Die stählerne Faust - Anton Christian Glatz - E-Book

Die stählerne Faust E-Book

Anton Christian Glatz

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Beschreibung

Bonyanidan, 2154: Armut, Krankheiten und eine zerstörte Umwelt halten die Menschheit in stählernem Griff. Tag um Tag wartet der Cyborg-Agent Arkturus im Standby-Modus auf seine Aufträge. Er tötet ohne Gefühl, ohne zu hinterfragen, im schier unendlichen, weil programmierten, Vertrauen zu seinem Auftraggeber, dem Geheimdienst. Dieser schützt die wenigen Privilegierten auf einer Plattform, die in 23.000 Kilometern Höhe über der Erde schwebt und ihren Bewohnern ein paradiesisches Leben ermöglicht. Eines Tages geschieht eine Panne, sodass die Computerchips im Gehirn des Agenten repariert werden müssen. Dabei wird er sich seiner menschlichen Seite bewusst. Plötzlich drängen sich Fragen auf: Was steckt wirklich hinter seinen Aufträgen? Was hat es mit den Gerüchten um das Sternsystem Tau Ceti auf sich? Die Regierung plant doch etwas im Geheimen?! Arkturus’ Entdeckungen sind äußerst bedrohlich – das Schicksal der Menschheit steht auf Messers Schneide.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

1

Mittwoch, 21. August 2154, eines der typischen Zimmer des Hotels Grey Monkey in Bonyanidan. Ein Mann Anfang vierzig saß reglos in einem Ledersessel, den das Alter mit einer speckig-braunen Patina überzogen hatte. Kurze blonde Haare umrahmten ein ausdrucksloses, glattrasiertes Gesicht. Seine Allerweltsbekleidung unterstrich das unauffällige Erscheinungsbild. Der Mann befand sich zwischen dem Fenster und dem Bett; das Laken sauber, die Decke penibel zurechtgestreift. Gegenüber bot ein altersschwacher Kasten seine Dienste an, daneben Dusche mit Handwaschbecken – ein kleines, spartanisch möbliertes Zimmer der Drei-Sterne-Kategorie im fünften Stock.

Das Fenster gewährte einen großzügigen Überblick über das Südviertel der Stadt. Aber die schier unendliche Wüste baufälliger ein- oder zweistöckiger Baracken, zwischen denen sich zerlumpte Menschen drängten, am Horizont eine der zahlreichen Roboterfabriken, interessierte den Mann schon lange nicht mehr. Wenigstens war die Luft eine Spur gesünder als in den unteren Stockwerken. Der mit allerlei Giften und Abfall kontaminierte Boden des Stadtviertels dünstete gelegentlich verschiedene Gase aus, die sich auf dem Weg in die oberen Stockwerke großteils verflüchtigten. Die Geräusche waren gedämpft und aus der Wasserleitung sprudelte sogar drei Stunden am Vormittag Trinkwasser. All diesen Luxus hatte man ihm vergönnt, schließlich sollte er in Höchstform sein, wenn es soweit war.

Seit Stunden starrte der Mann mit halb geschlossenen Lidern in das Zimmer. Kommentarlos gewahrte er, wie sich die Lichtverhältnisse je nach Sonnenstand änderten. Irgendwann hatte sich später Nachmittag breit gemacht. Lauer Wind wehte die bunt gemischten Gerüche der orientalischen Großstadt durch das Fenster. Der Hotelgast verharrte stundenlang bewegungslos. Ein Beobachter wäre unsicher gewesen, ob er überhaupt am Leben war, hätte nicht das gelegentliche Zucken der Augenlider die Frage beantwortet.

Der Mann wartete. Seine Lebensfunktionen befanden sich auf zwei Drittel des normalen Levels eingestellt. Nur einige seiner Gehirnchips waren aktiviert, allen voran der zentrale Kontrollchip im Überwachungsmodus. Er brauchte keine der sonst in Bonyanidan fast allgegenwärtigen Entertainmentkonsolen, denn die Implantate in seinem Gehirn leisteten dasselbe.

Über einen der freien Chips stieg er per Gedanken in das Internet ein. Wie gewöhnlich rief er zuerst die Nachrichten ab. Eine Gruppe von etwa zweihundert Aussteigern hatte sich in die Antarktis zurückgezogen, um dort, fern jeder Zivilisation, ein unabhängiges und naturverbundenes Leben in Frieden und Freundschaft zu führen. Das Interview mit der Anführerin übersprang der Mann und schaltete zum Wetter. Außer den üblichen Katastrophen war nichts Erwähnenswertes zu berichten. Die Vorschau für die nächsten zwei Tage folgte, denn länger war das Wetter nicht vorhersehbar.

Weil das ebenso mäßig interessierte, schickte der Mann den Suchbefehl „Striptease“ ab. Sofort erschien ein Warnhinweis, der ihn daran erinnerte, dass er sich trotz Ruhepause im Dienst befinde und solche Beschäftigungen gegen Paragraph 15, Absatz 3 der Allgemeinen Dienstvorschrift (ADV) verstießen. Als Alternative schlug ihm das Überwachungsmodul vor, eine Partie wahlweise Go, Dame oder Schach zu spielen. Also forderte er einen Unbekannten, der ebenfalls gerade online war, auf eine Partie Go nach der anderen. Nach zwei Siegen und einer Niederlage bedankte sich der Gegner und verabschiedete sich ... So war das im Standby-Modus.

Da – ein schabendes Geräusch! Wäre es im Zimmer nicht so still gewesen, wäre es leicht untergegangen. In einem noch weniger noblen Hotel hätte man an eine Maus oder Ratte denken können. Ein Kuvert war unter der Türe durchgeschoben worden. Das Überwachungsmodul im Gehirn schaltete um. Der Mann schlug die Augen auf. Ohne Hast erhob er sich und hob das Kuvert vom Boden auf, das mit „Arkturus“ in einer schmucklosen Schrift beschrieben war.

Der Agent zur besonderen Verwendung mit dem Codenamen „Arkturus“ las sorgfältig seinen Auftrag. Es ging um eine Person. Gleichzeitig scannte sein Visualchip die Informationen, wodurch diese in einem externen Modul im Gehirn als Backup gespeichert wurden. Noch während das Material der Botschaft durch Selbstzerstörung zu Staub zerfiel, legte Arkturus in seinem System das neue Projekt an. Er aktivierte den Nachforschungsmodus und startete die Personensuche über Internet. Wo befand sich die Zielperson aktuell? Menschen, die von der Verwaltung als hinreichend wichtig eingestuft wurden, besaßen im Genick einen implantierten Mikrochip, der permanent Signale aussandte. Ursprünglich für den medizinischen Notfall gedacht, sollten diese Signale es erleichtern, die Personen aufzufinden. Leider war die Personalifizierung des Chips politisch noch nicht soweit abgesegnet, dass eine eindeutige, geheimdienstliche Identifizierung auf diesem Weg möglich war, aber es war ein wichtiges Indiz.

Was gab es darüber hinaus an Informationen? Anschließend folgte die Beurteilung des Materials bezüglich der projektbezogenen Relevanz. Die Angaben im Auftrag umfassten aus Sicherheitsgründen nicht mehr, als zur Identifizierung unerlässlich war. Wie stand es mit Bewaffnung, eventuell Bodyguards? Üblicher Tagesablauf? Welches war die beste Strategie, unauffällig an die Person heranzukommen? Welche Alternativ-Strategien standen zur Verfügung? Wie viel Zeit würde das Projekt in Anspruch nehmen? Dann die Risikoeinschätzung sowie die Planung der Kosten, wobei gerade dienststellenintern die Diskussion lief, ob die voraussichtlichen Verluste an Menschenleben als sogenannte „humanitäre Kollateralkosten“ in die Planung einzubeziehen seien. Momentan waren ausschließlich die finanziellen Kosten gemeint. Glücklicherweise ließ man den Agenten in dieser Hinsicht viel Freiraum. Zuletzt die Projektdokumentation anlegen. Es gab viel zu tun.

Vorschriftsgemäß führte Arkturus einen kompletten Check seines physischen und psychischen Zustandes durch. Nach kaum einer Minute stand fest: Seine gesamte Leistungsfähigkeit lag mit 98,3 % innerhalb der als normal definierten Bandbreite. Dann überprüfte der Agent seine Bewaffnung: zwei Pistolen Kaliber 45 mit je drei Magazinen panzerbrechende Munition, Spreng- und Leuchtspurmunition, drei Handgranaten, zwei Nebel- und zwei Blendgranaten, eine Erdrosselungsschlinge aus reißfestem Nylon, ein Mehrzweck-Kampfmesser und drei Wurfmesser. Zur Sicherheit schnappte er sich noch zwei Ampullen mit verschiedenem Gift nebst Injektions-Kit aus seinem Vorratskoffer im Kasten. Sein Körperschutz, bestehend aus einer schusssicheren Weste und Leichtmetall-Platten mit Nano-Legierung für Extremitäten sowie Unterleib, war dank laufender Wartung bestens intakt.

Mit geschmeidigen Bewegungen verließ Arkturus leise das Zimmer. Der Auftraggeber zahlte gut; im Gegenzug erwartete er pünktliche und professionelle Leistung – wie immer ... So war das im Aktivmodus.

2

In sicherer Entfernung zum Haus hob Arkturus den Kopf über die Oberfläche des Sees. Durch das abendliche Halbdunkel blickte er zum Ufer. Das Anwesen in etwa fünfzig Metern Entfernung machte einen sehr noblen Eindruck für hiesige Verhältnisse: saniertes Einfamilienhaus mit Garage, Garten und offenem Zugang zum See. O Herz, was willst du mehr? Der Agent watete vorsichtig zum Ufer. Obwohl er sich äußerst vorsichtig verhielt, gluckste es leise. Ein Holzpflock schwamm sachte schaukelnd an seiner Hüfte vorbei. Kurz vor dem Ufer schlängelte sich etwas zwischen seinen Beinen. Der Agent hielt kurz inne, konnte jedoch nicht feststellen, um was es sich handelte. Im nächsten Augenblick glitt es samtweich nach hinten. Am Ufer legte er sich der Länge nach ins Wasser, seinen Kopf tarnte er durch die Zweige des Ufergebüsches. Von hier aus scannte er die Umgebung ausgiebig.

Entsprach das Szenario seiner Projektplanung? Er begann mit dem Infrarot-Scan. Dieser zeigte in einer Distanz von dreißig Metern eine Gruppe Personen im Garten. Drei Männer, zwei davon mit Pistolen ausgestattet, leichter Körperschutz durch Schusswesten und ein alter, unbewaffneter Mann. Weiters zwei weibliche Personen, eine davon ein Kind, beide unbewaffnet. Die taktische Einschätzung durch das Hauptmodul ergab: Zwei Leibwächter, sehr hohes Bedrohungspotenzial, taktische Empfehlung: eliminieren; restliche Personen ungefährlich. Der Körperschutz der Leibwächter ließ es geboten erscheinen, panzerbrechende Munition einzusetzen.

Die verschiedenen Scans ergaben synchronisiert das Bild einer Art Grillpartie im familiären Rahmen. Die Frau sorgte sich um die Bratwürstchen, die Wächter gingen auf und ab. Der alte Mann hielt das etwa acht Jahre alte Mädchen mit schulterlangen, brünetten Haaren auf seinem Schoß. Aha, ein Opa, der sich mit seiner Enkelin unterhielt. Niemand bedurfte der Dienste der Entertainmentkonsole, die sich auf einem Tischchen an der Hausmauer befand.

Das Hauptmodul schätzte eine Kongruenz von 74 % des aktuellen Szenarios mit der Projektkonzeption. Das war kein berauschendes Ergebnis. Dieser Wert sollte sich verbessern. Wahrscheinlich hing es mit der Unsicherheit um Opas Identität zusammen. War dieser Mensch wirklich die Zielperson? Wie oft hatte die Personenidentifizierung die meiste Zeit der Auftragsdurchführung in Anspruch genommen! Wären nicht die kontraproduktiven Einwände der Opposition hinsichtlich Wahrung der Privatsphäre, Datenschutz usw., wäre die Identifizierung über den Mikrochip im Nu abgeschlossen. So hingegen mussten die Scanner hunderte Daten erfassen, wie Körpergröße, Gewicht, biologische Alter, usw. Das dauerte ... und dauerte ...

In diesem Moment tauchte ein neuer roter Fleck auf der Infrarotanzeige auf – ein Hund bog um die Ecke. Ein großer Hund, wenn Arkturus Pech hatte, ein Kampfhund. Der Agent ließ sich geräuschlos rückwärts ins tiefere Wasser gleiten, ging dort in die Knie, bis der Körper bis zum Hals bedeckt war. Die Schnauze schnüffelnd knapp über dem Boden näherte sich der Hund dem Ufer. Es wäre entschieden besser, würde er Arkturus übersehen und später aus dem Szenario entfernt werden. Ihn außer Gefecht zu setzen, könnte der Zielperson Zeit verschaffen, zu verschwinden.

Das Hauptmodul meldete sich mit der taktischen Analyse: Rottweilerrüde, mittleres Bedrohungspotenzial, geringe Wahrscheinlichkeit, dass das Tier durch Gassigehen oder vergleichbare Umstände rechtzeitig aus dem Szenario entfernt werden würde. Taktische Empfehlung: eliminieren. Wenn das so weiterging, würde aus dem Auftrag ein Blutbad. Das widersprach der Vorschrift, die verlangte, so unauffällig wie möglich unter minimalem Kollateralschaden vorzugehen. Dies nicht wegen der noblen Zurückhaltung, sondern weil es hinterher weniger zu vertuschen gab. Aber das fehlte freilich in der Vorschrift. Der Agent sollte sich etwas einfallen lassen ... Noch lief die Identitätsprüfung des alten Mannes. Solange Identität und Lokalisierung der Zielperson in Schwebe war, galt es, sich unauffällig und beobachtend im Hintergrund zu halten.

Der Rottweiler kam von links dem Ufer entlang immer näher. Der Agent hörte ihn hecheln. Mit viel Glück würde der Hund in wenigen Momenten über rechts verschwinden, ohne ihn entdeckt zu haben ... Plötzlich hüpfte eine Ratte keinen Meter neben Arkturus platschend ins Wasser und schwamm eilig davon. Der Schreck fuhr dem Agenten in die Glieder, dennoch gelang es ihm, sich zu beherrschen. In diesem Moment blickte er dem Hund in die Augen! Knurrend sprang der Rottweiler mit einem mächtigen Satz in den See. Arkturus zog ihm blitzschnell die Nylonschlinge über den Kopf und zog ihn unter die Wasserobefläche.

Die Bodyguards fuhren herum. Einer riss den alten Mann aus dem Stuhl und zerrte ihn um die Ecke, während der andere seine Pistole aus dem Schulterhalfter zog. Im Nu eröffnete er das Feuer in Richtung Arkturus. Die Geschosse fuhren um den Agenten herum klatschend ins Wasser. Dieser schützte sich mit dem Körper des sterbenden Hundes, indem er ihn mit der Linken wie einen Schild vor sich hielt. Die Geschosse trafen reihenweise den Tierkörper und verursachten kleine Explosionen im Fleisch. Die alte Frau und das kleine Mädchen hatten sich inzwischen schreiend zu Boden geworfen. Als der Bodyguard nachladen musste, ließ Arkturus den Hund ins Wasser fallen, es war ohnehin bloß mehr die Hälfte da, und erwiderte das Feuer. Mit dem dritten Schuss erwischte er das Kinn des Schützen. Der Mann schrie auf während ihm das panzerbrechende Geschoß die Kinnlade aus dem Gesicht fetzte. Der vierte Schuss traf ihn direkt in die Stirn. Er kippte nach hinten und blieb vor der blutbespritzten Hausmauer liegen.

Arkturus lief an ihm, der Frau und dem Mädchen vorbei, zur Vorderseite des Hauses. Da fuhr bereits ein Geländewagen mit zunehmender Geschwindigkeit die Straße hinunter, der zweite Bodyguard am Steuer, der alte Mann auf dem Beifahrersitz. Arkturus eröffnete das Feuer mit einer Salve aus drei Schuss Sprengmunition. Der erste riss die halbe Ladefläche weg, der zweite Schuss verfehlte sein Ziel. Nach dem dritten Schuss ging der Wagen in Flammen auf, kippte auf die Seite, schlitterte einige Meter weiter. Dabei rammte er drei Passanten, die aufschreiend durch die Luft flogen. An einer Gartenmauer kam das brennende und rauchende Auto zu stehen.

Arkturus lief heran. Fahrer und Beifahrer waren tot. Nun galt es, die Identität des Beifahrers zweifelsfrei festzustellen. Verdammt, das Ergebnis war negativ – der Betreffende hatte zwar ein ganz ähnliches Identitätsprofil, trotzdem war es nicht die Zielperson. Vermutlich handelte es sich um einen nahen Verwandten, am ehesten einen Bruder.

Arkturus begriff, dass er absichtlich abgelenkt worden war und lief durch die aufgeregte Menschenmenge zurück. Seine Scanner zeigten ihm ein Auto, das soeben das Grundstück der Zielperson verließ. Mit steigendem Tempo fuhr es in die entgegengesetzte Richtung. Das musste Doonan, die Zielperson, sein! Der Agent lief blitzschnell, wobei er wahllos Leute zur Seite rempelte. Bereits im Laufen schoss er. Von vier Projektilen trafen zwei. Auch dieser Wagen ging am Heck in Flammen auf, begann zu schlingern und rammte nach kurzer Distanz einen parkenden LKW.

Als der Agent heran war, lebte der Fahrer noch, obwohl ihm die Explosionen in seinem Rücken eine schwere Verwundung zugefügt hatten. Er saß alleine im Wagen. Diesmal ergab der Check, dass es sich wirklich um die Zielperson handelte. Na endlich! Da kam die verdiente Freude auf.

Der alte Mann öffnete mühsam seinen blutverschmierten Mund, sah ihm mit Verachtung in die Augen und stammelte: „Gewinnen oder verlieren, was ... ist ... schlimmer? Laotse, Tao te King.“

Ohne hochgefahrenen Eingangslevel für sein Audio-Sensorium hätte er den Mann bestimmt nicht mehr verstanden. Dessen Kopf sackte zur Seite, Theodoro Doonan war tot und Arkturus' Auftrag erfolgreich abgeschlossen. Der Agent machte sich davon, indem er in der Menschenmenge untertauchte.

Wieder in seinem Hotelzimmer meldete er dem Auftraggeber, die Angelegenheit sei auftragsgemäß ausgeführt worden. Er erwarte umgehend die Zahlung der Prämie auf sein Konto. Im Anhang übermittelte er eine Auflistung über den Kollateralschaden: zwei traumatisierte weibliche Zivilistinnen, zwei tote Leibwächter, ein toter männlicher Zivilist, drei unbestimmten Grades verletzte Passanten. Den Rottweiler überging er als unerheblich. Alles in allem entsprachen Durchführung des Auftrages und Kollateralschaden der Üblichkeit.

Kein Zweifel, es war nicht ideal gelaufen. Agent Arkturus zuckte die Achseln. Was ist schon ideal auf dieser Welt?

3

Mit einem Ruck hielt der Lift. Arkturus stand, seine Reisetasche aus schwarzem Kunstleder in der linken Hand, in der Reihe der Mitreisenden, neununddreißig Damen und Herren der Business-Class vor oder hinter ihm. Fast unhörbar öffnete sich die Tür zur Sicherheitsschleuse. Im Gänsemarsch passierten die Reisenden die Einrichtungen der Sicherheitsbehörde, zuerst der Ganzkörper-Scanner, dann die formelle Einreisekontrolle. Hier wurden die Papiere und die Identität überprüft. Weil die Sicherheitsbestimmungen sehr streng waren, dauerte es geraume Weile, bis Arkturus im Freien stand.

Er schloss die Augen und schnupperte die gute Luft. Weder war er das erste Mal hier, noch würde es das letzte Mal sein, und dennoch genoss er es stets von neuem. Das ganze Leben verlief auf der Plattform einfach so anders als in Bonyanidan. Kaum hatte Arkturus seine Lungen ausreichend mit frischer Luft gefüllt, suchte er das Transportband, welches ihn zu den Unterkünften des Geheimdienstes bringen würde. Alternativ wäre ihm die Schwebebahn zur Verfügung gestanden. Ihre Gondeln schwebten in zehn Metern Höhe fünfmal schneller, doch der Agent hatte keine Eile.

Er stellte sich auf das Band und ließ sich mit der üblichen Geschwindigkeit von sieben km/h durch die geradezu paradiesische Landschaft transportieren: architektonisch anspruchsvolle Häuser im besten Zustand, großzügig umgeben von Gärten, in denen das saftige, satte Grün des Grases und der Büsche überquoll. Brunnen verschiedener Stilrichtungen spendeten Wasser wie Schönheit gleichermaßen. Die Anlagen zeugten vom kultivierten Stilbewusstsein der Besitzer. Gelegentlich ging es durch ein Wäldchen oder eine Gruppe von Gebüschen, wo dem Boden ein erdiger Geruch aus Humus, Rinde und Harzen entstieg. Tief sog Arkturus den unvergleichlichen Geruch ein. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Sogar bunte Pilze wie aus einem Märchenbuch aus dem 21. Jahrhundert erfreuten das Auge.

Glücklich waren die Menschen, die diese Pracht genießen durften. Welche Freude, wenigstens ab und zu für eine begrenzte Zeit hier sein zu dürfen. Den allermeisten Menschen war dies streng untersagt. Zwischendurch betrat jemand das ununterbrochen laufende Band, um es ein paar hundert Meter später wieder zu verlassen. Auf diese Weise wurde das Transportmittel permanent frequentiert.

Der Agent schaltete den Überwachungsmodus auf den niedrigsten Level. Die Fülle an Informationen im standardmäßigen Überwachungsmodus hätten ihn davon abgehalten, diese wunderbare Welt zu genießen. Ganz abzuschalten wäre gegen die Vorschrift gewesen, immerhin war er im Dienst. In dieser Umgebung benötigte er keine sich laufend aktualisierenden Informationen über Bedrohungsszenarien oder das Gefährdungspotenzial der Passanten. Zudem waren diese alle unbewaffnet, von den wenigen Ordnungskräften abgesehen. Selbst diese hielten ihre Dienstpistolen unter blitzsauberen, hellblauen Uniformen diskret verborgen. Im höchsten Maße bürgerorientiert trugen sie ihr Zahnpastalächeln zur Schau und freuten sich, wenn sie zwischendurch mit banalen Auskünften weiterhelfen konnten. Immerhin rechtfertigten sie damit ihr allmonatliches Gehalt und diverse, unbedeutende Privilegien.

Nach sechs Kilometern kamen die Parteizentralen in Sicht, zuerst die der Unionspartei, die gerade an der Macht war. Von Weitem durfte Arkturus ihr Logo bewundern, ein schwarzer Kreis, darin ein hellblauer Halbmond, der mit der Sichel nach unten lag. Die Präsidentin gehörte dieser Partei an. Eine Minute später folgte auf der anderen Seite des Transportbandes das Hauptquartier der großen Opposition, der Linksliberalen Partei, Lilipart. Ihr Logo war eine wehende rote Fahne, mit einer weißen Hand in der Mitte. Dem Mythos, den die Parteigänger kultivierten, zufolge handelte es sich um die ehrliche Hand fleißiger Arbeiter. Traditionell wechselten sich Unionspartei und Lilipart in der Regierung ab, zeitweise bildeten beide eine Koalition. Das hatte zur Folge, dass beide Parteien einen distanzierten, dabei respektvollen Umgangston pflegten, wusste man doch nicht, ob man nach der nächsten Wahl die Unterstützung der anderen Partei brauchte. Diese wollte man sich gegebenenfalls ohne Erklärungsbedarf vergewissern können. Die Gebäude wurden ihrer Bedeutung entsprechend frequentiert.

Zweihundert Meter weiter war die kleinere Oppositionspartei, Green Beach, einquartiert. Green Beach war seit Gründung nie an der Regierung gewesen, sondern agierte aus der Opposition; dies allerdings mit voller Schärfe. Ihr Chef hieß Charles-Antoine Boulandier. Als scharfzüngiger und charismatischer Redner sah er sich deutlich mehr gefürchtet und respektiert als beliebt, außer von den Parteianhängern.

Nach den Parteizentralen tauchte der Gebäudekomplex des Familienministeriums auf, das Institut für Reproduktionsmedizin an der Rückseite. Danach war endlich die Unterkunft der Agenten in Sicht. Die vergleichsweise nüchterne Architektonik mit Aluminiumbeschichtung und viel Glas signalisierte den öffentlichen Zweck des vierstöckigen Gebäudes. Rechts neben dem Eingang prangte das Symbol des Innenministeriums, ein gleichseitiges Dreieck, in dessen Innerem sich ein weißer Kreis mit einer dezenten Marmortextur befand. Die dazwischen liegenden Flächen waren hellblau. Unter dem Symbol hielt der Scanner zur Personenidentifizierung Wache. Arkturus streckte den linken Unterarm in den Scannerbereich. Auf diese Art und Weise konnte sein Identitätschip unter der Haut mit dem Scanner kommunizieren. Nach wenigen Sekunden gab dieser durch ein gemütliches Brummen zu erkennen, dass die Identifizierung erfolgreich war. Arkturus durfte eintreten.

Ein kurzer, mit hellgrünem Teppichboden und zwei billigen abstrakten Gemälden an der Wand, spartanisch ausgestatteter Gang führte zur Rezeption, der Zentrale des Quartiermeisters. Ein unbedarfter Beobachter hätte sich in einem Hotel gewähnt. Tatsächlich handelte es sich um ein Gebäude, das früher einmal als solches verwendet worden war.

Der Agent wurde vom Quartiermeister zuvorkommend, fast freundschaftlich, empfangen: „Welche Freude, Sie zu sehen, Arkturus. Ich hoffe, Sie haben eine erfolgreiche Zeit hinter sich.“ Der Gast nickte zustimmend. Der Quartiermeister wurde vertraulich. In konspirativer Tonlage fuhr er fort: „Ein paar alte Bekannte sind momentan zu Gast. Ob Sie sich allerdings nach der Gesellschaft von Cytan sehnen, wage ich zu bezweifeln.“

Wie wahr, wie wahr ... Andererseits – wer hat schon ausschließlich Freunde? Nachdem Arkturus die neuesten Gerüchte erfahren hatte, begab er sich zu seiner Unterkunft. Hier musste er die rechte Handfläche auf einen Scanner drücken, der anschließend den Eingang freigab. Kaum war die Tür hinter ihm geschlossen, hörte er über den Lautsprecher eine weibliche Stimme: „Willkommen Agent zur besonderen Verwendung Arkturus. Ich hoffe, Sie finden alles zu Ihrer Zufriedenheit. Wünsche und Beschwerden wollen Sie bitte dem Quartiermeister vorlegen. In Ihren Aufenthaltskosten sind wahlweise ein Mittag- oder Abendessen sowie drei Getränke täglich, eines davon mit Alkohol, inkludiert. Darüber hinaus gehende Konsumation ist privat zu verrechnen. Bitte bedienen Sie sich im Kühlschrank oder an unserer Bar.

Es wurde eine Nachricht für Sie hinterlassen. Soll ich diese vorlesen?“

„Freilich.“

„Agent Arkturus, melden Sie sich umgehend bei mir, Agentin Erna. Sonst liegen keine Informationen für Sie bereit. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.“

Ein befremdliches und vertrautes Gefühl zugleich beschlich Arkturus in seinen Räumen. In diesen Unterkünften hatte er seinerzeit die Ausbildung abgelegt, was immerhin sechs Jahre gedauert hatte. Seit er im aktiven Dienst war, wurde er einmal im Halb - jahr hierher beordert. Nun war es wieder soweit. Sein nächster Gang würde ihn zu seiner Chefin Erna, genannt das alte Nilpferd, führen. Es war stets dieselbe Prozedur.

Seinem Hotelzimmer in Bonyanidan ähnlich war die Unterkunft zwar klein, aber zweckmäßig eingerichtet. Lediglich der Komfort war entschieden höher. Trinkwasser zu jeder Uhrzeit, alles sauber und ordentlich, die Bettlaken aus hautfreundlichem Material, strahlend weiß gewaschen, ein flauschiger Bettvorleger, täglich wurde eine Schale mit verschiedenem Obst nachgefüllt, von der Aussicht gar nicht zu reden.

Der Agent zog die Schuhe aus, legte sich auf das Bett, verschränkte die Hände unter dem Nacken und beschäftigte sich damit, im Hier und Jetzt anzukommen. Das Szenario war hier ganz anders als in Bonyanidan und vom einen auf das andere Mal gewöhnungsbedürftig. Dazu verblieb er im aktiven Modus, der Standby-Modus hatte eine andere psychologische Wirkung, weil er alle Empfindungen dämpfte.

Nach einer halben Stunde meldete sich Arkturus bei seiner Vorgesetzten. Das alte Nilpferd mit dem Codenamen Erna erwartete ihn in ihrem exklusiv eingerichteten Büro. An der Wand hingen vier Gemälde mit zeitgenössischer Kunst, möglichst gleichmäßig verteilt. In der linken Ecke lockte eine kleine, heimelige Besprechungsecke zu Konspirationen aller Art. Erna sah ihrem Agenten hinter einem dunkelbraunen, polierten Schreibtisch aus kostbarem Holz wohlwollend entgegen. Sie begab sich in die Sitzecke und lud Arkturus mit einer Handbewegung ein, ebenfalls Platz zu nehmen.

Erna war von gedrungener Statur, leicht übergewichtig und von unerschütterlichem Gemüt. Wenn sie etwas wirklich wollte, war sie praktisch unaufhaltsam. Dieser Charakterzug war es, der ihr bei ihren eigenen Agenten den Spitznamen Nilpferd eingebracht hatte. Kurz vor ihrer Pensionierung störte sie das allerdings wenig.

Sie fragte: „Guten Tag, wie geht es Ihnen, Arkturus?“

Arkturus zuckte die Achseln. Der Chefin war bestens vertraut, dass ihrem Mitarbeiter Smalltalk zuwider war, insbesondere die rhetorischen Präliminarien zu Anfang einer Besprechung. Deshalb beschloss sie, zur Sache zu kommen: „Ich möchte Ihnen ein großes Lob aussprechen. Die Regierung weiß unsere Arbeit sehr zu schätzen. Man hat letzthin unsere Erfolge sogar in der Öffentlichkeit gewürdigt. Dank Mitarbeitern wie Ihnen ist das möglich.

Die Leute draußen haben keine Ahnung, wie das ist, wenn wir selbstlos im Einsatz stehen. Setzen wir nicht oft genug unser Leben aufs Spiel? Da fällt mir ein – haben Sie das von Brutus gehört?“

„Äh – Brutus? Meinem alten Lehrer in der Akademie? Nein.“

„Nun ja, es gibt Tage, da läuft alles schief ... Egal, Sie wissen bestimmt, wie das ist. Jedenfalls hat ihn Cytan rausgeboxt. Gestorben ist Brutus trotzdem, zwei Wochen später. Ich verschweige Ihnen lieber, unter welchen Umständen.

Da finde ich es absolut angebracht, wenn einer der hohen Herrschaften der Politik einmal ein anerkennendes Wort für unsereiner findet.“

„Jaja, sicher“, bestätigte Arkturus, der aus Gründen der Höflichkeit wenigstens ein kleine Wortspende abgeben wollte.

Mit einer eleganten Bewegung, die viel Übung verriet, schenkte sich seine Chefin einen teuren Cognac ein. Bernsteinfarben leuchtete dieser verführerisch im bauchigen Kristallglas. Sie hielt ihm die Flasche entgegen und nickte aufmunternd. Verlockend duftete Arkturus das Aroma des Eichenfasses, in dem das Getränk acht Jahre reifen hatte dürfen, entgegen. Arkturus schüttelte den Kopf.

Erna schwenkte das Getränk im Glas, sog genießerisch das Aroma in ihre Nasenflügel, als hätte sie alle Zeit dieser Welt und sagte nachdenklich: „Allerdings machen mir neuerdings die Kollateralschäden doch ein wenig Sorge. Sie kennen ja die Probleme: Die lokalen Behörden bestechen, sofern sie nicht von uns unterwandert sind, die Presse mit den passenden Informationen versorgen, alle Welt will plötzlich Schweigegelder usw.

Verstehen Sie mich bitte richtig, das ist ein allgemeines Problem, keines, das Sie speziell betrifft.“

Arkturus erwiderte: „Die Sitten werden rauer. Schon jeder Vierte oder Fünfte ist bewaffnet. Die Gewaltbereitschaft hat zugenommen. Die Leute erschießen sich gegenseitig oft aus nichtigen Anlässen. Wenn einer neue Schuhe anhat, genügt das unter Umständen.“

„Zum Glück liegt Gesellschaftspolitik außerhalb unserer Betätigungsfelder, Arkturus, sonst müssten wir uns in der Tat Sorgen machen. So hingegen gibt es für alle Problemfelder des Lebens zuständige Leute. Ich finde, die erledigen ihren Job ausreichend. Wenn sich jeder auf seinem Platz in der Gesellschaft nach Kräften konstruktiv einbringt, funktioniert das System. Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns alle Mühe geben.

Wenn Sie es wollen, kann ich Ihnen das Modul zur diplomatischen Gesprächsführung freischalten. Der Kürze wegen sprechen wir von Diplomatenmodul. Es stimuliert direkt den rechten lateralen präfrontalen Cortex, fragen Sie mich nicht, wie das funktioniert. Mag sein, es kann da und dort ein wenig helfen.“

Ihr Gesprächspartner hielt das für eine gute Idee. Nachdem er versprochen hatte, künftig mit erhöhter Vorsicht betreffend der Kollateralschäden vorzugehen, bot Erna ihm die neuesten Updates und Upgrades an. Dazu führte sie Arkturus in eines der kleinen Nebenzimmer. Sie deutete ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen, der in der Art eines Zahnarztsessels in der Mitte des Raumes nach hinten geneigt aufgebaut war. Im Hintergrund war die Computeranlage installiert. Von ein paar unauffälligen Schränken und Regalen an der rechten Wand abgesehen, befand sich sonst nichts im Raum.

Die Chefin trat von hinten an ihren Agenten. Sie legte die Anschlussbuchse mit dem Durchmesser von einem Zentimeter an seinem Genick frei. Normalerweise war sie von der Kopfhaut verdeckt, zugänglich durch eine, wegen der Haare kaum erkennbare kleine Hautfalte. Das Koaxialkabel rastete mit dezentem Klicken ein.

Erna fragte: „Haben Sie einen besonderen Wunsch betreffend Ihrer Datenbanken?“

„O ja, den habe ich“, kam die Antwort. „Ich wünsche mir ein wenig Lektüre zur Entspannung.“

„Das finde ich gut. Was soll es denn sein?“

„Laotse, Tao te King.“

Erna freute es, wenn ihre Agenten kulturelle Bedürfnisse äußerten. Gerne betätigte sie die Eingabe über den drucksensitiven Eingabeschirm, worauf das Programm startete. Von der Wand hing ein Monitor, über den die beiden den Fortschritt der Upgrades mitverfolgen konnten. Zu unterst befand sich ein leuchtend blauer Fortschrittsbalken, darüber die Anzeige der einzelnen Module, die gerade in Arbeit waren. 18 Module wurden insgesamt aktualisiert, das Modul zur diplomatischen Gesprächsführung freigeschaltet. Zur Kontrolle folgte ein abschließender Systemcheck; alles in bestem Zustand.

Nach fünf Minuten entließ die Chefin Arkturus mit dem Hinweis: „Sie dürfen jetzt auf den privaten Modus umschalten. Bis übernächste Woche sind Sie schließlich im Urlaub.“

4

Am nächsten Tag war Arkturus zur gesundheitlichen Überprüfung angemeldet. Zu diesem Zweck begab er sich gleich nach dem Frühstück in die Krankenstation. In der Abteilung „Allgemeine Ambulanz“ wies ihn die Sprechstundenhilfe an, sich in eine der Behandlungskojen zu begeben. Dort befand sich ein ganz ähnlicher Stuhl wie gestern bei Erna. Er möge warten, bis die Ärztin komme.

Bald ging die Türe auf und die Ärztin erschien.

„Franca!“, entfuhr es dem Agenten.

„Lange nicht mehr gesehen, Arkturus, alter Freund“, erwiderte die Ärztin lächelnd. Sie war keineswegs überrascht, schließlich wusste sie dank Tagesplaner, welche Patienten auf sie warteten. Franca war eine Frau Ende dreißig mit schulterlangem, wallendem, schwarzen Haar und perfekter Figur. Sie strahlte ein zeitloses, feminines Selbstbewusstsein aus, eines, das auf tiefen weiblichen Erfahrungen beruhte. Unter ihrem Ärztinnenkittel trug sie klassisch-elegante Bekleidung, tiefblaue Raulederschuhe, schwarze Strümpfe, eine durch und durch kultivierte Erscheinung. Sicher, es waren elf Jahre her, dass Arkturus sie zum letzten Mal gesehen hatte. Eine andere Frau hätten diese Jahre älter gemacht. Franca war lediglich mondäner, ja, charismatischer geworden. Alles in allem ein höchst erfreulicher Anblick, fand Arkturus. Sehr zum Glück befand er sich im privaten Modus.

Dr.in Franca Bassini fuhr fort: „Von der billigen Krankenschwester im Altersheim, die du gekannt hast, zur hoch spezialisierten Ärztin. Das hättest du nicht gedacht, was?“

„Wie lange machst du das schon?“

„Ich bin jetzt das zweite Monat in der Agentenbetreuung, sozusagen noch neu. Du kannst mir trotzdem vertrauen. Ich weiß, was ich tue. Entspann dich. Ich nehme an, dir ist das Procedere geläufig.“

Ohne Frage war es das. Die Ärztin injizierte dem Agenten eine farblose Flüssigkeit in die Vene des linken Unterarmes. Arkturus schwanden die Sinne ... Nach einer unbestimmten Zeit wachte er auf.

Franca Bassini begrüßte ihn: „Willkommen zurück. Es ist alles gut gelaufen. Deine Gesundheit ist in Ordnung. Manche Funktionen und Fähigkeiten habe ich optimiert.“

„Klingt gut – was denn?“

„Du kannst jetzt viermal so schnell laufen, wie ein gewöhnlicher Mensch deines Alters. Deine Körperkräfte habe ich ebenfalls vom Dreifachen auf das Vierfache erhöhen können. Du hast nun eine medizinische Notfallkapsel mehr im Körper und ein Einwegdepot, das 80 % der gängigen Gifte neutralisiert, ist ebenso eingerichtet. Ich habe es dir zwischen Leber und Dickdarm eingepflanzt, falls es dich interessiert.“

Nein, es interessierte nicht im Geringsten. „Wann hast du heute Schluss?“, fragte Arkturus.

„Um siebzehn Uhr. Wir können gemeinsam zu Abend essen, wenn du möchtest.“

Und ob er das wollte. Die Zeit bis dahin verbrachte er in seiner Unterkunft. Auf dem Bett liegend, die Füße auf der unteren Bettkante, die Hände im Nacken verschränkt, schwelgte er in Erinnerungen, vor allem an die gemeinsame Zeit mit Franca. Da gab es Nächte voll Leidenschaft, Zärtlichkeit, dazwischen unvergessliche Momente der Poesie. Erneut klangen die Gespräche, gewürzt mit Versprechen und Offenbarungen; von den Hoffnungen ganz zu schweigen. Der Geruch ihres verschwitzten Körpers stieg ihm in die Nase ... Unvergessliche Momente gemeinsamer Ekstase blitzten wie Fixsterne, ach was, Fixsterne ..., wie eine Supernova! am nächtlichen Himmel auf ... Arkturus meinte wieder deutlich zu spüren, wie sich Franca angefühlt hatte, da, wo sie ausschließlich Frau war ... Zum Schluss der zwei Jahre, die ihnen vergönnt gewesen waren, hatte sich Enttäuschung breit gemacht wie eine hässliche, giftige Erdkröte. Franca hatte wütend ihre Koffer gepackt und die Türe hinter sich zugeworfen ...

Es folgte eine harte Zeit, begleitet von den klickenden Geräuschen, mit denen Waffen geladen werden, vom Gestank abgeschossener Patronen. Wie im Halbtraum zogen diese Jahre in Arkturus' Erinnerung vorbei ... Es fühlte sich an wie Stahl unter den Händen. Kalt wurde es in der Seele; kalt und hart. Irgendwie war ihm seine Menschlichkeit abhanden gekommen. Gewiss, er konnte sich teure Huren leisten und tat dies bisweilen, aber der Frost in der Seele blieb ... Leider waren auch viele schroffe Worte gefallen. Sie klangen nach: „Es ist 16.00 Uhr. Agent Arkturus, Sie wünschten um diese Zeit erinnert zu werden.“

Du meine Güte – er war eingeschlafen! Wunder war es keines. Nach der medizinischen Überprüfung fühlte er sich stets müde, so richtig erholungsbedürftig. Dennoch schwang er sich umgehend aus dem Bett und machte sich frisch. Pünktlich holte er Franca von der Krankenstation ab. Auf dem nächstbesten Transportband begaben sie sich in das Restaurant Open Horizon in der Nähe des Liftes. Zum Glück war einer der begehrten Fenstertische frei. Sie setzten sich und gaben ihre Bestellung ab.

Arkturus sah zur Erde hinunter, die 23.000 Kilometer unter ihnen lag. Auf der einen Seite herrschten noch Tageslicht, auf der anderen bereits Nacht. Dazwischen präsentierte sich der Planet in einem faszinierenden Dämmerlicht. Blaue Ozeane, unterbrochen von braunen und grünen Landflecken – Inseln, Kontinente ... Über diesen Anblick legten sich weiß-graue Wolkenformationen in unterschiedlicher Transparenz, als wäre ein Maler mit einem flüchtigen Pinsel detailverliebt über die Oberfläche gehuscht.

In knapp einem Kilometer Entfernung erblickte Arkturus die obere Andockstation für den Lift. Einem mächtigen Kabel aus Nanokarbonit entlang schwebte eine Gondel mit einem Fassungsvermögen von vierzig Personen auf einem elektromagnetischen Teppich mal zur Plattform hinauf, mal zur Erde hinunter. Tag und Nacht war der Lift in Betrieb.

Damit sein Verhalten nicht peinlich wurde, erklärte er Franca: „Es ist immer wieder berauschend, wenn man das im halben Jahr einmal für ein paar Tage sieht.“

Franca erwiderte achselzuckend: „Ich habe mich daran gewöhnt.“

Arkturus riss sich mit einiger Mühe endgültig von dieser beeindruckenden Schau los, konzentrierte sich auf seine Gesprächspartnerin und fragte: „Wie lebst du eigentlich?“

Fast hätte er „Wie liebst du ...“ gesagt. Franca hatte die wahre Intention seiner Frage sehr wohl registriert und antwortete: „Geschieden und ungebunden, wenn du das in deiner undiplomatischen Art meinst.“

Ja, genau das hatte er gemeint. Ob ledig, geschieden, verwitwet, vollkommen egal, Hauptsache ungebunden. Das eröffnete Perspektiven und es kam Freude auf.

Franca war in anderer Stimmung. Nachdenklich sah sie zur Erde hinunter.

„Und wie sieht es mit dir aus, Arkturus?“

„Welche Frau will mit einem wie mir etwas zu tun haben?“

Franca fühlte sich unterschwellig aufgefordert, zu seiner Verteidigung anzutreten. Sie verspürte keine Lust dazu und beschloss, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Sie fragte: „Was macht mein alter Freund eigentlich irgendwo da unten?“

„Irgendwo da unten, wie du so treffend sagst, in der Nähe der unteren Liftstation liegt Bonyanidan, wie du weißt. Ich werde fürstlich bezahlt, wenn ich bedenke, dass ich die meiste Zeit dort im Standby-Modus verbringe. Zwischendurch erhalte ich Aufträge unterschiedlichster Natur, die ich so ordnungsgemäß wie möglich ausführe. Ein typisches Leben als Agent zur besonderen Verwendung. Und einiges weißt du ohnehin über uns Agenten. Immerhin überprüfst du neuerdings ihre Gesundheit.“

„Das heißt nichts. Vor allem nicht, meine Neugier wäre gestillt.“

„Und ich bin zur Verschwiegenheit verpflichtet. Es ist besser so. Nichtwissen ist Selbstschutz. Ist meine alte Freundin noch politisch aktiv?“

„Freilich.“

Das Essen wurde serviert. Appetitlich duftete der Algen-Tofu mit Kräutersoße und Champignons auf blitzend-weißem, kostbaren Porzellan.

Kaum hatte sich die Kellnerin entfernt, fragte Arkturus nach: „Du siehst besorgt aus. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?“

„Vielleicht. Die Lage unserer Partei ist schwieriger geworden. Hinter verschlossenen Türen wird zwischen den Parteispitzen und der Regierung intensiv verhandelt. Wir wissen nicht wirklich, um was es geht. Den Gerüchten zufolge stehen Grundsatzentscheidungen mit weitreichenden Folgen für die Menschheit an. Es braut sich etwas zusammen.“

„Davon habe ich bisher nichts bemerkt.“

„Das kann ich mir denken; aber ich. Sie haben eingeführt, dass wir Ärzte überdies die Loyalität der Agenten überprüfen müssen. Sie sagen, gesunde Menschen seien loyal, und vice versa, sich illoyal zu verhalten sei ein Zeichen von Krankheit. Menschen sind soziale Wesen und das drücke sich unter anderem in Solidarität mit der Obrigkeit aus. Immerhin sei diese die Speerspitze der Gesellschaft.“

„Und – bin ich loyal?“

„Es sind keinerlei Hinweise dokumentiert, die dagegen sprechen, was zu deinen Gunsten gewertet wird. Ich müsste dir sonst jeden Umgang mit mir verweigern. Bei uns auf der Plattform pfeifen es schon lange die Spatzen von den Dächern, dass sie die Loyalität eines jeden, der Karriere machen will, penibel überprüfen. Umgang mit Leuten, die einschlägig verdächtig sind, lässt dich beruflich geradezu abstürzen. Außerdem hast du von heute auf morgen keine Freunde mehr.“

Die Eingangstür des Lokales ging auf und ein Mann in Arkturus' Alter setzte sich mit einer aufgetakelten Brünetten in edelnuttigem Outfit an den Nebentisch. Die Frau schlug die Beine übereinander. Neckisch wippte sie mit dem einen Fuß. Sie lenkte so die Aufmerksamkeit auf ihre schlichtweg perfekten Beine, die ein um das gewisse Etwas zu kurzer Rock aus schwarzem Lederimitat großzügig den Blicken darbot. Sie und ihr Begleiter waren sichtlich angeheitert. Der Mann, der in einen unauffällig grauen Anzug gekleidet war, flüsterte seiner Begleiterin etwas ins Ohr. Die junge Frau kicherte mit glänzenden Augen.

Plötzlich grölte der Gast am Nebentisch: „Ist das nicht Arkturus? Haben sie dich rehabilitiert oder steckst du noch in diesem Drecksloch von Bonyanidan? Du musst wissen“, sagte er zu seiner Tischgenossin, in einer Lautstärke, die das halbe Lokal mithören ließ, „wenn diese Welt ein Arschloch hat, dann ist es Bonyanidan. Da kommen die hin, die etwas ausgefressen haben.“

Die Brünette kicherte wie eine pubertierende Göre. Mit ihrem Lippenstift und einem Taschenspiegel zog sie sich die Lippen nach.

„Und das ist Cytan, Angeber wie eh und je“, gab Arkturus verärgert zurück.

Franca merkte den aufkommenden Zorn ihres Partners. Sie legte ihm die rechte Hand auf den Unterarm und flüsterte: „Bitte ignoriere diesen Trottel. Es ist ein wunderschöner Abend. Nach so vielen Jahren! Er soll nicht die Macht haben, uns diesen zu verderben.“

„Meinetwegen. Lass uns gehen.“

Sie verzichteten auf das Dessert, zahlten und verließen das Lokal. Den fortgesetzten Sticheleien vom Nebentisch her schenkten sie keine Beachtung mehr. Auch zum Streiten gehören zwei. Während Arkturus und seine Begleiterin durch den Garten vor dem Restaurant gingen, um das Transportband in Richtung Unterkunft des Geheimdienstes zu besteigen, fragte Franca: „Was hat Cytan vorhin erwähnt?“

„Einen einen schlimmen Unfall vor drei Jahren. Tote, Verletzte, eine Menge Sachschaden. Kollateralschaden, wie es bei uns heißt. Es gab einen Riesenwirbel; intern natürlich. Nach außen dringt so etwas nie. Man hat mich zum Sündenbock gestempelt und mich nach Bonyanidan versetzt. Alle haben mich bedauert, war meine Unschuld doch ein offenes Geheimnis, bloß Cytan, das Arschloch vom Dienst, war schadenfroh.“

Wie herrlich dufteten die exotischen Blumen, an denen sie das Transportband vorbeitrug! Über ihnen leuchtete der Vollmond, der in dieser Höhe wesentlich näher war als auf der Erde. Majestätisch nahm seine Scheibe einen Großteil des nächtlichen Himmels ein. Arkturus' rechte Hand suchte Francas linke und fand sie. Gerne erwiderte sie seine Berührung.

Sie waren vor der Zimmertüre des Agenten angelangt. Nun war die Frage, wie es weitergehen sollte. Um der Antwort aus dem Weg zu gehen, küssten sie sich. Spürbar fehlte es an Innigkeit, am Willen beider, sich erneut aufeinander einzulassen. Als sich Franca zu guter Letzt anschickte, ihn zu verlassen, flüsterte Arkturus: „Ich habe nur ein paar Tage.“

„Und von denen willst du keinen vergeuden. Deshalb soll ich mit dir kommen – ist es das?“

„So ist es. Ich wollte mich lediglich diplomatisch ausdrücken.“

„Bitte bleib, hätte ich viel lieber gehört.“

„Bitte bleib.“

Franca überlegte kurz und sagte dann: „Ich frage mich, ob das gut wäre für uns.“

„Ich genauso. Aber wir werden es nie wissen, wenn wir uns vor der Erfahrung drücken.“

Zwei Seelen kämpften in ihrer Brust. Arkturus hatte die Türe vorsorglich bereits geöffnet. Franca blickte in das Zimmer, ein kuschelweiches Bett einladend in dessen Mitte. Nur ein kleiner Schritt ... „Tut mir leid“, flüsterte sie, drehte abrupt um und verließ ihn grußlos. Es musste schnell gehen, bevor es ihm gelang, sie umzustimmen. Viel hätte es nicht bedurft.

Enttäuscht betrat Arkturus sein Zimmer, warf sich auf das Bett und versuchte einzuschlafen. Hartnäckig um Franca kreisende Gedanken hielten ihn weit davon entfernt ... Niemand steigt ein zweites Mal in denselben Fluss, heißt es, das war ihm schon klar, obwohl es ihn sehr gefreut hätte. An ihm sollte es nicht liegen, fühlte er doch, dass der heutige Abend eine Saite in ihm zum Erklingen gebracht hatte, die ihm seit Jahren entschwunden gewesen schien. Dieser Abend hatte Wünsche geweckt, nach Liebe, Vertrauen, einem Refugium ohne kybernetische Chips, Aufträge und Waffen. Es würde reichen, nach Hause zu kommen und ein liebevolles Wort zu hören, sei es noch so banal, eventuell gar ... Kinderlachen ...

Andererseits sagte Laotse im Aphorismus 46: „Es gibt keine größere Sünde als viele Wünsche“. Konnten seine Wünsche Sünde sein? Und Franca ... Warum verhielt sie sich abweisend? Sicher war für sie eine Beziehung zu einem Agenten schwierig, hätte wahrscheinlich überhaupt keine Zukunft. Und dennoch – schön wäre es gewesen ... Oder sie wollte sich ihm noch eine Weile entziehen, um sein Begehren zu steigern, als raffiniertes weibliches Spielchen sozusagen. Dafür hätte er zwar Verständnis, aber die Zeit lief ihm davon. Es wäre unökonomisch, sollte sie sich zickig geben. Oder es war ihr schlicht einfach zu billig, gleich nach dem ersten gemeinsamen Abendessen ... Zum Kuckuck, verstehe einer diese Frauen. Nichts wie Scherereien, Einschlafschwierigkeiten, Kopfweh vor lauter kaum oder überhaupt nicht beantwortbarer Fragen. Da schlägt dir das Herz bis zum Hals, sie sagt „püh!“, dreht sich um und lässt dich stehen mit angespannter Hose.

Decke und Laken waren schon reichlich zerwühlt, als er zur abschließenden Erkenntnis gelangte: Was soll's? Wahrscheinlich war es ohnehin besser so. Er war auf keine Frau dieser Welt angewiesen, er würde sich abfinden. Letztlich war auch Franca nur eine Frau wie jede andere.

Es läutete – Franca! Sie schenkte ihm ein verheißungsvolles Lächeln, betrat wortlos die Unterkunft und damit wieder sein Leben. Und nein, Franca war keine Frau wie jede andere.

5

Mit dem vertrauten kratzenden Geräusch wurden zwei Kuverts unter der Tür durchgeschoben. Diesmal war es Nachmittag, kurz nach dem Mittagessen. Agent Arkturus schaltete auf den Aktivmodus um. Mit geschmeidigen Bewegungen stand er auf und las die Botschaft im ersten Kuvert. Den Auftrag fand er mit 15.000 Drachmen bescheiden dotiert. Das zweite Kuvert war für einen Kollegen bestimmt, da es mit „Cerberus“ beschrieben war. Somit war es Arkturus' Auftrag, dieses zu überbringen.

Nach den üblichen Checks und der vorbereitenden Projektplanung übte er vor dem Spiegel über dem Waschbecken freundliches Lächeln. Bei herabgesetztem Emotionallevel grenzte das an ein Kunststück, das er die längste Weile erfolglos probte. Als es ihm zu dumm wurde, begab er sich auf den Weg.

Wie immer hinterlegte er den Schlüssel ordnungsgemäß bei der Rezeption im Erdgeschoss, dann trat er ins Freie. Dabei erschien ihm kaum ein Ausdruck so irreführend wie „frei“, suggerierte dieser doch einen bunten Strauss positiver Gefühle, wie Freiheit, Ungebundenheit, Souveränität über das Leben. Das sah nach einem schlechtestenfalls leicht bewölkten Himmel aus. Wie irreführend ... Dabei war es nicht allein die zerstörte Umwelt, nein, die war auf dem ganzen Planeten desolat. Bonyanidan glich weitaus mehr einem Gefängnis. In früheren Zeiten hätte man wohl von Slum gesprochen. Cytan hatte mit seiner abfälligen Einschätzung der Stadt leider recht.

Welch ein schriller Gegensatz zur Plattform, wie Himmel und Hölle aus einer der alten Religionen! Niemand war gerne hier, die meisten Menschen nicht einmal freiwillig. Hier herrschte das Recht des Stärkeren. Kaum jemand ging einer geregelten Arbeit nach. Viele lebten von der erbärmlichen Sozialhilfe und den typischen, kriminellen Betätigungen: Handel mit Drogen, Prostitution, Diebstahl, Erpressung, Raub; Gewalt allenthalben.

Die Arbeiter zur Nachmittagsschicht in der wichtigsten Roboterfabrik strömten zu ihrem Sammelpunkt, einem öffentlichen Parkplatz. Ihr Weg wurde von Videokameras und Verkehrsregulierungsrobotern lückenlos überwacht. Vom Parkplatz aus fuhr sie ein Werkbus ins Betriebsgelände am Stadtrand.

Kaum eine halbe Stunde später läutete Arkturus in der baufälligen Einfamilienhütte, die laut Schild neben der Klingel Mrs. & Mr. Allicuster ihr Eigen nannten. Eine Frau mittleren Alters mit verhärmtem Gesicht öffnete argwöhnisch.

„Mrs. Allicuster?“

Arkturus versuchte sein freundlichstes Lächeln. Wozu hatte er geübt? Offenbar war es missglückt, denn die Frau sah ihn reichlich konsterniert an.

Sie fragte mürrisch: „Was wollen Sie?“

„Ich möchte Ihnen ein einmaliges Angebot unterbreiten.“

„Danke, wir kaufen nichts. Wir haben kein Geld.“

Sie schickte sich an, die Türe zuzuwerfen, als Arkturus schnell den linken Fuß nach vorne, zwischen Tür und Angel, schob.

„Bernie!!“, schrie die Frau in aufkommender Panik nach rückwärts. Ein Mann im selben Alter tauchte im Hintergrund auf.

„Was ist los?“, rief er.

Das Diplomatenmodul riet dringend zur Deeskalation der Lage. „Entschuldigen Sie“, fuhr Arkturus fort, „bitte beruhigen Sie sich. Es besteht kein Grund zur Aufregung. Ich möchte mich ehrlich gesagt nicht so abwimmeln lassen. Ich verstehe natürlich Ihre Bedenken, aber ich bin ein Freund, und bitte Sie einfach, mir fünf Minuten Ihrer Zeit zu schenken. Darf ich herein?“

Die beiden waren unschlüssig. Das interpretierte das Modul als gutes Zeichen. Nochmals lächelte Arkturus, so überzeugend, wie es ihm möglich war: „Ich bitte Sie.“

Als keine Reaktion erfolgte, schloss er daraus, dass man gewillt war, ihn wenigstens anzuhören. Also legte er los: „Sie haben gesagt, Sie hätten kein Geld. Ich habe ein seriöses, unverbindliches Angebot für Sie, das Ihnen für längere Zeit dieses Problem lösen wird. Nein sagen können Sie allemal.“

Das Ehepaar Allicuster blieb unschlüssig. Nachdem sie sich kurz tuschelnd beraten hatten, ließen sie den Agenten in das Haus. Bald saß er dem Ehepaar in deren schäbigem Wohnzimmer auf einem wackligen Holzstuhl gegenüber. Die übrige Einrichtung war dementsprechend.

Das Diplomatenmodul schlug Arkturus folgende Kommunikationsstrategie vor: konzise Gesprächsführung, ohne unhöflich zu werden. In diesem Sinne begann er das Gespräch: