wert zu erkennen, die Kraft nutzbar zu machen und das Geheimnis anderen gegenüber zu wahren. Grianne war ein kluges Mädchen, und sie verstand schnell, was es bedeutete, etwas zu besitzen, das andere begehrten oder fürchteten. Sie hörte auf ihre Eltern, wenn sie auch die Ermahnungen, wie und zu welchem Zweck die Gabe benutzt werden sollte, wenig beherzigte. Doch sie war klug genug, ihnen nur das zu zeigen, was sie von ihr erwarteten, und alles andere vor ihnen zu verbergen.
Deshalb hatte sie am letzten Tag ihrer Kindheit längst verstanden, wie sie ihre Magie einzusetzen hatte. Sie hatte Schutzmaßnahmen gegen Gefahren getroffen und sich gute Ausflüchte für das Verbot ihrer Eltern überlegt, sie bis an die Grenzen auszutesten. Ihr Panzer aus starker Entschlossenheit und sturem Beharren hatte sich zu einer Festung erweitert, innerhalb derer sie das Wunschlied ungestraft verwenden konnte. Ihre kindliche Welt war bereits komplexer und anspruchsvoller als die vieler Erwachsener, und gerade lernte sie, dass sie niemandem je verraten durfte, wer und was sie war. Und am Ende waren es die Gabe der Magie und ihr Verständnis für die Wirkungsweise, die sie retteten.
Gleichzeitig, ohne ihre Schuld, wurde dadurch das Schicksal ihrer Eltern und ihres jüngeren Bruders besiegelt.
Schon einige Wochen vor diesem letzten Tag fiel ihr auf, dass in ihrer Kinderwelt etwas nicht stimmte. Es offenbarte sich ihr in Kleinigkeiten, die weder ihre Eltern noch andere Leute bemerkten. Eigentümliches lag in der Luft – Gerüche und Geschmäcke und Geräusche, die auf verborgene Wesen und finstere Absichten hindeuteten. Mit den Vibrationen ihrer Stimme, die zu ihr zurückkehrten, wenn sie die Magie ihres Liedes einsetzte, erhaschte sie Blicke aus den Schatten. Auch spürte sie Veränderungen in Hitze und Kälte, die sich sonst nur einstellten, wenn sie bedroht wurde, bloß konnte sie für gewöhnlich die Spuren bis zu ihrer Quelle zurückverfolgen, was ihr diesmal nicht gelang. Ein- oder zweimal spürte sie die Nähe dunkel verhüllter Gestalten, vielleicht jener Gestaltwandler, die sie schon bei verschiedenen Gelegenheiten zuvor entdeckt hatte. Stets versteckten sie sich und hielten sich außerhalb ihrer Reichweite auf, waren aber dennoch ständig da.
Ihren Eltern erzählte sie nichts davon, weil sie keine Beweise hatte und sich lediglich auf Vermutungen hätte stützen können. Trotzdem blieb sie wachsam. Ihr Haus stand am Rand eines Ahornwäldchens, davor breitete sich die flache grüne Schwelle des Rabbs aus, die sich bis zu den Ausläufern der Drachenzähne erstreckte. Während sich von Westen nichts und niemand nähern konnte, ohne schon von Weitem sichtbar zu sein, schirmten Wald und Hügel die anderen drei Seiten ab. Von Zeit zu Zeit erforschte sie diese, eine Vorsichtsmaßnahme, die ihr ein Gefühl der Sicherheit verlieh. Doch wer immer sie beobachtete, ging vorsichtig zu Werke, und sie fand niemals heraus, was für ein Wesen es war. Es verbarg sich vor ihr, mied sie und entfernte sich, sobald sie auftauchte, kehrte jedoch stets zurück. Sie fühlte die Blicke sogar, während sie danach suchte. Es war klug und geschickt und daran gewöhnt, sich zu verstecken, sobald andere es aufspüren wollten.
Eigentlich hätte sie Furcht empfinden sollen, doch Angst hatte nicht zu ihrer Erziehung gehört, und so wusste sie ihren Nutzen nicht zu schätzen. Für sie stellte Furcht ein Ärgernis dar, das sie schlicht aus ihrem Leben verbannte und einfach nicht beachtete. Letzten Endes jedoch fragte sie ihren Vater dennoch, ob es jemanden gebe, der ihr oder ihm oder ihrer Mutter oder ihrem Bruder etwas antun wollte, woraufhin er nur lächelte und antwortete, sie würden nichts besitzen, das irgendwem Anlass biete, ihnen Schaden zuzufügen. Das sagte er ruhig und voller Überzeugung wie ein Lehrer, der seinem Schüler Wissen vermittelt, und deshalb, so glaubte sie, musste er damit auch recht haben.
Die Gestalten in den schwarzen Mänteln kamen schließlich im Morgengrauen, zu einer Zeit, wenn das Licht so bleich und schwach ist, dass es kaum Schatten zeichnet. Sie töteten den Hund, den alten Beller, als der nachschauen ging, wer sich da näherte, ein Akt, der unmissverständlich für ihre finsteren Absichten sprach. Inzwischen war sie erwacht, denn eine innere, mit ihrer Magie verbundene Stimme hatte sie alarmiert, und sie eilte auf Zehenspitzen durch das Haus und forschte nach der Gefahr, die bereits auf der Schwelle stand. An diesem Morgen war die Familie allein, keiner der reisenden Gäste wohnte bei ihnen, und niemand würde sich mit ihnen gemeinsam der Bedrohung entgegenstellen.
Beim Anblick der schattenhaften Gestalten, die vor den Fenstern hin- und herhuschten, zögerte Grianne nicht. Sie spürte die Gefahr, die sie von allen Seiten umgab, ein Kreis eiserner Klingen, der sich unerbittlich wie eine Schlinge enger zog. Jetzt rief sie nach ihrem Vater und rannte zurück ins Kinderzimmer, wo ihr Bruder schlief. Wortlos nahm sie ihn auf den Arm und drückte ihn fest an sich. Weich und warm fühlte er sich an, kaum zwei Jahre alt. Sie trug ihn hinunter in den Erdkeller, wo die Lebensmittel aufbewahrt wurden. Oben versuchten die Eltern, ihre Flucht zu decken. Glas zerbrach, Holz splitterte, und Grianne hörte die Schreie und Verwünschungen ihres Vaters. Er war ein tapferer Mann, und er würde sich ihren Angreifern stellen. Doch leider genügte das nicht, das spürte sie. Sie löste einen Riegel und zog einen Teil des Regals zurück, der den Eingang zu einem Kriechkeller verbarg, einer Zuflucht bei Sturm, die sie jedoch nie benutzt hatten. Dort legte sie ihren Bruder auf eine Pritsche. Einen Augenblick lang betrachtete sie ihn noch, sein winziges Gesicht und die geballten Fäuste, seinen schlafenden Körper, dann hörte sie, wie sich die Rufe und Flüche oben in Schmerzensschreie verwandelten, und Tränen rannen ihr die Wangen hinab.
Schwarzer Rauch drang von oben durch die Bohlen des Fußbodens in den Keller vor, als sie aus dem engen Schutzraum schlüpfte und den Eingang hinter sich verschloss. Sie hörte das Knistern der Flammen. Da ihre Eltern tot waren, würden die Eindringlinge bald kommen und sie holen, aber Grianne war schneller und klüger, als diese ahnten. Sie plante, ihnen zu entwischen, und war sie erst draußen im fahlen Licht und in Sicherheit, würde sie die fünf Meilen zum nächsten Haus laufen, Hilfe finden und ihren Bruder retten.
Die schwarz verhüllten Gestalten suchten nach ihr, das hörte sie, während sie durch einen kleinen Gang zur Kellertür lief, die ins Freie führte. Draußen war die Tür hinter Büschen versteckt, und da sie selten benutzt wurde, war es unwahrscheinlich, dass sie sie entdeckten. Falls doch, würden sie es bereuen. Sie hatte bereits herausgefunden, welchen Schaden man mit dem Wunschlied anrichten konnte. Zwar war sie noch ein Kind, trotzdem jedoch keineswegs hilflos. Sie kniff die Augen zusammen, schluckte die Tränen hinunter und schob das Kinn vor. Sie würden es bereuen, eines Tages, wenn sie es ihnen heimzahlte.
Dann war sie durch die Tür hindurch und kauerte sich im Licht der Dämmerung unter die Büsche. Rauch trieb in dunklen Wolken heran, und sie spürte die Hitze des Feuers, das an den Mauern ihres Hauses hinaufkroch. Alles nimmt man mir weg, dachte sie verzweifelt. Alles, was mir etwas bedeutet.
Eine plötzliche Bewegung seitlich von ihr erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie sich umwandte, legte sich eine Hand mit einem übel riechenden Tuch über ihr Gesicht, und die Welt um sie her begann sich zu drehen und versank allmählich in Dunkelheit.
Beim Erwachen war sie gefesselt, geknebelt, und man hatte ihr die Augen verbunden; sie wusste weder, wo sie war, wer sie gefangen hielt, noch ob es Tag oder Nacht war. Jemand trug sie über der Schulter wie einen Sack Getreide, aber niemand sprach. Bei ihren Häschern handelte es sich um mehr als eine Person, das hörte sie an den schweren, festen Schritten. Auch das Atmen hörte sie. Ihr erster Gedanke galt ihrem Haus und ihren Eltern und ihrem Bruder. Die Tränen traten ihr in die Augen, und sie begann zu schluchzen. Sie hatte ihre Familie nicht retten können.
Lange Zeit wurde sie so getragen, dann legte man sie auf den Boden und ließ sie in Ruhe. Sie wand sich und versuchte sich zu befreien, doch die Fesseln waren zu stramm verknotet. Hunger und Durst hatte sie außerdem, und kalte Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus. Es konnte nur einen Grund geben, weshalb sie verschleppt worden war – der Grund, weshalb man sie brauchte, ihre Eltern und ihren Bruder hingegen nicht: ihr Wunschlied. Sie lebte, und die anderen waren wegen ihrer ererbten Gabe gestorben. Sie war diejenige mit der Magie. Sie war es, die etwas Besonderes darstellte. Etwas so Besonderes, dass man ihre Familie dafür ermordete und sie selbst verschleppte. Für das man ihr alles, was sie liebte, entriss.
Nicht lange danach kam es plötzlich und unerwartet zu einem Aufruhr, lautem Kampflärm und wütenden Schreien. Es schien von überallher zu kommen. Dann wurde sie vom Boden gehoben, fortgetragen, und die Geräusche blieben hinter ihr zurück. Ihr jetziger Träger wiegte sie im Arm, während er lief, drückte sie fest an sich, als wolle er sie in ihrer Angst und Verzweiflung trösten. Sie schmiegte sich in die Arme ihres Retters, denn tatsächlich suchte sie Trost.
An einem stillen Ort nahm man ihr Fesseln, Knebel und Augenbinde ab. Sie setzte sich auf und sah sich einem großen Mann gegenüber, der eine schwarze Robe trug, einem Mann, der nicht vollständig menschlich war. Sein Gesicht wies Schuppen und eine Zeichnung wie bei einer Schlange auf. Die Finger endeten in Krallen, und seine Augen waren lidlose Schlitze. Ihr stockte der Atem, und sie wich vor ihm zurück, doch er rührte sich nicht.
»Jetzt bist du in Sicherheit, Kleine«, flüsterte er. »Sicher vor denen, die dir etwas antun wollen, vor dem Dunklen Onkel und seinesgleichen.«
Sie wusste nicht, von wem er sprach. Vorsichtig sah sie sich um. Ein Wald umgab sie, die Bäume hielten auf allen Seiten Wache, und ihre Äste begrenzten ein Meer aus Sonnenlicht, das die Walderde wie Goldstaub sprenkelte. Niemand war in der Nähe, und nichts, was sie sah, kam ihr bekannt vor.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte ihr Gegenüber. »Fürchtest du dich vor meinem Aussehen?«
Misstrauisch nickte sie und schluckte, weil ihre Kehle ausgedörrt war.
Er reichte ihr einen Wasserschlauch, und dankbar trank sie. »Hab keine Angst. Ich bin von gemischter Herkunft, sowohl Mensch als auch Mwellret, Kleine. Vielleicht sehe ich fürchterlich aus, aber trotzdem bin ich dein Freund. Schließlich habe ich dich vor den anderen gerettet. Vor dem Dunklen Onkel und seinen Gestaltwandlern.«
Nun erwähnte er schon zum zweiten Mal den Dunklen Onkel. »Wer ist das?«, fragte sie. »Hat er uns all das angetan?«
»Er ist ein Druide. Walker lautet sein Name. Er ist es, der euer Haus angegriffen und deine Eltern und deinen Bruder getötet hat.« Mit seinen Reptilienaugen starrte er sie an. »Denk zurück. Dann wirst du dich erinnern, dass du sein Gesicht gesehen hast.«
Zu ihrer Überraschung stimmte das. Sie sah es deutlich vor sich, wie es im Morgengrauen vor dem Fenster vorbeihuschte, dunkle Haut und schwarzer Bart, Augen, die sie mit ihren Blicken bis auf die nackte Haut auszogen, eine dunkle Stirn, die tief gerunzelt war. Sie sah ihn, erkannte den Feind in ihm und verspürte eine Wut von derartiger Intensität, dass sie glaubte, tief im Innersten zu brennen.
Dann weinte sie, dachte an ihre Eltern und ihren Bruder, an ihr Zuhause und ihre verlorene Welt. Der Mann, der ihr gegenübersaß, zog sie sanft in seine Arme und hielt sie fest.
»Du kannst nicht zurück«, erklärte er ihr. »Sie werden nach dir suchen. Solange sie glauben, dass du noch am Leben bist, werden sie nicht aufgeben.«
Sie nickte, den Kopf an seine Schulter gelehnt. »Ich hasse sie«, zischte sie.
»Ja, ich weiß«, flüsterte er. »Und damit hast du vollkommen recht.« Seine kehlige Stimme wurde fester. »Aber hör mich an, Kleine. Ich bin der Morgawr. Von nun an will ich Vater und Mutter für dich sein. Ich bin deine Familie. Natürlich werde ich dir helfen, Rache zu nehmen für das, was man dir geraubt hat. Ich lehre dich, wie du dich gegen alles wappnen kannst, was dir wehtun könnte. Ich lehre dich, stark zu sein.«
Er brachte sie fort, hob sie auf, als wäre sie federleicht, und trug sie tiefer in die Wälder zu einer Stelle, an der ein riesiger Vogel wartete. Den Vogel nannte er einen Würger, und auf seinem Rücken flogen sie in einen anderen Teil der Vier Länder, einen dunklen, einsamen Ort, an dem es weder Geräusche noch Leben gab. Genau wie er versprochen hatte, sorgte er für sie, bildete sie an Geist und Körper aus und beschützte sie. Auch über den Druiden erzählte er ihr mehr, berichtete ihr von seinen Ränken und seinem Machthunger und seinem lange schon verfolgten Ziel, alle Völker und Länder zu beherrschen. Er zeigte ihr Bilder des Druiden und seiner schwarz gekleideten Diener und nährte sorgsam das Feuer des Zorns, das in ihrer kindlichen Brust loderte.
»Vergiss niemals, was er dir geraubt hat«, schärfte er ihr wieder und wieder ein. »Und auch nicht, was er dir für seinen Verrat schuldet.«
Nach einer Weile unterrichtete er sie darin, wie sie das Wunschlied als Waffe einsetzen konnte, gegen die sich niemand zu wehren vermochte – nie zuvor hatte sie es so gut gemeistert und so vollkommen unter ihre Kontrolle gebracht, nie zuvor hatte sie es sich so sehr zur zweiten Natur gemacht. Er lehrte sie, wie eine leichte Änderung der Tonhöhe Gesundheit in Krankheit und Leben in Tod verwandeln konnte. Ein Druide besaß diese Macht ebenfalls, erklärte er ihr. Vor allem der Druide Walker. Sie müsse lernen, ihm ebenbürtig zu sein und ihn mit ihrer Magie zu besiegen.
Nach einer Weile dachte sie nicht mehr an ihre Eltern und ihren Bruder, den sie für tot hielt; sie waren nurmehr Gebeine, die in der Erde begraben lagen, ein Teil ihrer verlorenen Vergangenheit, ihrer Kindheit, die an einem einzigen Tag zu Ende gegangen war. Sie überließ sich dem neuen Leben und ihrem Lehrer, ihrem Mentor, ihrem Freund. Der Morgawr stellte all dies für sie dar, während sie heranwuchs, und noch viel mehr. Er formte ihr Denken und navigierte sie durchs Leben. Von ihm erhielt sie Inspirationen für ihre magischen Ziele, er schenkte ihr den Traum, eines Tages ihr erlittenes Unrecht zu rächen.
Er nannte sie seine kleine Ilse-Hexe, und den Namen übernahm sie von ihm. Ihren früheren Namen begrub sie mit der Vergangenheit und benutzte ihn niemals wieder.
Zwei
Ihre Erinnerungen an die Vergangenheit, die ohnehin verblasst waren, lösten sich in nichts auf, als sie auf einer Waldlichtung fern der Heimat vor diesem Jungen stand, der behauptete, ihr Bruder zu sein.
»Grianne, ich bin Bek«, beteuerte er. »Erinnerst du dich nicht?«
Natürlich erinnerte sie sich an alles, wenngleich nicht mehr so scharf und deutlich und auch nicht mehr so schmerzerfüllt. Sie erinnerte sich, aber sie weigerte sich zu glauben, dass Erinnerungen nach so vielen Jahren mit derartiger Klarheit zum Leben erwachen konnten. In all dieser Zeit hatte sie ihren Namen selten gehört, hatte ihn nicht ausgesprochen und nicht einmal mehr an ihn gedacht. Sie war die Ilse-Hexe. Dieser neue Name beschrieb, wen und was sie darstellte, nicht jener andere. Den anderen würde sie wieder tragen, wenn sie Rache an dem Druiden genommen hatte, zu einem Zeitpunkt, an dem sie so viel Erkenntnis und Macht erlangt hatte, dass der Name, einmal ausgesprochen, nie wieder von irgendjemandem vergessen werden würde.
Und jetzt stand dieser Junge vor ihr und wagte es, ihr einzureden, er dürfe ihn benutzen. Ungläubig und voller Zorn starrte sie ihn an. Konnte er wirklich ihr Bruder sein? Konnte er Bek sein, den sie so lange für tot gehalten hatte? War das möglich? Sie versuchte, in diesem Gedanken einen Sinn zu erkennen, ihn irgendwie zu verarbeiten, Worte zu finden, mit denen sie antworten konnte. Aber alles, was ihr einfiel, war wirr und unzusammenhängend und wollte sich nicht ordnen lassen. Alles erstarrte zu Eis und hinterließ eine solche Frustration über ihre mangelnde Handlungsfähigkeit in ihr, dass sie am liebsten geschrien hätte.
»Nein!«, brüllte sie schließlich. Nur dieses einzelne Wort löste sich von ihren Lippen wie ein Fluch, den man einem Dämon entgegenschleudert.
»Grianne«, wiederholte er leise.
Sie sah den dunkelbraunen Haarschopf und die verblüffend blauen Augen, die ihren eigenen so sehr glichen, die ihr so vertraut waren. Auch sonst glich ihr der Knabe, sowohl im Körperbau als auch vom Äußeren her. Dazu hatte er etwas anderes an sich, das sie nicht recht zu fassen bekam, dennoch war es unverkennbar vorhanden. Er hätte Bek sein können.
Aber wie? Wie war das möglich?
»Bek ist tot«, zischte sie ihn an und stand starr da, eine schlanke Gestalt in dunkler Robe.
Am Boden neben ihr kniete Ryer Ord Star im Schatten und hielt sich den Bauch, ein kleines Bündel Kleider mit gesenktem Kopf, den das lange silberne Haar wie ein Vorhang umschloss. Von dem Moment an, als die Ilse-Hexe urplötzlich aus der Nacht aufgetaucht war, hatte sie sich nicht gerührt, nicht den Kopf gehoben oder auch nur ein einziges Wort gesagt. Still und dunkel, wie sie da kauerte, hätte sie eine steinerne Statue sein können, die ein Bildhauer hier aufgestellt hatte, um der Rast eines Reisenden als Wächter zu dienen.
Die Ilse-Hexe schaute kurz zu ihr hinüber und fixierte sofort wieder den Jungen. »Sag schon«, zischte sie, »warum sollte ich dir glauben?«
»Ich wurde von einem Gestaltwandler namens Truls Rohk gerettet«, antwortete er schließlich, wobei er ihrem Blick standhielt. »Der brachte mich zum Druiden Walker, und dieser wiederum übergab mich den Leuten, die mich wie ihren eigenen Sohn aufzogen. Trotzdem bin ich Bek.«
»Woher willst du das alles wissen? Als ich dich im Keller versteckt habe, warst du erst zwei Jahre alt!« Sie verbesserte sich: »Als ich meinen Bruder versteckte. Aber mein Bruder ist tot, und du bist ein Lügner.«
»Das meiste hat man mir erzählt«, räumte er ein. »An meine Rettung kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber schau mich einmal an, Grianne. Betrachte uns beide! Die Ähnlichkeit ist doch nicht zu übersehen. Wir haben die gleichen Augen und die gleiche Haarfarbe. Wir sind Bruder und Schwester! Fühlst du es denn nicht?«
Sie trat einen Schritt vor. »Warum sollte ein Gestaltwandler dich retten, wo es doch die Gestaltwandler waren, die meine Eltern getötet und mich verschleppt haben? Weshalb hätte der Druide dich retten sollen? Er wollte mich!«
Der Junge schüttelte bedächtig den Kopf, blickte sie mit seinen blauen Augen an und setzte eine entschlossene Miene auf. »Nein, Grianne, nicht die Gestaltwandler oder der Druide haben unsere Eltern umgebracht und dich verschleppt. Sie waren nie deine Feinde. Erkennst du die Wahrheit denn noch immer nicht? Denk doch einmal nach, Grianne.«
»Ich habe sein Gesicht gesehen!«, schrie sie voller Wut. »Ich sah es durch ein Fenster, wie es im Licht der Dämmerung kurz vor dem Angriff vorbeihuschte, bevor ich …«
Plötzlich unterbrach sie sich und fragte sich zum ersten Mal, ob sie sich vielleicht täuschte. Hatte sie den Druiden tatsächlich gesehen, wie der Morgawr behauptete, als er ihr befahl, sich zu erinnern – als sei er sicher, sie würde sich wirklich daran erinnern? Wie hatte er wissen können, was sie gesehen hatte? Wenn sie sich tatsächlich getäuscht hatte, so wären die Folgen entsetzlich, zu entsetzlich, um darüber nachzudenken. Sie wischte den Gedanken beiseite, dennoch nistete er sich in ihrem Kopf ein wie eine Schlange, die sich zum Zustoßen bereithält.
»Wir sind Ohmsfords, Grianne«, fuhr der Junge leise fort. »Und Walker ebenfalls. Uns verbindet das gleiche Erbe. Er stammt aus derselben Linie wie wir; er ist einer von uns. Deshalb hat er überhaupt keinen Grund, uns etwas anzutun.«
»Keinen Grund, der dir bekannt wäre, scheint es.« Sie lachte verächtlich. »Was weißt du schon über dunkle Ränke, Jüngelchen? Was hast du in deinem Leben denn erlebt – was gibt dir das Recht anzunehmen, deine Einsichten in solche Angelegenheiten gingen tiefer als meine?«
»Nichts.« Einen Augenblick lang war er offenbar um Worte verlegen, sein Gesicht allerdings verriet, dass er eifrig nach den richtigen suchte. »Ein Leben wie du habe ich nicht geführt, ich weiß. Trotzdem mache ich mir keine falschen Vorstellungen darüber, wie es gewesen sein muss.«
Langsam war sie mit ihrer Geduld am Ende. »Offenbar glaubst du wirklich an das, was du mir erzählst«, sagte sie kalt. »Vermutlich wurdest du darauf gedrillt, es zu glauben. Dennoch bist du lediglich ein Strohmann und das Werkzeug eines alten, durchtriebenen Mannes. Druiden und Gestaltwandler sind Meister der Täuschung. Zweifellos haben sie lange und intensiv nach dir gesucht, nach einem Jungen, der ungefähr so aussieht wie Bek, wenn er dein Alter erreicht hätte. Wahrscheinlich haben sie sich zu ihrem Glück gratuliert.«
»Wieso habe ich dann diesen Namen?«, hakte der Junge nach. »Wenn ich nicht dein Bruder bin, warum trage ich diesen Namen? Schon immer hat man mich so genannt.«
»Zumindest glaubst du das. Ein Druide kann dir Lügen mit einem einzigen Gedanken einreden, sogar Lügen über dich selbst.« Tadelnd schüttelte sie den Kopf. »Leider hat man dir vorgemacht, der zu sein, für den du dich hältst: ein Junge, der vor vielen Jahren gestorben ist. Ich sollte dich auf der Stelle auslöschen, doch vielleicht will der Druide gerade das, vielleicht soll ich genau das tun. Möglicherweise meint er, ich würde auf irgendeine Weise Schaden davontragen, wenn ich einen Jungen töte, der meinem Bruder dermaßen ähnlich sieht. Sag mir, wo der Druide wartet, und ich verschone dich.«
Voller Entsetzen starrte der Junge sie an. »Du bist diejenige, die getäuscht wurde, Grianne. So sehr, dass du dir gleichgültig was einreden wirst, nur damit die Wahrheit nicht ans Tageslicht kommt.«
»Wo ist der Druide?«, fauchte sie ihn an mit verzerrtem Gesicht. »Sag schon!«
Er holte tief Luft und richtete sich auf. »Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um dich hier zu treffen. Einen zu weiten, um mich einschüchtern zu lassen und das für falsch zu erklären, was, wie ich weiß, wahr und richtig ist. Ich bin dein Bruder. Ich bin Bek. Grianne …«
»Nenn mich nicht bei diesem Namen!«, kreischte sie. Ihre graue Robe bauschte sich auf, und sie fuchtelte wütend mit den Armen herum, fast so, als wolle sie seine Worte ersticken und sie gemeinsam mit ihrer Vergangenheit begraben. Sie spürte, wie der Zorn in ihr aufstieg, wie ihr die Beherrschung entglitt wie öliges Metall, und ihre Stimme nahm eine Schärfe an, mit der sie alles und jeden in Stücke schneiden konnte, den sie ins Visier nahm. »Sprich ihn nie wieder aus!«
Er wich nicht zurück. »Wie soll ich dich denn nennen? Ilse-Hexe? Soll ich dich so nennen, wie deine Feinde dich rufen? Soll ich dich so behandeln wie sie, wie ein Geschöpf der dunklen Magie voll finsterer Absichten, wie jemanden, dem ich niemals nahe sein kann und von dem ich mir auch nicht wünsche, dass er wieder meine Schwester wird?«
Mit jedem Wort schien er an Kraft zu gewinnen, und plötzlich erkannte sie, dass er eine viel größere Gefahr darstellte, als sie bislang geglaubt hatte. »Hüte dich, Junge.«
»Du bist diejenige, die sich hüten sollte«, gab er zurück. »Und zwar vor jenen, denen du Glauben schenkst! Vor allem, was du dir hast einreden lassen, seit du aus unserem Haus verschleppt wurdest. Vor den Lügen, hinter denen du dich versteckst!«
Plötzlich zeigte er mit dem Finger auf sie. »Wir sind uns ähnlicher, als du denkst. Nicht alles, was uns verbindet, lässt sich mit den Augen erkennen. Grianne Ohmsford besitzt ihre Magie und ihr Geburtsrecht, jedoch das Handwerkszeug der Ilse-Hexe. Aber ich besitze diese Magie ebenfalls! Hörst du sie nicht aus meiner Stimme heraus? Doch, das tust du. Ich bin nicht so geübt im Umgang damit, weil ich sie erst kürzlich entdeckt habe, trotzdem verbindet auch sie unser Leben, Grianne, und ist Teil unseres gemeinsamen Erbes …«
Sie spürte, wie seine Stimme eine ähnliche Schärfe annahm wie ihre, einen Biss, der sie zusammenzucken ließ und sie veranlasste, sich innerlich zur Verteidigung zu wappnen.
»… genau so, wie wir die gleichen Eltern hatten, das gleiche Schicksal erlitten, die gleiche Entdeckungsreise unternommen haben und hierher getrieben wurden auf der Suche nach einem Schatz, der sich in den Ruinen im Binnenland verbirgt …«
Sie stimmte ein tiefes, vibrierendes Summen an, das sich sanft mit den Geräuschen der Nacht vermischte, leise und zischend wie Blätterrauschen im Wind, wie das Zirpen der Insekten und das Zwitschern der Vögel, deren Schatten eilig vorbeizogen wie der Atem lebender Geschöpfe. Nun traf sie kurz entschlossen eine Entscheidung; es war zu gefährlich, ihn am Leben zu lassen, wer oder was immer er auch sein mochte. Zu gefährlich für sie, um ihn zu ignorieren, was sie zunächst beabsichtigt hatte. Denn er besaß eine Magie, die ihrer eigenen nicht unähnlich war. Diese hatte sie gleich gespürt, obwohl sie nicht sofort darauf gekommen war, da sie sich in seiner Stimme verbarg und nur flüsterleise in Erscheinung trat.
Mach ein Ende mit ihm, ermahnte sie sich.
Mach unverzüglich ein Ende mit ihm.
Dann plötzlich schimmerte es hell neben ihr, und ihre Aufmerksamkeit wurde von dem Jungen abgelenkt. Sie schlug zu, ohne nachzudenken, entfesselte Magie in Form von Eisensplittern und messerscharfen Teilchen, die durch die Luft pfiffen, um ihr Ziel zu vernichten. Aber das Schimmern hatte sich bereits fortbewegt. Erneut griff die Ilse-Hexe an, und ihre Stimme war eine Waffe von solcher Wucht, dass sie die Stille zerriss und das Laub peitschend von den Bäumen schlug, als seien sie von einem wilden Sturmwind erfasst worden, während der Junge, der gesprochen hatte, stimmlos und mit weit aufgerissenen Augen vor ihr stand.
Um kurz darauf verschwunden zu sein. Das geschah so rasch und unerwartet, dass die Ilse-Hexe es nicht verhindern konnte. Blinzelnd starrte sie auf die leere Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, und sah etwas Helles, das Gestalt annahm, sich neu ausformte und durch die Nacht bewegte wie zwei vage menschliche Schatten, die einander jagten. Überrascht attackierte sie erneut, war jedoch zu langsam, und ihr Angriff erwischte nur die leere Luft.
Sie wandte sich hierhin und dorthin und suchte nach dem, was sie so vollkommen getäuscht hatte. Worum immer es sich auch handeln mochte, es war verschwunden und hatte den Jungen mit sich genommen. Ihre erste Regung war, die beiden zu verfolgen. Aber der ersten Regung zu folgen erwies sich selten als weise, und diesmal würde sie ihr bestimmt nicht nachgeben. Sie suchte die leere Lichtung ab und forschte nach Spuren, die der Retter des Jungen hinterlassen hatte. Es dauerte nur einen Moment, da hatte sie dessen Identität bereits festgestellt. Ein Gestaltwandler. Seine Gegenwart hatte sie nicht zum ersten Mal gespürt, sondern auch schon auf der Schwarzen Moclips, nach der nächtlichen Kollision mit der Jerle Shannara. Ohne Zweifel handelte es sich um das gleiche Wesen. Es musste sich während des Durcheinanders an Bord geschlichen haben, um sie auszuspionieren, und anschließend hatte es sich für den Rest der Reise versteckt. Das konnte nicht leicht gewesen sein, wenn man bedachte, wie genau sie die Quartiere und die Besatzung kontrollierte. Dieser Gestaltwandler war hervorragend und besaß große Erfahrung, kannte sich mit solchen Dingen aus und hatte nicht den mindesten Respekt vor ihr.
Erneut loderte der Zorn in ihr auf. Der Gestaltwandler musste ihr vom Schiff zur Lichtung gefolgt sein und hatte sich nun enthüllt, als er den Jungen in Gefahr glaubte. Kannte er den Jungen vielleicht? Oder den Druiden? Diente er einem der zwei oder gar beiden? Sie nahm es an. Warum sonst sollte er sich in ihre Angelegenheiten mischen? War er also der Beschützer des Jungen? Vielleicht. Falls dies der Fall wäre, bestätigte es, was sie von Anfang an vermutet hatte, von dem Augenblick an, in dem der Junge ihr hatte einreden wollen, er sei Bek. Der Druide hatte einen Plan ausgeheckt, um ihre Moral und ihr Vertrauen in den Morgawr zu unterminieren, um ihre Beziehung zu schädigen und sie verwundbar zu machen, damit er ihr zuvorkommen und sie vernichten konnte.
Sie faltete die Hände vor ihrem Körper und presste die Finger so heftig zusammen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie hätte den Jungen sofort töten sollen, in dem Moment, in dem er ihren Namen zum ersten Mal aussprach. Mit dem Wunschlied hätte sie ihn bei lebendigem Leibe verbrennen können, und dann hätte er sie angefleht, ihn zu retten, er hätte seine Lügen eingestanden! Niemals hätte sie sich anhören dürfen, was er zu sagen hatte!
Nichtsdestotrotz hatte sie es getan, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich des Jungen nicht zu schnell entledigen sollte.
Sorgfältig betrachtete sie die Sache in Gedanken und beleuchtete sie von allen Seiten. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und ihr konnte man nicht leugnen. Allerdings konnte man einen Jungen, der ihr ähnelte, recht leicht finden. Auch würde es Walker nicht schwerfallen, ihm einzureden, er sei wirklich Bek, sogar, er sei schon stets Bek genannt worden. Ihm einzureden, er sei ihr Bruder und in gewisser Weise ihr Retter, das gehörte zu den Künsten eines Druiden. Insofern war es durchaus vernünftig anzunehmen, dass der Junge allein zu dem Zweck mitgenommen worden war, ihr irgendwann und irgendwo zu begegnen und seine Rolle zu spielen.
Und trotzdem …
Sie hob den Kopf, und die blauen Augen in dem bleichen, hellen Gesicht starrten in die Nacht. Am Ende, als er beinahe die Geduld mit ihr verloren, als er sie herausgefordert hatte, wie es niemand anders gewagt hätte, nicht einmal der Morgawr, war etwas an ihm gewesen, das sie an sich selbst erinnerte. Eine Überzeugung, eine Sicherheit, die sich in seinen Worten und seiner Haltung offenbarte, in der Offenheit und Intensität seines Blicks. Darüber hinaus hatte sie etwas Unerwartetes und Vertrautes im Klang seiner Stimme gespürt, etwas, das unverwechselbar war. Er hatte es ihr gesagt, doch in der Hitze des Gefechts hatte sie ihm nicht geglaubt und gedacht, er wolle ihr lediglich drohen, dass er ihr auf unerwartete Weise Schaden zufügen würde und sie sich daher schützen müsse. Dennoch hatte sie es gespürt.
Er besaß die Magie des Wunschliedes, ihre Magie, ihre Kraft.
Wer außer ihrem Bruder oder einem anderen Ohmsford besaß eine derartige Macht?
Der Widerspruch zwischen Wahrheit und Lüge frustrierte und verwirrte sie. Gern hätte sie den Jungen einfach ohne weiteres Grübeln aus ihren Gedanken verbannt, allerdings gelang ihr das nicht so leicht. In ihm steckte genug echte Magie, um sich Fragen nach seiner wahren Identität zu stellen, sogar, wenn sie ihm nicht glaubte, dass er Bek war. Der Druide konnte solche Erscheinungen ebenfalls erschaffen, um sie zu täuschen, allerdings vermochte er niemanden mit Magie zu erfüllen und insbesondere nicht mit einer Magie dieser Art.
Wer also war dieser Junge in Wirklichkeit?
Sie wusste, was sie zu tun hatte; genau das, weswegen sie den weiten Weg hierher zurückgelegt hatte. Sie musste den Schatz finden, der in Castello versteckt war. Sie musste den Druiden finden und vernichten. Und danach würde sie zur Schwarzen Moclips zurückkehren und so schnell wie möglich nach Hause fahren.
Aber der Junge interessierte und beunruhigte sie so sehr, dass sie, ohne es zu merken, ihre Pläne neu bedachte. Obwohl sie um seine – ob nun willige oder erzwungene – Falschheit wusste, war sie abgeneigt, die Lösung dieses Rätsels aufzugeben, weil diese großen Einfluss auf ihre Pläne haben könnte. Gewiss würde ihr Leben davon nicht verändert, darüber war sie sich bereits im Klaren. Dennoch hätte es kleinere und doch wichtigere Auswirkungen auf sie.
Wie schwierig war es, die Wahrheit über ihn herauszufinden, wenn sie sich erst an die Arbeit machte? Wie viel Zeit mochte es beanspruchen?
Der Morgawr wäre sicherlich nicht einverstanden damit, allerdings war er mit dem wenigsten einverstanden, das sie in jüngster Vergangenheit tat. Die Beziehung zu ihrem Mentor war seit einiger Zeit gestört.
Die Schüler-Lehrer-Verbindung von einst bestand nicht mehr. Inzwischen war sie genauso sehr ein Meister wie er, und sie ärgerte sich über die Beschränkungen, die er ihr ständig auferlegen wollte. Zwar hatte sie nicht vergessen, was sie ihm schuldete, und war auch nicht undankbar, denn er hatte sie über die Jahre hinweg eine Menge gelehrt. Doch ihr missfiel seine Art, wie er versuchte, sie weiterhin als Untergebene zu behandeln, als Handlanger, als Schützling, der zu tun hatte, was ihm aufgetragen wurde. Er war alt, und vielleicht konnte er sich aus diesem Grund nicht mehr so gut anpassen wie früher. Für ihn zählte allein Selbsterhaltung. Sie dagegen strebte nicht danach, tausend Jahre zu leben. Unsterblichkeit stellte für sie keine Wohltat dar. Aus diesem Grunde war es ihr wichtiger voranzukommen, anstatt dazusitzen und zu warten und Ränke zu schmieden, wie er es gewöhnt war.
Nein, er würde nicht einverstanden sein, und in diesem Fall war es falsch von ihr, sich einfach darüber hinwegzusetzen. Das Geheimnis des Jungen lösen zu wollen diente allein der Befriedigung ihrer eigenen Neugier. Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie alles Zaudern mit einer Geste abtat. Diese Entscheidung musste sie allein treffen, es war ihre Entscheidung, ob sie Zeit vergeudete oder nicht. Der Junge besaß etwas, das wichtig für sie war, mochte der Morgawr ihr nun zustimmen oder nicht. Außerdem war er gar nicht hier und konnte ihr keinen Rat geben. Cree Bega mochte sich erdreisten, für ihn zu sprechen, aber die Meinung des Mwellrets bedeutete ihr nichts.
Trotzdem, sie musste rasch handeln. Der Ret war nicht weit hinter ihr zurück und holte mit seinen zwei Dutzend Begleitern rasch auf. Er hatte den Vormarsch lediglich verzögert, weil sie hatte allein vorgehen wollen, um einen Blick auf das zu werfen, was sie erwartete, und ihm daher befohlen hatte zu warten. Vielleicht, fügte sie in Gedanken hinzu, um sicherzugehen, dass er sich nicht in eine Entscheidung einmischte, die sie persönlich zu treffen hatte. Oder einfach nur, um ihn auf seinen Platz zu verweisen.
Sie ging hinüber zu Ryer Ord Star, bückte sich und prüfte, ob die Seherin aus ihrer Trance erwacht war. Aber das Mädchen bewegte sich nicht, saß still und reglos in der Nacht, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Sie atmete ruhig und regelmäßig, daher war ihre Gesundheit offenbar nicht gefährdet. Nur, was tat sie? Wohin in ihr Innerstes hatte sie sich verkrochen?
Die Ilse-Hexe kniete vor dem Mädchen. Sie hatte keine Zeit zu warten, bis die Seherin ihre Meditation beendete. Antworten brauchte sie, und zwar sofort. Also legte sie Ryer Ord Star die Finger auf die Schläfen wie bei dem Schiffbrüchigen, mit dessen Enthüllungen die ganze Sache begonnen hatte, und begann zu suchen. Dies bedeutete keine besondere Anstrengung für sie. Ryer Ord Stars Gedanken öffneten sich vor ihr wie eine Blüte in der aufgehenden Sonne, ihre Erinnerungen fielen heraus wie herabschwebende Blütenblätter. Ohne die anderen Geschehnisse zu beachten, konzentrierte sich die Ilse-Hexe auf die jüngsten Ereignisse, auf jene, die ihr das Schicksal des Druiden enthüllten.
Und diese Enthüllungen traten an die Oberfläche wie Wasserleichen in einem Ozean, nackt und aufgebläht. Sie sah eine Schlacht in den Ruinen der Alten Welt, eine Schlacht, in welcher der Druide und seine Gemeinschaft von allen Seiten mit Strahlen roten Feuers angegriffen wurden, die brannten und versengten. Mauern bewegten sich, erhoben sich aus dem glatten Metallboden oder versenkten sich darin. Kriecher tauchten aus dem Nichts auf, metallene Ungeheuer auf rutschenden Beinen mit Krallen, die alles zerrissen und zerfetzten, was ihnen in die Quere kam. Männer kämpften und starben inmitten von dichtem Rauch und Flammen. Durch Ryer Ord Stars Augen gesehen und gefiltert durch ihre Emotionen, wirkte die Szene chaotisch und voller Furcht und Verzweiflung.
In all der Panik durchschritt der Druide Angriffslinien und sich veränderndes Gelände, ließ sich von seiner Magie voranhelfen und von seinem Mut und seiner Entschlossenheit treiben. Man konnte über ihn sagen, was man wollte, aber einen Feigling durfte man den Druiden nicht nennen. Er erkämpfte sich den Weg mitten in die Ruinen hinein, befahl den anderen seiner Gesellschaft vergeblich den Rückzug, die Flucht, damit sie ihr Leben retteten. Am Ende erreichte er die Tür eines schwarzen Turms, erzwang sich den Eintritt und verschwand im Inneren.
Ryer Ord Star schrie auf und rannte ihm hinterher, dann wurde sie vom Feuer getroffen, das sie gegen eine Wand warf. Ihre Gedanken an den Druiden verblassten, dann wurde es schwarz.
Die Ilse-Hexe nahm die Finger von den Schläfen der Seherin und hockte sich verblüfft auf die Hacken. Die Kommunikation hatte ohne Worte und ohne jeglichen Widerstand stattgefunden. War dies die Natur von Empathen, dass sie nichts verhehlen oder verbergen konnten? Sie wunderte sich, weil das Mädchen dem Druiden gefolgt und erstarrt war, als dieser im Turm verschwand. Warum riskierte sie das? Sie hatte dem Mädchen eingeschärft, stets in der Nähe des Druiden zu bleiben, sich unentbehrlich zu machen, sein Vertrauen und sein Gehör zu gewinnen. Gewiss hatte die Seherin dies geschafft. Dennoch bestand ein Band zwischen ihnen, eines, das über die Aufgabe hinausging, welche die Ilse-Hexe ihrer Spionin aufgetragen hatte.
Im Augenblick würde sie nicht mehr erfahren. Nicht, ohne dem Mädchen Schaden zuzufügen, und so weit zu gehen, war sie augenblicklich noch nicht bereit. Immerhin hatte sie nun ein klares Bild dessen, was den Gefährten des Druiden von der Jerle Shannara, die ihn ins Landesinnere begleiteten, zugestoßen war. Über das Schicksal des Druiden wusste sie allerdings nichts. Möglicherweise war er tot. Oder in der Ruine gefangen. Wie auch immer, er stellte gegenwärtig keine Gefahr für sie dar. Ohne ein Luftschiff, das ihn fortbrachte, vermochte er ihr wenig Schaden zuzufügen, vor allem, da der Großteil seiner Mannschaft tot war oder sich in Gefangenschaft befand.
Demzufolge hatte sie Zeit für den Jungen.
Es vergingen kaum fünf Minuten, da tauchte Cree Bega mit seiner Gruppe Mwellrets aus der Dunkelheit auf, die mit ihren schweren Körpern durch den finsteren Wald trotteten. Ihre Schlitzaugen leuchteten, als sie die Ilse-Hexe entdeckten. Widerwärtige Wesen, dachte sie, setzte jedoch eine ausdruckslose Miene auf. Sie erhob sich und wartete auf sie.
»Herrin«, zischte der Anführer der Rets, der für sie ausersehene Beschützer, und verneigte sich unterwürfig. »Issst esss dir gelungen, die kleinen Leute zu finden?«
»Ich habe mich entschieden, sie dir zu überlassen, Cree Bega. Dir und deinen Gefährten. In den Ruinen vor uns hat ein Kampf stattgefunden, und diejenigen aus der Gemeinschaft des Druiden, die nicht gefallen sind, wurden versprengt. Finde sie und nimm sie gefangen. Damit meine ich auch den Druiden, solltest du auf ihn stoßen und sollte er hilflos sein, sodass du ihn überwältigen kannst.«
»Herrin, ich denke …«
»Ansonsten sei vorsichtig, denn er kann es mit euch allen zusammen aufnehmen.« Sie ignorierte seinen Versuch, etwas zu entgegnen. »Überlass ihn mir, wenn du ihn entdeckst und er in der Lage ist, sich zu verteidigen. Geh nicht in die Ruinen – sie werden gut beschützt. Und liefere dich oder deine Männer nicht den Gefahren aus, die sie bergen. Bewach die beiden Luftschiffe gut, und lass sie unter keinen Umständen landen.«
Er studierte ihr Gesicht genau und begriff, dass sie ihm damit all seine Aufgaben mitgeteilt hatte.
»Es ist etwas vorgefallen, um das ich mich kümmern muss.« Sie hielt dem Blick seiner Reptilienaugen stand, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich werde einige Zeit unterwegs sein, und währenddessen übernimmst du das Kommando. Enttäusch mich nicht.«
Einen Moment lang antwortete er nicht, und sie glaubte, er habe nicht verstanden. »Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Wohin treibt esss meine Herrin?«, fragte er leise. »Unsssere Aufgabe issst hier …«
»Unsere Aufgabe ist dort, wo ich es befehle, Cree Bega.«
In den kalten Augen des Mwellrets blitzte es plötzlich gefährlich. »Dein Gebieter würde diesssen Aufschub nicht gutheisssen.«
Mit zwei Schritten stand sie vor ihm. »Mein Gebieter?« Unbehagliches Schweigen machte sich breit, während sie auf seine Antwort wartete. Er starrte sie wortlos an. »Ich habe keinen Gebieter, Ret«, sagte sie leise. »Du hast einen Gebieter, ich nicht. Und im Übrigen ist er sowieso nicht hier. Mir musst du gehorchen. Ich bin deine Herrin. Gibt es noch etwas, das ich dir erklären muss?«
Der Mwellret erwiderte nichts, und was seine Augen ausdrückten, interessierte sie nicht. Sie ließ ihm noch einen Moment lang Zeit, dann hakte sie leise nach: »Und?«
Er schüttelte den Kopf. »Wie du wünschssst, Herrin. Die kleinen Leute werden bei deiner Rückkehr unsssere Gefangenen sssein, ich verspreche esss. Aber wasss issst mit dem Schatz?«
»Den werden wir schon bald in die Hände bekommen.« Sie wandte den Blick von ihm ab in Richtung Castello. Stimmte das? Würde es so leicht werden? Gewiss hatte sie durch ihr Wissen von der Lage einen Vorteil gegenüber dem Druiden, dennoch durfte sie auf keinen Fall den Feind unterschätzen, der Castello bewachte. Wenn der Druide besiegt werden konnte, war der Gegner wesentlich stärker als erwartet. »Überlasst es mir, den Schatz zu holen.«
Sie entließ ihn mit einem knappen Blick und erinnerte sich an Ryer Ord Star, die weiterhin neben ihr kniete und an einem anderen Ort in einer anderen Zeit zu weilen schien. »Tut dem Mädchen nichts«, mahnte sie Cree Bega und warf ihm einen warnenden Blick zu. »Auf dem Luftschiff des Druiden war sie Augen und Ohren für mich. Bis zu meiner Rückkehr soll sie geschützt werden, damit ich dann herausfinden kann, was sie verbirgt.«
Der Mwellret nickte und warf der Seherin einen misstrauischen Blick zu. »Diesesss Mädchen scheint schon tot zu sssein.«
»Sie befindet sich in einer Art Trance. Bis jetzt hatte ich keine Zeit, mich darum zu kümmern, was mit ihr nicht stimmt.« Mit knapper Geste verscheuchte sie den Ret. »Tu einfach, was ich dir befohlen habe. Ich bin bald zurück.«
Sie verließ die Lichtung ohne einen Blick zurück. Cree Bega und die anderen würden tun, was sie ihnen aufgetragen hatte. Schließlich hatten sie Angst vor ihr. Trotzdem hatte sie erneut bemerkt, dass es immer schwieriger wurde, sie zu kontrollieren. Ohne sie würde sie besser zurechtkommen, wenn sie den Schatz erst einmal gefunden hatte.
Im Osten graute langsam der Morgen. Die Nacht kroch nach Westen und zog sich still aus den Bäumen zurück. Der neue Tag würde neue Enthüllungen bringen. Möglicherweise über den Jungen: weshalb er all das glaubte. Wie er an seine Magie gelangt war und aus welchem Grund diese ihrer eigenen so sehr ähnelte. Ein erwartungsfrohes Lächeln erhellte ihr Gesicht. Sie freute sich darauf, die Antworten aufzudecken.
Zweifel und Zögern überließ sie anderen, dachte sie geringschätzig, jenen, die ihren Weg durch diese Welt niemals selbstständig fanden und nichts Sinnvolles aus ihrem Leben machten.
So begann sie die Jagd und nahm die schwache Fährte des Gestaltwandlers auf, die noch in der schwindenden Nacht hing.
Mit Augen, die vor Boshaftigkeit glänzten, schaute Cree Bega ihr hinterher, bis sie außer Sicht war. Er stand in seinen Mantel gehüllt, umgeben von seinen Untergebenen, und stellte sich vor, wie sehr er es genießen würde, wenn er endlich die Erlaubnis erhielte, diesem unerträglichen kindischen Mädchen den Garaus zu machen. Dass er sie hasste wie sonst niemanden, verstand sich von selbst; nie hatte er etwas anderes als Hass für sie empfunden. Er verachtete sie so sehr, wie sie ihn verachtete, und auch ihr gemeinsamer Dienst für den Morgawr vermochte daran nichts zu ändern.
Aber der Morgawr war eher Mwellret als Mensch, auch wenn er behauptete, der Mentor und Freund des Mädchens zu sein. Seine Verbindung zu Cree Begas Volk war alt und mit Blutsbanden geknüpft. Das Mädchen hatte er sich geholt, weil sie etwas Neues war und weil er in einem größeren Plan der Dinge einen Platz für sie vorsah. Vom Herzen und von der Seele her war er ein Mwellret.
Das Mädchen allerdings hielt sie für gleichberechtigt, für zwei Geächtete, die gemeinsam nach Anerkennung durch und Macht über ihre Gegner strebten. Der Morgawr ließ sie das glauben, da es seinen Zwecken diente. Dabei waren sie in keinerlei Hinsicht gleichberechtigt, und die kleine Ilse-Hexe konnte mit ihrer Magie lange nicht so gut umgehen, wie sie sich einbildete. Sie war ein großtuerisches, andauerndes Ärgernis, und dabei übte sie die Künste, welche die Mwellrets und ihre Art schon vor Jahrhunderten beherrscht hatten – ehe die Druiden überhaupt daran gedacht hatten, die Elfenmagie als Schwert und Schild einzusetzen –, auf törichte und lächerlich unerfahrene Weise aus. Mwellrets würden sich niemals Menschen unterwerfen, niemals ihre Untergebenen werden, und dieses kindliche Mädchen war nur ein Leckerbissen, der darauf wartete, verspeist zu werden.
Er spürte die Blicke seiner Gefährten auf sich ruhen, die seine Befehle erwarteten und den gleichen düsteren Rachegedanken nachhingen. Auch sie sahen ihrer Zeit entgegen. Für den Augenblick würde Cree Bega der Ilse-Hexe die Genugtuung lassen und gehorsam sein. Das hatte er dem Morgawr versprochen. Er würde ihren Befehlen folgen und ihre Wünsche erfüllen, weil es für ihn keinen Grund gab, sich anders zu verhalten.
Aber der Wind würde schon bald aus einer anderen Richtung wehen, und dann war die Zeit gekommen, dem Mädchen den Garaus zu machen.
Er wandte sich zu den anderen um, die sich eng um ihn drängten und ihn erwartungsvoll mit düsteren Mienen, halb verborgen in ihren tiefen Kapuzen, anschauten. Sie waren darauf erpicht, seine Befehle zu hören und zu handeln. Zwischen den Bäumen liefen irgendwo Mitglieder der Besatzung der Jerle Shannara umher, die nur darauf warteten, getötet oder gefangen genommen zu werden. Es war an der Zeit, ihnen den Gefallen zu tun. Leise knurrend befahl er seinen Männern, mit Ryer Ord Star zu beginnen und dann weiterzuziehen.
Aber als sie sich zu der Seherin umwandten und sie ergreifen wollten, war sie nirgendwo mehr zu sehen.
Drei
Starke Arme umklammerten Bek Ohmsford mit eisernem Griff und pressten ihn an einen Körper, der leicht stank und nach Lehm roch, nach Erde, die mit Chemikalien vermischt ist. Der Körper bewegte sich gedankenschnell, glitt zwischen Bäumen und Büschen dahin, breitete Schichten von sich aus, als wäre es Haut, Schatten, die dunkel und leer in der Luft hingen und sich schließlich vollständig auflösten. Manche wurden in Stücke gerissen, wenn die Magie der Ilse-Hexe sie erwischte, aber Bek und sein Retter waren stets eine Hautschicht voraus.
Dann hatten sie die Lichtung verlassen und wurden von den Bäumen verborgen, doch sie rannten weiterhin und hielten sich im Schatten oder verbargen sich hinter den Schutzschirmen, die Äste und Büsche bildeten. Nun begann Bek sich zu wehren, fürchtete sich plötzlich vor dem Unbekannten, vor dem Wesen, das mächtig und geheimnisvoll genug war, um die Magie der Ilse-Hexe herauszufordern.
»Beruhige dich, Junge«, zischte Truls Rohk und drückte ihn warnend mit den kräftigen Armen, wobei er den Schritt nicht im Mindesten verlangsamte.
So liefen sie lange Zeit dahin, und Bek krümmte sich im Griff des anderen zur Kugel, bis die Lichtung und die Hexe weit hinter ihnen lagen. Erst jetzt blieben sie stehen, der Gestaltwandler ging auf ein Knie hinunter und ließ den Jungen mit einem Stupser von Hand und Schultern los, sodass er auf die Erde rollte, wo er zunächst als Häuflein liegen blieb und sich erst langsam ausstreckte. Bek hörte Truls Rohks schweren Atem und sah, wie er vornübergebeugt in seinem die Gestalt verbergenden Mantel dahockte und wartete, bis seine Kräfte zurückkehrten. Bek drückte sich auf Hände und Knie hoch, seine Muskeln kribbelten, während das Blut nach und nach in die verkrampften Glieder zurückfloss. Sie befanden sich an einer Stelle im Wald, wo Bäume und Gebüsch so dicht wuchsen, dass selbst Mond und Sterne das Laub mit ihrem Licht nicht durchdringen konnten. Es herrschte tiefe Stille.
»Wenn man dein Leben beschützen will, hat man wirklich Tag und Nacht zu tun«, erklärte der Gestaltwandler gereizt.
Bek dachte an die verlorene Gelegenheit, die Ilse-Hexe davon zu überzeugen, wer er war. »Niemand hat dich gebeten, dich einzumischen. Ich hatte sie schon fast überzeugt. Noch ein bisschen, und ich …«
»Noch ein bisschen, und sie hätte dich getötet«, unterbrach ihn sein Gegenüber und lachte kurz und harsch. »Du hast nicht darauf geachtet, welche Wirkung du auf sie hattest, weil du so überzeugt davon warst, im Recht zu sein. Ha! Sie überzeugen? Hast du nicht gespürt, was vor sich ging? Sie hat sich bereitgemacht, ihre Magie gegen dich einzusetzen!«
»Das stimmt nicht!« Plötzlich wurde Bek wütend. Er sprang auf. »Und du weißt das!«
Jetzt lachte der Gestaltwandler ausgiebig, leise und heulend; er konnte sich kaum mehr beherrschen. »Leider kann ich es mir nicht leisten, so laut zu lachen, wie ich möchte, Junge. Nicht hier. Nicht, solange wir uns noch in ihrer Nähe aufhalten.« Er erhob sich und baute sich vor dem Jungen auf. »Jetzt hör mir mal zu. Deine Argumente waren gut, sie waren vernünftig und außerdem wahr. Aber sie war nicht bereit dafür. Ich denke, einiges wollte sie sogar glauben. Unter anderen Umständen hätte sie dir vielleicht alles abgenommen, und möglicherweise geschieht das noch, nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hat. Eben jedoch war sie noch nicht so weit. Insbesondere nicht am Ende, als du deine eigene Magie wieder einmal hast entschlüpfen lassen. Das war nicht dein Fehler, ich weiß, du lernst noch. Trotzdem solltest du dir deiner Grenzen bewusst sein.«
Bek starrte ihn an. »Ich habe das Wunschlied benutzt?«
»Nicht bewusst, aber es ist dir entschlüpft, während du ihr davon erzählen wolltest.« Truls Rohk zögerte. »Als sie dessen Gegenwart spürte, fühlte sie sich bedroht. Sie glaubte, du würdest sie angreifen. Oder sie hat sich einfach gedacht, jetzt würde es ihr reichen und sie sollte dir den Garaus machen.«
Er drehte sich um, ging ein paar Schritte und blickte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Im Moment ist alles ruhig. Aber ich weiß nicht, ob die Sache schon ausgestanden ist.« Erneut wandte er sich um. »Junge, du hast sie überrascht, und das ist gefährlich bei jemandem, der so mächtig ist. Du hast ihr zu viel auf einmal zugemutet, damit konnte sie nicht sofort zurechtkommen.« Er knurrte. »Nun, vermutlich ließ sich das einfach nicht vermeiden. Sie tauchte plötzlich auf und hat dich gefunden. Was solltest du schon tun?«
Schweigend stand Bek vor ihm und dachte nach. Truls Rohk hatte recht. Während er sich nur darauf konzentriert hatte, Grianne zu erklären, dass er ihr Bruder sei, hatte er dem, was sie tat, keine Aufmerksamkeit gewidmet. Möglicherweise hatte sie ihm nicht geglaubt und konnte auch gar nicht anders; es war zu überraschend für sie gekommen. Nur weil er etwas glaubte, musste sie das noch lange nicht. Sie hatte viel länger mit der Lüge gelebt als er mit der Wahrheit. Deshalb brachte man ihren Glauben auch nicht so leicht ins Schwanken.
»Setz dich, Junge«, sagte Truls Rohk und gesellte sich zu ihm. »Es ist an der Zeit für ein paar weitere Enthüllungen. Mit der Einschätzung, du hättest deine Schwester überzeugt, lagst du falsch. Und du lagst auch falsch mit der Meinung, niemand habe mich gebeten, mich in dein Leben einzumischen.«
Bek blickte ihn an. »Walker?«
»Was ich dir auf Mephitic erzählt habe, entsprach der Wahrheit. Ich habe dich aus dem Aschehaufen gezogen, der vom Haus deiner Eltern geblieben war. Ich wusste, deine Familie befand sich in Gefahr, und auf Bitte des Druiden habe ich Wache gehalten. Die Mwellrets des Morgawr, die auch gewissermaßen Gestaltwandler sind, schlichen um euer Haus in Jentsen Close herum. Ihr habt nicht weit entfernt vom Wolfsktaag gelebt, an einer Ecke vom Regenbogensee, in einer einsamen Gegend, in der man nur vereinzelte Bauernhäuser findet. Somit wart ihr verwundbar, und Walker suchte nach einer Möglichkeit, für eure Sicherheit zu sorgen.«
Er schüttelte den Kopf, der von der Kapuze bedeckt und in deren Schatten verborgen war. »Ich warnte ihn, er müsse rasch handeln, doch er war zu langsam. Oder vielleicht gab er sich alle Mühe, und dein Vater wollte nicht auf ihn hören. Sie sprachen nur gelegentlich miteinander und waren keine engen Freunde. Dein Vater war ein gelehrter Mann und glaubte nicht an Gewalt. In seinen Augen war es der Druide, der die Gewalt repräsentierte. Allerdings schert es die Gewalt wenig, ob man an sie glaubt oder nicht. Ohne Rücksicht darauf sucht sie dich heim. Zu deiner Familie kam sie kurz vor der Dämmerung an einem Tag, an dem ich nicht bei euch war. Und zwar in Gestalt der Mwellrets, die auf Befehl des Morgawrs vorgingen. Sie brachten deine Eltern um, brannten das Haus nieder und ließen es wie das Werk von Gnomenräubern aussehen. Da sie nicht bemerkt hatten, dass deine Schwester dich im Keller versteckt hatte, meinten sie, du seist bei dem Brand ebenfalls umgekommen. Nachdem sie Grianne, die für den Morgawr am wertvollsten war, gefangen hatten, waren sie in Eile und durchsuchten die Ruine nicht so gründlich wie ich, als ich später eintraf. Ich fand dich im Keller, wo du sorgsam versteckt warst und vor Hunger und Kälte und Angst schriest. Also holte ich dich aus der Asche und übergab dich Walker.«
Bek wandte den Blick von ihm ab und grübelte. »Warum hat er mir das alles nicht erzählt, ehe er mich mit Quentin zu dir geschickt hat?«
Sein Gegenüber lachte. »Warum erzählt er überhaupt nie irgendwem von uns irgendetwas? Er hat mir gesagt, ein Junge würde mit seinem Vetter kommen, ich solle nach ihnen Ausschau halten und sie testen, ob man mit ihnen etwas anfangen könne und ob sie Mut besäßen.« Er schüttelte den Kopf. »Er überließ es mir herauszufinden, dass du es warst, der Junge, dem ich vor so vielen Jahren das Leben gerettet hatte. Er überließ es mir festzustellen, wie ich darauf reagieren würde. Verstehst du?«
Bek schüttelte den Kopf, weil er dessen nicht sicher war.