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"Erri De Luca ist der beste Autor des Jahrzehnts." Corriere della Sera Ein kleines Bergdorf in Italien. Hier lebt der namenlose Erzähler recht unbehelligt als Bildhauer, Restaurator und Bergführer, bis er eines Tages einen ungewöhnlichen Auftrag übernimmt: Er soll die lebensgroße Statue eines gekreuzigten Jesus "entkleiden". Dem in Marmor gehauenen Gottessohn wurde nachträglich ein Lendenschurz übergestülpt, nun soll er wieder in seiner ganzen Nacktheit erscheinen. Der selbst nicht sehr gläubige Erzähler ist ratlos – handelt es sich um einen Akt der Blasphemie? Er wendet sich an den Bischof, spricht mit einem Rabbiner und einem muslimischen Arbeiter, sucht Antworten auf die Frage nach den Grenzen von Leben und Kunst in der Religion. Eindrucksvoll und sprachmächtig schildert De Luca, wie sich dem Bildhauer während seiner Arbeit die Erfahrung des Glaubens immer tiefer erschließt.
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Das Buch
Ein kleines Bergdorf in Italien. Hier lebt der namenlose Erzähler recht unbehelligt als Bildhauer, Restaurator und Bergführer, bis er eines Tages einen ungewöhnlichen Auftrag übernimmt: Er soll die lebensgroße Statue eines gekreuzigten Jesus »entkleiden«. Dem in Marmor gehauenen Gottessohn wurde nachträglich ein Lendenschurz übergestülpt, nun soll er wieder in seiner ganzen Nacktheit erscheinen. Der selbst nicht sehr gläubige Erzähler ist ratlos – handelt es sich um einen Akt der Blasphemie? Er wendet sich an den Bischof, spricht mit einem Rabbiner und einem muslimischen Arbeiter, sucht Antworten auf die Frage nach den Grenzen von Leben und Kunst in der Religion.
Eindrucksvoll und sprachmächtig schildert De Luca, wie sich dem Bildhauer während seiner Arbeit die Erfahrung des Glaubens immer tiefer erschließt.
Die Autorin
Erri De Luca, geboren 1950 in Neapel, zog mit 19 nach Rom und arbeitete dort als Maurer, LKW-Fahrer und Lagerarbeiter. Im Selbststudium brachte er sich mehrere Sprachen bei, darunter auch Althebräisch, um die Bibel übersetzen zu können. Seine Bücher wurden zu internationalen Bestsellern.
Annette Kopetzki war Lektorin für deutsche Literatur in Italien und promovierte über literarische Übersetzung. Neben Werken von Erri De Luca übertrug sie u.a. Pier Paolo Pasolini, Alessandro Baricco und Ugo Riccarelli ins Deutsche.
ERRI DE LUCA
Den Himmel finden
Roman
Aus dem Italienischenvon Annette Kopetzki
List
Die Originalausgabe erschien 2016unter dem Titel La Natura Espostabei Giangiacomo Feltrinelli Editore, Milano.
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ISBN: 978-3-8437-1730-4
Copyright © 2016 by Erri De Luca© der deutschsprachigen Ausgabe2018 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinLektorat: Esther HansenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenFoto: © Herbert List / Magnum Photos / Agentur Focus
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
»Von diesem Moment an kann alles, was ihr sagt, zu meinem Vorteil verwendet werden.« Diese manchmal unausgesprochene Prämisse bestimmt mein Zuhören. Ein Satz mit unfreiwilligem Doppelsinn, ein unbekanntes Sprichwort, ein Missgeschick können sich auf die Seiten übertragen, die ich schreibe.
Den Himmel finden verdankt sich dem Zuhören. Es ist eine theologische Erzählung: Wenn die Welt und die Lebewesen das Werk einer Gottheit sind, ist jede Erzählung notwendig theologisch. Für mein eigenes Erleben schließe ich göttliches Eingreifen aus, nicht für das anderer Menschen. Das Du der Gebete, des Zorns und des Mitgefühls kann ich nur an die menschliche Spezies richten.
Es war an einem Juliabend in Val Badia auf dem Berghof von Lois Anvidalfarei und Roberta Dapunt, er Bildhauer in Bronze, sie Lyrikerin in drei Sprachen. Unser Abendessen zu dritt an ihrem Tisch zog sich länger hin, denn wir berichteten einander vom letzten Jahr. Roberta verkündete, dass Lois eine Geschichte zu erzählen habe. Ich hörte sie an und vergaß sie.
Im nächsten Jahr saß ich wieder an ihrem Tisch oder sie an meinem, im Restaurant Tabarel in San Vigilio di Marebbe. Wir kamen auf das Thema zurück, ich erinnerte mich an die Einzelheiten, die mich interessiert hatten.
Im Herbst 2015, nach dem Abschluss mühseliger Verhandlungen in einem Turiner Gerichtssaal, bin ich zum Schreiben zurückgekehrt. Beim Schreiben muss ich, wie beim Bergsteigen, allem den Rücken zukehren und mich mit der größtmöglichen Genauigkeit auf die Oberfläche konzentrieren, die sich vor meiner Nase erstreckt. Ich habe einen Absatz gemacht und neu begonnen.
Ich glaube nicht, dass Lois auf den folgenden Seiten seine Erzählung wiedererkennen wird. Trotzdem muss ich hier ihren Ursprung und meine Dankesschuld erwähnen. Lois hatte mir schon das Umschlagbild von Mein Wort dagegen angeboten, eine seiner Bronzestatuen, ein Gefangener.
Auf diesen Seiten betrete ich mit der Geschichte eines Bildhauers sein Fachgebiet.
Zu unserem nächsten Treffen werde ich nicht mit leeren Händen kommen.
ICH LEBE NAHE der Staatsgrenze, am Fuße von Bergen, die ich auswendig kenne. Studiert habe ich sie auf der Suche nach Mineralien und Fossilien, später dann als Bergsteiger. Mein unsicherer Lebensunterhalt stammt aus dem Verkauf der Fundstücke und kleiner Skulpturen aus Stein und Holz.
Ich schnitze Namen für die beharrlich Verliebten, die sie lieber in Äste und Steine geritzt sehen statt als Tätowierungen. So halten sie länger, ohne zu verbleichen. Ich suche trockene Wurzeln, Steine, die den Buchstaben des Alphabets gleichen. Die in Herzform sind leicht zu finden, wenn man im Kiesbett ausgetrockneter Bäche flussaufwärts geht. Andere, schroffere Formen finde ich auf den Geröllhalden, wo sich der Abrieb von den Felswänden sammelt. In der Natur finden sich Abc-Fibeln.
MAN RUFT MICH für kleine Reparaturarbeiten an Skulpturen, meistens in Kirchen. In unserer Gegend schmücken die Leute sich gerne mit Arbeiten von Künstlern. Ich bin kein Künstler, ich repariere Nasen, Finger, die zerbrechlichsten Teile. Als Junge durfte ich das musische Gymnasium besuchen. Mit diesem Schulabschluss bin ich dann im Kohlebergwerk arbeiten gegangen. Seit es geschlossen ist, arrangiere ich mich mit dem, was ich finde.
Wenn ich aus der Schicht im Bergwerk kam, stieg ich, statt ins Dorf hinunterzugehen, hinauf in die Berge. Ich verlangte nach Schnee, damit wusch ich mir die Hände und das Gesicht. Ich rannte durch den Wald zum Gipfel, aus meinen Poren kam sauberer Schweiß. Ich kletterte die Äste einer hohen Zirbelkiefer hinauf, verklebte mir die Hände mit Harz. Vom höchsten Sitz aus blickte ich zum Horizont, um den engen Bergwerksstollen abzuschütteln. Der Schauder eines Hundes, der aus dem Wasser kommt, lief mir über den Rücken.
Geblieben ist mir die Bewunderung für Künstler, ein Zuschauergefühl, nicht das eines Kollegen. Mit meinen fast sechzig Jahren klettere ich noch immer gewandt auf Gerüste und Berge. Ich wohne im letzten Haus am Dorfrand. Für mich ist es das Erste auf dem Weg hinunter aus den Wäldern, wenige Meter von einem kleinen Wasserfall entfernt, der mir fließend Wasser gibt. Ein Rinnsal bleibt auch dann, wenn es friert.
SEIT EINIGER ZEIT kommen Fremde ins Dorf, die keine Heimat mehr haben. Sie versuchen, die Grenze zu überqueren, die Behörden lassen sie gewähren, damit sie sich nicht um sie kümmern müssen. Wir leben in einem Land der Durchreise. Manche könnten hier bleiben, aber das tut keiner von denen, die es so weit geschafft haben. Als Kompass haben sie eine Adresse in ihrer Tasche. Für uns, die wir nie gereist sind, sind sie die Welt, die gekommen ist, uns zu besuchen. Ihre Sprachen machen das Geräusch eines fernen Flusses.
Für sie ist ein kleiner Begleitdienst über die Grenze entstanden. Wir sind zu dritt, alte Männer, denn hier oben ist man mit sechzig alt. Nur wir drei kennen die Wege auch im Dunkeln.
Seltsam, dass Staaten Grenzen auf den Bergen errichten, sie halten die Berge für Barrieren. Sie irren sich, Gebirge bilden ein dichtes Verbindungsnetz zwischen den Hängen und bieten damit unterschiedliche Durchlässe, je nach der Jahreszeit und der körperlichen Verfassung der Reisenden.
Die Wege, die wir drei benutzen, führen auf die andere Seite, ohne dass man einer Menschenseele begegnet. Grenzen nützen nur in der Ebene. Man errichtet einen Gitterzaun, und es gibt kein Durchkommen. Im Gebirge geht das nicht.
Sich begleiten zu lassen hat einen Preis. Bei uns haben die beiden anderen ihn festgelegt, mir ist es recht, dass sie das Entgelt bestimmen. Die Reisenden zahlen im Voraus, sie sind gezwungen, uns zu vertrauen. Man spricht ein Englisch aus zehn Worten, das Kauderwelsch der Ortswechsel.
EINER VERSUCHT, OHNE uns hinüberzukommen, verirrt sich, kämpft sich ab, und wir finden ihn tot, von den Raben zerhackt. Wir begraben ihn, bei jedem Gang bringen wir eine Schaufel Erde mit.
Von weitem glaubt man, einen Durchschlupf zu sehen, von nahem, von innen findet man ihn nicht mehr.
Es kommen Frauen, Kinder ohne Eltern, für sie kein Rabatt, der Begleitdienst wird nicht leichter, im Gegenteil, er dauert länger. Wenn es kräftige junge Männer sind, bringe ich sie auf dem schwierigen Weg, der kürzer ist. Auf steilen Wegstrecken binde ich ihnen ein Seil um die Taille und ziehe sie hoch. Deshalb verlange ich, dass sie einen Rucksack tragen und die Hände frei haben.
Mit Kindern und Frauen nimmt man die langsamere Strecke, ich achte auf ihre Kleider, die Schuhe. Ohne ein festes Paar Schuhe und warme Sachen gehe ich nicht los, auch im Sommer nicht. Die beiden anderen würden sie auch barfuß mitnehmen. Sie verdienen jetzt mehr Geld als in ihrem ganzen übrigen Leben.
Einer ist Schmied, der andere Bäcker. Wir kannten uns schon als ungebärdige Bengel. Wir sind zusammen in die Berge gestiegen, haben unter jedem Stein gewühlt, als man uns die gefangenen Nattern bezahlte.
Wir schliefen zwischen Gipfeln und unter Bäumen. Der Schmied ist groß, massig, hinterlässt Bärenspuren. Der Bäcker ist der Älteste von uns, die Hände hart gebacken wie Brot, sie taugen zu nichts mehr. Seine Füße laufen, und mit denen steckt er sich ein schönes Sümmchen in die Tasche.
Wir gehen nicht gemeinsam, jeder nimmt seinen Weg. Manchmal kreuzen wir uns, auf dem Hinweg der eine, auf dem Rückweg der andere.
WIR SIND GEMEINSAM aus der Lawine hervorgekommen, die uns über viele hundert Meter mitten am Tag durch ihr plötzliches Dunkel geschleift hat. Am Ende des Sturzes hat sie uns ausgespuckt wie Kerne.
Wenn man abstürzt, sind die ersten langsamen Meter schrecklich, danach beschleunigt man, rollt, schlägt auf und streitet mit dem Tod. Am Fuß des Steilhangs sah ich wieder Luft, ich war dem dunklen Sack entkommen, staunte, dass ich lebte und ganz war. Ich stand auf und sah den Schmied kopfüber im Schnee stecken, die Füße schauten heraus. Ich zog ihn aus dem Schnee und pumpte ihm mit meinem Atem Luft in die Lungen, bis er mir seinen ersten Hauch ins Gesicht spuckte. Der Bäcker lag weiter weg, aber mit dem Gesicht im Freien, ohnmächtig. Ohrfeigen genügten. Sein Arm war zerschmettert. Drei von drei hatten überlebt, das war besser als unmöglich. Am Abend leerten wir eine Fünfliterflasche Wein, gar nicht mal zu viel.
UNSER DORF IST kein Ort für Frauen. Sie sind in die Stadt gegangen, verheiratet oder nicht. Ihre Schönheit, eine Tradition, kommt aus der Kreuzung mit durchreisenden Völkern. Sie haben die Karawane im Blut. Die Männer bleiben, hier bei uns läuft das Leben mit dieser Kehrseite, und uns ist es recht. Unser Dorf besteht nur noch aus Männern und Tieren.
Im Sommer verkaufe ich den Feriengästen meine Stücke und Skulpturen, die ich im Winter mache. Auf dem Tisch aus grobem Holz vor dem Haus stelle ich mein Angebot aus. Die Leute bleiben aus Neugier stehen. Die Zeit ist für sie mit dem Kauf verbunden, wenn sie kein Geld haben, bleiben sie nicht stehen. Sie sagen es, entschuldigen sich sogar und gehen schnell weiter, als hätten sie mit einem zu tun, der die Hand ausstreckt. Ihnen kommt nicht in den Sinn, dass ich meine Sachen verschenken könnte, wenn einer stehenbleibt, um zu schauen, anzufassen, zu fragen.
Hier oben gab es Fische, Korallen und Muscheln. Aus ihren Resten bestehen die Berge. Wer sagt, dass wir Bergbewohner sind, dem antworte ich, dass wir das Meer früher als andere hatten. Ich beweise es mit dem in die Oberfläche des Steins gegrabenen Fang, dem Abdruck einer Gräte, einer Austernschale.
AUCH MEINE GEBRAUCHTEN Bücher bringe ich an die Luft, biete sie zur Lektüre an, ich bin die Gemeindebücherei, die es hier nicht gibt.
Mir haben sie geholfen, die Welt kennenzulernen, die Vielfalt der Menschen, von denen es in dieser Gegend wenige gibt. Bücher wärmen das Haus, wenn sie dicht an der Wand stehen, die nach Norden geht.
Seit die Sehkraft abnimmt, lese ich weniger, den Kauf einer Brille schiebe ich auf. Der Körper hat seine Generationen, diese letzte handelt manchmal blindlings. Darum kann ich nachts ins Gebirge gehen.
Die Treffen mit den Reisenden finden im Wirtshaus statt. Meist kommt nur einer herein, er kommt im Namen der anderen. Einer von uns ist da, wenn nicht, wird gewartet.
Man muss sich nicht zurückziehen, hier kennt man die Leben der anderen, die Kränkungen, die Kniffe, die Wortbrüche. Sie haben sich mit den Knochen vermischt. Man lässt einander leben, ohne sich einzumischen.
Der Wirt bringt die Neuangekommenen im Stall unter. Wenn das Wetter nicht mitmacht, muss man drauf warten.
Es sind keine Bettler, sie haben genug Geld, um in der ersten Klasse zu reisen. Aber sie müssen es mit uns machen, heimlich, zu Fuß, und für jeden zurückgelegten Meter zahlen. An Banditen sind sie gewöhnt, wir sind die Letzten auf ihrer Reise, nicht die Schlimmsten.
Ich rede von uns dreien, um mich nicht auszuschließen, aber ich mache es anders. Ich lasse mich bezahlen wie die anderen, aber wenn ich die Menschen nach drüben gebracht habe, gebe ich ihnen das Geld zurück. Sie brauchen es nötiger. Ich sage nicht vorher, dass ich ihr Geld bei mir habe, damit keiner auf den Gedanken kommt, es sich mit Gewalt zurückzuholen.
Führe uns nicht in Versuchung: dieser Satz aus dem Katechismus hat sich mir eingeprägt. Wenn du in Versuchung geführt hast, bist du zur Hälfte selbst schuld.
HINTER DER GRENZE zeige ich ihnen, wo sie Rast machen, wo sie Transportgelegenheiten finden. Ich gebe ihnen ihr Geld zurück und drehe mich auf dem Absatz um. Ich halte mir die Ohren zu, so verstehen sie, dass ich keinen Dank hören will. Ich bin allergisch gegen die Thank you.
Es gefällt mir, in einem Alter nützlich zu sein, das in dieser Gegend im Irrsinn, im Alkoholdelirium oder im Altersheim endet. Kein Vater zu sein hat den Vorteil, dass es keinen Sohn gibt, der mich dort einsperren will.
Mein Altersheim ist das Gebirge, eines Tages wird es mir die Augen schließen und sie den Raben überlassen, das ist ihr liebster Leckerbissen.
Auf den Bergen, die zum Dorf gehören, hat der Krieg meiner Großeltern stattgefunden. Ich kehre von einem Grenzübergang zurück und bleibe an einem Schlachtfeld stehen. Dort lege ich mich neben die Körper, die nicht mehr da sind, schließe die Augen.
Ich warte, bis ich mir vorstellen kann, zu ihnen zu gehören, Altersgenossen im Unglück. Es dauert ein paar Atemzüge.
Im Gebirge vermengt man Erinnerung mit Phantasie. Wenn ich eine Felswand hochsteige, lege ich meine Finger in dieselben Haltepunkte wie die Bergsteiger, die diese Wand eingeweiht haben. Unsere Bewegungen fallen zusammen, ich stecke den Karabiner in die Öse des Hakens, den sie in den Fels rammten, meine Nase hat denselben Abstand zur Wand.
WÜRDE MEIN ZWILLINGSBRUDER noch leben, wäre er einverstanden. Er war sechs, als er im Frühling von der Hochwasserwelle des Wildbachs mitgerissen wurde. Von einem winzigen Stück Land mitten im Fluss angelte er Forellen. Im Dorf hörten wir das Sturmgeräusch, das die Hochwasserwelle macht, wenn sie Bäume und Steine von den Ufern wegreißt, wenn sie zerstört. Wir fanden einen seiner Schuhe kilometerweit talabwärts.
Das ist über fünfzig Jahre her: der Gedanke an ihn leistet mir Gesellschaft. Er war mutig, ohne sich zur Schau zu stellen, kletterte auf Bäume, sprang ins eiskalte Wasser. Noch heute betrachte ich ihn als älteren Bruder. Vor Entscheidungen denke ich an ihn, frage ihn. Er hat das Recht aufs letzte Wort. Ich weiß nicht genau, ob ich es erkenne, mir genügt, zu glauben, dass es seins ist.
Er war Linkshänder, ich bin es nicht. Für ihn habe ich gelernt, seine Hand gleichberechtigt zu gebrauchen. Im Notizbuch schreibe ich eine Seite mit meiner, die andere mit seiner Hand. Bei Tisch benutze ich Messer und Gabel abwechselnd mit rechts oder links. So bleiben die Hände Zwillinge.
UNTERDESSEN DIE NEUIGKEIT, das ausländische Fernsehen ist gekommen. Sie suchten nach mir und sind zum Wirt gegangen. Er wusste, dass ich auf einem Grenzgang war, und hat sie beherbergt. Auf meinem Rückweg kam er mir entgegen, um mir zu sagen, ich sei jetzt ein wichtiger Mann. Einer aus einer Gruppe, die ich vor einem Jahr begleitet habe, ist Schriftsteller, er hat ein Buch über seine Reise geschrieben, das ein Erfolg geworden ist. Es erzählt von unserem Dorf und vom nächtlichen Überschreiten der Grenze. Es berichtet, dass ich ihnen im Morgengrauen, auf der anderen Seite, das Geld zurückgegeben habe.
Damit bringt er mich in Schwierigkeiten. Der Wirt reibt sich die Hände wegen der Werbung für unser Dorf und das Wirtshaus. Am Abend zuvor haben sie dort Innenaufnahmen gemacht, sogar von unserem leeren Tisch, wo wir die Abmachungen treffen.
»Jetzt werden Touristen kommen von wegen Schlafplätze im Stall.« Er schleift mich mit, ich habe die Nacht auf dem Buckel, aber ich kann nicht mal bei mir zu Hause vorbei.
ICH HALTE AN, stehe fest auf dem Boden. Ein Schriftsteller? Alles gelogen, er hat die Geschichte erfunden. Wer könnte auf so einen Gedanken kommen, dass ich das Geld zurückgebe? Man weiß doch, wie Schriftsteller sind, sie verkaufen Geschichten.
Der Wirt sieht mich böse an. »Sei kein Spielverderber. Endlich interessiert sich mal jemand für dieses elende Dorf.«
Welche Ammenmärchen soll ich ihm erzählen?
»Weil das Buch so erfolgreich war, haben sich weitere Zeugen gemeldet, sie wurden interviewt und haben bestätigt, dass die Begleitung über die Grenze gratis war. Man will eine Sendung mit denen und mir machen.«
Das ist das Ende meiner kleinen Genugtuung, noch nützlich zu sein. Die Aufmerksamkeit, die Werbung macht Schluss mit den Grenzgängen in unserer Gegend.
Ich entgegne dem Wirt, nicht mal wenn ich im Sterben läge, würde ich zugeben, es umsonst getan zu haben.
Ich muss den Dummen spielen, sagen, dass alles eine schlaue Erfindung ist. Diesen Satz wiederhole ich den ganzen Tag lang für alle, die fragen. Mein ganzes Leben hat kein einziger Fremder mich nach meiner Meinung gefragt, und plötzlich tun es eine Menge Menschen gleichzeitig.
DER SCHMIED UND der Bäcker grüßen mich nicht mehr, die schwerwiegendste Geste unter Dorfbewohnern, der Ausschluss aus dem Verzeichnis der Lebenden. Ich bin einverstanden, ich selbst würde mir den Gruß verweigern.
Der Schriftsteller, es muss ein Schriftsteller unter den vielen hundert Menschen gewesen sein, die ich begleitet habe, er musste darüber ein Buch schreiben, und es musste obendrein Erfolg haben. So viele Zufälle auf einmal, das ist fast unmöglich, doch hier haben sie sich zusammengetan, um einen Mann von seinem Platz zu stoßen.
Vermutlich hat er geglaubt, mir einen Gefallen zu tun. Er hätte mich fragen können, hierher zurückkommen und mich fragen, ob es mir recht sei. Stattdessen schreibt er: »Er hat mich im Dunkeln über die Berge geführt, den Kompass hatte er im Kopf, nicht in der Hand. Er hat uns wie Menschen behandelt, nicht wie eine Herde Schafe, die zur Schur getrieben wird. Er hat uns unser Geld zurückgegeben, hat sich umgedreht und ist eilig weggegangen, die Hände auf den Ohren, um uns zu zeigen, dass er keinen Dank braucht. Wir standen mit offenem Mund da, einige von uns waren gerührt. Dies schreibe ich aus Dankbarkeit.«
So ein Schund, die Leser von heute sind leicht zufriedenzustellen. Er hat mich bezahlt, oder nicht? Er hat mir sein Geld gegeben, und ich habe es genommen. Das Zurückgeben ändert nichts. Ich habe es eingesteckt und gegen Bezahlung Menschen geschmuggelt. Hinter der Grenze habe ich mich dann von einem Gewicht befreit, für den Heimweg.
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