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»Die wundervollen Erzählungen eines ehemaligen Arbeiters, der zum Wortschmied geworden ist. Wir können nicht sagen, ob Erri De Luca ein guter Maurer ist, eines aber ist über jeden Zweifel erhaben: sein schriftstellerisches Talent.« Elle Die Erzählungen aus Die Stadt antwortete nicht enthalten das De Luca'sche Œuvre in nuce: die neapolitanische Kindheit, wortkarge Fischer, die Entdeckung der Natur. Dann die Jahre als Arbeiter auf dem Bau, der politische Kampf gegen den Klassismus. Die Liebe und das Heilige, das Buch und der Berg. Mit seiner feinfühligen Prosa lässt Erri De Luca Erinnerungen lebendig werden und beleuchtet schlaglichtartig die Etappen eines bewegten Lebens.
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Die Stadt antwortete nicht
ERRI DE LUCA, geboren 1950 in Neapel, zog mit 19 nach Rom und arbeitete dort als Maurer, LKW-Fahrer und Lagerarbeiter. Im Selbststudium brachte er sich mehrere Sprachen bei, darunter auch Althebräisch, um die Bibel übersetzen zu können. Erst mit 40 begann er zu schreiben und hat seither mehr als 30 Romane, Essays und Übersetzungen veröffentlicht und gehört zu den meistgelesenen, auflagenstärksten Autoren Italiens. Seine Bücher wurden in Italien, Frankreich und Israel zu Bestsellern und sind außerdem in Ländern wie Spanien, Portugal, Holland, den USA, Brasilien, Polen und Litauen erschienen. Erri De Luca wurde 2010 mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet und 2013 mit dem Prix Européen de Littérature.
Von Erri de Luca sind in unserem Hause außerdem erschienen:Das Gewicht des Schmetterlings · Das Licht der frühen Jahre · Das Meer derErinnerung · Den Himmel fnden · Der Himmel im Süden · Der Tag vor demGlück · Fische schließen nie die Augen · Mein Wort dagegen · MontedidioDie Asche des Lebens
Die Erzählungen aus Die Stadt antwortete nicht enthalten das De Luca’sche Œuvre in nuce: die neapolitanische Kindheit, wortkarge Fischer, die Entdeckung der Natur. Dann die Jahre als Arbeiter auf dem Bau, der politische Kampf gegen den Klassismus. Die Liebe und das Heilige, das Buch und der Berg. Mit seiner feinfühligen Prosa lässt Erri De Luca Erinnerungen lebendig werden und beleuchtet schlaglichtartig die Etappen eines bewegten Lebens.
Erri De Luca
Erzählungen
Aus dem Italienischen von Anette Künzler
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2023Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Annette Künzler© Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023© 1993/1994 by Erri de LucaDie Originalausgaben erschienen 1993 unter dem TitelI Colpi Dei Sensi bei Fahrenheit 451 und 1994 unter dem Titel In Alto A Sinistra bei FeltrinelliAlle deutschen Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenTitelabbildung: © H. Armstrong Roberts / Classic Stock / Getty ImagesAutorenfoto: © Paola Porrini BissonE-Book Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-8437-2801-0
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Oben links
Vorzimmer
Das Paneel
Die Stadt antwortete nicht
Eine besondere Grube
Die erste Nacht nach einem Mord
Liebe
Beiläufige Unterhaltung
Die Geige
Primizien
Dreiundsechzig zu eins
Sonntagsblätter
Oben links
Sinneseindrücke
Hören: ein Schrei
Sehen: ein Vulkan
Riechen: Brioches und andere Gase
Tasten: der Ring an der Wand
Schmecken: eine Hühnerbrühe
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Oben links
Während einer kurzen Phase meiner Schulzeit vermied ich jeden Kontakt mit der Physik. Ich hatte damals noch nicht die Vorbehalte von heute, war noch nicht der Meinung, man sollte das Atom in Ruhe lassen, das wie eh und je unteilbar sein wollte. Der Satz des Demokrit war eine Aufforderung, eine Grenze zu respektieren. Die Physik unseres Jahrhunderts hingegen hat sich in die Demontage des Atoms verbissen: Unter der Erde bedrängen kreisförmige Bauten die Materie, zertrümmern den elektromagnetischen Staub. Als Junge dachte ich zwar nicht an so etwas, wohl aber an die entsetzliche Menge von neuen Symbolen, Zeichen und Abkürzungen. Auch diese neue Disziplin brachte ein kompliziertes Alphabet mit sich und brüstete sich damit, völlig unentzifferbar zu sein.
Ich hatte die Symbole satt. Deshalb versuchte ich an den Tagen, an denen Physik auf dem Stundenplan stand, einen Klassenkameraden zum Schwänzen zu überreden, jedoch vergeblich, und so ging ich eben allein.
Um halb neun einen Bus nehmen und ganz allein weit von der Schule wegfahren: Das ist wie Blut lecken, eine wilde Freiheit spüren, auf der Flucht sein. Die physische Enge, die mich umgab, erregte meinen Widerwillen. Ich lebte in einer Stadt im Süden, in der sich der Salzgeschmack des Meeres mit dem rußigen Atem der Raffinerien und der Motoren vermischte und auch mit dem gesegneten Duft des Kaffees, dem Freund der Fliegen. Alle Schleimhäute des Körpers wurden davon angegriffen. Der Raum zwischen zwei Personen war ein Luftbrei, wie der des Schöpfers, der unter den Staub seinen gesegneten, spinnfädigen Schleim mischte. Ich hatte das Gesicht zu einer ständigen Grimasse des Ekels verzogen, jeder Zentimeter meiner Miene war zerknittert, obwohl sie doch eigentlich den Charakter eines Menschen ausdrücken sollte. Als Ring an meiner Nase empfand ich die Stadt. Mein Knorpel war empfindlich wie ein Geschwür. Die Pollen des Glaskrautes, das an den Häuserwänden wuchs, betäubten meine Schleimhaut, die mir zum Ausgleich dafür wenigstens eine Ruhepause verschaffte. Der Geruch war mein sozialer Sinn, doch ich war reich am falschen Platz. Im Bus auf der Flucht vor der Schule atmete ich so wenig wie möglich, ich war geübt im Luftanhalten wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Die Richtung, die ich einschlug, wählte ich nicht auf gut Glück, ich fuhr immer zum Zoo. Er öffnete um neun, und ich war meist schon früher dort, bei jedem Wetter. Der uniformierte Aufseher machte mir Vorhaltungen und drohte, mich von der Polizei nach Hause bringen zu lassen. In jener Zeit, Mitte der Sechzigerjahre, hatte jeder Aufseher eine Uniform und fühlte sich als Teil einer höheren Ordnung und als Machtbefugter. Ein Junge, der die Schule schwänzte, beging eine Straftat. Wenn er nicht ernstlich gegen mich vorging, dann war es aus Faulheit, jedenfalls nicht aus mangelnder Willkür. Ich nahm seine Drohungen schweigend hin, wartete, bis er mir die Eintrittskarte aushändigte, und versuchte, weder provozierend noch uneinsichtig zu wirken, wohl wissend, dass mich sonst Schlimmeres erwarten könnte. Endlich durfte ich hinein, durfte durch das Gittertor treten, das die Stadt aussperrte. Dann entspannten sich meine Geruchsnerven, ich atmete wieder regelmäßig, und meine verkrampften Gesichtszüge lösten sich. Hier drinnen ekelte ich mich vor nichts mehr, endlich war ich frei. Wer sich die Freiheit als einen Ort ohne Grenzen vorstellt, versteht darunter etwas anderes als ich. Freiheit bedeutete für mich, in einem eingezäunten Park zu sein oder auf einer Sommerinsel: dem Eingeschlossensein nahe kommend.
Im Herbst sammelte ich auf dem Hauptweg die herabgefallenen Eukalyptusbeeren auf. In meinen Taschen zerrieb ich sie mit den Fingern, setzte ihren Duft frei. Es beruhigte mich, mit diesen Körnern zu spielen: So, wie es meine Großmutter beruhigte, langsam die Gebete des Rosenkranzes zu sprechen, eines für jede Perle. Auch wenn der Zoo gerade erst geöffnet hatte und noch niemand da war, litt ich unter der Angst, beobachtet zu werden. Ich war im Alter eines Affen, der sich im Käfig hin und her schwingt, aber nicht zum Schutz, sondern als Verzögerungstaktik, als Ausdruck seines Widerspruchsgeistes. Es war das Alter, in dem man sich mitten auf einem belebten Platz seiner selbst bewusst wird, seine stolpernden Schritte und fahrigen Gebärden wahrnimmt. Gleich am ersten Geländer wurde ich von dem Gefühl befreit, Zielscheibe des allgemeinen Spotts zu sein. Gleich am ersten Geländer war ich bei den Elefanten, war ich wirklich in der Ferne angelangt. Nicht einmal im Krater des Vesuvs hätte ich noch mehr von der schmierigen Stadt abgeschieden sein können. Ich nannte es die »vorletzte Ölung«, dieses Gemisch aus Salz und Kohlenwasserstoffen, Schwefel und Hochofengasen.
Der Elefant war gerade aus dem Stall gekommen und ging auf den Wassertrog zu, sein steifes Geschlecht baumelte ihm verträumt zwischen seinen Beinen. Es erinnerte mich an meine ersten Masturbationsversuche, als ich nicht so recht wusste, was zu tun war, und in unbeholfenem Überschwang gedankenlos und blind hin und her rieb. Bevor ich jemals eine Frau in den Armen halten würde und, sollte ich alt werden, auch danach, bliebe mir nur dieses Stück Fleisch da mitten am Körper, das mit so hässlichen Namen belegt wurde. Fisch, sogar Fisch nannte man es in der Stadt, aber was hatte es schon von jener zuckenden Schlüpfrigkeit, wann war es denn schon so flink, mein Verborgenes, mein Verdrängtes da unten rechts. Ich schätzte die Proportionen ab, nahm Augenmaß: Bei der Länge bezüglich der Körpergröße konnte ich nicht mithalten, doch in der Relation von Körper und Gewicht könnte sich meiner vielleicht zu meinen Kilos wie seiner zu seinen Doppelzentnern verhalten. Der Elefant war im ersten Gehege, der Auftakt. Ich blieb dort in den ersten Minuten, dann ging ich weiter, noch bevor er ihm wieder erschlaffte.
Etwas weiter hinten hatten die Nilpferde einen Teich mit einem Auslauf davor, der an die höher liegende Besucherbalustrade grenzte. Im Winter verzichteten die Tiere gewöhnlich darauf, ins Freie zu gehen, aber wenn sie es taten, marschierten sie geradewegs auf die Zuschauer zu und öffneten ihre riesigen Kinnladen in der Erwartung eines Stückes Brot. Es gab Leute, die trockenes Brot von zu Hause mitbrachten. Heute ist das verboten, aber damals war es für ein Kind ein wahrer Segen, die Hand mit dem Brot auszustrecken und zu spüren, wie die Nilpferdlippen es vorsichtig ergriffen und in den weit aufgerissenen Schlund beförderten. Gesegnet sei das Brot, das zwei so weit voneinander entfernte Körper vereint und sie eine Sekunde lang im Gleichgewicht des Tausches hält. Das Nilpferd öffnete sein von den vier riesigen Zähnen umrahmtes Maul, das an einen zahnlosen Großvater denken ließ, und wartete geduldig. Ein Kind warf dann Brotstücke in die Furcht erregende Höhle, ich aber hätte am liebsten meine Schulbücher dort versenkt. Vor mir, ganz nahe, taten sich die größten Mäuler auf, die es auf dem Land gab. Nur das Meer beherbergte noch größere. Ich schloss die Augen und sog den Atem ein, der diesem Rachen entströmte, wobei ich mich so weit wie möglich vorbeugte. Während ich die Ausdünstungen des Tieres einatmete und an dem Gemisch von Kot, Heu und Moschus schnüffelte, konnte ich hinter den geschlossenen Lidern allmählich eine Farbe wahrnehmen, ein Blau, das die Schwärze überdeckte. Das zimperliche Stadtpflänzchen, das in den Gassen schier ohnmächtig werdende Näschen zeigte sich plötzlich kühn: Wie ein Tarzan schwang es sich über Modergeruch, über lauwarme Luft, über gärenden Sprühregen. Die Atemwolken kamen stoßweise, wie bei einer Dampflok. Ich schnüffelte, wie ich es später bei gewissen Drogensüchtigen gesehen habe. Betäubt, mit geschlossenen Augen, inhalierte ich. Später, als Erwachsener, hatte ich eine Geliebte, und wir atmeten unsere Gerüche mit geschlossenen Augen ein, so, wie ich es dort im Zoo getan hatte. Sie wunderte sich über nichts, das von mir kam. Es war mir sehr peinlich, als mir eines Morgens, ganz am Anfang unserer Beziehung, laut die Luft aus den Gedärmen entwich. Sie roch daran, um mich zu trösten. Ich glaube, ich liebte sie für diese Anwandlung nasaler Höflichkeit. Ich habe ihren Geruch eingesogen und sie den meinen, diesen aus allen Körpersäften zusammengesetzten Duft, Weihrauch des Körpers, der der Haut entweicht, den Umklammerungen, den Liebkosungen, den Schreien, dem Knurren und all dem orgiastischen Gurgeln. Ich steckte aus reiner Glückseligkeit den Kopf in den Nilpferdschlund, weil ich in einem früheren Leben in dieser Höhle von seinem Atem gewärmt, ins Gras gebettet und von seiner Zunge gewaschen worden war. Manchmal empfindet man ganz zufällig ein absurdes, intensives Glücksgefühl. Man begegnet ihm unvermutet und betrachtet es genau, dabei immer wieder schamvoll um sich blickend. Verzückt inhalierte ich meine Dosis Nilpferdatem: Opium der Vorfahren. Wer seine Adern aufritzt, um sich Drogen in den Körper zu spritzen, der weiß nichts von der wahren Glückseligkeit.
Einige glückliche Sekunden lang hielt der Hauch des Nilpferds an, dann war die Geduld des Tieres erschöpft, und sein Maul schloss sich. Ich kam langsam zu mir, öffnete die Augen, spürte meinen Körper wieder. In diesem Moment vernahm ich den allmorgendlichen Ruf des Löwen.
Dort ging ich hin. Zuerst sah ich den riesigen Kaktus, der in einer Ecke des Geheges wuchs. Dies war wohl die schönste Ankündigung der Wüste, des menschenleeren Ortes. Der Löwe brüllte angestrengt, spie seinen Atem aus, ein Klumpen Kraft, der sich im Magen sammelte und bis zu den Zähnen aufstieg. Rhythmisch zog sich sein Bauch zusammen. Als ich ankam, stand er auf der anderen Seite des Wassergrabens, den Blick auf einen Punkt am Horizont gerichtet, wie ein Hahn bei Sonnenaufgang. Er brüllte mehrere Minuten lang, die schläfrig hingestreckten Löwinnen indes ließen ihn ungerührt gewähren. In heißen Stößen entwich ihm die Luft und auch etwas Speichel, im Winter stieg aus seinem Rachen eine dampfende Wolke auf. Ich war zu weit entfernt, konnte seinen Geruch kaum wahrnehmen. Meine kleine Menschennase drang nur mit Mühe bis zu ihm vor. Ich versuchte, sie freizubekommen, schnaubte und hielt dann die Nasenlöcher in den Wind, wie ich es bei den Löwen gesehen hatte. Ich empfing eine schwache Andeutung des beißend säuerlichen Geruchs halbverdauter Mahlzeiten, durchsetzt mit Urin. In seiner Herbheit glich er meinem eigenen, wenn ich vor dem Einschlafen an den Fingern roch, die von meinen Leisten genässt waren. Der Löwe war das Wappentier meiner Einsamkeit: wegen seiner brüllenden Rufe, die ins Leere gingen und unbeantwortet blieben. So habe ich einmal ein Mädchen geliebt, das zehn Jahre jünger war als ich. Ich liebte, nein, ich rief sie nur. Ich rief sie auf einem Balkon, in zehn Briefen, in einem Ruderboot. Es gab zwar keine Kakteen wie in der Wüste, aber immerhin Feigenkakteen.
Als er mit dem Gebrüll aufhörte, hob und senkte sich sein Bauch noch eine Zeit lang, aber er brachte keine Sprache mehr hervor. Als Junge war ich ganz sicher, diese Laute zu verstehen, und deshalb sagte ich Sprache dazu. Ich hätte schwören können, dass der Löwe seinen eigenen Namen rief, den Namen seiner Spezies, Tag für Tag: weil er lebendig war. Das ist die Art der Tiere zu beten. Sie haben Riten, die keinem Zweck dienen, nichts Unmittelbarem oder Materiellem. Der Löwe rief seinen Namen, um an jedem neuen Tag sein Zeichen in die Luft zu schreiben, das schwer verständliche, raue Merkmal der lebendigen Kreatur. Ich verstand dies damals, weil ich mich völlig eingekapselt hatte, in jener animalischen Stille lebte, die die Zerstreuten, die in sich Versunkenen umhüllt. Später habe ich über Fälle von katatonisch1 Kranken gelesen: Ich begriff, dass sie sich in der Wüste befanden, ohne wirklich dort zu sein, und dass sie meinen Versuch perfektioniert hatten.
Nach dem weitläufigen Löwengehege kam ich an den Käfigen der anderen Raubkatzen vorbei. Ich empfand zwar kein Mitleid angesichts der in der engen Behausung vergeudeten Kraft und Behändigkeit, aber etwas zerbrach in mir, als ich sah, wie eines der Tiere ganz exakt und mechanisch hin und her lief: zweieinhalb Schritte vor, dann eine Kehrtwendung, immer am Gitter entlang. In den Jahren der Revolte hatte ich einmal einen Mann gekannt, der während der Versammlungen hinten im Saal auf und ab ging, schnellen Schrittes und mit flinken Drehungen. Er hatte drei Jahre seiner Jugend in einem Militärgefängnis verbracht, wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Sachbeschädigung. Geschmeidiges Hin und Her, lautlos, ewig gleich. Die Raubkatze schaute auf einen entfernten Punkt jenseits der Gitterstäbe, irgendwo hinter meinem Kopf, ohne mich jemals direkt anzusehen. Ich suchte ihren Blick, sie wich mir aus. Als ich mich umdrehte, konnte ich nichts Besonderes entdecken, sie vielleicht auch nicht, aber mit Sicherheit wollte sie nichts sehen, das unmittelbar vor ihr lag. Als Erwachsener habe ich im Blick der Frauen dasselbe entdeckt; jene Fähigkeit, über das Naheliegende einfach hinwegzusehen; der Mann wird dadurch zum Hindernis auf dem Weg zum Horizont.
Bei den Schimpansen war Halbzeit. Sie hatten einen großen, hohen Käfig, der mit den Turngeräten der Wildnis, Baumstämmen und Lianen, ausgestattet war. Jahre später sollte ich Bergsteiger werden und Felsen erklimmen. Da verstand ich, dass dies etwas völlig anderes ist, als auf Bäume zu klettern. Vielleicht könnte sich ein Affe nicht an steilen Felsen hinaufhangeln, sich an den kleinsten Vorsprüngen festklammern, wie ich es getan habe, ich hingegen wäre nie in der Lage, mich an den Ästen entlang durch die Luft zu schwingen. Und doch suche ich, wenn ich eine raue Felswand erklimme, in meinen Bewegungen etwas von dieser Anmut, dieser strotzenden Kraft, dieser beinahe schmerzhaften Explosion von Energie. Wenn ich dann den Anflug einer schimpansenhaften Bewegung tief in den Muskeln spüre, frei von Anstrengung und Kraftverschwendung, dann fühle ich, wie sich eine Schlange des Glücks in meinen Eingeweiden windet. Diese Bewegung war einfach da, ohne dass ich sie hätte erlernen müssen, über den natürlichen Weg von der Kindheitserinnerung bis hin zu den ausgebildeten Muskeln des Erwachsenen. Wie die Affen haben wir eine Hirnmembran, die dem Körper geschmeidige Bewegungen befiehlt und ihn gleichgültig und präzise über den Abgrund schwingen lässt. Die Schimpansen leiteten meinen Körper an, aber ihre meisterhafte Eleganz konnte ich nicht nachahmen, sondern sie nur auf die bloße Technik reduzieren. Vor ihrem Käfig öffnete ein der Schule entronnener Junge weit die Augen, um zu schauen, so, wie man ein Fenster öffnet, um die Luft eines sonnigen Wintertages hereinzulassen. Ich öffnete die Augen, und die Affen kamen herein, brachten frischen Wind in mein Zimmer und machten Bewegungen, die man im Traum vollführt, wenn der Körper sehr viel weniger wiegt. Es war nicht nur das Leben in ihren Schwüngen, nicht nur die Energie, die sie durch die Luft von Ast zu Ast brachte: Sie beschrieben eine Geometrie, die den Augen eines ausgebüxten Schuljungen nicht entgehen konnte. Im Käfig roch es nach fauligen Früchten, gerösteten Erdnüssen, gekauten Flöhen, aber der Geruch ähnelte überhaupt nicht unserem Achselgeruch nach einem Wettrennen oder einem Spiel. Die Affen berührten sich untereinander in einem Einvernehmen, das ich selten bei den Menschen gesehen habe: voller Achtung für die Gefühle und Bedürfnisse des anderen, so, wie wir das mit Worten versuchen.
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