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Die Welt nach der Apokalypse ist ein riskanter und lebensfeindlicher Ort. Die größte Gefahr für die letzten überlebenden Menschen sind schreckliche Wesen, die seit der Katastrophe die Erde bevölkern: fürchterliche Monstren und mächtige Dämonen. Nun ruhen die letzten Hoffnungen der Menschheit auf den legendären Elfen von Cintra. Doch die halten sich in den Wäldern von Oregon verborgen und scheinen nicht gewillt, ins Geschehen einzugreifen ...
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Seitenzahl: 686
Terry Brooks
Die Shannara-Chroniken
Die Elfen von Cintra
Roman
Deutsch von Michael Nagula
Buch
Die Welt nach der Apokalypse ist ein riskanter und lebensfeindlicher Ort. Die größte Gefahr für die letzten überlebenden Menschen sind jedoch nicht die veränderten Lebensbedingungen, sondern jene schreckliche Wesen, die seit der Katastrophe die Erde bevölkern: fürchterliche Monstren und mächtige Dämonen. Und so ruhen die letzten Hoffnungen der Menschheit auf den legendären Elfen von Cintra. Doch die halten sich in den Wäldern von Oregon verborgen und scheinen nicht gewillt, ins Geschehen einzugreifen ...
Autor
Im Jahr 1977 veränderte sich das Leben des Rechtsanwalts Terry Brooks, geboren 1944 in Illinois, USA, grundlegend: Gleich der erste Roman des begeisterten Tolkien-Fans eroberte die Bestsellerlisten und hielt sich dort monatelang. Doch "Das Schwert von Shannara" war nur der Beginn einer atemberaubenden Karriere, denn bislang sind mehr als zwanzig Bände seiner Shannara-Saga erschienen.
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Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Genesis of Shannara 2: The Elves of Cintra« bei Ballantine Books, New York.
Der vorliegende Roman ist bereits 2008 im Goldmann Verlag und im Blanvalet Verlag unter dem Titel „Die Großen Kriege 2 – Die Elfen von Cintra“ erschienen.
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1. Auflage Copyright der Originalausgabe © 2007 by Terry Brooks Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München Redaktion: Waltraud Horbas Covergestaltung und Artwork: Melanie Miklitza, Inkcraft HK • Herstellung: at
eISBN 978-3-641-18126-0V001
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Für meine Schwester Lauriein Bewunderung und Liebe.
Logan Tom hatte sich aus den unteren Ebenen des Lagers nach oben gekämpft und wollte gerade die Treppe zur Mauer hinaufstürmen, als die Schreie begannen. Jäh und schrill waren sie, angefüllt von Entsetzen und Angst. Logan erstarrte innerlich. Es war unmöglich zu sagen, was sich da oben zutrug, aber er verdoppelte sofort sein Tempo, preschte los und gab sein verstohlenes Schleichen auf, schlug alle Warnungen in den Wind.
Wenn er zu spät kam …
Wenn sie Hawk und Tessa schon von der Mauer geworfen hatten …
Wenn, wenn, wenn!
Die Worte brannten in seinen Gedanken wie glühende Kohle. Er durfte nicht zu spät kommen. Nicht, nachdem er einen so weiten Weg zurückgelegt hatte und sein Ziel schon zum Greifen nahe war. Er hätte Hawk nie allein im Lager zurücklassen dürfen. Er hätte einen Weg finden müssen, ihn herauszuholen, als er die Chance dazu hatte. Dass er sich darauf verlassen hatte, ihn jetzt noch befreien zu können, war heller Wahnsinn, und jeder Mensch mit auch nur einem Funken Verstand hätte das gewusst!
Er rannte so schnell er konnte, den schwarzen Stab schlagbereit vor sich, voll konzentriert. Auf dem Weg nach oben kam er an Dutzenden von Lagerbewohnern vorbei, und obwohl sich einige umdrehten und ihm nachschauten, versuchte niemand ihn aufzuhalten. Vielleicht sahen sie an seinem Blick, dass es nicht ratsam war, sich ihm in den Weg zu stellen – aus welchem Grund auch immer. Wenn sich auch nur ein Bruchteil seines Zorns in seinen Augen spiegelte, so war die Warnung deutlich genug.
Er war die Treppe nun ganz hinaufgerannt und stand draußen. Ein Sportfeld breitete sich unter ihm aus. Die Zuschauerplätze waren in diesem Abschnitt schon vor langer Zeit herausgerissen worden, um provisorischen Behausungen Platz zu machen, und er fand sich zwischen einigen kleineren Häusern wieder, aus Ziegelsteinen und Holz errichtet, die jeweils ein Stockwerk hoch gebaut waren. Sie brannten sich in seine Gedanken ein, als er zwischen ihnen dahinstürmte, auf Wegen, die eigens dafür freigelassen worden waren, und bis zur Kuppe hinaufrannte.
Doch etwas Unerwartetes geschah. Jene, die sich auf den Mauern versammelt hatten, um zu beobachten, wie das Todesurteil an Hawk und Tessa vollstreckt wurde, eilten fast ebenso schnell nach unten, wie er nach oben rannte. Er blieb wie angewurzelt stehen, stemmte sich gegen den Strom und versuchte anhand der Wortfetzen, die zu ihm drangen, zu erraten, was geschehen war.
»… hat es noch nicht gegeben, das Werk eines Dämons, wenn ich je eines sah – hast du dieses Licht gesehen …«
»… gleißend hell wie eine Fackel oder vielleicht ein …«
»… war kein bisschen mehr von ihnen zu sehen, und dann wurde es wieder dunkel, und man konnte unten erkennen …«
Logan eilte in den Schutz einer engen Gasse, die einen Fußweg zwischen den Hütten bildete, und wartete darauf, dass der Hauptschwung vorüberging. Was auch immer geschehen war, es war jetzt vorbei. Aber was war geschehen?
Er schnappte sich einen jungen Mann, der dicht genug an ihm vorbeikam, und zog ihn aus der Menge. Logan hob dessen Gesicht nahe an seines. »Sag mir, was passiert ist. Warum laufen alle davon?«
Der junge Mann starrte ihn kurz an und sah etwas, was ihm vielleicht noch mehr Angst machte als das, was er auf der Mauer gesehen hatte. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch nichts heraus. Dann riss er sich los und warf sich wieder in die wogende Menge der Flüchtlinge.
Logan verließ den Hauptpfad und arbeitete sich auf Umwegen zwischen den Hütten hinauf. Er lief so schnell, wie es die schmalen Durchgänge erlaubten, wich Hindernissen aus oder schlug sie zur Seite. Eimer, Besen, Töpfe und andere Küchenutensilien flogen umher, und das Zorngebrüll ihrer Besitzer folgte ihm. Zu einem anderen Zeitpunkt und unter anderen Umständen hätte er mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Doch die meisten Lagerbewohner kamen jetzt von den Mauern herunter oder schoben sich zu den vorderen Toren, weil sie unbedingt sehen wollten, was dort draußen los war.
Nicht der Junge, betete er. Nicht das Mädchen.
Er erreichte die oberen Ebenen, wo es weniger Gebäude gab, eine Folge des Windes und der Kälte, die den Aufenthalt dort nicht gerade erstrebenswert machten. Der Gestank der Bewohner wich dem Geruch nach Fisch und Algen, die auf dem Wasser trieben, und die Dunkelheit verdichtete sich, als er die Feuer und strombetriebenen Lichter hinter sich ließ. Die wenigen Lichter, die es hier oben gab, wiesen den Weg zu den Toren und Mauern. Das Durcheinander der Hütten und Gassen lag nun hinter ihm, und die Menschenmenge war größtenteils schon an ihm vorbeigerauscht, als er an den hohen Mauern entlang bis zu der Öffnung schlich, die zu dem einstigen Gewerbegebiet führte. Dort fand er weitere Gebäude vor, die gleichen provisorischen Hütten, diesmal vorwiegend für Lagerzwecke gedacht, nicht zum Wohnen. Einige Lagerbewohner standen noch vereinzelt auf der Mauer und blickten zwischen den Zinnen hinunter. Er wählte ein Mädchen aus, das ihm den Rücken zuwandte und etwas betrachtete, was sich draußen am Fuß der Mauern befand.
»Wo sind der Junge und das Mädchen?«, fragte er und ging zu ihr.
Sie drehte sich um und blickte ihn an. Das Mädchen war nicht älter als vierzehn oder fünfzehn und verzog das sommersprossige Gesicht, als hätte sie etwas Unangenehmes verschluckt. »Was?«
»Der Junge und das Mädchen«, wiederholte er. »Was ist mit ihnen passiert?«
Sie zögerte. »Haben Sie es nicht gesehen?«
»Ich war nicht hier. Sag’s mir.«
»Also, wow, was ist eigentlich nicht passiert! Es war einfach unglaublich! Sie haben sie runtergeworfen – die Wächter haben sie runtergeworfen, wissen Sie. Sie flogen einfach hinunter wie – wie Vogelscheuchen oder Sandsäcke. Dann tauchte plötzlich ein Licht auf, ein strahlendes Licht. Es kam direkt aus dem Nichts und verschlang sie. Als das Licht verschwand, waren sie auch weg.«
Sie schaute kurz über ihre Schulter zu dem geröllbedeckten Pflaster, als wollte sie sich noch einmal vergewissern. »So etwas habe ich noch nicht gesehen. Niemand weiß, was eigentlich passiert ist.« Sie wandte sich ihm wieder zu. »Ich habe gehört, wie ein Mann sagte, es wäre Dämonenzauber gewesen! Was meinen Sie?«
Logan wusste nicht, was er davon halten sollte. »Nein«, sagte er. »Schien das Licht von einem der beiden auszugehen – vielleicht von dem Jungen?«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr langes, sandfarbenes Haar kräuselte sich im Halbdunkel, und sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Nein, es kam von nirgendwo. Es blitzte einfach mitten in der Luft auf und umgab sie. Danach konnte man sie nicht mehr sehen. Alle waren ganz aus dem Häuschen! Es war wundervoll!«
Er nahm sich etwas Zeit, um zu überlegen, was das wohl bedeuten mochte. Die logische Erklärung war, dass Hawks Magie – die wilde Magie des Zigeunermorphs – sich unerwartet Ausdruck verschafft hatte. Aber wenn das Mädchen recht hatte, wenn es nicht Hawks Magie gewesen war, die sich auf unbekannte Weise manifestiert hatte, dann musste es sich um einen fremden Zauber gehandelt haben. Doch woher sollte ein solcher Zauber kommen? Waren Hawk und Tessa gerettet worden oder vom Regen in die Traufe geraten? Er wusste, dass er die Antwort hier nicht finden würde.
»Heh, Mister, kenne ich Sie nicht irgendwoher?«, fragte das Mädchen ihn plötzlich.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Sie kommen mir aber bekannt vor.«
Er spähte von der Mauer hinunter ins Geröll. Dort war jetzt nichts mehr, nicht einmal die Fresser. Was auch immer geschehen war, es hatte ihren Plan vereitelt, die Verbindung aus Magie und Lebenskraft, die bei Hawks Tod freigesetzt worden wäre, in sich aufzunehmen. All diese Fresser, dachte er, in Windeseile verschwunden.
Das Mädchen lehnte sich an das Geländer neben ihm und musterte sein Gesicht. Sie musste ihn gesehen haben, als er früher am Tag das Lager aufgesucht hatte. Sie würde sich bald daran erinnern. Es wurde Zeit zu gehen.
Plötzlich schweifte ihr Blick ab. »Sehen Sie sich das an. Sehen Sie all diese Lichter da draußen auf dem Wasser? Wie eine Million kleiner Feuer oder so.«
Er blickte in die Richtung, in die sie deutete, und dort sah er etwas, was sie nicht sehen konnte: Fresser, die sich am Ufer drängten, eine wogende Horde dunkler Leiber, die sich wanden und krümmten in dem Bemühen, dichter an das heranzukommen, was sich da auf dem Wasser näherte. Er blickte zu den Lichtern hinüber. Es waren Hunderte, und zunächst ergaben sie keinen Sinn für ihn, bis er die Trommeln vernahm. Ihm wurde eiskalt.
Fast im selben Moment wurde irgendwo weiter hinten auf den Mauern des Lagers in ein Horn geblasen, hoch oben in einem Wachturm, und es war ein trauriges Wehklagen, das in jeder Sprache Gefahr verkündet hätte. Noch jemand hatte die Lichter entdeckt und wie Logan begriffen, was sie bedeuteten.
Er wandte sich von dem Mädchen ab. »Ich muss jetzt weiter. Danke für deine Hilfe.«
»Klar. Waren Sie nicht schon mal hier …?«
Er schnellte zurück und unterbrach sie mit einer harschen Geste. Es war eine impulsive Handlung, geboren aus Frustration und Verzweiflung. Er hatte es satt, dass Menschen starben. »Los! Such deine Eltern und deine Geschwister und alle Leute, die dir wichtig sind, und bring sie hier weg. Sag es jedem, dem du begegnest. Diese Lichter stammen von Booten mit einer Armee, die dieses Lager angreifen und besiegen wird.«
Sie wollte etwas sagen, doch er packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Nein, hör mir einfach nur zu. Ich weiß, wovon ich rede. Ich kenne diese Armee. Ich habe schon gesehen, wozu sie im Stande ist. Verschwinde hier, sofort, selbst wenn dich keiner begleiten will. Ich weiß, dass du dich dagegen sträubst, aber tu’s. Hör auf mich. Wenn du bleibst, wirst du sterben.«
Er ging davon, und sie starrte ihm nach, die Augen groß, das Gesicht starr vor Entsetzen und Fassungslosigkeit. Er hatte keine Zeit mehr für das Mädchen, konnte nichts mehr für sie tun. Sie würde ihm glauben oder auch nicht. Wahrscheinlich nicht. Sie glaubten es selten, keiner von ihnen. Sie glaubten, dass sie im Lager so sicher wären wie in Abrahams Schoß. Sie glaubten, dass es draußen im Freien viel gefährlicher wäre. Keiner von ihnen verstand es. Erst, wenn es zu spät war. Deshalb wurden sie auch ausgelöscht. Das war der Grund, weshalb die menschliche Rasse dem Untergang geweiht war.
Zu seiner Überraschung kam sie hinter ihm her, packte ihn am Arm und zog ihn herum. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder? Dass so etwas geschehen wird? Das stimmt doch alles nicht, habe ich recht?«
Er musterte sie einen Moment. »Wie heißt du?«
»Meike«, antwortete sie unsicher.
»Also, dann hör mir genau zu, Meike. Alles, was ich gesagt habe, ist wahr. In diesen Booten sitzen Verrückte. Sie waren einmal Menschen, wie die Männer und Frauen in diesem Lager. Aber sie haben ihre Menschlichkeit abgelegt, um Dämonen zu dienen, die uns alle vernichten wollen. Sie töten Menschen oder stecken sie in Sklavenlager. Das haben sie überall getan, im ganzen Land. Sie werden es auch hier tun. Die Lagerleiter glauben, dass sie ihnen standhalten können, dass sie hinter ihren Mauern sicher sind. Aber das haben schon andere Lager gedacht, und sie sind am Ende alle gescheitert. Auch dieses Lager wird scheitern.«
»Ich habe keine Eltern oder Geschwister mehr«, sagte sie. Sie strich sich über das lange Haar, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe niemanden. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wohin soll ich gehen?«
Plötzlich wünschte er, er hätte es ihr nicht gesagt. Er hatte sie damit nur halb zu Tode geängstigt. Was bedeutete es schon, wenn er hier ein Leben rettete, gemessen an dem, was sich abspielen würde? Selbst wenn sie dem Gemetzel entkam, weil er sie gewarnt hatte, was spielte das für eine Rolle? Sie würde dann eben auf dem Land sterben statt in der Stadt, nichts anderes. Er wurde auf einmal sehr wütend auf sich selbst. Genau das war sein Problem, dass er immer wieder Leute wie sie retten wollte. Er vergeudete seine Zeit, statt das zu tun, weshalb er gekommen war – den Zigeunermorph zu finden.
Er sah sie kurz an und schüttelte den Kopf. »Geh irgendwohin, Hauptsache, weg von der Stadt. Geh aufs Land. Halte nach anderen Ausschau, die dich vielleicht begleiten wollen. Zu mehreren seid ihr sicherer.«
Er wandte sich abrupt ab und schritt den Gang zu den Treppen hinab, entschlossen, von hier zu verschwinden, bevor ihn jemand erkannte. Wenn er identifiziert wurde, würde das alles erheblich komplizierter machen.
»Mister!«, rief sie ihm nach.
Er achtete nicht auf sie, sondern ging schneller, lief bewusst davon und erreichte die Treppe, eilte hinunter, indem er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Die Menge hatte sich zerstreut. Er konnte sie unten an den Toren hören, wie sie verwirrt umeinanderwogte, während der Mann auf dem Wachturm weiter zur Warnung ins Horn stieß. Schon bildeten sich Einheiten von Verteidigern auf dem Exerzierplatz an einem Ende des Feldes, Soldaten trugen Waffen herbei, kleideten sich in leichte Rüstung und legten Munitionsgürtel um. Gut ausgebildet und organisiert würden sie der Gefahr entgegentreten. Sie würden versuchen, die Eindringlinge im Hafen aufzuhalten und ihre Landung zu verhindern. Sie würden scheitern und sich dann durch die Straßen zum Lager zurückziehen, wo sie sich sicher fühlten. Sie waren jedoch nicht in Sicherheit; es war ihr Verhängnis. Aber das ging ihn nichts mehr an. Die Kämpfe im Hafen und in den Straßen würden die ganze Nacht andauern. Morgen würde er schon weit weg sein.
Er schaute vor sich auf die Massen der Lagerbewohner, die seinen Weg kreuzten. Er sollte zu den unteren Ebenen zurückkehren und durch den unterirdischen Gang nach draußen verschwinden. Panther wartete auf ihn. Gemeinsam würden sie die anderen Ghosts aufsuchen und überlegen, wohin sie sich wenden sollten, um dem, was sich hier bald abspielen würde, zu entgehen.
Aber wie um alles in der Welt, überlegte er, sollte er nur herausfinden, was aus Hawk geworden war?
Er eilte durch die Arena in das Gebäudeinnere und lief einer Einheit Lagerverteidiger in die Arme, die gerade herausgestürmt kam.
»Keinen Schritt weiter«, sagte einer der Männer und deutete mit seiner Waffe auf Logan.
Panther duckte sich zwischen die Trümmer am Rand des Pioneer Square und wartete ungeduldig. So viel war geschehen, seit Logan Tom sich ins Lager begeben hatte, und das meiste war ihm ein Rätsel. Er hatte seinen Auftrag ausgeführt, war zu den Eingangstoren gegangen und hatte für die Ablenkung gesorgt, die Logan benötigte. Er hatte gute Arbeit geleistet, zu den Wachen hinaufgebrüllt und verlangt, dass sie Hawk frei ließen, dass man ihm erlaubte, mit ihm zu reden, dass sie ihm zu essen gaben. Er wollte es so aussehen lassen, als wäre er ein halb verrücktes Straßenkind, und er musste wohl erfolgreich gewesen sein, denn die Wachen auf der Mauer hatten ihn ausgelacht. Nachdem er seiner Einschätzung nach doppelt so lange zu ihnen hinaufgebrüllt hatte, wie Logan benötigte, um sich an ihnen vorbei zu dem alten Transportschuppen zu schleichen, der ihm Zugang zum Lager gewähren würde, hatte er sich davongemacht und war wieder an den Ort zurückgekehrt, an dem er seinen Anweisungen gemäß warten sollte, hatte sich ein Versteck gesucht und es sich darin bequem gemacht.
Lange Zeit war nichts geschehen. Dann hatte er den Lichtschein an den Toren gesehen und die Rufe derer gehört, die sich auf der Mauer versammelten, aber nicht gewusst, was es bedeutete. Er hatte überlegt, ob er sich eine bessere Position suchen sollte, eine, die näher an den Toren war, um herauszufinden, was los war. Doch er sah das Risiko, dass, wenn Logan Tom mit Hawk zurückkehrte und ihn nicht finden konnte, sie ihn vielleicht zurückließen. Also war er geblieben, wo er war, frustriert und gereizt. Es wurde dunkler, bis nur noch ein fahles Licht den Westhimmel erhellte und die Lampen im Lager angezündet wurden. Wieder verstrich Zeit, und er stellte fest, dass er sich immer unbehaglicher fühlte.
Dann erspähte er durch Lücken zwischen den Gebäuden der Stadt Lichter draußen auf dem Wasser. Er starrte dorthin, ohne sagen zu können, wie viele es waren oder welchen Ursprung sie wohl hatten. Sie schienen sich zu bewegen und näher zu kommen. Vielleicht waren es Boote, überlegte er. Aber was hatten Boote nachts in der Bucht zu suchen, und wer sollte an Bord sein?
Als oben auf der Mauer des Lagers ein Horn erklang, verwirrte ihn das noch mehr. Er hörte nicht zum ersten Mal den Klang der Hörner, und so wusste er, dass das immer Probleme ankündigte, vor einer Bedrohung des Lagers und seiner Bewohner warnte. Aber war in das Horn gestoßen worden, weil jemand die Lichter gesehen hatte oder weil Logan Tom entdeckt worden war? War es ein Ruf zu den Waffen, als Reaktion auf Hawks Rettung durch den Ritter des Wortes?
»Verdammter Mist«, raunte er.
Er sackte in den Schatten zurück und beobachtete, ob sich jemand vom Lager dem Platz näherte, suchte nach Bewegung zwischen den Trümmern. Niemand zeigte sich. Wieder dachte er daran, näher heranzuschleichen, um herauszufinden, was los war. Panther war nicht gut im Warten; wenn er wartete, fühlte er sich immer verwundbar.
In den Straßen hinter ihm rührte sich etwas, dunkle Gestalten erschienen aus einem der in Trümmern liegenden Gebäude. Panther sah sie aus dem Augenwinkel und erstarrte. Er konnte nicht sagen, ob sie auf all den Lärm und das rege Treiben im Lager reagierten. Aber etwas hatte sie ins Freie gelockt. Er zählte nahezu ein Dutzend, viel zu viele, um es mit ihnen aufzunehmen.
Dann, als er zusah, wie sie sich aus dem Schatten des Gebäudes lösten, erkannte er, was sie waren.
Krächzer.
Obwohl er in der Dunkelheit ihre Umrisse nicht erkennen konnte, waren die seltsamen, ruckartigen Bewegungen, die sie beim Gehen machten, unverkennbar. Fleischfresser, Monster, die auf der Jagd nach Nahrung waren. Er blieb ganz reglos und versuchte sie kraft seines Willens dazu zu bringen, eine andere Richtung einzuschlagen.
Aber als sie sich in kleinere Gruppen aufteilten, kamen zwei von ihnen geradewegs auf ihn zu.
»Was hast du hier zu suchen?«, fragte der Lagersoldat und hielt die Waffe auf Logan gerichtet. »Du kennst die Regeln. Alle gesunden Männer müssen sich bei ihren Einheiten aufhalten. Und du machst auf mich einen ziemlich gesunden Eindruck.«
Logan hatte nur zwei Möglichkeiten. Er konnte über das Verhältnis, in dem er zum Lager stand, lügen und hoffen, dass die Männer ihm glaubten, oder er konnte die Wahrheit sagen und hoffen, dass sie ihn dennoch durchließen. Inzwischen blickten sie ihn alle an, und die meisten hatten ihre Waffen erhoben. Es war ein gefährlicher Moment; alle waren nervös wegen des Hörnerschalls, und irgendwie lag die Erwartung schlimmer Ereignisse bereits in der Luft.
»Ich gehöre zu keiner Einheit«, sagte er. »Ich lebe nicht hier. Bin nur auf Besuch. Man hatte mich eingeladen, der Hinrichtung des Jungen und des Mädchens beizuwohnen.«
»Der Hinrichtung beizuwohnen?« Der Sprecher musterte ihn. »Wer hat dich eingeladen?«
Logan konnte sich an den Namen des Lagerführers nicht erinnern. Er zuckte mit den Achseln. »Irgendeiner der Chefs.«
»Heh, warst du nicht vorhin an den Toren und hast darum gebeten, den Jungen sehen zu dürfen?«, fragte einer der anderen.
Logan knirschte mit den Zähnen. »Er ist ein alter Bekannter von mir. Ich habe mit seiner Familie zu tun gehabt und wollte ihm Nachricht von ihr bringen.«
Niemand sagte etwas, aber der Blick ihrer Augen verriet ihm, dass sie ihm nicht glaubten. Ganz offensichtlich machte er alles noch schlimmer. Aber er hatte keine andere Wahl. Er durfte nicht zulassen, dass sie ihn weiter gefangen hielten.
»Ich bin ein Ritter des Wortes«, sagte er schließlich. »Ich bin aus den Gründen hier, die ich euch nannte, ob ihr mir nun glaubt oder nicht. So oder so, ich gehöre nicht hierher; ich gehöre auf die Straße. Euer Lager ist in Gefahr. Im Hafen ist eine Invasionsflotte gelandet. Statt hier herumzustehen, solltet ihr unten an den Docks sein und versuchen, sie aufzuhalten.«
»Erzähl mir nicht, was ich zu tun habe!«, fuhr der erste Sprecher ihn zornig an. »Du hast uns nichts zu befehlen!«
»Bitte senkt eure Waffen«, entgegnete Logan ruhig.
Die Leute gingen langsamer, als sie die Auseinandersetzung bemerkten. Sie spürten, dass etwas nicht stimmte. Nicht mehr lange, und der Gang wäre so vollgestopft mit Gaffern, dass Logan keine Möglichkeit mehr zur Flucht blieb. Und er wusste bereits, dass er würde fliehen müssen.
»Wenn du etwas über den Jungen weißt, dann weißt du vielleicht auch, was sich oben auf den Mauern abgespielt hat«, verkündete der Sprecher, die Waffe weiter auf Logan gerichtet. »Ich denke, du solltest das alles besser unserem Kommandanten erzählen. Der kann dann entscheiden, was aus dir werden soll.«
Der schwarze Stab brannte in Logans geballter Faust. Schon floss seine Magie durch ihn, so heiß und flüssig wie Blut. Die Runen, die in das harte Holz des Stabes eingeschnitzt waren, begannen leicht zu glühen.
»Dafür habe ich keine Zeit«, sagte er zu dem Wortführer. »Lasst mich durch.«
Die Waffen blieben auf ihn gerichtet, und er hörte das Klicken und Einrasten von entriegelten Sicherungen und Schlagbolzen. Idiotisch, dachte er und meinte damit ebenso die Männer wie sich selbst.
Sein Arm schwang in einer raschen Bewegung nach oben, und im gleichen Moment wehrte die Magie die Kugeln ab, die auf ihn abgeschossen wurden, während seine Angreifer zurückgeschleudert wurden und wild durcheinander und atemlos am Boden liegen blieben. Er drehte sich um und rannte durch eine Menge, die bei seinem Anblick auseinanderstob. Er ließ jeden Gedanken daran fallen, durch die Eingangstore zu verschwinden, und wandte sich stattdessen den Gängen zu, durch die er gekommen war. Es gab noch einige andere, die ihn aufhalten wollten, doch er stieß sie mühelos zur Seite, ohne überhaupt langsamer zu werden, und versuchte in die Deckung des Treppenschachtes zu gelangen und nach unten zu rennen.
Innerhalb von Sekunden hatte er die unteren Stockwerke erreicht und stürmte durch die Korridore, die zu den Gängen führten. Hinter sich hörte er Geschrei, den Lärm einer Verfolgerschar, die sich sammelte. Er hörte das Trampeln der Menschen, die hinter ihm die Treppe hinabrannten. Er verlangsamte sein Tempo nicht. Er hätte gern Gelegenheit gehabt, sich an den Eingangstoren nach einer Spur von Hawk und Tessa umzusehen, aber dafür war jetzt keine Zeit mehr. Außerdem wusste er tief in seinem Innern, dass etwas geschehen war, was sie spurlos hatte verschwinden lassen. So war das mit der Magie – und inzwischen war er überzeugt, dass es Magie war –, sie machte reinen Tisch mit allem, was unter ihren Einfluss geriet.
Er erreichte den Eingang zu den unterirdischen Gängen und passierte ihn, wobei er aufgrund der Dunkelheit nun etwas langsamer wurde und sich von dem Leuchten der Runen in seinem Stab führen ließ. Die Dunkelheit war umfassend, aber nicht undurchdringlich, und seine Augen gewöhnten sich rasch daran. Er bewegte sich so schnell wie möglich durch die Gänge, musste sich aber genug Zeit lassen, um sicherzugehen, dass er nicht die falsche Abzweigung nahm. Ihm wurde bewusst, dass ihm niemand mehr folgte. Sie haben aufgegeben, dachte er, und sich wichtigeren Dingen zugewandt. Beispielsweise eine Möglichkeit zu suchen, wie sie am Leben bleiben konnten.
Am Ende des Ganges und der Tür, die nach draußen zur Sammelunterkunft führte, blieb er kurz stehen und lauschte, um sich zu vergewissern, dass dort niemand auf der Lauer lag. Dann schlüpfte er hinaus und eilte die Treppe hinauf zu einer Stelle, an der er sich umschauen und in Erfahrung bringen konnte, was sich abspielte.
Die Ebene um das Lager herum war voller Menschen, die durch die Tore strömten und sich die Straßen hinunter auf die Bucht zubewegten, alle in schwerer Rüstung und bewaffnet. Zwei alte mobile Scorpion-Angriffsfahrzeuge rumpelten hinterdrein, die großen Kanonenrohre nach vorne gerichtet. Derartige Modelle hatte er seit seiner Zeit mit Michael nicht mehr gesehen, er hatte sie für ausgestorben gehalten. Sie verschossen Panzergranaten und Starburst-Behälter gleichermaßen. Mit einem einzigen Schuss konnten sie jedes der angreifenden Schiffe versenken, aber es würden viele einzelne Schüsse erforderlich sein, um etwas an der Lage zu ändern.
Draußen in der Bucht hielt das Dröhnen der Trommeln an, ein beständiges Pulsieren in der Nacht.
Er sah dem Treiben, das sich unablässig von ihm entfernte, eine Weile zu, dann glitt er aus der Deckung und bewegte sich über den trümmerbedeckten Boden bis zu der Stelle, an der Panther auf ihn warten sollte. Der schwarze Stab pulsierte sanft in seiner Hand, und die Hitze der Magie wogte noch immer in ihm. Ihm war gleichermaßen heiß und kalt, eine Reaktion auf die gemischten Gefühle, die in ihm tobten. Wenigstens war er nicht gezwungen gewesen, jemanden zu verletzen. Er wünschte, die Leute im Lager würden nur einmal auf seine Warnungen vor den Dämonen und Einst-Menschen hören. Es war zwar nicht sein Problem, aber er wünschte es sich trotzdem. Es war schon hart genug, die Sklavenlager ausfindig zu machen und zu zerstören, ohne zu wissen, dass jene, denen er die Freiheit schenkte, mühelos durch die Männer, Frauen und Kinder der Siedlungslager ersetzt werden konnten, Frischfutter für die Vernichtungsmaschinerie der Leere.
Selbst der Gedanke daran war ihm verhasst. Die Welt war dem Wahnsinn verfallen und hatte ihre Bewohner zu Opfern gemacht. Aber vielleicht konnte der Junge namens Hawk, ein aus wilder Magie geborener Zigeunermorph, etwas daran ändern.
Er erreichte den Rand des Pioneer Square und erwartete, Panther dort vorzufinden, doch es fehlte jede Spur von ihm. Er rief leise seinen Namen, wohl wissend, dass die Lagerbewohner ihn wahrscheinlich nicht einmal hören würden, wenn er laut brüllte, aber Vorsicht war oberstes Gebot. Keine Antwort. Er blickte sich um. Nichts rührte sich.
Er stand allein auf der leeren Straße und fragte sich, was er als Nächstes tun sollte.
Sparrow rannte über das Dach ihres Gebäudes, in der Absicht, die Treppe zu erreichen und so schnell wie möglich auf die Straße unten zu gelangen. Im selben Moment, in dem sie begriffen hatte, was es mit den Lichtern auf dem Wasser auf sich hatte, war ihr klar geworden, in welcher Gefahr sie alle schwebten. Die Invasoren würden eine Weile brauchen, um an Land zu kommen, aber unmittelbar darauf würden sie die Jagd auf Streuner wie sie eröffnen. Sie hatte die Geschichten ihrer Mutter gehört und die Folgen gesehen. Die Menschenjäger waren schlimme Wesen, behaarte Bestien mit Klauen und Fängen, Raubtiere. Straßenkinder waren ihre bevorzugte Beute. Die anderen Ghosts mussten gewarnt werden.
Doch gerade als sie die Treppe erreichte und hinabeilen wollte, hörte sie hinter sich Schritte. Sie waren schwer und klobig und laut. Sie verharrte an Ort und Stelle und lauschte. Die Schritte gehörten keinem Ghost und auch nicht dem Ritter des Wortes. Sie waren überhaupt nicht menschlich, fügte sie rasch im Geiste hinzu.
Sie wich von der Öffnung zurück, und ihre Hände umklammerten ihre dünne Metallstange. Dann hörte sie tiefe, kehlige Stimmen unten aus der Dunkelheit, Stimmen, die rau genug waren, um selbst dieses emsige Treiben zu übertönen, und erstarrte.
Krächzer.
Ihre Gedanken überschlugen sich, während sie überlegte, was sie nun tun sollte. Sie wollte sich nicht an Krächzern vorbeikämpfen. Sie waren langsam und nicht besonders schlau, aber enorm stark. Wenn sie ihnen in die Hände fiel, war sie erledigt. Sie blickte in die Dunkelheit des Treppenschachts und wich noch einige Schritte zurück. Sie wusste nicht, ob sie das Risiko auf sich nehmen sollte, in ein tieferes Stockwerk zu gelangen, wo sie sich vielleicht besser verstecken konnte, oder ob sie bleiben sollte, wo sie war. Mit etwas Glück verloren sie das Interesse und verschwanden. Wenn nicht und sie kamen zu ihr herauf, stand ihr Ärger bevor. Sie blickte sich rasch um. Das Dach war leer und fast vollkommen eben, abgesehen von einigen mechanischen Aufbauten und den Trümmern ihres Wasserauffangsystems. Sie konnte sich praktisch nirgendwo verstecken. Hilflos wandte sie sich wieder den Treppen zu. Es gab keinen anderen Weg vom Dach herunter.
Oder doch?
Sie rannte zum Rand des Gebäudes und sah auf eine Gasse hinunter. Eine Feuerleiter war mit starken Bolzen am Beton befestigt, ein schmaler Metallstreifen, fast unsichtbar in der Dunkelheit. Sie starrte einen Moment darauf und blickte dann zum Wasser, auf dem die Lichter der Invasionsflotte näher kamen. Immer noch dröhnten die Trommeln in einem stetigen Rhythmus und kündeten von dem, was den Bewohnern der bedrohten Stadt bevorstand. Schon hatten sich die Tore der Siedlung geöffnet, und Scharen von Verteidigern stürmten zur Hafenanlage hinunter. Bald würde dort eine Schlacht entbrennen. Wenn das geschah, wären die Ghosts gut beraten, weit weg zu sein.
Sie strich sich über das dichte, strohblonde Haar und holte tief Luft. Sie hasste Höhe, aber alles war besser als eine Begegnung mit den Krächzern. Sie schlang sich den Trageriemen der Metallstange um die Schulter und trat auf die schmale, flache Plattform auf dem Gebäudesims, klammerte sich an das Geländer und begann hinunterzuklettern.
Sparrow wollte die Augen schließen, beschloss dann aber, den Blick stetig auf die Mauer des Gebäudes zu richten und sich ganz darauf zu konzentrieren, dass sie beim Hinuntersteigen auf jeder Sprosse Halt fand. Die Dunkelheit der Nacht erleichterte ihr das, weil der schmale Abgrund der Gasse fast nicht zu sehen war. Nicht einmal der Fackelschein vom Lager und aus der Bucht drang hier herein. Sie machte sich Mut, indem sie an ihre Kriegermutter dachte und daran, wie oft sie solche Fluchten organisiert hatte, als Sparrow klein gewesen war. Von einigen hatte ihre Mutter ihr erzählt, und gegen Ende hatte Sparrow an manchen sogar teilgenommen. Sie hatte gestaunt über die Ruhe ihrer Mutter angesichts eines so gewaltigen Druckes. Sie hatte in diesen Situationen gelernt, wie wichtig es war, die Fassung zu bewahren und zu erkennen, dass die größte Gefahr oft der eigenen Unsicherheit entsprang.
Sie hielt sich das vor Augen, während sie an der Gebäudeseite hinunterkletterte, eine Fliege an einer Wand in der Dunkelheit, und sich bemühte, nicht an die Folgen eines möglichen Sturzes zu denken.
Der Abstieg war viel kürzer, als sie erwartet hatte, und ihre Füße berührten den Boden, noch bevor sie begriff, dass sie ihn erreicht hatte. Sie trat von der Leiter weg, nahm die Metallstange von der Schulter und blickte sich wachsam um. Sie konnte nichts sehen oder hören. Die Gasse war leer. Rasch lief sie weiter und erreichte die Straße, spähte in die Nacht hinaus. Sie befand sich jetzt an der Seite des Gebäudes, und die Straße verlief vom Pioneer Square bis zum Hafen. Überall schienen sich Schatten zu bewegen, als Antwort auf die Feuer und die Trommeln.
Ein rascher Blick hinauf zum Dach zeigte ihr nichts.
Sie bog in die Straße zum Square ein, wollte den anderen Ghosts folgen und sie vor der Gefahr warnen. Sie war sich nicht sicher, was sie dagegen unternehmen konnten, bis der Ritter des Wortes mit Hawk zurückkehrte, aber wenigstens wären sie dann auf das vorbereitet, was kommen würde. Wütend über die Verspätung verfluchte sie die Krächzer, die sie zum Abstieg über die Leiter gezwungen hatten, mit den heftigsten Ausdrücken, die sie mit ihren dreizehn Jahren kannte. Was hatten Krächzer überhaupt in ihrem Gebäude zu suchen? Sie kannten die Regeln. Sie waren noch nie dort eingedrungen, hatten es nie gewagt. Sie mussten gesehen haben, wie die Ghosts abgezogen waren, und erkannt haben, dass das Gebäude nun leer stand. Es war eine erstrebenswerte Behausung, leicht zu verteidigen und sicher. Sie hatten wohl einfach beschlossen einzuziehen, nachdem es den Anschein gehabt hatte, als wären die Ghosts ausgezogen.
Aber einen oder zwei Tage hätten sie doch warten können, oder nicht?
Sie erreichte das Ende der Straße, wo sie auf den Pioneer Square traf, und bewegte sich vorsichtig, ließ den Blick durch die Dunkelheit wandern in dem Wissen, dass wenn sich im Gebäude Krächzer befanden, wohl auch außerhalb welche waren. Doch der Platz schien verlassen zu sein, und so bog sie nach Norden in die First Street ein, der die anderen gefolgt waren, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief.
»Sparrow! Warte!«
Beim Klang von Panthers Stimme schnellte sie herum und sah zu, wie er die leere Straße hinunter zu ihr gerannt kam, geduckt zwischen den Trümmern, die Eisenstange in der Armbeuge und heftig schnaufend; er musste die ganze Strecke vom Lager bis hierher gerannt sein. Etwas war geschehen, wenn er auf diese Weise zurückkehrte. Etwas Schlimmes.
Sie wollte danach fragen, als sie die dunklen Gestalten sah, die hinter ihm liefen, noch ein Stück zurück, aber ganz offensichtlich seine Verfolger. Weitere Krächzer.
»Verdammtes Pack!«, fauchte er zornig. »Haben mich die ganze Strecke verfolgt von –«
Sie zischte ihm eine Warnung zu. »Nicht so laut, Pussipanther! Drinnen sind noch mehr!«
Zu spät. Schwere Körper erschienen im Eingang ihres Gebäudes, den Blick auf sie gerichtet. Zerlumpte Gestalten mit stechenden Augen und Fingernägeln, die schon lange zu Klauen gewachsen waren, und Zähnen, spitz wie die wildlebender Tiere.
Sparrow gab Panther einen frustrierten Schubs. »Jetzt schau, was du mit deiner großen Klappe angerichtet hast. Setz dich in Bewegung!«
Sie eilten über den Platz, während an beiden Enden der Straße Krächzer auftauchten und sich ihnen näherten. Weder das Feuer noch die Trommeln schienen sie zu interessieren. Sie waren ganz auf ihre eigenen Angelegenheiten konzentriert, und Sparrow wusste, dass die Nahrungsfrage dabei Vorrang hatte.
»Wo ist Hawk?«, fragte sie, als sie auf die nächstgelegenen Gebäude zurannten. »Warum bist du allein zurückgekommen?«
»Keine Ahnung, was mit Hawk ist. Was mit diesem Ritter des Irgendwas ist, weiß ich auch nicht. Er hat mich am Rande des Platzes zurückgelassen und mir gesagt, ich soll warten, bis er wieder auftaucht. Er hat sich nicht mehr blicken lassen, aber dafür sind diese Krächzer aufgetaucht, und ich musste mich aus dem Staub machen. Sie sind überall. Hast du die Feuer auf dem Wasser gesehen?«
Sie blickte in sein dunkles Gesicht. »Ja, vom Dach aus. Es sind Boote voller Invasoren. Wenn es die sind, für die ich sie halte, stecken wir in großen Schwierigkeiten. Mama hat mir von ihnen erzählt. Einst-Menschen nannte sie sie. Sie zerstören alles und töten jeden bis auf die, die sie in ihre Sklavenlager verschleppen. Schlimmer als das Militär. Wir müssen die anderen warnen und von hier verschwinden.«
»Ganz deiner Meinung.« Plötzlich wurde er langsamer und ergriff ihren Arm. »Ah-oh.«
Zwei Krächzer waren vor ihnen aus einem Gebäude getreten und versperrten den Fluchtweg. »Was sind das für Wesen?«, entfuhr es Panther zornig. »Wochenlang sieht man nicht einen von ihnen, und dann sind sie auf einmal überall! Woher sind sie alle gekommen?«
Sparrow blickte sich kurz nach denen um, die ihnen folgten. Nur noch wenige Augenblicke, und sie würden sie erreicht haben. »Wir müssen an den beiden vorbei«, sagte sie. »Du nimmst den linken. Mach nichts Dummes, wenn möglich.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, warf sie sich auf den rechten, den Finger am Abzug des Eisenrohrs, die elektrische Ladung auf volle Kraft gestellt. Sie rammte dem Krächzer das Rohrende ins Bein, und der Krächzer stöhnte auf und begann unkontrolliert zu beben und zu zucken. Sparrow wich nicht zurück und hielt das Rohr weiter an Ort und Stelle, in dem Wissen, dass er sofort über ihr wäre, wenn sie nachgab. Links von ihr sah sie aus den Augenwinkeln, wie Panther heranstürmte und dem anderen Krächzer seine Metallstange mit solcher Wucht in den Hals rammte, dass die schwere Haut aufplatzte. Der Krächzer keuchte auf und versuchte dem Todesschlag zu entkommen, aber Panther setzte seine ganze Kraft ein, um ihn nach hinten und auf die Knie zu zwingen.
Innerhalb von Sekunden lagen beide Krächzer zuckend auf dem Betonboden. Sparrow ergriff Panthers Arm und zerrte ihn zum Durchgang des Gebäudes. »Hör auf, sie anzustarren! Lauf!«
Die Stangen im Anschlag, verschwanden sie im dunklen Korridor der Gasse.
Logan Tom nahm sich noch einige Minuten Zeit, um sich auf dem Trümmerfeld umzusehen, wo Panther auf ihn warten sollte, und gab dann auf. Er wusste nicht, was aus dem Jungen geworden war, aber er hatte nicht die Zeit, um es herauszufinden. Er musste zu den anderen Straßenkindern zurück und hoffen, dass Panther sich allein durchschlug. Vielleicht hatte ihm etwas Angst eingejagt. Das sah Panther zwar nicht ähnlich, aber man wusste ja nie. Was sich auch abgespielt haben mochte, er war nicht mehr hier.
Es sei denn, er konnte nur nicht antworten.
Logan wollte sich nicht mit dieser Möglichkeit befassen, aber ausschließen konnte er sie auch nicht. Er hasste den Gedanken, dass er den Jungen irgendwie im Stich gelassen hatte, dass er ihn mitgebracht hatte, damit er hier den Tod fand. Er lebte schon seit Jahren mit der Schuld, dass es ihm nicht möglich gewesen war, mehr für die Kinder in den Sklavenlagern zu tun. Es war wirklich nicht nötig, dass sich noch ein Name dieser Liste hinzugesellte. Seltsam. Er hatte Panther keine vierundzwanzig Stunden gekannt, und dennoch fühlte es sich viel länger an. Er mochte den dunkelhaarigen, mürrischen Jungen – mochte seine Aggressivität und die Bereitschaft, es gegen alles und jeden aufzunehmen. Vielleicht mochte er Panther deshalb so gern, weil er die Härte der Straßenkinder bewunderte.
Vielleicht erinnerte es ihn auch nur an sich selbst.
Er machte sich wieder auf den Weg zum Pioneer Square, gehetzt vom Klang der Trommeln in der Bucht und dem Marsch der Siedlungsverteidiger hinunter zum Hafen. Er scheute davor zurück, diese neue Verantwortung auf sich zu nehmen und sich um die Ghosts zu kümmern, sie dorthin zu treiben, wohin es ihn trieb. Dass er den Zigeunermorph verloren hatte, war ein grober Verstoß gegen seine Pflicht, ihn zu beschützen. Es war aber auch ziemlich schwer, etwas zu beschützen, das von einem Lichtball verschlungen worden war und sich jetzt wer-weiß-wo befand. Trotzdem, es jetzt mit der Familie des Morphs zu tun zu haben …
Er hielt inne und dachte über seine Wortwahl nach.
Es mit Hawks Familie zu tun zu haben, mit einem Haufen Straßenkinder, um die er sich kümmern sollte, war schon sehr ärgerlich. Es schränkte seine Bewegungsfreiheit ein. Was sollte er mit diesen Kindern, dem alten Mann und diesem Wolfshund anfangen, während er einen Weg zu finden versuchte, wie er Hawk auftreiben konnte?
Er erkannte, dass er sich den Morph, bevor er ihm von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hatte, nie als ein Kind vorgestellt hatte. Obwohl es für John Ross und Nest Freemark mit einem Kind begonnen hatte, obwohl er nach den ersten paar Wochen nie den Eindruck gehabt hatte, dass es sich um etwas anderes handelte, hatte er ihn nie so gesehen. Er hatte sich darüber eigentlich gar keine Gedanken gemacht. Als Two Bears ihn gebeten hatte, den Morph zu finden, hatte er das als eine Flucht vor dem betrachtet, was er schon so viele Jahre tat: die Lager anzugreifen, die Verteidiger zu töten, die Gefangenen zu befreien und – er zögerte, bevor er diesen Gedanken zu Ende dachte –, die Experimente zu zerstören, aus denen Dämonen geworden wären. Die Kinder. Er hatte geglaubt, dass er das alles hinter sich gelassen hätte. Er hatte gehofft, frei davon zu sein.
Nie hatte er sich vorgestellt, dass er sich eines Tages um einen Haufen Straßenkinder kümmern würde.
Aber wie bei so vielen Dingen in seinem Leben, schien er sich auch darin getäuscht zu haben.
Er eilte in den Schatten der Gebäude und in die dunkle Schlucht des Pioneer Square und versuchte, nicht zurückzublicken.
Owl hörte das Trommeln als Erste und warf einen Blick zurück, an River vorbei, die den Rollstuhl schob, zu dem dunklen Wasser der Bucht. Hunderte von Lichtern schimmerten auf der glatten Oberfläche, so weit das Auge reichte.
»Dreh mich um«, befahl sie dem dunkelhaarigen Mädchen.
River gehorchte. Die anderen Ghosts sahen, was geschah, und blieben stehen, um ihrerseits zu schauen. Bear zog den Karren langsamer, der mit ihrer Habe vollgepackt war, und Candle, die voranging, kehrte um. Fixit und Chalk, die auf einer behelfsmäßigen Trage den Wettermann beförderten, setzten ihn ab, streckten sich und rieben sich die müden Arme.
»Für einen alten Mann wiegt er schrecklich viel«, murmelte Chalk.
Owl hörte ihn nicht, weil ihre Aufmerksamkeit auf die Lichter gerichtet war. Fackeln, entschied sie. Mehr, als sie zählen konnte. Sie mussten an Bord der Boote brennen, was bedeutete, dass eine riesige Flotte vor der Stadt eingetroffen war. Und ganz offensichtlich waren ihre Absichten nicht friedlich.
Squirrel bewegte sich auf ihrem Schoß und nahm sein verschlafenes Gesicht von ihrer Schulter. »Sind wir da, Mama?«
»Noch nicht«, flüsterte sie.
Er schniefte und rieb sich die Augen. »Was ist das für ein Krach?«
»Nichts, was dir Sorgen bereiten müsste.« Sie strich ihm über das feine Haar. »Schlaf weiter.«
Sie sorgte sich um ihn. Es hätte ihm schon besser gehen und die Krankheit überwunden sein müssen. Aber er konnte sie offenbar nicht abschütteln, und trotz der Arzneien und der Pflege wurde er immer schwächer. Als sie aufgebrochen waren, hatte er nur drei Häuserblocks weit gehen können, dann war er erschöpft auf ihren Schoß geklettert. Sie hatte nichts dagegen gehabt, ihn zu halten; er wog kaum etwas.
Sie blickte auf sein blasses Gesichter hinunter. Sie wünschte, Tessa wäre da, um ihr einen Rat zu geben. Tessa kannte sich besser mit Arzneien und Krankheiten aus als jeder andere.
Candle stand neben ihr, das junge Gesicht angespannt und bekümmert. »Wir müssen fliehen«, sagte sie.
»Das ist ein Angriff«, erklärte Bear. Seine breite Gestalt blockierte den Karren, damit er nicht davonrollen konnte. »Das sind Kriegstrommeln. So viele Boote; es muss eine Invasionsflotte sein. Wahrscheinlich aus dem Süden.«
»Das ist das Ding, das gekommen ist, um uns zu töten«, sagte Candle rasch. Sie schauderte und schlang die Arme um sich, während sie zu den Lichtern hinausstarrte. »Das ist das Ding aus meiner Vision.«
Owl streckte die Hand nach ihr aus und drehte sie herum, sodass sie nicht länger die Lichter ansah. »Schau mich an, Candle«, sagte sie zärtlich. Sie wartete, bis das kleine Mädchen aufhörte zu zittern. »Kannst du das?«
Candle nickte. »Ich sehe nicht mehr hin.«
»Gut.« Owl blickte sich im Kreis der anderen um. »Was es auch sein mag, Candle hat recht. Wir müssen weg, und zwar schnell. Hat jemand eine Spur von Sparrow oder Panther entdeckt?«
Niemand. Chalk und Fixit stritten sich, wer das vordere Ende der Trage des Wettermannes übernehmen sollte. River ging zornig hinüber, stieß Chalk zur Seite und hob sie selbst an.
»Owl sagt, wir müssen gehen. Fixit, heb dein Ende an.« Sie starrte Chalk an. »Du kannst eine Weile den Rollstuhl schieben, wenn du so erschöpft bist.«
Sie zogen weiter und entfernten sich von der Bucht Richtung Landesinneres. Erst waren sie in Sichtweite des Hammering Man der First Avenue gefolgt, bevor sie sich nun hügelaufwärts dem Anfang des Freeways zuwandten. Dort, hatte der Ritter des Wortes gesagt, würden sie sein Fahrzeug finden, und dort sollten sie auch darauf warten, dass er zu ihnen stieß. Owl hoffte, dass er sich beeilte. Sie machte sich immer mehr Sorgen darüber, von Sparrow und Panther getrennt zu sein. Es war schon schlimm genug, dass sie Hawk und vielleicht auch Tessa verloren hatten, aber der Gedanke war ihr unerträglich, die anderen beiden ebenfalls zu verlieren. Die Ghosts waren eine Familie, und als Mutter dieser Familie hatte sie kein gutes Gefühl, wenn die Gruppe nicht zusammen war.
»Chalk, bist du wirklich so erschöpft?«, fragte sie so leise, dass die anderen es nicht hören konnten. Sie warf ihm einen Blick zu. »Brauchst du eine Verschnaufpause? Vielleicht kann Candle für ein paar Minuten einspringen, wenn du dich ausruhen willst.«
»Ich bin nicht erschöpft«, sagte der Junge trotzig und schaute eine Weile River an, bevor er wieder wegsah. »Ich kann alles, was jeder andere auch kann, und noch besser. Vor allem besser als sie.«
Selbst auf der Flucht und in der Gefahr zankten sie sich noch wie die Kinder, die sie waren, dachte Owl. Dabei liebten sie sich und würden alles füreinander tun. War das nicht in allen Familien so, ungeachtet ihres Wesens und der Umstände? War es nicht das, was sie zur Familie machte?
Sie stiegen weiter den Hügel hinab zum Anfang des Freeways, folgten dem Gehweg und zwängten sich zwischen Trümmerstücken und Autowracks hindurch. Die dunklen, meist leeren Gebäude bildeten auf beiden Seiten hohe Mauern, hüllten sie in Schatten und Stille. Ein kalter Wind wehte durch die Schluchten aus Beton und Stein, gischtete in feuchten Sprühnebeln vom Wasser herauf und trug den Pechgeruch der Fackeln heran. Die Trommeln dröhnten in einem beständigen Rhythmus, ein tiefer und bedrohlicher Klang.
»Ich fürchte mich nicht«, murmelte Squirrel an Owls Schulter.
Sie umarmte ihn kurz. »Natürlich nicht.«
Sie erreichten den Anfang des Freeways, eine lange, gewundene Betonrampe voll verrosteter Pkws und Trucks, von denen einige noch ganz waren, andere zerlegt. Owl hielt hoffnungsvoll nach Logan Toms Lightning S-150 AV Ausschau, ohne eine Ahnung zu haben, wonach sie eigentlich suchte, aber in dem Wissen, dass er sich von den anderen unterscheiden würde. Ihre Bemühungen waren vergebens. Alles schien gleich auszusehen. Nichts als Abfall und Schrott.
»Er steht da drüben«, verkündete Fixit.
Weil er das eine Ende der Trage des Wettermannes hielt, konnte er nicht zu der Stelle deuten, nur dorthin nicken, und deshalb war sich niemand sicher, welches Fahrzeug er meinte. Owl blickte ungefähr in die Richtung, in die er genickt hatte, konnte jedoch nichts erkennen.
»Hinter dem Sattelschlepper, da drüben neben der Massenkarambolage«, fuhr Fixit fort. »Seht ihr die großen Reifen? Das ist ein Lightning AV.«
Owl war bereit, auf sein Wort zu vertrauen, obwohl sie immer noch nichts sah. Fixit wusste eine Menge über die Fahrzeuge, in denen sich seine Vorfahren bewegt hatten, bevor fast alles auf Rädern aufgehört hatte zu funktionieren. Die Quelle seines Wissens war allen ein Rätsel, denn er las nicht viel und begnügte sich damit, Bilder in alten Illustrierten anzusehen, doch sie vermutete, dass es mit seinem handwerklichen Geschick zu tun hatte.
Sie blickte zweifelnd zu den verlassenen Fahrzeugen, die sich haufenweise die Rampe hinunter bis zum Freeway drängten, so weit das Auge reichte. Sie fragte sich, wie dieser Tag wohl gewesen sein mochte, an dem die Besitzer sie endgültig stehen gelassen hatten. Sie fragte sich, was aus den Menschen geworden war, vor all diesen Jahren, als die Stadt sich zu verändern begonnen hatte.
Vor allem aber machte der Gedanke sie nervös, was sie dort unten, wo sie nicht hinschauen konnten, erwarten mochte. So vieles konnte sich in alten Fahrzeugen eingenistet haben, dessen Ruhe man ganz gewiss nicht stören wollte.
Doch sie hatten keine andere Wahl. Sie konnten es sich nicht leisten, an Ort und Stelle zu warten, so weit von dem Treffpunkt entfernt, den Logan Tom ihnen genannt hatte. Nicht, wenn sie sich nicht in Gefahr bringen wollten, denn von der Bucht hinter ihnen ging eindeutig die größte Gefahr aus.
»Führe uns dorthin, Fixit«, sagte sie zu ihm und versuchte, ihr Widerstreben nicht zu zeigen. »Aber bleibt dicht zusammen und achtet genau darauf, ob sich in den Wracks nicht etwas versteckt hält. Candle? Warne uns, wenn du etwas spürst.«
Sie gingen die Rampe hinunter, eine seltsame kleine Prozession, wobei Fixit und River an der Spitze die Trage mit dem Wettermann hielten, gefolgt von Candle, hinter der Bear seinen schweren Karren zog; Chalk, der Owl und Squirrel im Rollstuhl schob, bildete den Abschluss. Im fernen Lager gleißte etwas verschwommen auf, sodass sie ansatzweise die Mauern erkennen konnten, dann begannen sich die Fackeln an der Hafenanlage der Bucht zu drängen. Die Trommeln dröhnten noch immer, und nun erklang Gebrüll und Geschrei, der Lärm einer wilden Schlacht. Sie vernahm auch die Schüsse von Waffen.
Ihre Gedanken schweiften ab zu den Vermissten. Sie hoffte, dass Sparrow inzwischen weit weg war. Sie hätte ihr nicht erlauben dürfen, zu einer letzten Überprüfung auf das Dach zu gehen; sie hätte sie dazu bringen sollen, die anderen zu begleiten. Sie fragte sich, was aus Panther und Logan Tom geworden war, aus Hawk und Tessa. So viele Personen wurden vermisst, und sie konnten durch das, was dort unten geschah, auf jede nur erdenkliche Weise verletzt werden.
Alles verändert sich, dachte sie, ohne genau zu wissen, wie sie jetzt darauf kam. Doch der Gedanke blieb. Nach dieser Nacht wird nichts mehr so sein wie zuvor.
Sie dachte plötzlich an ihr Zuhause und daran, wie heimelig es gewesen war. Sie erinnerte sich, wie sie für die anderen in ihrer kleinen, behelfsmäßigen Küche gekocht hatte. Sie erinnerte sich, wie sie ihnen die Geschichten vom Jungen und seinen Kindern erzählt hatte. Sie konnte sie sich im Zimmer vorstellen, wie sie ihr mit verzückter Miene lauschten. Sie konnte ihre Stimmen und ihr Lachen hören. Sie sah sich selbst, wie sie Squirrel und Candle zu Bett brachte, und sie sah, wie schläfrig und friedlich ihre Gesichter waren, als sie sie in ihre Decken wickelte. Sie erinnerte sich an die stillen Momente mit Hawk, in denen sie beide nicht gesprochen hatten, weil sie, auch ohne es zu sagen, gewusst hatten, was der andere dachte.
Nein, nichts würde mehr wie früher sein. Sie blickte sich um und sah jeden einzeln an. Sie konnte bestenfalls darauf hoffen, dass es ihnen gelingen würde, zusammenzubleiben und sich in Sicherheit …
Sie hielt jäh inne, als ihr bewusst wurde, dass etwas nicht stimmte. Rasch wanderte ihr Blick über die Gruppe, überzeugt davon, sich geirrt zu haben, ihn einfach nur ausgelassen zu haben.
Doch es war kein Irrtum. Cheney fehlte. Der große Wolfshund, der gerade noch da gewesen zu sein schien, war nirgendwo zu sehen.
Wo steckte er?
Sie wollte die anderen fragen, verzichtete dann aber darauf. Dunkle Schemen lösten sich aus dem Schatten der zerstörten Fahrzeuge vor ihnen, krochen aus den Wracks hinaus ans Licht.
Nicht nur ein paar, sondern Dutzende.
Die Zeit blieb stehen, in einer unerbittlichen Gegenwart.
Doch gleichzeitig schien es, als flöhe sie im Gefolge ihrer hämmernden Schritte auf dem Betonboden der Stadt, ein weiteres verängstigtes Kind.
Panther ging voraus, als sie die T-Gabelung am Ende der Gasse erreichten, in die Sparrow sie geschickt hatte, und blieb jäh stehen, unsicher, welche Richtung er einschlagen sollte.
»Geh nach links«, befahl sie, als sie keuchend zu ihm aufschloss.
Er tat, was ihm gesagt wurde, wollte nicht darüber diskutieren. Er sah, wie ihre Kräfte sie verließen, aufgebraucht im Kampf mit den Krächzern und durch ihre körperlichen Beschränkungen. Sie war jünger als er, und ihre Ausdauer war begrenzt. Sie hätte es niemals zugegeben, nicht ihm und wahrscheinlich auch sonst niemandem gegenüber. Sparrow mit ihrer toten Kriegermutter und den hohen Erwartungen, die sie von sich hatte. Er schnaubte verächtlich. Du meine Güte!
Doch er zügelte sich trotzdem ein wenig, gerade genug, dass sie mit ihm Schritt halten konnte. Er blickte nicht nach hinten, tat nichts, was darauf hätte schließen lassen, dass er wusste, wie erschöpft sie war, sondern verlangsamte nur, damit sie nicht den Anschluss verlor. Man konnte über dieses Mädchen sagen, was man wollte, zäh war sie. Sie machte ihm das Leben schwer, aber sie war ein Ghost, und kein Ghost ließ je einen anderen im Stich. Egal, wie sehr sie ihn nervte; er würde sie nie zurücklassen.
Sie erreichten das Ende der Gasse und gelangten auf eine Straße, auf der ein Gewimmel aller möglichen Gestalten herrschte, die von der Hafenanlage und der Bucht und vielleicht auch vom Pioneer Square heraufgekommen waren. Spinnen und Eidechsen und Krächzer und einige andere, die Panther in seinem kurzen Leben noch nie gesehen hatte – düstere und unförmige Wesen –, alle zusammen flohen sie den Hügel hinauf, um dem Kampf, der unten tobte, zu entkommen.
»Muss ja schlimm sein da unten!«, verkündete er und hielt Sparrow am Arm fest, als sie fast an ihm vorbei in die brodelnde Menge gestürmt wäre.
Etwas Vergleichbares hatte er noch nie gesehen. Normalerweise hielten diese Wesen, ihre seltsamen Nachbarn, sorgfältig Abstand voneinander. Einige, wie die Eidechsen und die Krächzer, waren natürliche Feinde und kämpften miteinander um Nahrung und Gebietsansprüche. Heute nicht. Heute ging es anscheinend um nichts anderes, als einem gemeinsamen Feind zu entkommen.
»Was jetzt?«, fragte er.
Wortlos wandte sich Sparrow wieder der Gasse zu, und sie zogen sich durch den dunklen Korridor zurück bis zu zwei metallbeschlagenen Türen. Panther erkundigte sich nicht danach, was sie tat. Sparrow tat nie etwas Unbesonnenes. Er sah zu, wie sie die wenigen Stufen zu einer Tür hinaufging und die Klinke drückte. Die Tür öffnete sich knarrend, aber nur wenige Zentimeter weit. Sparrow zog stärker, doch die Tür hatte sich verklemmt.
Aus der Gasse näherte sich schlurfend eine Handvoll schattenhafter Gestalten, trat auf die Abzweigung hinaus und bog zu ihnen ab.
Panther stürmte rasch die Stufen hoch. »Lass mich mal versuchen«, sagte er und stieß sie mit dem Ellenbogen zur Seite. Er stemmte sich gegen die Tür, und sie bewegte sich erneut ein paar Zentimeter. Der Rost hatte ganze Arbeit geleistet. »Was ist das hier überhaupt?«
»Ein Hotel«, antwortete sie und schubste ihn zur Seite, um ihn wissen zu lassen, dass sie seine aggressive Art nicht sonderlich schätzte. »Steht durch unterirdische Gänge mit Gebäuden weiter oben in Verbindung. Wenn wir hineinkommen, können wir all diesen Freaks aus dem Weg gehen.«
»Sieht mir aber nach einem großen Wenn aus«, sagte er und zog noch einmal kräftig am Türgriff. »Gibt es denn keine andere Möglichkeit?«
Sie überraschte ihn mit einem Lachen. »Was hast du, mächtiger Panther?«, spottete sie. »Ist das Kätzchen ausgesperrt und möchte gern rein?«
Er presste die Lippen aufeinander und grunzte, während er mit aller Kraft zog und die Tür endlich aufbekam. »Ich komme überall rein!«
Sie schlüpften vor ihren Verfolgern in das Gebäude und folgten einem kurzen Flur bis zu einer Treppe, die nach unten führte. Sparrow, die jetzt voranging, schaltete ihre Solarzellenlampe an, damit sie in der Dunkelheit etwas sahen, dann eilten sie die Treppe hinunter bis zu einem langen, breiten Flur. Der Flur führte geradeaus weiter, bevor er sich gabelte. Sparrow wandte sich ohne zu zögern nach links, bis sie kurz darauf an eine weitere Gabelung kamen, an der sie rechts abbogen. Panther folgte kommentarlos, die Finger am Auslöser seines Schlagstocks, während sein Blick die dunklen Ecken der Bereiche absuchte, durch die sie kamen.
Irgendwo weit hinter sich hörte er wieder die Krächzer, die ihnen taumelnd folgten. Dämliche Freaks, dachte er zornig. Haben nicht genug Verstand, um zu wissen, wann sie aufgeben müssen!
Er blickte auf die Energieanzeige seines Eisenrohrs. Weniger als die Hälfte der Ladung war noch übrig. Sie mussten hier raus.
Sie stürmten weiter, erreichten einen breiten Treppenaufstieg und gingen hoch. Auf dem oberen Absatz erwartete sie eine freie Fläche mit mehreren zerstörten Ladengeschäften am Rand. In der Mitte hing eine Rolltreppe, an Ort und Stelle erstarrt, die Metallkabel matt von der Zeit und fehlender Wartung, eine schwarze, schuppige Schlange. Sie war so lang, dass ihr oberes Ende nicht zu sehen war.
»Müssen wir da hinauf?«, grollte Panther.
»Da oben ist die Straße und gleich gegenüber der Freeway.« Sparrow ergriff seinen Arm. »Komm schon, gehen wir und bringen wir es hinter uns.«
Sie rannte beinahe die Stufen hinauf und überließ es Panther, ob er ihr zusehen oder ob er ihr folgen wollte. Er entschied sich für Letzteres und versuchte, sie einzuholen, indem er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Das Metall dröhnte unter ihren Schritten, und ein- oder zweimal schlug Panthers Metallstange klirrend gegen die Seite der Rolltreppe. Zu viel Lärm, tadelte er sich. Aber er hörte die Krächzer nicht mehr, also spielte es wohl keine Rolle. Er sah zu, wie die Stufen unter seinen Schritten dahinsausten, und fragte sich unwillkürlich, wie Rolltreppen eigentlich funktioniert hatten, damals, als sie noch funktionierten. Wie falteten sich die Stufen und ebneten sich wieder bei den Rolltreppen, die er gesehen hatte? Fixit hätte es gewusst. Er sollte besser auf so etwas achten.
Sie erreichten den oberen Treppenabsatz und rannten über eine freie Fläche zu zwei breiten Doppeltüren, die sich zur Lobby eines weiteren Hotels öffneten. Die Lobby war dunkel und voller Schatten, erstreckte sich aber deutlich sichtbar bis zu zwei schweren Türen mit Schnitzarbeiten, die den Eindruck erweckten, fest verschlossen zu sein. Alte Möbel füllten die Lobby, größtenteils zerbrochen und umgekippt. Künstliche Pflanzen lagen auf der Seite, noch in den Töpfen, verstaubt und grau, eigenartige Leichen mit spindeldürren Leibern. Metall schimmerte noch in Spuren auf Geländern und an Türgriffen, aber auch hier trug der Rost den Sieg davon.
Er wollte schon in die Lobby hineinrennen, auf die Türen zu, als Sparrow seinen Arm ergriff. »Panther«, flüsterte sie.
Er schaute rasch zu ihr, denn sie hatte seinen Namen wie eine unmissverständliche Warnung ausgesprochen. Sie sah zu dem Balkon hoch, der um die Lobby herumführte.
Dutzende von Krächzern blickten auf sie hinunter.
»Ich glaub’s nicht!«, raunte Panther.
Die Krächzer setzten sich die Brüstung entlang in Bewegung, ihre seltsamen, entstellten Gesichter kaum sichtbar in der Dunkelheit, die Körper vorgebeugt. Auf ihrer Ebene schienen keine zu sein, aber jetzt schaute Panther in alle Richtungen und hielt das Metallrohr für den unvermeidlichen Angriff bereit.
»Wir müssen es zu den Türen schaffen«, zischte Sparrow ihm zu. »Wir müssen hier raus.«
Diesbezüglich hatte sie recht, auch wenn nicht klar war, wie sie das anstellen sollten. Panther starrte zu den Türen, wandte sich hierhin und dorthin und suchte dabei die Dunkelheit ab, achtete auf Bewegungen. Weiter oben hatten die Krächzer inzwischen die Treppe erreicht und kamen herunter, mit hörbarem Grunzen und Knurren. Zu viele, um sie bei einem Angriff aufhalten zu können, das wusste Panther. Wenn sie Sparrow und ihn in dieser Lobby einkesselten …
Er machte sich nicht die Mühe, den Gedanken zu beenden. Er ließ sich noch zwei Sekunden Zeit, wog ihre Chancen ab und brüllte dann: »Lauf!«
Sie preschten zu den Türen, und fast augenblicklich tauchte unmittelbar vor ihnen ein Krächzer auf, scheinbar aus dem Nichts. Panther rammte dem Wesen seine Metallstange in den Bauch und löste einen Elektroschock aus, der es unter Zuckungen und Krämpfen zurücktaumeln ließ. Jetzt erschienen weitere überall um sie herum, kamen aus den Schatten, in denen sie sich versteckt hatten, so viele, dass Panther schlagartig sämtlichen Mut verlor. Er hasste Krächzer. Er hatte gesehen, wozu sie im Stande waren. So wollte er nicht sterben.
Er brüllte eine Herausforderung, um sich selbst Mut zu machen, und hechtete, Sparrow neben sich, zu der Doppeltür, die wieder auf die Straße hinausführte. Die Krächzer waren zu langsam, um sie aufzuhalten. Sie erreichten die Türen, und Panthers Hände fielen auf die Klinken, wollten sie herunterdrücken.
Verschlossen.