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Der Fantasy-Klassiker endlich wieder verfügbar – in überarbeiteter Neuausgabe.
Seit er 1977 seinen ersten Roman veröffentlichte, hat sich der Autor Terry Brooks immer mehr von seinem großen Vorbild, J.R.R. Tolkien, gelöst. Vierzig Jahre später, im Jahr 2017, widerfuhr im die größte Ehre, die ein Fantasy-Autor erhalten kann. Für sein Lebenswerk wurde ihm der World Fantasy Award verliehen, die renommierteste Auszeichnung der Fantasy. Damit steht er auf einer Stufe mit Autoren wie Peter S. Beagle, Terry Pratchett, Stephen King und George R.R. Martin.
Die Reise der Jerle Shannara ist die dritte Subserie der
Shannara-Chroniken, die Blanvalet in edler Neuaustattung und komplett überarbeitet veröffentlicht.
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Seitenzahl: 728
Buch
Seit die Föderation mithilfe der Talismane von Shannara besiegt werden konnte, ist es Walker Bohs Bestreben, dem Rat der Druiden neues Leben einzuhauchen. Er ahnt nicht, dass er bald andere Probleme lösen muss: An Bord des Luftschiffs Jerle Shannara bricht er auf, um einen geheimnisvollen Schatz zu suchen, der über das Schicksal der Menschen entscheiden wird. Der Beginn einer Reise ins Unbekannte, die von großen Abenteuern und Gefahren begleitet wird – denn die mächtige Ilse-Hexe will den Druiden unter allen Umständen vernichten!
Autor
Im Jahr 1977 veränderte sich das Leben des Rechtsanwalts Terry Brooks, geboren 1944 in Illinois, USA, grundlegend: Gleich der erste Roman des begeisterten Tolkien-Fans eroberte die Bestsellerlisten und hielt sich dort monatelang. Doch Das Schwert der Elfen war nur der Beginn einer atemberaubenden Karriere, denn bislang sind mehr als zwanzig Bände seiner Shannara-Saga erschienen.
Die Shannara-Chroniken bei Blanvalet:
1. Das Schwert der Elfen
2. Elfensteine
3. Das Lied der Elfen
Die Erben von Shannara bei Blanvalet:
1. Heldensuche
2. Druidengeist
3. Elfenkönigin
4. Schattenreiter
Die Reise der Jerle Shannarabei Blanvalet:
1. Die Elfenhexe
2. Das Labyrinth der Elfen (in Vorbereitung)
3. Die Offenbarung der Elfen (in Vorbereitung)
Weitere Bände in Vorbereitung
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Terry Brooks
DIE SHANNARA-CHRONIKEN
Die Reise der Jerle Shannara 1
Die Elfenhexe
Roman
Deutsch von Andreas Helweg
FÜR CAROL UND DON MCQUINN
Die dem Wort »Freund« auf so viele Arten neuen Sinn
gaben, dass ich sie gar nicht alle aufzählen kann
1
Hunter Predd patrouillierte in den Gewässern der Blauen Spalte nördlich der Insel Mesca Rho, einem Außenposten der Flugreiter am westlichen Rand der Elfengewässer, als er den Mann auf einer Spiere hängen sah. Der Kerl war wie eine Puppe über die ganze Länge des Holzes drapiert, sein Kopf lag auf der Planke, das Gesicht ragte kaum aus dem Wasser, und einen Arm hatte er um sein schmales Floß geschlungen, damit er nicht abrutschte. Seine Haut war verbrannt und von Sonne, Wind und Wetter gezeichnet, und die Kleidung hing in Fetzen an ihm herab. Er lag so still, dass man unmöglich sagen konnte, ob er noch lebte. Eigentlich war es die eigentümlich rollende Bewegung seines Körpers auf den sanften Wellen, die Hunter Predd als Erstes aufgefallen war.
Obsidian hielt bereits auf den Schiffbrüchigen zu und brauchte die Führung seines Reiters durch Hände und Knie nicht; er wusste, was zu tun war. Da seine Augen schärfer waren als die des Elfen, hatte er den Mann im Wasser schon vor Hunter entdeckt und Kurs auf ihn genommen, um ihn zu retten. Das war ein wichtiger Teil seiner Arbeit, für die er ausgebildet worden war: Er sollte jene finden und retten, deren Schiffe auf See verloren gegangen waren. Der Rokh konnte einen Menschen auf tausend Meter von einem Stück Holz oder einem Fisch unterscheiden.
Mit weit ausgestreckten Flügeln ging er langsam in die Kurve, sank hinunter und holte den Mann mit sicherem und vorsichtigem Griff aus dem Wasser. Die großen Krallen legten sich fest und dennoch sanft um die schlaffe Gestalt, und dann stieg der Rokh wieder auf. Klar wölbte sich der Spätfrühlingshimmel als blaue Kuppe über ihnen, und die strahlende Sonne erwärmte die Luft und spiegelte sich silbern glitzernd auf den Wellen. Hunter Predd lenkte sein Reittier zurück zu einem kleinen Atoll, das einige Meilen von Mesca Rho entfernt war und das nächstgelegene Stück Land darstellte. Dort würde er sehen, was er tun konnte, wenn es nicht schon zu spät war.
Sie erreichten das Atoll in weniger als einer halben Stunde, da Hunter Predd Obsidian niedrig hielt und gleichmäßig fliegen ließ. Der Rokh war schwarz wie Tinte und im besten Alter, der dritte in seiner Zeit als Flugreiter und vermutlich der beste. Obsidian war nicht nur groß und kräftig, sondern besaß auch hervorragende Instinkte und hatte gelernt vorauszuahnen, was sein Flugreiter als Nächstes von ihm wollte. Inzwischen waren sie fünf Jahre zusammen, was nicht lange war für einen Reiter und sein Tier, aber dennoch handelten sie bereits, als wären ihre Körper und Seelen miteinander verbunden.
Langsam flatternd ging Obsidian auf der Leeseite des Atolls nieder, legte seine Last auf einem sandigen Streifen Strand ab und landete auf den nahen Felsen. Hunter Predd sprang von ihm herunter und eilte zu der reglosen Gestalt. Der Mann reagierte nicht, als der Flugreiter ihn auf den Rücken drehte und nach Lebenszeichen forschte. Puls war vorhanden, das Herz schlug. Die Atmung ging schleppend und flach. Dann betrachtete Hunter Predd das Gesicht und stellte fest, dass die Augen und die Zunge herausgeschnitten worden waren.
Es handelte sich um einen Elfen, erkannte der Flugreiter. Allerdings um kein Mitglied des Schwingenhorstes. Das war offensichtlich, da die Narben vom Harnisch an Unterarm und Händen fehlten. Hunter untersuchte den Körper sorgfältig auf gebrochene Knochen hin, entdeckte jedoch keine weiteren Schäden. Die einzigen Verletzungen waren jene im Gesicht. Vor allem litt der Mann an Ernährungsmangel und Unterkühlung. Hunter benetzte die Lippen des Mannes mit frischem Wasser aus seinem Schlauch und ließ ein wenig davon in den Mund rinnen. Die Lippen bewegten sich schwach.
Nun dachte Hunter über seine Möglichkeiten nach und entschied sich, den Mann in den Seehafen Bracken Clell zu bringen, die nächstgelegene Siedlung, in der er einen Elfenheiler finden würde, der ihm die notwendige Pflege angedeihen lassen konnte. Er hätte ihn auch nach Mesca Rho fliegen können, doch die Insel war lediglich ein Außenposten. Ein zweiter Flugreiter und er selbst waren die einzigen Bewohner. Einen Heiler gab es dort nicht. Wenn er dem Mann das Leben retten wollte, würde er es riskieren müssen, ihn zum Festland zu transportieren.
Der Flugreiter wusch die Haut des Mannes mit frischem Wasser ab und trug eine Heilsalbe auf, die vor weiteren Schädigungen schützen sollte. Hunter hatte keine zusätzliche Kleidung dabei; deshalb würde der Mann die Reise in den Lumpen an seinem Leib hinter sich bringen müssen. Erneut versuchte er, dem Mann Wasser einzuflößen, und diesmal bewegte sich der Mund gierig. Der Mann stöhnte leise. Er bemühte sich, die entstellten Augen zu öffnen, und lallte etwas Unverständliches.
Weil es das Naheliegendste war und weil es der Flugreiter in seiner Ausbildung so gelernt hatte, durchsuchte er den Mann und nahm ihm die zwei einzigen Gegenstände ab, die er fand. Beide überraschten und verblüfften ihn. Er betrachtete sie genauer mit gerunzelter Stirn.
Da er seinen Aufbruch nicht länger aufschieben wollte, legte er den Verletzten mit Obsidians Hilfe auf den breiten Rücken des Rokhs. Mit gepolsterten Riemen wurde er gesichert. Nachdem Hunter alles ein letztes Mal überprüft hatte, bestieg er sein Tier, und Obsidian hob ab.
Drei Stunden lang flogen sie in der hereinbrechenden Dunkelheit nach Osten, und bei Sonnenuntergang erreichten sie Bracken Clell. Die Bevölkerung des Seehafens bestand aus einem Bevölkerungsgemisch, in dem Elfen vorherrschten, und die Bewohner waren an den Anblick von Flugreitern und deren Rokhs gewöhnt. Hunter Predd lenkte Obsidian landeinwärts zu einer Lichtung, die für Landungen vorgesehen war, und der große Rokh glitt sanft zwischen die Bäume. Ein Bote, der unter den sich rasch versammelnden Neugierigen ausgewählt wurde, lief in die Stadt, und der Elfenheiler erschien in einem Pulk von Trägern mit einer Bahre.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte der Heiler Hunter Predd, als er die leeren Augenhöhlen und den malträtierten Mund bemerkte.
Hunter schüttelte den Kopf. »So habe ich ihn gefunden.«
»Wer ist er?«
»Ich weiß es nicht«, log der Flugreiter.
Er wartete, bis der Heiler und seine Helfer den Schiffbrüchigen hochgehoben hatten und ihn zum Haus des Heilers trugen, wo der Mann in einem Krankenzimmer untergebracht werden würde, ehe er Obsidian zu einem etwas entlegeneren Ort schickte und der Gruppe dann folgte. Was er wusste, würde er weder dem Heiler noch irgendjemandem sonst in Bracken Clell mitteilen. Nur ein einziger Mann sollte es erfahren.
Er setzte sich auf die Veranda, legte den Langbogen und das Jagdmesser neben sich ab, rauchte seine Pfeife und wartete auf den Heiler. Die Sonne war untergegangen, und das letzte Licht tauchte das Wasser der Bucht in Purpur- und Goldtöne. Hunter Predd war für einen Flugreiter klein und schlank, doch zäh wie eine geknüpfte Leine. Man konnte ihn weder jung noch alt nennen, doch lag sein Alter in der angenehmen Mitte und gefiel ihm sehr gut. Das von der Sonne gebräunte Gesicht zeigte Falten, die Augen unter dem dichten braunen Haarschopf waren tiefgrau, und er wirkte genau wie das, was er auch war: ein Elf, der den größten Teil seines Lebens im Freien verbracht hatte.
Während er wartete, holte er einmal kurz das Kettchen hervor, hielt es ins Licht und vergewisserte sich, dass er sich bei dem Wappen darauf nicht geirrt hatte. Die Karte ließ er in seiner Tasche.
Einer der Helfer des Heilers brachte ihm einen Teller mit Essen, das Hunter schweigend verspeiste. Nachdem er damit fertig war, tauchte der Helfer erneut auf und nahm den Teller wieder mit. Der Heiler war noch nicht wieder erschienen.
Es war spät, als er schließlich kam, und der Heiler, der abgehärmt und beunruhigt wirkte, setzte sich neben Hunter. Sie kannten sich bereits seit geraumer Weile, denn der Heiler hatte sich nur ein Jahr, nachdem Hunter aus den Grenzkriegen zurückgekehrt und in den Dienst bei den Flugreitern vor der Küste eingetreten war, in dem Seehafen niedergelassen. Sie hatten mehr gemeinsam als ihre Rettungsbemühungen, und obwohl sie aus verschiedenen Gegenden stammten und unterschiedliche Berufe hatten, ähnelten sich ihre Überzeugungen in Bezug auf die Dummheit des Fortschritts der Welt. Hier im Hinterland der Zivilisation, wie man die Vier Länder nannte, hatten sie ihre kleine Zuflucht vor dem Wahnsinn gefunden.
»Wie geht es ihm?«, fragte Hunter Predd.
Der Heiler seufzte. »Nicht gut. Vielleicht bleibt er am Leben, wenn man es so nennen kann. Er hat die Augen und die Zunge verloren. Beides wurde mit Gewalt entfernt. Unterkühlung und mangelnde Ernährung haben ihn so nachhaltig seiner Kräfte beraubt, dass er sich möglicherweise nie wieder ganz erholen wird. Einige Male wurde er wach und wollte sich verständlich machen, konnte es jedoch nicht.«
»Im Laufe der Zeit vielleicht …«
»Zeit ist nicht das Problem«, unterbrach ihn der Heiler. »Er kann weder sprechen noch schreiben. Es ist nicht nur die Zunge oder die mangelnde Kraft. Es ist sein Kopf. Er hat den Verstand verloren. Was auch immer er erleiden musste, hat nicht wiedergutzumachenden Schaden bei ihm angerichtet. Ich glaube, er weiß nicht, wo er ist, und womöglich nicht einmal, wer er überhaupt ist.«
Hunter Predd blickte hinaus in die Nacht. »Nicht einmal seinen Namen?«
»Nicht einmal den. Ich denke, er erinnert sich kaum an das, was ihm zugestoßen ist.«
Der Flugreiter schwieg und grübelte. »Würdest du ihn noch eine Weile hierbehalten, ihn pflegen und auf ihn aufpassen? Ich möchte der Sache nachgehen.«
Der Heiler nickte. »Wo willst du anfangen?«
»Vielleicht in Arborlon.«
Das leise Scharren von Schuhen erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Helfer erschien mit heißem Tee und einer Mahlzeit für den Heiler. Er nickte ihnen wortlos zu und verschwand wieder. Hunter Predd erhob sich, ging zur Tür, vergewisserte sich, dass sie allein waren, und setzte sich wieder neben den Heiler.
»Pass gut auf diesen geschundenen Mann auf, Dorne. Keine Besucher. Nicht, bis du von mir gehört hast.«
Der Heiler nippte an seinem Tee. »Verschweigst du mir etwas?«
»Ich habe da so einen Verdacht. Aber ich brauche Zeit, um ihn zu überprüfen. Kannst du mir die geben?«
Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. »Ich kann es versuchen. Der Mann dort drinnen hat dabei auch ein Wörtchen mitzureden, ob er bei deiner Rückkehr noch hier sein wird. Er ist sehr schwach. Du solltest dich beeilen.«
Hunter Predd nickte. »Ich bin so schnell wieder hier, wie mich Obsidians Flügel tragen«, antwortete er leise.
Hinter ihm in der Dunkelheit, nahe der offenen Tür, löste sich ein Schatten von der Wand und schlich lautlos davon.
Der Helfer, der dem Flugreiter und dem Heiler das Essen serviert hatte, wartete bis nach Mitternacht, als die Menschen von Bracken Clell selig schliefen, ehe er aus seinem Zimmer schlüpfte, durch das Dorf eilte und im Wald verschwand. Er bewegte sich rasch und ohne die Hilfe eines Lichts, denn er kannte seinen Weg gut, da er ihn bereits oft gegangen war. Es handelte sich um einen kleinen, runzligen Mann, der sein ganzes Leben in dieser Ortschaft verbracht hatte und dem man selten einen zweiten Blick schenkte. Er wohnte allein und hatte nur wenige Freunde. Im Haus des Heilers diente er seit mehr als dreizehn Jahren. Insgesamt war er ruhig und klagte nie, und obwohl es ihm an Fantasie mangelte, konnte man sich immerhin auf ihn verlassen. Seine Qualitäten konnte er während seiner Arbeit für den Heiler gut gebrauchen, besser allerdings noch als Spion.
Er erreichte die Käfige, die er in dem abgedunkelten Pferch hinter der alten Hütte verborgen hielt, in der er geboren war. Nach dem Tod seines Vaters und seiner Mutter war der Besitz an den ältesten Sohn übergegangen. Es war ein armseliges Erbe, und er hatte sich nie damit abgefunden, dass das alles sein sollte. Dann hatte sich ihm eine Gelegenheit geboten, die er sofort ergriffen hatte. Ein paar Wörter, hier und da belauscht, ein Gesicht oder ein Name aus den Geschichten, die in Tavernen und Bierschenken kursierten, Stückchen und Fetzen von Wissen über jene, die aus dem Meer gerettet und in das Haus des Heilers gebracht wurden – den richtigen Leuten war das etwas wert.
Und vor allem einer Person.
Der Helfer wusste, was von ihm erwartet wurde. Das hatte sie ihm von Anfang an eingeschärft. Sie war die Gebieterin, vor der er sich verantworten musste, wenn er den Pfad des Gehorsams verließ, den sie ihm gewiesen hatte. Wer auch immer das Haus des Heilers betrat, was auch immer gesprochen wurde und ob es wichtig war oder nicht, sie sollte es erfahren. Sie erklärte ihm, die Entscheidung, sie zu rufen, liege bei ihm. Aber es sei besser, voreilig zu handeln als verspätet. Eine verpasste Gelegenheit war für sie schwerer zu ertragen als ein wenig verschwendete Zeit.
Zunächst hatte er die Lage einige Male falsch eingeschätzt, aber sie war nicht böse auf ihn gewesen. Ein paar Fehler waren zu erwarten. Meistens erkannte er, welche Nachricht etwas wert war und welche nicht. Vor allem kam es auf Geduld und Ausdauer an.
Beide Eigenschaften hatte er entwickelt, und sie gereichten ihm zum Vorteil. Diesmal, das wusste er, hatte er eine wirklich wichtige Sache entdeckt.
Er öffnete die Tür des Käfigs und nahm einen der seltsamen Vögel heraus, die sie ihm gegeben hatte. Sie sahen bösartig aus mit ihren scharfen Augen und Schnäbeln und den schmalen Körpern. Stets beobachteten sie ihn, wann immer er hereinkam, sie aus den Käfigen holte oder eine Nachricht an ihren Beinen befestigte, so wie jetzt gerade. Ihm gefiel nicht, wie sie ihn anstarrten, und deshalb erwiderte er ihren Blick nur selten.
Nachdem er die Botschaft befestigt hatte, warf er den Vogel in die Luft, und er stieg in die Dunkelheit auf und verschwand. Manchmal kehrten sie mit Nachrichten von ihr zurück. Dann wieder kamen sie ohne Botschaft zurück und warteten darauf, von ihm wieder in den Käfig gesteckt zu werden. Er fragte sich nie, woher sie kamen. Besser war es, das spürte er, einfach ihre Nützlichkeit zu akzeptieren.
Jetzt starrte er in den Nachthimmel. Er hatte getan, was er konnte. Nun konnte er nur noch abwarten, bis sie ihm mitteilte, was als Nächstes erforderlich war. Das tat sie immer.
Er schloss die Türen des Stalls, in dem die Käfige versteckt waren, und schlich den Weg zurück, auf dem er gekommen war.
Zwei Tage später war Allardon Elessedil gerade aus einer langen Sitzung des Hohen Rates der Elfen zurückgekehrt, in der die Erneuerung der Handelsvereinbarungen mit den Städten von Callahorn und der offenbar unendliche Krieg, den sie als Verbündete der Zwerge gegen die Föderation führten, besprochen worden waren, als ihm berichtet wurde, dass ein Flugreiter auf ihn warte und ihn sprechen wolle. Es war spät geworden, und er war müde, doch der Flugreiter hatte den weiten Weg vom Seehafen Bracken Clell im Süden nach Arborlon hinter sich gebracht, eine Reise von zwei Tagen, und er weigerte sich, seine Nachricht jemand anderem als dem König zu überbringen. Der Berater, der Allardon über die Anwesenheit des Flugreiters in Kenntnis setzte, beschrieb auch die Entschlossenheit des Mannes, sich davon nicht abbringen zu lassen.
Der Elfenkönig nickte und folgte seinem Berater zu dem Flugreiter. Seine Übereinkunft mit dem Schwingenhorst verlangte von ihm, dass er der Bitte um ein Gespräch unter vier Augen bei der Aushändigung von Botschaften nachkam. Gemäß eines Vertrages, der in den frühen Jahren von Wren Elessedils Herrschaft abgefasst worden war, hatten die Flugreiter den Landelfen als Kundschafter und Boten an der Küste der Blauen Spalte über hundertunddreißig Jahre lang gedient. Sie wurden mit Waren und mit Münzen entlohnt, und die Vereinbarung war für die Elfenkönige und -königinnen mehr als einmal von Nutzen gewesen. Wenn der wartende Flugreiter darum gebeten hatte, Allardon persönlich zu sprechen, dann hatte er einen guten Grund dafür, den man nicht ignorieren sollte.
Mit den Wachen Perin und Wye an seiner Seite folgte er seinem Berater, nachdem sie den Hohen Rat verlassen hatten, und ging durch die Gärten zum Palast der Elessedils. Allardon Elessedil war seit über zwanzig Jahren König, seit dem Tod seiner Mutter, Königin Aine. Er war mittelgroß und von mittlerer Statur, trotz seines Alters gut in Form, hatte einen scharfen Verstand und einen kräftigen Körper. Nur das ergrauende Haar und die Falten in seinem Gesicht gaben Zeugnis von seinem Alter. Er war ein direkter Nachkomme der großen Königin Wren Elessedil, die die Elfen und ihre Stadt aus der Inselwildnis von Morrowindl geführt hatte, in welche die Föderation und die verhassten Schattenwesen sie getrieben hatten. Er war ihr Ururenkel, und sein ganzes Leben lang hatte er seine Taten an den ihren gemessen.
In diesen Zeiten war das nicht leicht. Der Krieg mit der Föderation wütete seit zehn Jahren, und es gab keinerlei Anzeichen für ein baldiges Ende. Die Südlandkoalition aus Grenzlandbewohnern, Zwergen und Elfen hatte den Vormarsch der Föderation unterhalb des Dulnwaldes vor zwei Jahren zum Stillstand gebracht. Jetzt befanden sich die Armeen in einer Pattsituation – an einer Front, die sich nicht mehr bewegte und trotzdem alarmierend viele Leben kostete. Der Versuch der Föderation, die Grenzländer erneut zu erobern, die sie zu Zeiten von Wren Elessedil verloren hatten, war ein Raubzug, der nicht toleriert werden durfte. Dennoch glaubte der König, dass seine Vorgängerin inzwischen längst einen Weg gefunden hätte, dem Gemetzel ein Ende zu machen – was ihm nicht gelungen war.
Doch das hatte mit der gegenwärtigen Angelegenheit nichts zu tun. Er nahm sich zusammen. Der Krieg mit der Föderation fand an der Grenze zwischen den Vier Ländern statt und hatte sich noch nicht bis zur Küste ausgebreitet.
Er betrat das Empfangszimmer, in dem der Flugreiter wartete, und entließ seine Begleiter. Ein Mitglied der Leibgarde war sicherlich in dem Raum versteckt, um jederzeit eingreifen zu können; allerdings hatte Allardon noch nie von einem Flugreiter gehört, der zum Meuchelmörder geworden wäre.
Während sich die Tür vor seinem kleinen Gefolge schloss, streckte er dem Reiter die Hand entgegen. »Tut mir leid, dass du warten musstest. Ich habe im Hohen Rat gesessen, und mein Berater wollte mich nicht stören.« Er schüttelte die sehnige Hand und betrachtete das wettergegerbte Gesicht. »Ich kenne dich, nicht wahr? Du hast mir schon ein oder zwei Mal eine Nachricht überbracht.«
»Nur einmal«, sagte der andere. »Und zwar vor langer Zeit. Ich bin überrascht, dass Ihr Euch noch an mich erinnert. Mein Name ist Hunter Predd.«
Der Elfenkönig nickte, erinnerte sich nicht an den Namen, lächelte aber dennoch. Flugreiter gaben nicht viel auf Formalitäten, und er wollte jetzt hier auch nicht darauf bestehen. »Was führt dich her, Hunter?«
Der Flugreiter griff in sein Gewand und zog eine kurze, feine Metallkette und ein Stück Tierhaut hervor. Beides hielt er dem König hin, während er erklärte: »Vor drei Tagen bin ich auf Patrouille über die Gewässer nördlich der Insel Mesca Rho, einem Außenposten vom Schwingenhorst, geflogen. Dabei habe ich einen Mann gefunden, der auf einer Schiffsplanke trieb. Es war kaum noch Leben in ihm, er litt an Unterkühlung und Wassermangel. Ich habe keine Ahnung, wie lange er dort draußen war, aber es muss schon eine Weile gewesen sein. Seine Augen und seine Zunge sind ihm gewaltsam entfernt worden, bevor man ihn ins Wasser warf. Dies hat er bei sich getragen.«
Er ließ die Kette baumeln, die sich als Armkettchen entpuppte, und Allardon nahm sie entgegen, betrachtete sie und erbleichte. An dem Armband hing das Wappen der Elessedils, die ausgebreiteten Äste des heiligen Ellcrys, der von einem Ring aus Blutfeuer umgeben war. Es war dreißig Jahre her, seit er dieses Armband zum letzten Mal gesehen hatte, aber er erkannte es sofort wieder.
Er richtete den Blick auf den Flugreiter. »Der Mann, den du gefunden hast, trug dies?«, fragte er leise.
»Am Handgelenk, ja.«
»Hast du ihn erkannt?«
»Den Mann nicht, nur das Armband.«
»Gab es keine weiteren Hinweise?«
»Nur dies. Ich habe ihn sorgfältig durchsucht.«
Er reichte Allardon ein Stück weiches Leder. An den Rändern war es ausgefranst und von Wasserflecken übersät. Vorsichtig öffnete der Elfenkönig es. Es handelte sich um eine Karte, bei der die Tinte bereits ausgeblichen und an manchen Stellen verschmiert war. Der König betrachtete sie eingehend, um herauszufinden, was er eigentlich in der Hand hielt. Er erkannte die Küste von Westland entlang der Blauen Spalte. Eine gepunktete Linie führte von Insel zu Insel in westliche und nördliche Richtung und endete an einer eigenartigen Ansammlung massiver Stacheln. Unter jeder Insel und der Kette aus Stacheln standen Namen, von denen er keinen kannte. Die Schrift der Legende war nicht zu entziffern. Die Zeichen, welche die Karte schmückten und vielleicht bestimmte Orte bezeichneten, stellten seltsame und beängstigende Wesen dar, die er nie zuvor gesehen hatte.
»Erkennst du diese Zeichen?«, fragte er Hunter Predd.
Der Flugreiter schüttelte den Kopf. »Der größte Teil der Karte liegt außerhalb des Gebiets, in dem wir patrouillieren. Die Inseln sind mit den Rokhs nicht zu erreichen, und ihre Namen sind mir nicht vertraut.«
Allardon trat an die hohen, mit Gardinen versehenen Fenster, durch die man hinaus in den Garten schauen konnte, und betrachtete die Blumenbeete. »Wo ist der Mann, den du gefunden hast, Hunter? Lebt er noch?«
»Ich habe ihn bei dem Heiler gelassen, der in Bracken Clell dient. Als ich aufbrach, war er noch am Leben.«
»Hast du sonst irgendjemandem von diesem Armband und der Karte erzählt?«
»Niemandem außer Euch. Nicht einmal dem Heiler. Er ist mein Freund, doch ich weiß recht gut, wann es angebracht ist zu schweigen.«
Allardon nickte. »Das stimmt.«
Er verlangte nach Gläsern mit kaltem Bier und einem Krug zum Nachfüllen. Während er mit dem Flugreiter darauf wartete, überschlugen sich seine Gedanken. Die geborgenen Gegenstände und ihre Geschichte machten ihn ratlos, und er war sich nicht sicher, wie er nun weiter vorgehen sollte. Das Armband hatte er wiedererkannt, und damit vermutlich auch die Identität des Mannes erraten, dem man es abgenommen hatte. Er hatte ihn seit dreißig Jahren nicht gesehen und auch nicht erwartet, ihm jemals wieder zu begegnen. Die Karte war ihm unbekannt, doch obwohl er die Schrift nicht entziffern und die Zeichen nicht verstehen konnte, hatte er so eine Ahnung, was sie möglicherweise zeigte.
Plötzlich dachte er an seine Mutter Aine, die seit zwanzig Jahren tot war, und die Erinnerung an das Leid ihrer letzten Lebensjahre trieb ihm Tränen in die Augen.
Abwesend spielte er mit dem Armband.
Vor dreißig Jahren hatte seine Mutter, die Königin, einer Expedition per Segelschiff zugestimmt, um einen Schatz von großem Wert zu suchen, von dem behauptet wurde, er habe die Großen Kriege überlebt, welche die Alte Welt zerstört hatten. Der Grund für die Expedition war ein Traum der Seherin seiner Mutter gewesen, einer Elfenmystikerin von großer Macht und breiter Anerkennung. Der Traum handelte von einem Land aus Eis, einer zerstörten Stadt in diesem Land und einem Ort, an dem ein Schatz unvorstellbaren Ausmaßes verborgen gehalten und bewacht wurde. Dieser Schatz, falls er entdeckt wurde, besaß die Macht, den Lauf der Geschichte zu ändern und somit das Leben all jener, die mit ihm in Berührung kamen.
Die Seherin war dem Traum gegenüber misstrauisch gewesen, denn sie kannte die Macht, mit der Träume täuschen können. Die Form des gesuchten Schatzes blieb im Ungewissen, und die Ortsangaben waren vage. Das Land, in dem er sich befand, lag jenseits der Blauen Spalte in einem Gebiet, welches niemand je betreten hatte. Es gab keine Anweisungen, wie man es finden und erreichen konnte und nur wenig mehr als eine Reihe von Bildern, die es beschrieben. Vielleicht, so lautete der Rat der Seherin, sollte man den Traum lieber auf sich beruhen lassen.
Aber Allardons älterer Bruder Kael Elessedil war von den Möglichkeiten, welche der Traum bot, und von der Herausforderung der Suche nach einem unbekannten Land begeistert. Er hatte diesen Traum als sein Schicksal begriffen und seine Mutter angefleht, ihn ziehen zu lassen. Am Ende hatte sie es ihm erlaubt. Kael Elessedil hatte also seine Expedition gewährt bekommen und war mit drei Schiffen in See gestochen.
Kurz vor seiner Abreise hatte seine Mutter ihm die berühmten blauen Elfensteine gegeben, die einst Königin Wren gehört hatten. Die Elfensteine würden ihn zu seinem Ziel führen und vor Gefahren schützen. Und ihre Magie sollte die Elfen sicher wieder nach Hause bringen.
Als Kael Elessedil zur Küste aufbrach, an der die von seiner Mutter ausgewählten Schiffe lagen, hatte er das Armband getragen, das sein Bruder jetzt in Händen hielt. Damals hatte Allardon ihn zum letzten Mal gesehen. Die Expedition kehrte nicht zurück. Die Schiffe, ihre Mannschaften, sein Bruder, alles und jeder waren einfach verschwunden. Suchexpeditionen waren gestartet worden, eine nach der anderen, doch sie hatten keine Spur der vermissten Elfen entdeckt.
Allardon seufzte leise. Bis heute. Er starrte das Armband in seiner Hand an.
Kaels Verschwinden hatte im Leben der Familie alles verändert. Seine Mutter hatte sich von dem Verlust niemals erholt, und in den letzten Jahren ihres Lebens waren ihre Gesundheit und ihre Hoffnung geschwunden, während ein Rettungsversuch nach dem anderen scheiterte und man die Suche schließlich aufgab. Nach ihrem Tod wurde Allardon zum König erklärt, was er niemals erwartet hätte. Eigentlich hätte sein Bruder diese Position einnehmen sollen.
Er dachte an den versehrten Mann, der ausgezehrt, ohne Stimme und blind im Haus des Heilers von Bracken Clell lag, und fragte sich, ob sein Bruder endlich heimgekehrt war.
Das Bier wurde gebracht, und Allardon setzte sich mit Hunter Predd auf eine Bank im Garten und fragte den Flugreiter wieder und wieder aus, wobei er die gleichen Punkte mehrere Male ansprach und sich ihnen aus verschiedenen Winkeln annäherte, damit er alles erfuhr, was es zu erfahren gab. Hunter begriff, wenigstens zum Teil, dass er bei dem Elfenkönig alte und tiefe Wunden aufgerissen hatte, und deshalb fügte er sich bereitwillig. Er selbst stellte keine Fragen, wofür Allardon dankbar war, sondern beantwortete lediglich die des Königs, dem er Gesellschaft leistete, solange dieser es wünschte.
Nachdem die Befragung beendet war, bat Allardon den Flugreiter, die Nacht hier zu verbringen, damit der König Zeit habe, sich zu überlegen, ob er ihn noch weiter brauche. Er formulierte es nicht als Befehl, sondern als Bitte. Reiter und Tier sollten Unterkunft und Verpflegung erhalten, und sein Bleiben werde als Gefälligkeit betrachtet. Hunter Predd stimmte zu.
Wieder allein und nun in seinem Arbeitszimmer, wo er am häufigsten über schwierige Angelegenheiten nachdachte, überlegte sich Allardon, was er zu tun hatte. Nach dreißig Jahren und mit den schweren Verletzungen würde er seinen Bruder vielleicht nicht wiedererkennen, selbst wenn es tatsächlich Kael war, den der Heiler von Bracken Clell pflegte. Er musste davon ausgehen, denn das Armband war echt. Die Karte dagegen beunruhigte ihn. Was sollte er damit anfangen? Ihren Wert vermochte er nur zu schätzen, doch lesen konnte er sie nicht vollständig. Wenn er eine neue Expedition zusammenstellen sollte, was er bereits ernsthaft in Erwägung zog, musste er jede nur mögliche Anstrengung unternehmen, um herauszufinden, womit er zu rechnen hatte.
Daher brauchte er jemanden, der ihm die Anmerkungen auf der Karte übersetzte. Jemanden, der ihm sagen konnte, was sie bedeuteten.
Es gab nur einen einzigen Menschen, der dazu in der Lage war, vermutete er. Jedenfalls nur einen, den er kannte.
Draußen war es inzwischen dunkel. Die Nacht senkte sich über den Westlandwald, Mauern und Dächer der Stadt verschwanden, und nur noch die aufflammenden Lichter zeugten von ihrer Existenz. Im Heim der Elessedils war es still. Seine Frau beschäftigte sich mit ihren Töchtern und arbeitete an einer Steppdecke für seinen Geburtstag, über die er eigentlich gar nicht Bescheid wissen sollte. Sein ältester Sohn Kylen befehligte ein Regiment im Krieg gegen die Föderation. Sein Jüngster, Ahren, jagte in den nördlichen Wäldern mit Ard Patrinell, einem Hauptmann der Leibgarde. Trotz der Größe seiner Familie und seiner Stellung als König fühlte er sich überraschend allein und hilflos angesichts dessen, was er tun musste.
Aber wie? Wie würde er zustande bringen, was notwendigerweise zu tun war?
Die Stunde des Abendessens war gekommen und bereits vorüber, doch er blieb, wo er war, und grübelte weiter. Es war schwierig, auch nur darüber nachzudenken, was er eigentlich tun müsste, denn der Mann war in vielerlei Hinsicht ein Gräuel. Trotzdem musste er sich mit ihm einlassen, seine Vorbehalte beiseiteschieben und ihre gegenseitige Feindseligkeit ignorieren. Er konnte das, weil es zu seinem Amt als König gehörte, und er hatte schon ähnliche Zugeständnisse in anderen Situationen gemacht. Nur einen Weg zu finden, den anderen zu überzeugen, war schwierig. Dafür musste er sich etwas ausdenken, das nicht auf sofortige Ablehnung stieß, und das war nicht ganz einfach.
Am Ende kam ihm der Gedanke, dass die Lösung direkt vor seiner Nase lag. Er würde Hunter Predd, den Flugreiter, als Gesandten schicken. Er war sich der Unterstützung des Flugreiters gewiss; dieser hatte die Bedeutung seiner Entdeckung sehr wohl erkannt, außerdem konnte Allardon dem Schwingenhorst im Austausch Zugeständnisse machen, die dieser schon lange begehrte. Der Mann, dessen Dienste er benötigte, würde wohlwollend antworten, da er keinen Streit mit den Flugreitern hatte, sondern mit den Landelfen, und da Hunter Predds direkte Art ihm zusagen würde.
Natürlich gab es keine Garantien. Sein Plan konnte misslingen, und er wäre vielleicht gezwungen, es erneut zu versuchen – vielleicht sogar selbst nach Bracken Clell zu reisen. Ja, das würde er, wenn nichts anderes half. Dennoch zählte er auf die Neugier seines Widersachers, um ihn für die Sache zu gewinnen; dem Rätsel der Karte würde er nicht widerstehen können. Über die Verlockungen ihrer Geheimnisse konnte er keinesfalls hinwegsehen. Sein Leben erlaubte das nicht. Denn was immer er sonst noch darstellte – und er war vielerlei – in erster Linie war er ein Gelehrter.
Der Elfenkönig holte die Karte hervor und legte sie auf seinen Schreibtisch. Er hätte sie eigentlich gern kopieren lassen, um für den Fall eines Verlustes vorzusorgen. Aber eine Kopie erhöhte die Gefahr eines Verrats, der das ganze Unternehmen innerhalb einer Sekunde scheitern lassen konnte. Ein Schreiber konnte vieles erschließen, ohne die Herkunft der Karte oder ihren Wert zu kennen. Eine Indiskretion war durchaus möglich.
Trotzdem, er würde eine Kopie anfertigen lassen und bei dem Schreiber bleiben, bis der seine Arbeit beendet hatte. Nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte, schickte er einen Diener los, um denjenigen zu rufen, der gebraucht wurde. Das Abendessen musste noch eine Weile warten.
2
In der gleichen Nacht, in der Allardon Elessedil auf seinen Schreiber wartete, erhielt der Spion im Hause des Heilers von Bracken Clell eine Reaktion auf die Nachricht, die er seiner Gebieterin zwei Tage zuvor geschickt hatte. Allerdings hatte er mit einer derartigen Reaktion nicht gerechnet.
Sie erwartete ihn, als er bei Einbruch der Nacht in seine Wohnung kam, das Tagwerk hinter sich hatte und mit den Gedanken bei ganz anderen Dingen war. Vielleicht dachte er daran, später hinaus zu den Käfigen zu schleichen und zu prüfen, ob einer der geflügelten Kuriere eine Antwort gebracht hatte. Möglicherweise freute er sich auch nur auf eine warme Mahlzeit und ein kühles Bett. Wie auch immer, sie hier bei seinem Haus vorzufinden, damit hatte er nicht gerechnet. Ihre Anwesenheit überraschte und verängstigte ihn zugleich, und er zuckte zusammen, als sie sich aus den Schatten löste. Sie beruhigte ihn mit einem sanften Wort und wartete geduldig ab, bis er sich ausreichend gefasst hatte, um sie angemessen zu begrüßen.
»Gebieterin«, flüsterte er, beugte das Knie und verneigte sich tief. Es gefiel ihr, dass er seine guten Manieren nicht vergessen hatte. Obwohl sie seit vielen Jahren nicht hier gewesen war, erinnerte sie sich an seine Wohnung.
Sie ließ ihn ein wenig gebückt stehen, stellte sich vor ihn, und ihr beruhigendes, sanftes Flüstern hing leise und leicht in der Luft. Die graue Robe verhüllte sie von Kopf bis Fuß, die Kapuze verbarg ihr Gesicht. Ihr Spion hatte sie niemals im Licht gesehen oder auch nur einen kurzen Blick auf ihre Züge erhascht. Sie war ein Rätsel für ihn, eine schattenhafte Präsenz. Sie verschmolz mit der Dunkelheit, war ein Wesen, das man eher fühlte denn sah und das selbst dann noch Wache hielt, wenn es unsichtbar war.
»Gebieterin, ich habe Euch eine wichtige Sache zu berichten«, murmelte der Spion und blickte nicht auf, sondern wartete, bis man ihm erlaubte, sich aufzurichten.
Die Ilse-Hexe beließ ihn in seiner Haltung und dachte nach. Sie wusste mehr, als er sich vorstellen konnte, mehr, als er ahnte, denn sie besaß Kräfte, die über sein Verständnis weit hinausgingen. Aus der Nachricht, die er ihr gesandt hatte – aus den Worten, der Handschrift, dem Geruch auf dem Papier –, hatte sie die Dringlichkeit erkannt, die er verspürte. Aus der Art, wie er sich ihr jetzt präsentierte – seinem Benehmen, seinem Tonfall, seiner Haltung –, entzifferte sie seine Nöte. Das war ihre besondere Gabe: Sie erkannte stets mehr, als diejenigen, mit denen sie in Berührung kam, sie zu wissen lassen wünschten.
Jetzt streckte die Ilse-Hexe den Arm aus. »Erhebe dich«, befahl sie.
Der Spion gehorchte, hielt den Kopf und den Blick jedoch weiter gesenkt. »Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr kommt.«
»Bei einer Angelegenheit von solcher Wichtigkeit konnte ich nicht anders reagieren.« Sie beugte sich leicht vor. »Erzähl mir jetzt, was du weißt.«
Der Spion zitterte vor Aufregung und wollte nur allzu bereitwillig zu Diensten sein. Im Schatten der Kapuze lächelte sie.
»Ein Flugreiter hat einen Mann aus dem Meer gerettet und ihn zu meinem Heiler gebracht«, berichtete der Spion, der es nun wagte, den Blick bis zum Saum ihrer Robe zu heben. »Die Augen und die Zunge wurden dem Mann genommen, und der Heiler meint, er sei halb wahnsinnig. So wie er aussieht, bezweifle ich das nicht. Der Heiler kann die Identität des Mannes nicht feststellen, und auch der Flugreiter nicht, allerdings vermutet er etwas. Er hat dem Mann etwas abgenommen, ehe er ihn hierhergebracht hat. Ich habe einen kurzen Blick darauf werfen können – es ist ein Armband mit dem Wappen der Elessedils.«
Der Spion hob nun den Blick und suchte den ihren. »Der Flugreiter ist vor zwei Tagen nach Arborlon aufgebrochen. Ich hörte, wie er dem Heiler sagte, wohin er geht. Das Armband hat er mitgenommen.«
Sie starrte ihn einen Moment lang schweigend an, und ihre verhüllte Gestalt verharrte still wie die Schatten. Ein Armband mit dem Wappen der Elessedils, dachte sie. Der Flugreiter würde es vermutlich zu Allardon Elessedil bringen. Wessen Armband war das? Was bedeutete es, dass es bei diesem blinden und stummen und für verrückt gehaltenen Elfen gefunden worden war?
Die Antworten verbargen sich im Kopf des Schiffbrüchigen. Sie musste ihn zwingen, sie preiszugeben.
»Wo ist der Mann jetzt?«, erkundigte sie sich. Der Spion richtete sich eifrig auf; die Hände hatte er wie zum Gebet unter dem Kinn gefaltet. »Er liegt im Krankenzimmer des Heilers, wo er bis zur Rückkehr des Flugreiters gepflegt, aber auch isoliert wird. Niemandem ist es erlaubt, ihn zu besuchen oder mit ihm zu sprechen.« Er schnaubte leise. »Als könnte das überhaupt jemand. Schließlich hat er keine Zunge, um zu antworten, nicht wahr?«
Sie scheuchte ihn zur Seite, und er bewegte sich wie eine Marionette. »Warte hier auf mich«, verlangte sie. »Ich werde zurückkehren.«
Daraufhin verschwand sie in der Nacht, huschte als geisterhafter Schemen lautlos durch die Straßen. Die Ilse-Hexe mochte die Dunkelheit und fand einen Trost darin, den ihr das Tageslicht versagte. Die Dunkelheit beruhigte sie, milderte Ecken und Kanten und verminderte die Klarheit. Das Sehen verlor an Bedeutung, denn das Auge konnte getäuscht werden. Eine Bewegung hier oder dort konnte das Aussehen eines Gegenstandes verändern. Was im Licht zuverlässig wirkte, wurde in der Finsternis verdächtig. Dies spiegelte ihr Leben – eine Sammlung von Bildern und Stimmen, von Erinnerungen, die keineswegs alle in einer bestimmten Abfolge geordnet und nicht auf eine Weise verbunden waren, die Sinn ergab. Wie die Schatten, mit denen sie sich so stark identifizierte, bestand ihr Leben aus zerfransten Enden und losen Fäden, die dazu einluden, neu genäht zu werden. Ihre Vergangenheit war nicht in Stein gemeißelt, sondern auf Wasser gemalt. Erfinde dich selbst neu, hatte man ihr vor langer Zeit aufgetragen. Erfinde dich selbst neu, und du wirst unergründlich für alle, die aufdecken wollen, wer du wirklich bist.
In der Nacht, in der Dunkelheit und im Schatten konnte sie dies leichter verwirklichen. Sie brauchte ihr Aussehen keinem zu enthüllen und konnte ihr Wesen verbergen. Außerdem konnte sie andere dazu bringen, sich ein Bild von ihr zu machen, und sie dadurch dauerhaft täuschen.
Ohne angesprochen zu werden, ging sie durch die Stadt und begegnete beinahe niemandem, und die wenigen, die ihr entgegenkamen, bemerkten ihre Gegenwart nicht. Es war spät, der größte Teil des Ortes schlief, und diejenigen, welche sich des Nachts in Bierschenken und Lusthöhlen herumtrieben, kümmerten sich nur um ihre eigenen Belange. Sie verzieh ihnen ihre Schwächen, diesen Männern und Frauen, doch sie würde sie niemals als Gleiche akzeptieren. Seit Langem gab sie nicht mehr vor zu glauben, ihre gemeinsame Herkunft verbinde sie in irgendeiner Weise. Sie war eine Kreatur des Feuers und des Eisens. Sie war in Magie und Macht geboren. Ihre Bestimmung verlangte, über das Leben anderer zu entscheiden und sich selbst nie von ihnen beeinflussen zu lassen. Mit ganzer Leidenschaft erhob sie sich über das Schicksal, das andere ihr als Kind zugedacht hatten, und nahm Rache. Sie würde so viel mehr sein als sie, und sie wären für immer ein Nichts.
Sobald sie ihnen erlaubte, ihren Namen auszusprechen, wenn sie ihn erst selbst kundtat, so würde man sich an ihn erinnern. Dann wäre er nicht mehr in der Asche ihrer Kindheit verborgen, kein Bruchstück ihrer verlorenen Vergangenheit mehr. Er würde schweben wie der sanfte Gleitflug des Falken und mit der milchigen Helligkeit des Mondes leuchten. Den Bewohnern dieser Welt würde er ewig in den Köpfen bleiben.
Das Haus des Heilers lag vor ihr, dicht an den Bäumen des Waldes. Sie war spät am Nachmittag aus dem Wildewald losgeflogen, hatte ihren Unterschlupf wegen der Nachricht des Spions verlassen, da sie deren Wichtigkeit spürte und die Geheimnisse, die sich dahinter verbargen, enthüllen wollte. Ihren Kriegswürger hatte sie in dem alten Bewuchs unter den Steilhängen gelassen; über den schrecklichen Kopf hatte sie eine Haube gezogen und die Krallen angepflockt. Sonst würde er sich aufbäumen, und zwar so wild, dass selbst Magie ihn nicht halten konnte, wenn sie nicht zugegen war. Als Kampfvogel suchte er allerdings seinesgleichen. Sogar die großen Rokhs hüteten sich vor ihm, denn der Würger kämpfte stets bis zum Tod, ohne viel an seine Verteidigung zu denken. Niemand würde ihn bemerken, da sie einen Zauber der Furcht ausgesprochen hatte, um Unerwünschte zu vertreiben. Bis Sonnenaufgang wollte sie längst wieder zurück sein.
Sie schlüpfte auf Zehenspitzen durch die Tür ins Haus des Heilers, schlich durch die vorderen Räume zu den Krankenzimmern, summte leise, wenn sie Helfern begegnete, die noch arbeiteten, und lenkte ihre Gedanken nach innen und ihre Blicke von ihr fort, damit sie nicht von ihnen bemerkt wurde. Diejenigen, die vor der Tür des Schiffbrüchigen Wache hielten, versetzte sie in Schlaf. Sie sanken auf ihre Stühle, lehnten sich an Wände und auf Tische, ihre Augen schlossen sich, und ihr Atem ging langsam und tief. Im Haus des Heilers wurde es still und friedlich, und ihr Lied fügte sich angenehm in den Ort ein. Sie erfüllte die Luft mit ihrer Musik, einer zarten Decke, um Vorsicht und Unbehagen zu verhüllen, die sonst möglicherweise ausgelöst worden wären. Bald war sie allein und konnte in Ruhe arbeiten.
Der Schiffbrüchige döste auf dem Bett in seinem Zimmer, eine leichte Decke lag über seinem fiebrigen Körper, und die Vorhänge vor den Fenstern waren geschlossen. Seine Haut war mit Blasen übersät und rau, und die lindernde Salbe, die der Heiler aufgetragen hatte, glänzte feucht. Der Körper war durch den Ernährungsmangel ausgemergelt, sein Herz schlug schwach in der Brust, und das gezeichnete Gesicht wirkte wie das eines Skeletts. Die Lider waren tief in die Höhlen eingesunken, aus denen man die Augen entfernt hatte, und der Mund mit den aufgeplatzten Lippen war eine vernarbte rote Wunde.
Aufmerksam betrachtete ihn die Ilse-Hexe eine Zeitlang; sie bemerkte die deutlichen Elfenzüge, das graue Haar, demzufolge er nicht mehr jung war, und die gekrümmten Finger, die von erduldeter Folter sprachen. Es gefiel ihr nicht, wie sich der Mann anfühlte; man hatte ihn absichtlich leiden lassen und für Dinge benutzt, die sie sich gar nicht vorstellen wollte. Auch den Geruch, den er verströmte, mochte sie nicht, ebenso wenig wie die leisen Geräusche, die er von sich gab. Er lebte an einem anderen Ort in einer anderen Zeit, unfähig zu vergessen, was er erlitten hatte.
Als sie ihn berührte, ganz sanft die schlanken, kühlen Finger auf seine Brust legte, zuckte er zusammen wie nach einem Hieb. Rasch setzte sie ihre Magie ein und sang leise, um ihn zu beruhigen, ihm Frieden und Trost zu spenden. Der gewölbte Rücken entspannte sich langsam, und die gekrümmten Finger umklammerten nicht länger die Bettdecke. Ein Seufzer löste sich von den aufgeplatzten Lippen. Für diesen Mann war Erleichterung in jeder Form willkommen. Sie sang weiter, während sie sich an seiner Gegenwehr vorbei in sein Unterbewusstsein drängte.
Nachdem er wieder still lag, sich ihrer Fürsorge überlassen hatte und von ihr abhängig geworden war, legte sie die Hände auf den fiebrigen Körper, damit sie Gedanken und Gefühle aus ihm ziehen konnte. Das, was verschlossen in seinem Kopf lag, musste sie befreien – Erlebnisse, Mühen, Geheimnisse. Dies erreichte sie durch seine Sinne, aber vor allem durch seine Stimme. Mochte er auch nicht mehr sprechen können, so war er doch imstande zu kommunizieren. Sie musste nur einen Weg finden, dass er selbst es sich wünschte.
Am Ende war es gar nicht so schwer. Sie band ihn durch ihren Gesang, forschte währenddessen sanft, und er erzeugte diese leisen, unverständlichen Laute, zu denen er in der Lage war. Sie entzog ihm ein Ächzen, ein Murmeln, ein Keuchen nach dem anderen. Aus jedem Laut gewann sie ein Bild dessen, was er wusste, und dieses machte sie sich dann zu eigen. Die Laute waren unmenschlich und voller Schmerz, doch sie nahm sie ohne mit der Wimper zu zucken auf und badete ihn in einer Flut aus Mitgefühl, Trost und Mitleid, aus Sanftheit und dem Versprechen von Heilung.
Sprich mit mir. Lebe neu durch mich. Überlass mir alles, was du verbirgst, und ich gebe dir Frieden.
Er gehorchte, und die Bilder waren hell, bunt und verblüffend. Ein Ozean, riesig, blau und unerforscht. Inseln, eine nach der anderen, manche grün und üppig, andere öde und felsig, doch fühlte sich jede anders an, und jede verbarg etwas Ungeheuerliches. Stürmische, verzweifelte Gefechte, in denen Waffen klirrend aufeinanderprallten und Männer fielen. Gefühle von derartiger Intensität, solch roher Gewalt, dass sie die Ereignisse, die sie ausgelöst hatten, in den Schatten stellten und die Narben enthüllten, die sie ihrem Besitzer hinterlassen hatten.
Schließlich sah sie Säulen aus Eis, die in den dunstigen, kühlen Himmel ragten. Ihre massigen Formen bewegten sich und knirschten wie die Zähne eines Riesen, während ein dünner Strahl blauen Feuers, das aus der Magie der Elfensteine geboren war, durch etwas hindurchschoss, das dahinter lag. Es handelte sich um eine Ruinenstadt, die alt war und in der es von riesigen Beschützern wimmelte. Dort gab es eine Feste, begraben in der Erde und geschützt von glattem Metall und hellen roten Augen, in denen Magie funkelte …
Der Ilse-Hexe stockte der Atem bei diesem letzten Bild, einem Bild jener Magie, die der Schiffbrüchige in der vergrabenen Feste gefunden hatte. Diese Magie wurde durch Wörter beschworen – aber durch so viele! Deren Anzahl schien endlos zu sein und erstreckte sich aus sanften Lichtern in die Schatten, ihre Macht erhob sich in die Luft und bildete einen riesigen Baldachin, der die ganze Erde umspannen konnte!
Der Schiffbrüchige wand sich unter ihr, und einen Augenblick lang löste sich der Griff, mit dem sie ihn hielt, da sie kurz in ihrer Konzentration nachließ. Rasch brachte sie ihr Lied wieder zum Einsatz und drang noch tiefer in seinen Kopf ein, um ihn unter Kontrolle zu bekommen.
Wer bist du? Sag mir deinen Namen! Sein Körper zuckte, und der Mann gab schreckliche Laute von sich. Sag ihn mir!
Er antwortete, und nun verstand sie die Bedeutung des Armbands.
Was hattest du noch bei dir? Was noch?
Er kämpfte gegen sie an, obwohl er nicht begriff, wogegen er sich eigentlich wehrte; er wusste nur, dass es sein musste. Es war nicht ausschließlich seine Idee, sich zu wehren, das spürte sie; da hatte ihm offensichtlich jemand dieses Bedürfnis eingeimpft, oder es war durch ein Ereignis ausgelöst worden. Aber sie beherrschte ihre Magie mit Kraft und Sicherheit, und er hatte keine wirkliche Möglichkeit, ihr zu widerstehen.
Eine Karte sah sie. Eigenhändig hatte er sie auf eine alte Tierhaut gezeichnet. Eine Karte, begriff sie, die nicht länger bei ihm war, sondern auf dem Weg nach Arborlon und zum Elfenkönig.
Sie versuchte zu erkennen, was auf die Karte gezeichnet war, und für einen Augenblick konnte sie ein vages Bild aus seinem Ächzen und Stöhnen rekonstruieren. Dabei erhaschte sie einen Blick auf Namen und Symbole, erkannte eine gepunktete Linie, die Inseln vor der Küste von Westland und in der Blauen Spalte verband. Diese Linie verfolgte sie bis zu den Säulen aus Eis und dem Land, in dem das Versteck lag. Aber Wörter und Zeichnungen verschwanden wieder, als er erneut zusammenzuckte. Seine Stimme war erschöpft, sein Kopf leer, und der Körper schlaff und reglos.
Sie beendete ihr Lied und trat zurück. Alles, was sie von ihm bekommen konnte, hatte sie sich geholt, und was sie erfahren hatte, genügte. Einen Augenblick lauschte sie in die Stille hinein und vergewisserte sich, dass ihre Anwesenheit noch nicht bemerkt worden war. Der schiffbrüchige Elf lag auf seinem Lager und regte sich nicht, hatte sich so tief in sich selbst zurückgezogen, dass er niemals wieder hervorkommen würde. Vielleicht überlebte er sogar, doch er würde sich niemals wieder erholen.
Sie schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, ihn so zurückzulassen.
Kael Elessedil, Sohn der Königin Aine und einst Thronanwärter der Elfen. Das hatte sich vor ihrer Zeit zugetragen, aber sie kannte die Geschichte. Seit dreißig Jahren wurde er vermisst, und so endete sein armseliges Schicksal.
Die Ilse-Hexe trat näher, warf die Kapuze zurück und enthüllte ein Gesicht, das nur wenige je zu sehen bekamen. Sie sah ganz anders aus, als man vermuten würde, wenn man nach ihrer Kleidung ging. Sehr jung war sie, kaum eine erwachsene Frau, und hatte langes und dunkles Haar. Ihre Augen funkelten blau, und das Gesicht war glatt und anmutig. Als sie ein Kind gewesen war – damals hatte sie noch den Namen getragen, den sie heute nicht mehr aussprach –, hatte sie auf die spiegelnde Wasseroberfläche in einer kleinen Bucht des Baches geblickt, nicht weit von ihrem Zuhause, und sich vorzustellen versucht, wie sie wohl aussehen würde, wenn sie erwachsen war. Damals, als ihr derlei Dinge noch wichtig gewesen waren, hatte sie sich nicht vorstellen können, dass sie eines Tages hübsch werden könnte. Sie hielt sich auch heute noch nicht für hübsch, doch spielte es jetzt keine Rolle mehr für sie.
Sie beugte sich vor, um den kranken Mann auf die Lippen zu küssen, und in ihren Augen lag ein Ausdruck der Wärme und Zärtlichkeit. Der Kuss dauerte gerade so lange, bis sie ihm den Odem aus der Lunge gesogen hatte, und dann starb er.
»Ich wünsche dir Frieden, Kael Elessedil«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Danach verließ sie das Haus des Heilers auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen war, und hüllte sich wieder in ihren Kapuzenumhang. Niemand schenkte ihrer schemenhaften Gegenwart Aufmerksamkeit. Die Helfer würden erwachen, nachdem sie gegangen war, und nicht wissen, dass etwas geschehen war, dass sie geschlafen hatten und die Zeit verstrichen war.
Inzwischen sortierte die Ilse-Hexe die Bilder, die sie erhalten hatte, und überlegte sich, welche Möglichkeiten sich ihr boten. Die Magie, die Kael Elessedil entdeckt hatte, war unbezahlbar. Obwohl sie nicht einmal wusste, woraus sie bestand, war sie sich dessen gewiss. Natürlich wollte sie diese Magie besitzen. Deshalb musste ihr das gelingen, was er nicht geschafft hatte – sie finden und für sich beanspruchen. Gewiss wurde sie auf irgendeine Weise bewacht, wie es bei einer Magie dieser Größenordnung notwendig war, aber es gab keine Schutzvorrichtungen, die sie nicht überwinden konnte. Sie wusste bereits, wie sie vorgehen wollte, nur die Einzelheiten bedurften noch der Klärung.
Was sie haben wollte – selbst wenn sie es nicht wirklich brauchte, um ihr Ziel zu erreichen – war die Karte. Sie schlich durch das dunkle Bracken Clell und grübelte, auf welche Weise sie in ihren Besitz gelangen könnte. Der Flugreiter hatte die Karte zusammen mit Kaels Armband zu Allardon Elessedil gebracht. Der Elfenkönig würde erkennen, wie wichtig die beiden Stücke waren, doch wäre er nicht in der Lage, die Worte auf der Karte zu verstehen. Und außerdem hätte er nicht den Vorteil, die Gedanken seines nunmehr verstorbenen Bruders zu kennen. Er würde bei jemand anderem Hilfe suchen, um die geheimnisvollen Symbole, die sein Bruder gefunden hatte, zu entziffern.
An wen würde er sich wenden?
Sie kannte die Antwort auf die Frage bereits, ehe sie ganz zu Ende gedacht war. Es gab nur einen, den er fragen konnte. Einen, der es mit Sicherheit wissen würde. Ihr Feind, einarmig und mit dunklen Brauen, an Körper und Seele verkrüppelt. Ihre Nemesis, die ihr in der Kunst der Magie das Wasser reichen konnte.
Sofort begriff sie, was das bedeutete. Die Suche würde sich zu einem Wettlauf entwickeln, und Zeit wäre von nun an ein kostbares Gut. Den Luxus von Sorgfalt und Vorsicht bei der Planung konnte sie sich nicht leisten. Sie würde sich ihrer bisher größten Herausforderung stellen müssen.
Vielleicht mischte sich sogar der Morgawr in einen Streit dieser Größenordnung ein.
Während ihrer Überlegungen war sie deutlich langsamer geworden, doch jetzt beschleunigte sie ihren Schritt wieder. Sie war mit ihren Gedanken der Wirklichkeit ein Stück zu weit voraus. Ehe sie in den Wildewald zurückkehren konnte, musste sie die Angelegenheit hier beenden und die losen Enden verknüpfen. Ihr Spion wartete, weil er den Wert seiner Nachricht erfahren wollte. Natürlich freute er sich auf Lob für seinen Fleiß und einen Lohn für seine Mühen. Beides sollte er bekommen.
Dennoch schweiften ihre Gedanken, während sie still durch den Ort ging und sich der Wohnung ihres Spions näherte, immer wieder zu der Konfrontation, die ihr bevorstand und die sich in der Zukunft abspielen würde, an einem Ort, der womöglich weit von den Ländern entfernt war, durch die sie gerade reiste. Eine Konfrontation des Willens, der magischen Kräfte und der Schicksale. Sie und ihre Widersacher würden um die Macht kämpfen, genauso, wie sie es sich immer erträumt hatte – das Bild brannte in ihren Gedanken wie glühende Kohle und entfachte ihre Fantasie.
Ihr Spion wartete auf sie, als sie bei ihm eintrat. »Gebieterin«, begrüßte er sie und ließ sich gehorsam auf ein Knie nieder.
»Erhebe dich«, befahl sie.
Er richtete sich auf, hielt nur Blick und Kopf gesenkt.
»Du hast deine Sache gut gemacht. Was du mir gezeigt hast, öffnet mir Türen, von denen ich bisher nur geträumt habe.«
Sie sah, wie er vor Stolz zu strahlen begann und sich die Hände rieb in Erwartung der Belohnung, die sie ihm nun gewiss geben würde. »Danke, Gebieterin.«
»Es ist an mir, mich zu bedanken«, erwiderte sie, griff in ihre Robe und zog einen Lederbeutel hervor, in dem es verlockend klimperte. »Öffne ihn erst, nachdem ich gegangen bin«, sagte sie leise. »Ich wünsche dir Frieden.«
Ohne weiteren Aufschub verließ sie ihn, denn sie hatte ihre Aufgaben beinahe erledigt. Sie ging aus dem Ort hinaus zu der verrottenden Hütte, die ihrem Spion gehörte, ließ die Vögel frei und schickte sie in den Wildewald zurück. Dort würden sie bereits in ihrem Unterschlupf warten, wenn sie zurückkehrte. Der Spion brauchte sie nun nicht mehr; dem Beutel mit Gold hatte sie eine winzige Schlange beigefügt, deren Gift so tödlich war, dass schon ein kleiner Ritzer ausreichte. Ihr Spion würde nicht bis morgen früh warten, um die Münzen zu zählen; er würde es noch heute Nacht machen. Bis man ihn fand, wäre die Schlange längst verschwunden ebenso wie das Gold. In einem Viertel wie dem, in dem der Spion lebte, wusste man, dass Tote kein Gold mehr brauchten.
Sie dachte bereits nicht mehr an die Angelegenheit, als sie sich auf den Rückweg zu ihrem Würger machte. Obwohl sie viele Helfer hatte und diese über alle Vier Länder verstreut waren, gab sie ihre Spione nicht leichtfertig auf. Sie beschützte sie sogar, wenn sie so nützlich und verlässlich waren wie dieser.
Aber selbst der beste Spion konnte entlarvt werden und sie verraten, und das durfte sie nicht riskieren. Besser, einen Verlust in Kauf zu nehmen, als ein offensichtliches Risiko einzugehen. Ein Leben war ein kleiner Preis, wenn es ihr einen Vorteil ihrem ärgsten Feind gegenüber verschaffte.
Aber wie sollte sie in den Besitz der Karte gelangen? Welche List konnte sie einsetzen, die ihr bemerkenswerter Widersacher nicht durchkreuzen würde?
Einen Augenblick dachte sie daran, sich die Karte selbst zu holen. Aber sie Allardon Elessedil zu stehlen, der sie inzwischen in Händen halten dürfte, im Herzen des Elfenlandes, war ein zu gefährliches Unternehmen, um es ohne gründliche Planung zu wagen. Sie konnte versuchen, sie auf dem Weg zu ihrem Widersacher abzufangen, aber wie sollte sie herausfinden, auf welchem Wege sie befördert wurde? Außerdem war es dafür möglicherweise schon zu spät.
Nein, sie musste den richtigen Augenblick abwarten, nachdenken und einen unauffälligeren Weg finden, um das zu erlangen, was sie begehrte.
Sie erreichte ihr Reittier, entfernte die Fesseln und die Haube, während sie es mit ihrer Magie ruhig hielt, dann stieg sie hinter dem dicken, gefiederten Hals an der Stelle auf, wo die Flügel am Körper saßen, und schon ging es los. Zeit und List würden sie zum Ziel führen. Der Wind strich über ihr Gesicht, und der Geruch des Waldes wich der reinen kalten Nachtluft in der Höhe.
Mit Zeit und List und der Macht der Magie, die ihr angeboren war, würde sie eine ganze Welt gewinnen.
3
Hunter Predd war von der pragmatischen Sorte wie die meisten Flugreiter. Welche schlechten oder überraschenden Karten das Leben auch immer austeilte, er nahm sie auf, so würdevoll er konnte, und machte sich an die Erledigung seiner Aufgaben. In diese Kategorie fielen auch Reisen ins Innere der Vier Länder, die sich jenseits des Elfenterritoriums erstreckten. Der Gedanke an einen Flug ins Landesinnere bereitete ihm Unbehagen; vor allem gefiel es ihm nicht, Orte aufzusuchen, die er noch nie gesehen hatte.
Paranor war ein solcher Ort.
Er war überrascht, als Allardon Elessedil ihn bat, die Karte dorthin zu bringen. Überrascht, weil es angemessener schien, einen Landelfen die Reise für den König machen zu lassen als einen Reiter vom Schwingenhorst. Er war ein Mann, der mit nichts hinter dem Berg hielt, und deshalb fragte er den König offen heraus nach den Gründen für seine Entscheidung. Der Elfenkönig erklärte, derjenige, der die Karte bekommen sollte, habe vielleicht Fragen, welche nur er beantworten könne. Ein zweiter Elf würde ihn auf seiner Reise begleiten, falls er das wünschte – nur, welchen Sinn ergab das, wenn er dem, was Hunter Predd wusste, nichts hinzufügen konnte?
Es war ganz einfach. Die Karte musste zu einer bestimmten Person gebracht werden, die sie untersuchen würde. Hunter sollte außerdem Allardon Elessedils respektvolle Grüße überbringen sowie seine Bitte, der Empfänger der Karte möge nach Arborlon kommen und dem Elfenkönig dabei helfen, die Wörter und die Zeichen der Karte zu übersetzen.
Natürlich gab es einen Haken an der Sache. Hunter Predd war das klar, er war ja kein Dummkopf. Der Elfenkönig hob ihn sich bis zum Schluss auf. Die Person, der der Flugreiter die Karte aushändigen sollte, war der Druide namens Walker, und das Ziel des Reiters war der Keep des Druiden in Paranor.
Walker. Sogar Hunter Predd, der selten die Küste der Blauen Spalte verließ, hatte von ihm gehört. Angeblich war er der letzte Druide. Er war eine düstere Figur in der Geschichte der Vier Länder, und man erzählte sich, er lebe bereits hundertfünfzig Jahre und sei immer noch jung. In den Zeiten von Wren Elessedil hatte er gegen die Schattenwesen gekämpft. Danach war er für einige Jahrzehnte verschwunden und vor etwa dreißig Jahren wieder aufgetaucht. Der Rest dessen, was der Flugreiter über ihn wusste, lag noch mehr im Dunst. Es gab Gerüchte, denen zufolge Walker ein Zauberer war, der über gewaltige magische Kräfte verfügte. Angeblich hatte er versucht, einen Konvent abzuhalten, und war damit gescheitert. Außerdem hieß es, er wandere noch immer durch die Vier Länder und sammle Wissen und werbe Jünger an. Jeder fürchtete ihn und misstraute ihm.
Nur Allardon Elessedil nicht, wie es schien, der darauf bestand, dass Angst und Misstrauen ungerechtfertigt seien. Walker wäre ein Historiker und Akademiker, erklärte er, und besitze vor allem vielleicht als Einziger die Fähigkeit, die Zeichnungen und Wörter auf dieser Karte zu entziffern.
Nachdem Hunter Predd kurz darüber nachgedacht hatte, übernahm er die Aufgabe, allerdings nicht aus Pflichtgefühl oder Sorge; seine Gefühle für den Elfenkönig grenzten an Desinteresse. Er übernahm sie nur deswegen, weil der König ihm versprochen hatte, als Belohnung für seine Mühen würde eine Insel südwestlich des Irrybisgebirges in den Besitz des Schwingenhorstes übergehen, welche die Flugreiter schon lange begehrten. Ein fairer Preis, dachte Hunter, als er das Angebot hörte. Die Gelegenheit war gut, der Lohn war es wert, und das Risiko erschien nicht übermäßig groß.
Eigentlich sah er überhaupt kein Risiko, ganz gleich, aus welchem Blickwinkel er es betrachtete. Möglicherweise erzählte ihm der Elfenkönig nicht alles; ja, im Grunde war sich Hunter Predd dessen sicher. So waren Herrscher nun einmal. Trotzdem hätte der König nichts gewonnen, wenn er ihn in den Tod schickte. Bestimmt wollte Allardon Elessedil erfahren, was denn nun auf der Karte stand – insbesondere, wenn der Schiffbrüchige, bei dem er sie gefunden hatte, tatsächlich sein Bruder war. Ein Druide wäre vielleicht in der Lage, das herauszufinden, wenn er tatsächlich so gebildet war, wie der König behauptete. Hunter Predd kannte keinen Flugreiter, der je persönlich mit diesem Druiden zu tun gehabt hätte. Auch hatte er von keinem seiner Leute scharfe Worte gegen ihn gehört. So wägte er Gefahren und Belohnung gegeneinander ab und kam zu dem Schluss, die Gelegenheit wahrzunehmen sei wirklich das Beste.