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Bangkok, schillernde Metropole und einer der heißesten Brennpunkte der Welt. Und auch Treffpunkt für Agenten aller großen Geheimdienste weltweit, Bühne für Intrigen und Korruption. Hierher verschlägt es die attraktive Star-Journalistin Dany Callway aus München. Sie will einen hochexplosiven und investigativen Bericht über Thailand schreiben, und, wenn es um ihre Karriere geht, ist ihr jedes Mittel recht. Deswegen schreckt sie auch nicht davor zurück, sich auf eigene Faust an die Fersen einer Untergrundorganisation zu heften. Doch schon bald gerät sie zwischen die Fronten. Wer ist Freund und wer Feind in diesem undurchsichtigen Spiel? Kann ihr der Architekt Ferry Fenrich helfen, der eigentlich hier in Bangkok ein bisschen Abstand von seinem Alltag gewinnen wollte? Und wer ist der mysteriöse Reisende namens Kalaschke, der Dany mehr als nur vage bekannt vorkommt? Die Aktion "Flashlight" wirbelt das Leben aller Beteiligten mächtig durcheinander.-
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Seitenzahl: 361
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Will Berthold
Roman
SAGA Egmont
Die Stadt der Engel
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Will Berthold Nachlass,
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de).
Originally published 1985 by Heyne Verlag, Germany.
All rights reserved
ISBN: 9788711726990
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Die junge Frau mit den sanftroten Haaren und meergrünen Augen, ein Blickfang ohnegleichen, hatte eine lange Reise hinter sich, aber es sah nicht so aus, als sei sie bereits zu Ende, denn der Zubringer-Jet aus Frankfurt kreiste seit einer halben Stunde ohne Landeerlaubnis in der Waschküche über dem Flughafen München-Riem. Es hellte ein wenig auf, und kurze Zeit später wurde dem Flugkapitän eine Einflugschneise zugewiesen.
Die VIP-Passagierin, die nach langem Nachtflug aus Washington in Frankfurt umgestiegen war, wirkte trotz der Strapaze frischer als der junge Tag, eher ungeduldig als erschöpft. Seit Dany Callway in Langley, dem Hauptquartier des US-Geheimdienstes, streng vertrauliche Informationen aufgeschnappt hatte, war ihr klar, daß sie zur Enttäuschung ihrer in München lebenden Mutter so rasch wie möglich nach Südostasien Weiterreisen mußte: Ein guter Journalist hetzt nicht hinter den Ereignissen her, er fliegt ihnen entgegen. In diesem Fall nach Krung Thep. In die Stadt der Engel. Weit bekannter ist die berstende Menam-Metropole in der Neuen wie der Alten Welt unter dem Namen Bangkok. Dieser künstliche Name ist praktischer, doch auch unromantischer, und dabei haben weder Europäer noch Amerikaner etwas gegen Engel, zumal siamesische.
Die Bordlautsprecher wurden eingeschaltet: »Wir werden in wenigen Minuten in München landen«, meldete sich der Flugkapitän: »Bitte schnallen Sie sich an und stellen Sie das Rauchen ein. Besten Dank.«
Dany Callway stellte ihren Sitz hoch und rückte den Zeiger ihrer Armbanduhr um sechs Stunden vor, die München New York voraus war. Die Zeitverschiebung konnte ihr nichts anhaben; häufige Atlantik-Überquerungen hatte ihr wie Politikern oder Tennisstars beigebracht, während des Flugs zu schlafen.
Es war jetzt acht Uhr, und ein geschäftiger Tag lag vor ihr.
Bereits zu dieser Stunde traten an diesem letzten Dienstag des Januar im Camp zu Pullach die leitenden Beamten des Regierungsdirektors Wilhelm Pallmann zu einer plötzlich anberaumten Geheimbesprechung zusammen. Sie waren mitten in der Nacht alarmiert und vorzeitig zu ihrer Dienststelle beordert worden. Die Atmosphäre war geladen wie vor einem Wolkenbruch. Das Barometer stand auf Sturm. Vermutlich war eine weitere Hiobsbotschaft aus der thailändischen Hauptstadt eingegangen.
»Meine Herren«, sagte der Regierungsdirektor, ein untersetzter, kompakter Typ, ein Jurist, der aussah wie ein Freizeit-Boxer. »Leider ist die Situation in Bangkok unhaltbar geworden. Ich nehme an, daß die eine oder andere Einzelheit längst gerüchteweise zu Ihnen durchgedrungen ist.« Der Leiter der Südostasien-Abteilung, der vor seiner Beförderung zum Vizepräsidenten des Bundesnachrichtendienstes stand, wie jeder in Pullach wußte, erwartete keine Bestätigung und erhielt sie auch nicht. »Ich habe Herrn Schlumpf, der an der Aufklärung dieser mysteriösen Vorfälle arbeitet, um eine Blitzanalyse gebeten. Bitte gedulden Sie sich noch einen Moment, meine Herren, der Kollege Schlumpf telefoniert gerade mit unserer Residentur in Bangkok.«
Im Flughafengedränge wehrte Dany lächelnd einen Mitreisenden ab, der ihr den Koffer tragen wollte. Sie pflügte ihren Samsonite auf Rollen durch den Trubel der Halle. Die Passanten wichen zunächst unwillig beiseite, doch dann bildeten sie trotz ihrer Hast eine Gasse der Huldigung. Sobald man die Dreißigjährige erkannt hatte, war sie auch schon entkommen.
Sie wirkte schlank wie ein Mannequin, attraktiv wie ein Fotomodell, wandelbar wie eine Schauspielerin und schön wie eine preisgekrönte Miß. Von jeder Kategorie zeigte sie etwas und war doch kein Verschnitt. Sie hatte Verstand, sie führte Persönlichkeit vor, und sie gab sich selbstbewußt, doch nicht arrogant.
Ein Taxifahrer verstaute ihr Gepäck in Kofferraum. »Sie sind doch Dany Callway!« sagte er. »Stimmt’s?«
»Bitte nicht weitersagen!« erwiderte sie und setzte sich neben ihn. »Zum globus-Haus am Luitpoldpark!«
»In Eile?«
»Immer«, versetzte die Reisende. »Vielleicht können Sie es so einrichten, daß Sie über die Franz-Joseph-Straße fahren und dort kurz bei RO-Reisen halten.«
»Wird gemacht«, entgegnete der Taxifahrer, der sich sein Germanistik-Studium durch Halbtagsarbeit verdiente. »Sie schreiben wirklich prima. Ich lese von Ihnen, was mir zwischen die Finger kommt. Die Astronauten-Saga zum Beispiel oder diese Säufer-Story in Brooklyn – einfach Klasse.«
»Vielen Dank«, erwiderte Dany und lächelte dem Fahrer zu. Es war nicht so, als würde das elektrische Licht angeknipst; ihre Freundlichkeit war kurz, doch echt.
Festgefrorene Schneegraupeln verwandelten die Straßen in eine Rutschbahn; die Autos schlichen dahin. »Seit Wochen dieses Sauwetter in München!« fluchte der Fahrer. »Die Fernsehansagerinnen entschuldigen sich jeden Abend, bevor sie die Prognose für den nächsten Tag verlesen.«
Kurz vor neun Uhr erreichte das Taxi Schwabing. »Stopp!« bat die junge Frau im gesteppten Overall und stieg behende aus. »Zwei Minuten.«
»Die erste Kundin des Tages«, begrüßte sie der Inhaber, »und sicher auch die schönste.«
»Keine Blumen, RO!« erwiderte Dany. »Ich brauche ein Ticket nach Bangkok.«
»Das Land des Lächelns und der Liebe«, alberte der untersetzte Mann mit den kurzgeschnittenen Haaren, Spezialist für schwierige Fälle, ein Reisemanager, den jedermann nur nach seiner Kurzform ›RO‹ nannte. »Linienflug?«
»Auf keinen Fall!« entgegnete Dany. »Pauschalreise mit einem richtigen Liebesbomber. Sie wissen doch, RO: mit Aufsteigern und Aussteigern, mit Eheflüchtlingen und anderen Fernostliebhabern. Eine gemischte Gesellschaft auf Erobererkurs, Persilschachteln neben Louis-Vuitton-Koffern.«
»Was Sie alles wissen!« staunte RO. »Start jeden Freitagabend 22 Uhr mit LTU. Aber nichts zu machen; ausgebucht für mindestens vier Wochen. Bangkok, das ist ein Dauerhit.« Er wurde sachlich: »Wann wollen Sie denn fliegen, Dany?«
»So bald wie möglich.« Seinem Einwand zuvorkommend, setzte Dany hinzu: »Ich weiß doch, RO, das schaffen nur Sie.«
Sie sprang in das Taxi. Es war nicht mehr weit bis zu dem Hochhaus an der Schleißheimer Straße. Als der Portier Dany sah, griff er zum Hörer. Sie schüttelte den Kopf und stellte ihren Koffer bei ihm ab. Der Lift katapultierte sie zur globus-Redaktion im 14. Stock hinauf, zur Tochterfirma eines weltweiten US-Magazins mit deutscher Ausgabe. Ein Teil der Wochenzeitschrift wurde von der Zentrale in New York geliefert; die übrigen Beiträge erstellte die deutsche Redaktion selbständig.
Dany arbeitete sowohl für Globe international aus auch für Globus deutschland und war dadurch eine Pendlerin zwischen München und New York. Als Tochter eines US-Diplomaten und einer Deutschen hatte sie gleich zwei Muttersprachen, und ihre Kinderzimmer waren in Bonn, Paris und London etabliert gewesen. Abitur in einem Schweizer Internat, Studium in München, dann an der Sorbonne in Paris, letzter Schliff in den USA. Mit zwanzig hatte Dany schon ihre ersten Artikel geschrieben, mit fünfundzwanzig durfte sie Reportagen bereits mit ihrem Namen zeichnen, und jetzt, mit noch nicht ganz dreißig, war sie eine vielgelesene, vielbewunderte und häufig nachgedruckte internationale Publizistin, die ihre Artikel, Interviews und Fortsetzungsserien gleich in zwei Versionen lieferte, in deutsch und in englisch. Ihr Verleger sparte die Kosten, und Dany mußte sich nicht über fehlerhafte Übersetzungen ärgern. Ihre Stories wurden stets vor Ort von ihr selbst und ihren Helfern bis in letzte Einzelheiten recherchiert. Dany hatte die Gabe, so zu schreiben, daß der Professor sie ebensogern las wie seine Zugehfrau. In Fachkreisen galt sie als ausgesprochen fair. Es war für Dany selbstverständlich, Informationen, die sie »off the record« erhielt, tatsächlich unter Verschluß zu halten, bis sie freigegeben wurden.
Der Mann, zu dem sie wollte, Dr. Frank Flessa, kam kurz aus einer Besprechung und küßte sie flüchtig. »Du überrumpelst mich nicht, Dany«, begrüßte sie der Redaktionsdirektor. »Du bist mir schon von New York avisiert worden. Deine Reportage über die neue Armut in den USA war so ziemlich das Beste, was ich in letzter Zeit gelesen habe«, konstatierte er zwischen Tür und Angel. »Zehn Minuten noch, ja?« Es war ein gutaussehender Vierziger mit braunen Augen und ersten Silbersträhnen im dunklen Haar, vom Typ her der geborene Verführer, der bei Dany lange auf der Stelle getreten war. Der notorische Junggeselle, der es immer verstanden hatte, ständige Zweisamkeit zu meiden, schlug bei der Journalistin eine Schlacht mit verkehrten Fronten.
»Dann könnte ich mich ja inzwischen renovieren«, schlug die Besucherin vor.
»Hier!« Flessa reichte ihr den Schlüssel zu seinem Junggesellen-Apartment im Penthouse über der Redaktion. »Bis gleich!«
Sie betrat das Badezimmer, zog sich aus, ging unter die Dusche. Dany wußte nicht, wie lange sie dieses Arbeitstempo noch durchstehen würde. Sie mußte die Zeit rationieren wie eine Filmdiva ihre Liebhaber, Galane stahlen der Journalistin allerdings die wenigsten Stunden; sie galt als unterkühlt und unnahbar, als Frau, bei der die Liebe in der hinteren Ecke des Lebens stand. Manche hielten sie für einen heimlichen Vulkan, andere wiederum für einen unheimlichen Eisberg. Vielleicht zu viel Karriere und zu wenig Hormone, munkelte man, und ein paar Schwätzer raunten sich zu, sie mache sich aus Frauen mehr als aus Männern; doch Dany war eine Frau ohne Skandale, schon weil sie kaum ein Privatleben besaß. Bruno, einer ihrer Lieblings-Rechercheure, der sich mit ihr schon in den heikelsten Situationen um den halben Erdball herumgetrieben hatte, klassifizierte Dany hinter dem Rücken als ›weder zimperlich noch pimperlich‹.
Sie ließ den Wasserstrahl auf die Haut prasseln und genoß die Erfrischung. Auf einmal sah sie, daß sie einen Zuschauer hatte: Frank Flessa war nach oben gekommen.
»Bin gleich fertig!« rief sie und fuhr ihn an: »Out! Schließ gefälligst die Tür von außen!«
Ein paar Minuten später erschien sie, eingewickelt in ein riesiges Badetuch.
»Ich hab’ noch eine Konferenz und muß anschließend zu einer Beerdigung«, erklärte der Mann mit den Silberfäden im Haar. »Übrigens stand die Badezimmertür offen.«
»Ich war unbeherrscht, entschuldige, Frank!« antwortete die Besucherin.
Er betrachtete sie genüßlich, sichtlich zufrieden und noch viel mehr. »Eigentlich müßte ich dich jetzt verführen, Dany.«
»Versuchs doch!« versetzte sie.
»Ich möchte mir nicht die Zähne ausbeißen.«
»So schlechte Zähne?« Dany ging auf seinen Ton ein.
»Nein«, entgegnete er. »Aber vielleicht bist du ein zu harter Brocken.« Er band sich eine schwarze Krawatte um. »Das hab’ ich vielleicht gern«, brummelte er. »Am liebsten bliebe ich selbst meiner eigenen Bestattung fern. Aber die US-Botschaft in Bonn-Mehlem gab mir einen Wink – ich bin nun mal der Deutschland-Repräsentant von globe. und so wie wir mit Pullach stehen…«
»Pullach?« fragte sie. »Du meinst den Bundesnachrichtendienst?«
»Richtig«, erwiderte Frank Flessa. »Ein Spitzenmann hat den Löffel abgeben müssen. Schlußakt elf Uhr 30, Aussegnungshalle Nordfriedhof.«
»Und der Verstorbene hat einen Namen?«
»Klar«, entgegnete der Redaktions-Direktor. »Und du kennst ihn sehr gut, Paul Garella.«
»Der Experte für Südostasien?« fragte die Journalistin wie elektrisiert.
»Ja«, bestätigte Flessa. »Und der Kontaktmann zwischen Bundesnachrichtendienst und der Agency. Ach ja«, setzte er hinzu, als erinnerte er sich erst jetzt, »du hast ja über diesen schillernden Typ vor Jahren eine Reportage geschrieben –«
»Eine meiner dürftigsten«, versetzte die Journalistin. »Wenn du keine Zutaten hast, kannst du auch nicht kochen.«
Der Mann mit den grauen Schläfen lächelte ein wenig spöttisch über die Küchenkunst seiner unständigen Begleiterin. Sie quittierte seinen Spott mit Selbstironie. Der häusliche Herd war nicht ihre Stärke. Bruno, ihr bevorzugter Helfer bei den Recherchen hatte verlauten lassen, bei Dany würde selbst das Kaffeewasser anbrennen – es wäre übrigens das einzige, was die Publizistin anbrennen ließe.
»Garella war vielleicht der erfolgreichste Untergrund-Experte, den der Westen jemals hatte«, analysierte der Zeitungsmann. »Schon zu Lebzeiten eine Legende, seit er vor Jahren diesen Sowjet-Oberst mit zwei Koffern voll Geheimmaterial auf nie geklärte Weise herübergeholt hat und –«
»Du brauchst mir Garellas Unersetzlichkeit nicht zu erklären«, unterbrach ihn die Globetrotterin. »Auch wenn meine Informationen Lücken aufweisen, weiß ich genau, um welches Kaliber es sich bei ihm handelte.« Sie unterbrach sich: »Ein solcher Mann stirbt im Bett?« fragte sie. »Mit 39?«
»Nicht im Bett«, erklärte Flessa. »Auf der Straße. Bei einem banalen Verkehrsunfall. Vor einer Woche.«
»Wo?«
»In New York. Am hellen Vormittag zehn Uhr. In der Fifth Avenue auf Höhe der Sankt Patricks Cathedral. Er ist in kopfloser Eile in ein Auto gelaufen und noch an der Unfallstelle verschieden – den Fahrer des Unglückswagens trifft keine Schuld.«
»Absurd«, versetzte Dany, selbst überfahren von diesen Informationen. »Da übersteht ein Mann weiß Gott was für gefährliche Untergrund-Scharmützel und läuft achtlos in ein Auto wie eine Blindschleiche – Das kann ich einfach nicht glauben.«
»Dann weißt du mehr als CIA, FBI und die New Yorker Kriminalpolizei zusammen, die tagelang den Fall untersucht haben.«
»Ich weiß gar nichts«, erwiderte Dany, »aber ich fürchte, daß hier Leute im Hintergrund den Deckel auf eine faule Sache pressen. Ein lächerlicher Verkehrsunfall? Das stimmt hinten und vorne nicht. und warum erfahre ich nicht, was in New York geschieht, während ich in New York bin?«
»Niemand hatte wohl ein Interesse daran, dieses Fiasko an die große Glocke zu hängen«, entgegnete der soignierte Journalist. »Außerdem erfährst auch du nicht alles, Darling«, spöttelte der globe-Statthalter in Deutschland und sein Lächeln verdichtete sich: »So neugierig du auch bist.«
»Berufstugend«, konterte Dany. »Und was unternimmt globe jetzt im Falle Garella?«
»Gar nichts«, antwortete der Spitzen-Mann. »Es gehört zu unseren Regeln, Vertraulichkeit nicht zu brechen. Auch du wirst dich daran halten, Dany. Wenn ich da nicht sicher wäre, hättest du diese dubiose Geschichte von mir nicht erfahren.«
Sie bestätigte seine Worte. Die Hausregeln wurden eisern eingehalten. Es war nicht nur eine Tugend, sondern auch ein Geschäft zum Nutzen beider Seiten.
»Aber machst du dir denn keine Gedanken, Frank«, fragte die Journalistin, »warum man so ein Ereignis unter den Teppich kehrt und dann den globe-Deutschland-Repräsentanten zur Aussegnungs-Feier einlädt?«
»Von Einladung keine Rede«, erwiderte der Graumelierte. »Man hat mich lediglich informiert. und dann unterschätzt du meines Erachtens den menschlichen Faktor: Einen so bewährten Untergrund-Gefährten verscharrt man doch nicht einfach wie einen Hund, selbst wenn es die Regel der Branche erfordern würde. In der momentanen Situation ist auch dem US-Außenministerium sicher nicht daran gelegen, den Fall Petrowski noch einmal hochzuspielen und dabei alte Wunden aufzureißen«. Er legte seine Hand besänftigend auf Danys Arm. »Vielleicht bist du nur verärgert, daß wir in München, weit vom Schuß, erfuhren, was die Zentrale in New York noch nicht wußte. Als ich gestern die Chefredaktion mit der Nachricht von Garellas Tod überrumpelte, warst du bereits auf dem Weg zum Kennedy-Airport.« Er unterbrach sich: »Wie lange wirst du in München bleiben?« wechselte Flessa dann das Thema.
»So lange wie nötig und so kurz wie möglich«, antwortete die Journalistin. »Ich muß weiter. Alle reden über die Contras von Nicaragua, aber die nächste Untergrund-Runde wird nicht in Südamerika, sondern in Südostasien ausgetragen.«
»Du meinst diese vietnamesischen Truppenkonzentrationen in Kombodscha?« fragte Flessa.
»Auch«, erwiderte die Journalistin. »Aber nicht nur diese Aktivitäten.«
»Offensichtlich weißt du mehr als ich.«
»So ist es«, versetzte Dany lächelnd. »Ich war Gast im Hauptquartier des US-Geheimdienstes CIA im Wald von Langley. Man zeigte mir das feine Casino, die gepflegten Tennisplätze und die vorbildlichen Kindergärten. Die Leute gaben mir eine Party – doch sonst waren sie schweigsam wie Trappisten-Mönche.«
»Aber eine Frau wie du Weiß, wie man Geheimnisträger zum Reden bringt«, erwiderte der deutsche globus-Statthalter.
»Zum Flüstern«, entgegnete Dany lachend, »Jedenfalls habe ich einiges aufgeschnappt. Es sieht so aus, als hätten die westlichen Geheimdienste – vor allem Pullach – in Bangkok eine Reihe von Schlappen hinnehmen müssen. Womöglich sitzt im Abwehrapparat ein Doppelagent, ein Verräter, ein Maulwurf.«
»Diese Möglichkeit besteht ja immer«, erwiderte Flessa.
»Jedenfalls soll auf höchster Ebene in Pullach und Langley unter dem Decknamen ›Flashlight‹ ein Gegenschlag geplant sein. Start unmittelbar bevorstehend.«
»Seit wann sind denn Geheimnisträger der Spitzenklasse so mitteilsam?«
»Du unterschätzt vielleicht meine Methode.«
»Keineswegs«, entgegnete der Redaktionsdirektor. »Aber vielleicht haben deine CIA-Informanten nur einen Türken gebaut, um dich von anderen Dingen abzulenken.«
»Durchaus möglich«, räumte Dany ein. »Darum will ich mich ja auch vor Ort überzeugen.«
»Ich dachte, du wolltest eine Weile in München ausspannen«, sagte Flessa.
»Diese Absicht bestand«, erwiderte die Journalistin. »Aber kann ich mir einen so schillernden Schauplatz wie Bangkok entgehen lassen? Ob nun dieses CIA-BND-Blitzlicht gezündet wird oder nicht, ein Ausflug in die Drehscheibe Südostasiens lohnt sich in jedem Fall: Exotik, Tropenparadies, Sextourismus«, zählte Dany auf, »Flora, Fauna, Kult und Kultur, Feudalismus, Machtpolitik, Korruption.«
»Na, schön«, resignierte Frank Flessa. »Unsere Gemeinsamkeit lebt ohnedies nur von der Trennung.« Er sah auf die Uhr. »Ich hab’ noch jetzt eine Besprechung und muß anschließend zur Aussegnung im Nordfriedhof. So long, Dany!« verabschiedete er sich. »Vielleicht können wir wenigstens den Lunch zusammen einnehmen.«
»Moment noch!«, sie hielt ihn auf: »Hättest du etwas dagegen, Frank, wenn ich dich zum Nordfriedhof begleite?«
»Ganz und gar nicht, Liebes«, erwiderte er. »Bei solchen Anlässen bin ich froh, nicht allein zu sein.«
Dany blieben gut 60 Minuten Zeit, um sich für den Abschied von Paul Garella etwas Passendes anzuziehen, 55 Minuten mehr, als sie benötigte.
Das Bangkok-Telefonat des Referenten Heinrich Schlumpf hatte sich endlos in die Länge gezogen und die Nervosität noch gesteigert. Die Herren Weidekaff und Sanftleben, hausintern Max und Moritz genannt, als ewige Streithähne gewissermaßen die bösen Buben der in Bedrängnis geratenen Südostasien-Abteilung, wirkten heute ausnahmsweise friedfertig. Als Vertreter Pullachs zur Garellas-Beerdigung abgestellt, trugen sie zu ihren schwarzen Krawatten ernste Mienen; sie sahen jetzt schon auf die Uhr.
»Geduld, meine Herren!« sagte Ressortchef Pallmann zu den beiden Regierungsräten. »Sie haben viel Zeit und kommen mit Sicherheit noch pünktlich.«
Die BND-Zentrale, Camp genannt, lag im Isartal, zehn Kilometer südlich von München. Noch immer war das Areal 60 000 Quadratmeter groß und durch eine eineinhalb Kilometer lange Mauer gegen die Öffentlichkeit abgeschirmt. Noch immer gab es, wie zu Zeiten General Gehlens, das ›Weiße Haus‹ als Mittelpunkt.
Sonst hatte sich viel geändert. Die Zeit der alten Gruftspione war vorbei, die Mitarbeiter des Generals hatte man fast alle schon pensioniert. Die Neuen waren eher Eierköpfe als Heißsporne. Zunehmend hatten Spionage-Satelliten, der Funkabhördienst und die elektronische Datenverarbeitung die Nachrichtenfindung übernommen.
Trotzdem galt die Knochenarbeit vor Ort noch nicht als überflüssig. Bei Freund und Feind unterhielt der Bundesnachrichtendienst Residenturen, getarnt als Handelsgeschäfte oder Import-Export-Agenturen. Es gab wichtige und weniger aufregende Nachrichten-Umschlagplätze. Bangkok war einer der bedeutendsten. Thailand, umgeben von kommunistischen Staaten, wurde als ein Bollwerk des Westens bewertet, das der rote Untergrund in ein zweites Vietnam verwandeln wollte.
»Entschuldigung«, sagte Oberregierungsrat Heinrich Schlumpf, als er außer Atem den Konferenzraum betrat. »In Bangkok ist wirklich der Teufel von der Kette.«
Der Referent, glänzend qualifiziert, sah aus wie ein pedantischer Bankbeamter. Er galt als ehrgeizig und dünnhäutig, er war ein scharfer Analytiker, unaufhaltsam auf dem Weg nach oben. Die meisten Kollegen mochten ihn nicht, stellten sich aber mit dem geborenen Aufsteiger sicherheitshalber gut.
»Ich versuche mich kurzzufassen«, versprach Pallmanns Günstling. »Seit etwa sieben Monaten meldet unsere Bangkok-Residentur eine Reihe mysteriöser Geschehnisse. Wir haben sie zunächst auf kleiner Flamme gekocht.« Er betrachtete den Ressortchef, der ihm zunickte; sein Blick streifte Aumer, Friedmann und Rauchalles, die ihm zuhörten wie beflissene Musterschüler. »Wir waren geneigt«, fuhr Schlumpf fort, »die Pannen als unglückliche Zufälle zu bewerten und keine Panik aufkommen zu lassen. Wir müssen heute aber annehmen, daß unseren Gegenspielern, offensichtlich unter neuer Leitung, einige Einbrüche in unser Netz gelungen sind. Davon müssen wir – leider – ausgehen. Wir haben dem unbekannten Mister X, der mit neuer Qualität den subversiven Kampf gegen uns wie gegen unsere Kollegen von der CIA leitet, den Decknamen Sulla gegeben.«
Die sechs Umsitzenden nickten; einige lächelten. Das Pseudonym für den gegnerischen Mr. Unbekannt war zweifellos von dem Regierungsdirektor erfunden worden. In Pullach führte Pallmann wegen seiner Vorliebe für die Antike, speziell die altrömische, den Spitznamen Cicero. Mußte ein Vorgang rasch erledigt werden, versah er ihn nicht mit dem Stempel ›Eilsache‹, sondern mit dem handschriftlichen Vermerk ›Citissime‹. Seine drei Töchter hießen Marcella, Lavinia und Jucunda, und die Sekretärinnen des Hauses nannte der künftige Vize Vestalinnen; freilich wurden sie nicht lebendig eingemauert, wenn man sie bei der Liebe ertappte.
»Sulla also leitet alle Anschläge und finanziert den Kampf im Untergrund, wie uns ja längst bekannt ist, vorwiegend durch Rauschgiftschmuggel. Wir wissen nicht, ob Sulla Thailänder ist, Asiate, Amerikaner oder Europäer. Wir wissen auch nicht, ob ihn Moskau nach Bangkok entsandt hat oder ob er auf vietnamesische Rechnung arbeitet. Wir können nicht einmal ausschließen, daß es sich bei ihm um einen Deutschen handelt. Gerade in letzter Zeit erhielten wir mehrere Hinweise auf Ost-Berlin.«
Heinrich Schlumpf griff nach dem Wasserglas, nahm einen Schluck. Seine Haare wirkten borstig. Er trug, wie um seine Bedürfnislosigkeit zu unterstreichen, eine billige Kassenbrille. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er feststellte: »Trotz der zumindest scheinbaren Entspannung zwischen den USA und der Sowjetunion brauche ich in diesem Kreis, meine Herren, wohl nicht festzustellen, daß und warum Südostasien auch weiterhin das Experimentier-Feld des Untergrunds bleiben wird. Ich beschränke mich jetzt auf die Tatsachen: Die ersten Alarmmeldungen gingen vor etwa sieben Monaten ein, und zwar vom Kundschafter 137. Kurze Zeit später stürzte der Mann bei einem Ausflug nach Katmandu in den Bergen ab; er war übrigens ein erfahrener Alpinist.«
»Na und?« erwiderte Weidekaff angriffslustig. »Soll ich Ihnen aufzählen, wie viele erfahrene Bergsteiger alljährlich umkommen?« Ziemlich ruppig setzte er hinzu: »Und seit wann liegt Katmandu eigentlich in Thailand?«
»Bitte unterbrechen Sie meinen Vortrag nicht, Herr Kollege!« erwiderte Schlumpf kühl und fuhr fort: »Der zweite Hinweis auf Sulla kam vor fünf Monaten: Agent 89 ertrank im Meer, vor dem Strand von Pattaya.« Der Berichterstatter hob die Stimme: »Der Mann war übrigens ein geübter Schwimmer.« Schlumpf betrachtete Weidekaff, einen Widerspruch erwartend; aber der Regierungsrat schwieg diesmal. »Der dritte Hinweis auf Sulla kam vor fünf Tagen«, referierte Schlumpf weiter. »Agent 131 forderte unsere EDV-Abteilung auf, alle Ostdeutschen in Bangkok noch einmal speziell zu überprüfen. Gestern wurde der Informant in der Rama-IV-Road von einem Lastwagen überfahren, am hellichten Tag.«
»Der Mann war übrigens ein erfahrener Fußgänger«, spöttelte Weidekaff.
»Ich bitte mir nun wirklich Sachlichkeit aus«, fuhr ihn Pallmann an. »Wir sind hier nicht im Kabarett, und der Anlaß ist ernst genug.« Er nickte Schlumpf zu. »Bitte fahren Sie fort, Herr Kollege!«
»Während Fall I und II ziemlich im dunkeln liegen, gibt es beim Agenten 131 kaum einen Zweifel, daß der Mann vorsätzlich beseitigt wurde – und zwar in einem entscheidenden Moment. Er war auf dem Weg zu unserer Residentur. Er hatte Grawutke – der bekanntlich die Außenstelle Bangkok zur Zeit kommissarisch leitet – mitgeteilt, daß enorm wichtige Nachrichten sofort nach Pullach weiterzuleiten seien. Unser Agent wurde auf einem Fußgängerstreifen von einem Lastwagen regelrecht gerammt. Augenzeugen haben beobachtet, daß der Lkw-Fahrer Maß genommen und dann mit Vollgas auf Nummer 131 zugerast ist. Anschließend verübte der Täter Unfallflucht. Augenzeugen hielten das polizeiliche Kennzeichen fest – es war gefälscht. Ich fasse also zusammen.« Schlumpf kam zum Ende. »Jeder der drei Agenten arbeitete selbständig. Keiner wußte etwas vom Verdacht des anderen in Sachen Sulla. Alle drei kamen ums Leben, als sie offensichtlich Hinweise auf den neuen Mann gefunden hatten, in das feindliche Netz eingedrungen waren und ihre Meldungen an das Camp weitergeleitet hatten.«
»Mindestens zwei Zufälle zuviel«, stellte Sanftleben fest.
»Und das«, führte Schlumpf weiter aus, «führt leider zu dem Verdacht, daß es hier bei uns eine undichte Stelle gibt.«
Der Referent wagte sich einen Schritt zu weit vor: »Es wäre ja nicht das erste Mal.«
»Bitte keinen Kommentar, Herr Schlumpf!« tadelte der Ressortchef milde. »Beschränken Sie sich ausschließlich auf die Fakten.«
»Selbstverständlich, Herr Regierungsdirektor«, erwiderte der Referent beflissen. »Es besteht also der Verdacht, daß es im westlichen Netz ein Loch gibt. Das könnte bei uns sein, genausogut aber auch bei einem befreundeten Intelligence-Service, mit dem wir in ständigem Nachrichtenverbund stehen.«
Alle dachten an die Agency, die CIA, und waren erleichtert, als Cicero es offen aussprach: »Natürlich ist man auch bei der Agency besort, daß sich in Langley ein Maulwurf eingenistet haben könnte. Möglich ist ja leider alles. Wir geben unsere Bangkok-Hinweise sofort an unsere Verbündeten weiter. Aber ich denke, bevor wir uns auf Spekulationen einlassen, sollten wir zuerst einmal vor unserer eigenen Haustür kehren.« Er hob die Stimme. »Das bedeutet, meine Herren, daß uns allen einige Unannehmlichkeiten nicht erspart bleiben werden. Ich sehe mich gezwungen, den hauseigenen Sicherungsdienst einzuschalten; er wird in unser aller Privatleben gehörig herumfuhrwerken.«
»Und wie immer ohne Ergebnis.« Der brave Friedmann wurde aufmüpfig.
»Ich verstehe etwas nicht«, griff Weidekaff wieder an. »Hier blähen wir unter Umständen drei Zufälle zu Anschlägen auf, und der Tod Paul Garellas kommt überhaupt nicht zur Sprache.«
»Irrtum, Herr Weidekaff!« entgegnete Schlumpf überlegen. »Wir haben mehr als gründliche Ermittlungen angestellt. Die Polizei in Manhatten hat den Unfall sorgfältig untersucht, gerade weil sie wußte, um wen es sich bei diesem Spitzenmann handelte. Auch die Agency hat sich eingehend damit befaßt: keinerlei Anhaltspunkte auf einen Anschlag, aber auch nicht die geringsten. und New York, das möchte ich nun doch feststellen, ist schließlich nicht Bangkok.«
»Wenn wir an Garellas letztem Akt teilnehmen wollen, wird es für uns höchste Eisenbahn«, unterbrach Sanftleben.
»Sie können gehen, meine Herren!« Damit entließ Pallmann Max und Moritz. »Was jetzt noch besprochen wird, erfahren Sie von mir nach Ihrer Rückkehr.«
Während die beiden Regierungsräte die Konferenz verließen, wurde die Diskussion turbulent. Der Verdacht stand im Raum und war nicht vom Tisch zu fegen. Solange er nicht entkräftet werden konnte, und das war bei der Sachlage so gut wie ausgeschlossen, stand mindestens einer der sieben Teilnehmer der Geheimkonferenz unter dem Verdacht, ein Maulwurf zu sein.
Die beiden Trauergäste fuhren im Dienst-Mercedes zum Nordfriedhof. »Na, da kommt ja was auf uns zu!« stöhnte Weidekaff.
»Quatsch!« entgegnete Sanftleben, der Widerpart. »Konferenzen sind doch der Sieg der Ärsche über die Köpfe. Und wenn der Rummel erst vorbei ist, wird wieder gedacht.«
»Sie müssen es ja wissen«, versetzte Weidekaff pikiert und rückte seine schwarze Krawatte zurecht.
Dany Callway und Frank Flessa erreichten ein paar Minuten zu spät die Aussegnungshalle des Nordfriedhofs und mußten doch noch im Vorraum herumstehen, weil sich die vorhergehende Abdankung in die Länge gezogen hatte.
Auf der Anschlagtafel las die Journalistin: ›11 Uhr 30, Paul Garella, 39 Jahre, Regierungsangestellter.‹
Offensichtlich erschienen nur wenige Trauergäste zum Abschied von einem ganz Großen in einer zwielichtigen Branche. Flessa machte seine Begleiterin auf Weidekaff und Sanftleben aufmerksam. »Das sind Leute aus Pullach«, raunte er ihr zu, und Dany nickte: »Gehobene Chargen.«
Die Spitzenleute des Camps im Isartal fehlten ebenso wie die Presseleute; entweder hatte Frank Flessa besonders gute Beziehungen zur amerikanischen Botschaft in Mehlem bei Bonn oder zur BND-Zentrale, oder man vertraute nur auf die branchenbekannte globus-Diskretion. In diesem Fall wollte man einen – schweigsamen – Journalisten dabei haben und alle anderen ausschließen. Irgendwie erinnerte Dany dieses Vorgehen an die Prozedur: Wasch’ mich, aber mach’ mich nicht naß.
Endlich wurden sie eingelassen, nacheinander betraten sie die kahle Halle. Der Sarg war mit Blumen geschmückt; der größte Kranz kam aus Pullach, der zweitgrößte von Globe international. Es war eine für diesen Anlaß merkwürdige Versammlung: Keine Angehörigen, keine Freunde, keine Bekannten, keine Kollegen, kein Pfarrer, vermutlich nur etliche Zaungäste.
Auf einmal tauchte doch ein Studienfreund Garellas auf, der sich nicht vorstellte, aber einen kurzen Nachruf sprach. Er vermied alle konkreten Angaben, bedauerte den »schrecklichen Unglücksfall«, der einen Mann in den besten Jahren aus diesem Leben abberufen hat« – im Grunde hätte diese Ansprache auf jeden gepaßt nach dem Schema: De mortibus nihil nisi bene. Die Worte erinnerten Dany an Regierungsdirektor Pallmann, den Latein-Fan, der wohl die Veranstaltung nach der altrömischen Devise, nichts über die Toten zu sagen, es sei denn gut, arrangiert haben mußte.
Sie ging schnell und zielstrebig über die karge Bühne. Die Beteiligten waren offensichtlich bestrebt, die Prozedur rasch hinter sich zu bringen. Der Abschieds-Choral kam vom Tonband und hallte in der trostlosen Halle mit der hohen Decke wider. Die Trauergäste hatten ergriffene Gesichter und sahen auf die Armbanduhr. In wenigen Minuten läge die bedrückende Zeremonie hinter ihnen.
Dany starrte auf den schlichten Eichenschrein, in dem der Mann lag, den seine Verfolger nach fünf Jahren doch noch eingeholt und getötet haben mußten. Sie überlegte, wie viele der bestgehüteten Geheimnisse der unsichtbaren Front Paul Garella wohl mit ins Grab nehmen würde. Auch wenn es ihr versagt bliebe, darüber zu schreiben, machte sie sich über den Fall ihre Gedanken. Und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr schien er sich für sie zu lichten. Vermutlich hatte sich die internationale Lage schneller verändert als die KGB-Zentrale in Moskau den Mordbefehl gegen den Petrowski-Entführer aussetzen oder aufheben konnte.
Zu diesem Zeitpunkt mußte die Liquidierung Garellas den Sowjets genauso ungelegen kommen wie den Amerikanern.
Vor sechs Jahren war in den USA ein zweitrangiger Schauspieler als US-Präsident zu einer erstklassigen Rolle gekommen, hatte sie überragend gespielt und den Himmel der Popularität erstürmt.
Dann, ganz plötzlich, war der persische Flop aufgedeckt worden: Mit oder ohne sein Wissen hatte Amerika dem Todfeind Khomeini für angebliche Geiselbefreiung Waffen geliefert und mit dem Erlös die Rebellen in Nicaragua finanziert. Der unsagbar dumme, dilettantische und unmoralische Schacher wurde von der Presse enthüllt und »Irangate« drohte den früheren Hollywood-Cowboy Reagan aus dem Sattel zu werfen.
Er mußte seine Berater entlassen, sich als Büßer vor dem Fernsehen an die Brust klopfen. Er wurde als Pantoffelheld verlacht, und seine Erklärung stellte den amerikanischen Wähler vor die Frage, ob ihr Präsident sie angelogen habe oder der Tölpel seiner Berater gewesen sei.
In dieser heillosen Situation warf ihm ausgerechnet sein sowjetischer Gegenspieler Gorbatschow einen Rettungsring zu: Der neue Mann im Kreml schlug vor, die Mittelstrecken-Raketen zu verschrotten, die chemischen Waffen zu vernichten und über weitere Zugeständnisse mit sich reden zu lassen. Der angeschlagene US-Präsident, sonst eher als Scharfmacher bekannt, sah ein Chance, sich nunmehr als Friedenspräsident zu profilieren und damit Amerikas Bewunderung zurückzuerobern.
Da wurde in dieser Annäherungs-Phase Paul Garella durch einen vermutlich überholten Mordbefehl liquidiert. Wenn es die Öffentlichkeit erfuhr, drohte ihr Entrüstungssturm Reagans neue Profilierung zu erschüttern.
Also, steigerte sich Dany in die Schlußfolgerung hinein, machte man aus einem Polit-Mord einen Verkehrsunfall und unterschlug der US-Öffentlichkeit, um wen es sich bei dem Toten von der Fifth Avenue handelte. Schließlich kommt es im Untergrund auf ein Menschenleben mehr oder weniger nicht an. Rambo geht über Leichen, und warum sollte man von der Politik mehr Moral verlangen als von Kinozuschauern Geschmack.
Der Vorhang zog sich, elektrisch bewegt, vor dem Sarg zusammen. Die Trauergäste erhoben sich mit leeren Gesichtern. Zufrieden waren offensichtlich die uniformierten Bediensteten, denn die vorgeschriebene Zeit von einer halben Stunde war beträchtlich unterschritten worden. Die Teilnehmer liefen auseinander, als wollten sie die unliebsame Erinnerung an eine Begegnung mit dem Tod so rasch wie möglich wieder loswerden. Tatsächlich flicht die Nachwelt auch Agenten keine Kränze. Das war verständlich, und selbst der größte Virtuose verstummte bei seinem Ableben.
Beim Verlassen wechselte Frank Flessa ein paar Höflichkeitsfloskeln mit den BND-Beamten Sanftleben und Weidekaff; dann fuhr er mit Dany in die Redaktion.
»Eine ziemlich halbherzige Veranstaltung«, sagte sie.
»Schlimm«, erwiderte er. »Mich schüttelt’s jetzt noch«.
Die Globetrotterin der Sensation nickte. Ihr sechster Sinn witterte dubiose Zusammenhänge. In einem solchen Fall pflegte sie ihrem Verdacht nachzugehen, bis er sich als grundlos erwies oder sich herausstellte, daß sie wieder einmal der richtigen Spur gefolgt war.
»Bruno, stell bitte fest, wann und wie Garellas Leiche nach München geschafft wurde!« beauftragte sie ihren Rechercheur. »Und ruf Larry in New York an, und setz ihn an diese Sache! Wenn er was erfährt, soll er mich in Bogenhausen anläuten.«
Wie erwartet gab es keine wesentlichen schriftlichen Unterlagen über das verstorbene Agenten-As. Dany ging in den Computerraum, um seine Daten auf dem Bildschirm abzurufen. Sie speiste ihre Kennziffer ein, denn nur einigen bevorzugten globus-Mitarbeitern war das elektronische Hilfsmittel zugänglich.
Dann rief sie den Namen Paul Garella ab.
Anstelle eines Fotos erschien eine Phantomzeichnung, angefertigt nach den Angaben dreier Zeugen, von denen zwei bereits gestorben waren: ein länglicher Kopf mit einem hautigen Gesicht, schmalen Augen, spitzem Kinn, langem Hals. Dany prägte sich jede Einzelheit ein.
Garella Paul, geboren 1946 in Djakarta, Batavia, Vater Fritz G. Deutscher Tropenarzt. P. G. kam als Fünfjähriger nach Thailand und übersiedelte 17 Jahre später nach Deutschland. Aufenthalt in den ersten Jahren unbekannt. Dann BND-Mitarbeiter. Spezialist für Südostasien. Vorwiegend im Aussendienst. Verbindungsmann zur CIA. G. gilt als aussergewöhnlich befähigt, seit er 1982 Den Sowjetoberst Petrowski aus dem Osten in den Westen holte. Die Aussagen dieses KGB-Spitzenmannes führten zur Verhaftung von mindestens 29 Ostagenten in Deutschland und den USA. G. spricht mehrere asiatische Sprachen und beherrscht Thai in Wort und Schrift. Linkshänder, Kettenraucher, Schachspieler, Liebhaber klassischer Musik, passionierter Golfspieler. Keine Frauenaffären bekannt.
Selbst von der Phantom-Zeichnung ging ein Schauer aus, wiewohl Paul Garella eher ein durchschnittliches Aussehen hatte. Der Fall Petrowski lag noch immer weitgehend im dunkeln. Man wußte nicht einmal, wie der KGB-Oberst vor fünf Jahren in den Westen geholt worden war. Eine Vermutung besagte, daß ihn Garella via Kombodscha nach Thailand eingeschleust hätte, eine andere, daß Petrowski von Ungarn nach Österreich gekommen sei. Einige Zeitungen wollten wissen, daß der sowjetische Untergrund-Offizier von Garella mit falschen Papieren und getarnter Aufmachung über den Checkpoint Charly an der Berliner Mauer geholt worden sei.
Die Legenden waren so zahlreich, daß zunächst selbst Fachleute angenommen hatten, die westliche Propaganda hätte einen gewaltigen Türken gebaut. Erst als die Verhaftungswelle anlief und der westliche Untergrund, durch zahllose Schlappen und Flops belastet, tatsächlich seine Gegenspieler vorübergehend beherrschte, glaubte man an den spurlos verschwundenen Überläufer.
Wie in solchen Fällen üblich, hatte Petrowski sicher einen anderen Namen, womöglich ein verändertes Gesicht, eine reichliche Lebensversorgung und einen geheimen Aufenthaltsort. Von den Zeitungen war immer wieder versucht worden, den nunmehrigen Berater des US-Geheimdienstes aufzuspüren; keiner war es je gelungen.
Das Telefon unterbrach Danys Garella-Erinnerungen.
»RO-Reisen«, meldete sich der Manager, und Dany merkte der Stimme an, daß er es geschafft hatte. »Stellen Sie sich vor, drei Plätze sind in diesem Moment annulliert worden.«
»Dann bitte zwei für mich«, sagte sie. »Mein Begleiter ist Bruno Feiler, Journalist, geboren 1951, wohnhaft in München. Ich komme bei Ihnen vorbei.«
»Bitte möglichst bald!« erwiderte Rohregger.
Bruno erschien und berichtete aus vollem Lauf, daß die New Yorker Polizei den Toten als Paul Garella identifiziert und einen Leichenpaß ausgestellt hätte. Im Polizeibericht sei der Verunglückte als namenloser Ausländer aufgeführt worden. Den Transport per Luftfracht im plombierten Zinksarg hatte Pullach veranlaßt. In München war der Tote, wie üblich ohne Formalitäten, in einen Eichensarg umgebettet und die für die Feuerbestattung nötige Genehmigung der Polizei ohne weitere Überprüfung ausgestellt worden. »Ein durchaus üblicher Weg«, setzte der Rechercheur – hinzu.
»Danke, Bruno!« verabschiedete ihn Dany. Sie ging in die Tiefgarage, stieg in ihren Porsche und fuhr in den Cosimapark, wo sie ungeduldig erwartet wurde. Die verwitwete Maria Callway war voller Stolz auf Danys Karriere, aber sie beklagte die ständige Abwesenheit ihrer Tochter, die ihre Erfolge ja erst ermöglichte.
»Wie lange bleibst du diesmal?« begrüßte sie die Tochter.
Dany wagte noch nicht zu sagen, daß sie bereits am Freitag abend nach Fernost abfliegen würde.
Mitten in der Nacht meldete sich New York.
Dany war sofort hellwach.
»Du scheinst wieder mal den richtigen Riecher gehabt zu haben, Dany«, sagte Larry Grindler statt einer Begrüßung. »Etwas könnte faul sein. Gedulde dich noch – ich bleibe am Drücker.«
Dany legte auf, sah auf die Uhr. Es war 2 Uhr 56. Sie war in eine explosive Story geraten, aber Dany drehte sich um und schlief sofort wieder ein.
Auch darauf war eine tüchtige Journalistin trainiert.
Der Wintertag jagte die Passanten auf den Straßen durch ein Wechselbad. Alle litten unter dem Wetter. Einem verregneten Sommer war ein trostloser Herbst gefolgt, und der Winter hatte sich auch nicht besser angelassen: Graupelschauer, Nebelfetzen, Glatteis, Temperaturstürze, Regengüsse, Aufhellungen und Schneestürme lösten einander ab. Das Klima wurde zum Trauma, das Schlechtwetter zu einer europäischen Landplage.
Ferry Fenrich, der bekannte Architekt, durchlebte zur Zeit nicht nur ein meteorologisches Tief. Das Projekt eines riesigen Freizeitzentrums am Stadtrand von München, an dem er mit seinen Mitarbeitern ein halbes Jahr lang gearbeitet hatte, war plötzlich geplatzt. Trotz starker Konjunktur-Belebung marschierte seine Branche so ziemlich am Ende. Die Plakate mit der Aufschrift: Sei schlau geh’ zum bau waren längst aus dem Straßenbild verschwunden. Auch ein Mann vom Range Fenrichs bekam die Flaute zu spüren: Zwei Großkunden, die bei ihm tief in der Kreide standen, drohte die Pleite. Nach einer vorgezogenen Steuerprüfung bestand das Finanzamt auf einer Nachzahlung von über 500000 Mark. Wenn es nicht gelang, von dieser Horrorsumme herunterzukommen, geriete die expansive Architekten-Gemeinschaft Fenrich & partner erstmals in die roten Zahlen.
An der Art, wie er an seiner Zigarettenattrappe herumkaute – Fenrich war seit vier Monaten Nichtraucher –, erkannte Annabelle, die perfekte Chefassistentin sofort, daß seine Laune auf Sturm stand. Sonst salopp und sportiv, wirkte der neuzeitliche Wikinger mit den graublauen Augen und den mittelblonden Haaren heute verbissen und zerknittert. Er sah seine engste Mitarbeiterin an und rang sich ein Lächeln ab. »Sie sind der erste Lichtblick an diesem trüben Tag, Annabelle«, begrüßte er sie.
»Warten Sie’s ab, Herr Fenrich!« erwiderte die kühlblonde, streng-elegante Dreißigerin. »Haben Sie heute nacht Ihren Wagen in der Nähe des Promenadeplatzes stehen lassen?«
»Natürlich, ich bin mit dem Taxi nach Hause gefahren.«
»Die Polizei hat Ihren Wagen abgeschleppt. Mit Tagesbeginn stand er im Halteverbot.«
»Idiotisch!« schimpfte der Architekt. »Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Frau Renz. Sie wissen ja, Annabelle, daß ich eigentlich nur trinke, wenn ich mich freue oder ärgere. Und was sollte ich tun?«
»Nicht trinken«, erwiderte der sprechende Eisberg. »Und sich vielleicht auch nicht mit Frau Renz anlegen.«
»Sie Blaukreuzlerin!« fuhr er sie an und lächelte schräg. Der Zwischenfall mit Clarissa war natürlich weit schlimmer gewesen als eine übliche Kontroverse, und der Architekt konnte nur hoffen, daß die Teilnehmer dichthielten und ihn nicht an einen Klatschkolumnisten verkauften.
»Sind Sie bereit, sich einem ernsthafteren Thema zu stellen?« fragte Annabelle und kam gleich zur Sache. »Ich hatte gestern ein langes Gespräch mit Doktor Schreiber. Er sagt, daß er die Schlußbesprechung mit dem Steuerprüfer auf keinen Fall länger hinausschieben kann.«
»Na und?«
»Unser Steuerberater meint, er könnte die Nachforderung vielleicht auf die Hälfte herabdrücken, wenn Fenrich & partner bereit wären, sofort 250 000 Mark zu entrichten.«
»Und woher soll ich die nehmen?«
Die Chefassistentin wußte und gab keine Antwort.
»Und wie kommt das Finanzamt überhaupt auf eine solche Wahnsinnssumme?« fragte der Architekt gereizt.
»Abschreibungen, Rückstellungen und Unkosten, die nicht anerkannt werden.« Schadenfroh setzte Annabelle hinzu: »Zum Beispiel Ihr Dezember-Ausflug nach St. Moritz.«
»Das war eine geschäftliche Besprechung mit einem Kunden.«
»Die dann zu nichts geführt hat. Außerdem, so behauptet der Steuerprüfer, hätten Sie die Unkosten für eine private Begleiterin geltend gemacht.«
»Lieber Gott, ich bin doch kein Mönch! Schnüffelt das Finanzamt jetzt auch noch im Schlafzimmer herum?«
»Wenn Sie es steuerlich nutzen, schon«, entgegnete Annabelle trocken. »Vor allem, wenn es häufiger geschieht, wie in Paris, Nizza, Kopenhagen und…«
»Lassen Sie diese Anspielungen, Annabelle!« erwiderte Fenrich gereizt.
»Doktor Schreiber rät dringend zu einem Vergleich. Wenn es zu einem Prozeß käme, hätten wir seiner Meinung nach höchstens dreißig Prozent Chancen durchzukommen.«
»Ich will mir’s überlegen«, antwortete Fenrich verdrossen.
Sonst eher lebenslustig, wirkte der ramponierte Wikinger heute halbwegs vergrämt. Seine 42 Lebensjahre spürte er auf einmal wie Trimmgewichte, wies es aber weit von sich, daß sich die Krise der mittleren Jahre andeuten könnte. Er spürte, wie ihm die Zeit durch die Finger rann wie feiner Flugsand; die Tage verstrichen, addierten sich zu Wochen, Monaten und Jahren. Oft arbeitete der Erfolgsmensch 16 Stunden täglich, häufig auch am Wochenende. Geschäftliche Probleme kosteten die Nachtruhe. Und zwischendurch ein schnelles Vergnügen, das sich dann – rückwirkend gesehen – als Flop erwies. Aber nicht nur durch seine Affären war Fenrich Stammgast in den Klatschspalten der Boulevard-Presse; er hatte sich durch Preise für hervorragende Entwürfe und für wohnliches Bauen einen Namen gemacht, bereits zu einem Zeitpunkt, als andere Architekten noch die Städte zuzementierten.
Der Erfolg befriedigte ihn, aber jeden Tag wurde er schließlich 24 Stunden älter. Er schuftete rastlos in der Tretmühle, aber außer ein paar Auszeichnungen blieben ihm nicht viel mehr als eine Steuernachzahlung und der beträchtliche Monatswechsel an seine Geschiedene. Abführungen an das Finanzamt mußte er durch Neueinnahmen finanzieren, woraus sich dann wieder weitere Steuerverpflichtungen ergaben. Die Katze biß sich in den Schwanz. Alltag zwischen Streß und Stuß. Auch wenn sich der Stararchitekt an den Hut stecken konnte, daß er zwei Partner und 27 Mitarbeiter durch die Flaute brachte, alles hochbezahlte Leute, da er nur Könner beschäftigte.
Annabelle, die kühle Unglücksfee, war wieder eingetreten. »Verfügt Ihre geschiedene Gattin noch über eine Kreditkarte?« fragte sie perfide.
»Was weiß ich?« brummelte der Architekt.
»Das sollten Sie aber wissen«, wies ihn seine Assistentin zurecht, die genausogut wie er wußte, wie unentbehrlich sie für die Firma war. »Hier kommt eine Rechnung aus der Karibik per American express, fast 8000 Mark.«
Er starrte die Belege an. »Das sieht ihr ähnlich«, schimpfte er. »Jutta muß noch eine Familienkarte haben. Lassen Sie sie sofort sperren, Annabelle!«
»Schon geschehen«, erwiderte die Perfekte.
»Teilen Sie ihrem Anwalt mit, daß ich den Betrag von den Alimenten abziehen werde. Oder haben Sie das auch schon erledigt?«
»Das nicht, Herr Fenrich«, antwortete die Unersetzliche. »Aber daran gedacht.«
Jutta in der Karibik und er im Büro. Seine Geschiedene auf Vergnügungsreise und er ihr Finanzier. Jedem das Seine, und das nach einem kinderlosen Ehe-Desaster von nur drei Jahren. Das also war die Lastenverteilung: der Mann ist der Dumme, der Mäzen und der sexuelle Umweltverschmutzer. Und am Ende kam noch der Abzug von sieben Jahren Lebenserwartung.
»Hören Sie, Annabelle!« sagte er. »Ich habe das alles satt. Sie stellen ab sofort keine dieser Damen mehr zu mir durch. Gleichgültig, wer anruft.«
»Und für wie lange soll diese Regelung gelten?« fragte sie.
»Für immer«, versetzte er. »Lassen Sie sich überraschen, Annabelle!«
Er stand auf, trat ans Fenster, sah blicklos auf die graue Straße mit ihren gehetzten Passanten. Gegenüber lag das kleine Reisebüro, mit dem er seit langem zusammenarbeitete. Er konnte verfolgen, wie Winterflüchtlinge auf dem Weg in die Sonne mit zufriedenen Gesichtern den Laden verließen, um nach Ceylon, auf die Malediven, nach Malaysia oder nach Mexiko zu fliegen. Der Dackel des Inhabers nutzte die offene Tür, um nach draußen zu kommen. Er schnupperte nach oben und zog sich bei diesem Hundewetter sofort wieder zu Frauchen zurück. Unvermittelt platzte eine grelle Wintersonne aus einem Wolkenriß, blendete den Architekten.
Er schloß die Augen – und genau in diesem Moment wurden sie ihm geöffnet.
Was hinderte ihn eigentlich daran, zu verschwinden, unterzutauchen wie Dr. Kimble auf der Flucht? Für ein paar Wochen wenigstens ans Ende der Welt fliegen, ganz allein, wo es nur Sonne, Sand und Meer und keine dieser schrecklichen Damen gab. An einen Ort, wo ihn keiner kannte und keiner suchte, die Postverbindung fraglich war und das Telefon möglichst nicht funktionierte.
»Ich vertrete mir nur kurz die Beine!« rief er Annabelle zu und ging über die Straße. In der Tür des Reisebüros prallte er mit einer schicken jungen Frau zusammen.
»Haben Sie die Dame erkannt?« fragte ihn Inhaber Rohregger aufgeregt.
»Ich hab’ nicht auf sie geachtet«, entgegnete der Architekt.
»Dany Callway, die bekannte Journalistin von Globus.« Der Reisemanager rückte geschäftig näher. »Selbstverständlich bucht sie bei RO-Reisen. Sie wissen ja, meine Kunden sind fast ausschließlich Prominente. VIPs wie Sie.« Er holte kurz Luft und fuhr fort: »Frau Callway fliegt heute abend nach Bangkok.«
»Nicht schlecht«, entgegnete der Besucher. »Und wohin kann ich heute abend noch starten?«
»Nicht nach Fernost. Da müßten Sie morgen über Frankfurt…«
»Heute«, unterbrach ihn Fenrich. »Am besten sofort.«
»Zufällig konnte ich für Frau Callway noch zwei Plätze ergattern. Moment mal«, sagte RO, griff nach dem Hörer und rief die Fluglinie an. »Es ist Ihnen doch ernst, Herr Fenrich, oder?« fragte der Jongleur des Unmöglichen. »Ein Charterflug, vollbesetzt mit Drei-Wochen-Casanovas?«
»Von mir aus.«
Die Verbindung kam zustande. Die dritte Stornierung war tatsächlich noch offen, und der Reise-Manager griff zu. »Sie sind nur an den Flug gebunden«, erklärte er dann, »und an einen Drei-Tage-Aufenthalt im Hotel Dusit Thani. Feines Haus, angenehme Atmosphäre, wunderbare Lage. Von dort aus können sie nach Manila, Singapur, Bali oder Hongkong weiterfliegen. Im Jet-Zeitalter nur ein Katzensprung.«
»Gekauft.« Damit schnitt der Besucher weitere Erklärungen ab. Sicher würden ihn Annabelle und Clarissa wegen seiner Studienbeziehungen von einst zuerst in Thailand vermuten, aber das Land der Freien war riesig, man konnte sich darin verlieren.
»Noch ein Problem, Meister RO«, sagte Ferry Fenrich. »Niemand darf erfahren, wo ich bin, aber im Notfall sollte ich trotzdem erreichbar sein.«