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Ein Buch voller Wärme und Weisheit, wie gemacht für eine Lektüre im Licht der mediterranen Sonne. Beim Betrachten alter Fotos, die sein Vater gemacht hatte, bevor er erblindete, erinnert sich ein Mann an seine Kindheit im Neapel der Nachkriegszeit. Seine Eltern waren arm und das Leben auf den Straßen war geprägt von der Not, die der Krieg hinterlassen hatte. In einem intimen Zwiegespräch mit seiner verstorbenen Mutter lässt Erri De Luca diese frühen Jahre seines Lebens wieder auferstehen und mit ihnen die Poesie, die noch in der schwersten Kindheit steckt.
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Das Licht der frühen Jahre
ERRI DE LUCA, geboren 1950 in Neapel, hat mehr als 30 Romane, Essays und Übersetzungen veröffentlicht. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und zu internationalen Bestsellern. Erri De Luca wurde 2010 mit dem Petrarca-Preis ausgezeichnet und 2013 mit dem Prix Européen de Littérature.
Von Erri De Luca sind in unserem Hause bereits erschienen: Der Tag vor dem Glück · Das Gewicht des Schmetterlings · Montedidio · Fische schließen nie die Augen · Mein Wort dagegen · Den Himmel finden
Beim Betrachten alter Fotos, die sein Vater gemacht hatte, bevor er erblindete, erinnert sich ein Mann an seine Kindheit im Neapel der Nachkriegszeit. Seine Eltern waren arm und das Leben auf den Straßen war geprägt von der Not, die der Krieg hinterlassen hatte. In einem intimen Zwiegespräch mit seiner verstorbenen Mutter lässt Erri De Luca diese frühen Jahre seines Lebens wieder auferstehen und mit ihnen die Poesie, die noch in der schwersten Kindheit steckt.
Erri De Luca
Erzählung
Aus dem Italienischen von Anette Künzler
Ullstein
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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juli 2020Alle Rechte an der deutschen Übersetzung von Anette Künzler© Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg© für die deutsche AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020© 1989 by Erri De LucaÜbersetzt aus dem Italienischen: Non ora, non quiDie Originalausgabe erschien 1989 bei Feltrinelli.Die Deutsche Erstausgabe erschien 2000im Rowohlt Taschenbuch Verlag.Orthografie und Interpunktion wurden behutsam modernisiert.Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenTitelabbildung: © Rae Russel/Getty ImagesE-Book powered by pepyrus.com
ISBN 978-3-8437-2222-3
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Das Licht der frühen Jahre
Leseprobe: Den Himmel finden
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Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Das Licht der frühen Jahre
Solange er noch sein Augenlicht besaß, machte mein Vater Fotografien. Ein ganzes Regal füllte sich mit Bildern von uns, aufgenommen bei besonderen Anlässen wie auch in alltäglichen Situationen. Nicht mehr als zehn Jahre umfasst diese Sammlung: die Jahre des ersten Wohlstandes, vor seiner Erblindung. So bleibt nur eine Dekade bis ins kleinste Detail dokumentiert, vielleicht die einzige, die zu vergessen mir gelungen ist. Das Fotoarchiv jedoch frischt meine Erinnerung nicht auf, es ersetzt sie lediglich.
Es war eine Zeit der Orientierungslosigkeit, als ich im Alter zwischen neun und neunzehn war. Wir zogen in ein besseres Viertel, und die Armut endete ebenso abrupt wie die Kindheit. In dem neuen, schönen Haus sprach man nicht mehr über die früheren Zustände, die steile Straße, den Regen in der Küche, den Gassenlärm.
Wo wir früher wohnten? In einer anderen Stadt. Auch dort sprachen die Leute den Dialekt, aber am Ende der baufälligen Treppen herrschte immer Dunkelheit.
Wir sprachen kein Neapolitanisch. Die Eltern verteidigten sich gegen die Armut und die Umgebung mit der italienischen Hochsprache. Sie waren sehr einsam und empfingen auch keine Freunde, denn sie konnten ihnen in der winzigen Wohnung keinen Platz anbieten. Der Krieg hatte ihr Hab und Gut vernichtet. Am Ende war von ihrem früheren Vermögen nichts mehr übrig geblieben. Als sie heirateten, konnten sie ihren Gästen nicht einmal eine Erfrischung anbieten. Von diesem Kummer sprachen sie oft, für sie war es das Symbol vieler schwieriger Jahre.
Dann endlich kamen die ersehnten Veränderungen, für die sie den Mut nie hatten sinken lassen.
Uns Kindern – ich war der Ältere, dann kam meine Schwester – wurde eine Erziehung zuteil, die mir im Hinblick auf die finanziellen und räumlichen Beschränkungen richtig erschien: Man sprach mit gesenkter Stimme, saß gesittet am Tisch und versuchte, die wenigen guten Kleider, die man besaß, nicht zu beschmutzen. In der kleinen Wohnung bewegte man sich diszipliniert. Darauf wurde im neuen Haus weniger Wert gelegt, aber die früheren Verhaltensregeln hatte ich verinnerlicht. Sie waren ein Zeichen des Maßhaltens zwischen mir und dem mir zugeteilten Stückchen Welt, was mir in dieser Form später nie mehr gelingen sollte.
Ich konnte nicht ordentlich sprechen. Während mein Verstand den ersten Buchstaben diktierte, drängte mein Mund schon darauf, den letzten auszusprechen. Ich stotterte, weil ich schnell zum Ende kommen wollte. Zum Ausgleich gelang es mir, Gegenstände ins Gleichgewicht zu bringen. Zum Ausgleich: Ich verwende diesen Ausdruck, weil ich glaube, dass jede Fähigkeit, die man besitzt, wechselseitig mit irgendeiner Ungeschicklichkeit verknüpft ist. Mir gelang es, Dinge für einige Augenblicke in der Schwebe zu halten: Eine Gabel blieb auf ihren Zinken stehen wie eine vierbeinige Ballerina, ein Stift stand ganz von allein auf dem Blatt und markierte einen Punkt.
Warum nun das Gleichgewicht, das ich bei einigen Dingen herstellen konnte, mich für die in meinem Mund durcheinanderpurzelnden Worte entschädigen sollte, weiß ich wirklich nicht; aber dennoch war ich der festen Überzeugung, dass diese beiden Eigenschaften einen Ausgleich in mir schafften.
Eine Geschichte, die mich seit meiner frühesten Kindheit nicht mehr loslässt, handelt von einem Engel, der die Kinder in der Stunde ihrer Geburt an ihrem Mund berührt. Mir muss dieser Engel einen etwas kräftigeren Schubs gegeben haben, denn ich wurde ein Stotterer. Das war die Variante der Geschichte, die ich zu hören bekam. Als ich ein Kind war, besuchte mich nachts oft ein Engel, um an meinen Mund zu pochen, aber es gelang mir einfach nicht, ihn aufzumachen und den Engel willkommen zu heißen. Nach einer Weile ging er wieder fort, und zurück blieben in der Dunkelheit seine Federn und meine Tränen.
Ich erzählte niemandem davon, denn ich dachte, dass die Erwachsenen von den Geschichten, auch von meiner eigenen, nicht viel verstehen würden. Ich war eher ein gedankenverlorenes als ein stilles Kind.
Wie alle in diesem Alter wünschte auch ich mir einen Hund – ein unerfüllbarer Wunsch in unserer kleinen Behausung. Ein gelber Ball mit verblichenen bunten Tupfen wuchs mir ans Herz, und ich liebte seinen guten Gummigeruch. Wenn ich allein im Zimmer war, sprang der Ball übermütig um mich herum und spielte mit mir Fangen. Dann schrie meine Mutter plötzlich, dass ich damit aufhören solle, und vor lauter Angst ließ ich den Ball unter dem Bett verschwinden. Ihre Stimme regelte meinen Atem und ließ ihn stocken, sobald sie sich auch nur ein bisschen erhob. Diese Stimme war ein großer Teil der Welt, die ich kannte. Ich lernte, sogar hinter der Wand auf sie zu hören.
Seit einiger Zeit rühre ich am Abend diese alten Geschichten wieder auf und stöbere in den alten Negativen meines Vaters. Von einigen habe ich Abzüge machen lassen. Eines davon hat meine Aufmerksamkeit ganz besonders geweckt.
Ich verstehe nicht, wer es gemacht haben könnte. Es zeigt einen Teil der Via Torretta, wo wir sonntags immer bummelten. Ich kann die Schaufenster der Konditorei Fontana erkennen, bevor das alte Schild ausgetauscht wurde. Zu der Zeit, als wir im neuen Haus wohnten, holten wir dort immer Kuchen und gingen dann zum überdachten Markt, um unsere Einkäufe zu machen. Meine kleine Schwester kam immer gerne mit, mal vergnügt, mal missgelaunt, aber stets aufgeregt wegen des gemeinsamen Ausfluges. Mir verursachte die sonntägliche Stadt nur Unbehagen. An den anderen Tagen waren die Menschenmassen und die Autos, die im Zentimeterabstand an den Füßen vorbeirollten, ganz normal, man versperrte sich gegenseitig den Weg und war ständig zu Ausweichmanövern gezwungen. Aber am Sonntag verdüsterten sich die Gesichter noch mehr; auch heute noch, auch hier. Der Tag des Herrn brachte die größten Stimmungsschwankungen mit sich, auch bei uns. Ich habe zu sehr unter den Irritationen gelitten, die ganz plötzlich die Atmosphäre verändern und einen die Augen niederschlagen lassen. An der sonntäglichen Formation hing ich damals wie ein totes Gewicht, und bis ich ungefähr sechzehn Jahre alt war, gelang es mir nicht, davon befreit zu werden.
Ich sah, dass etwas mit der Stadt geschah, und das war nicht bloß der Eindruck eines kleinen Menschen, der verwirrt und mit Unbehagen feststellen musste, dass er kein Kind mehr war. In der alten Gasse war die Stadt unbeweglich, vielschichtig, eng und überfüllt gewesen. Ich kannte das ständige Fiebern der Leute, die nicht mehr länger arm sein wollen. Aber nun hatte sich eine nie gekannte Erregung eingeschlichen, ein Ruf nach Eile durchlief das alte Viertel. Ohne ersichtlichen Grund hatten die Leute plötzlich ein brennendes Gefühl der Dringlichkeit. Ich sah nur noch, wie ein geheimnisvoller Ratschlag befolgt wurde, den offensichtlich alle vernommen hatten: Beeilt euch. Auf den Gehwegen gewährte man sich keinen Durchlass mehr, man zog nicht mehr die Mütze zum Gruß, man ging nicht einmal mehr dem Polizisten aus dem Weg. Die armen Leute hatten mit ihren guten Manieren auch die Geduld und die Angst abgelegt, und sie kleideten sich nun besser. In meiner Gasse kreischten die Frauen nur noch. Ich verstand es nicht, wenn die Wut aus ihren Eingeweiden durch die Kehle in den Mund und in die Augen stieg. Ich sah ein, dass sie schrien, um eine Entfernung zu überbrücken, und mir gefiel der Singsang eines von unten auf der Straße bis hinauf in den obersten Stock gebrüllten Namens. Es waren Namen mit vielen Buchstaben, denen die Anrede vorausging und die Verkleinerungsform folgte: Donna Cuncettinaa. Wenn dann die Verständigung, über den ganzen Lärm hinweg, zustande gekommen war, folgte in einem harten und kurzsilbigen Dialekt ein kurzes Gespräch. Die Wutschreie jedoch konnte ich nicht verstehen. In meiner Kindheit hatte ich sehr oft eine Gänsehaut. Die Stadt, die sich überhaupt nicht darum kümmerte, erregte in mir Übelkeit. Rotz, Spucke, schleimiger Husten, Durchfall wegen der Kälte: das alles löste in mir einen Brechreiz aus, an dem ich schier erstickte. Ich schämte mich für meine Zimperlichkeit. Die Vorwürfe, die mir die Erwachsenen deswegen machten, waren ja berechtigt.