Ein Hund tritt in den Saal - Anton Christian Glatz - E-Book

Ein Hund tritt in den Saal E-Book

Anton Christian Glatz

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Beschreibung

Im 23. Jahrhundert wacht Prinzessin Agnes eines Morgens mit einem anderen Gesicht auf. Sie wird aus dem Palast geworfen und muss sich fortan als Verkäuferin auf dem Trödelmarkt ein hartes Brot verdienen. Paul Wayden, ihr Chef, kommt durch mysteriöse Umstände in den Besitz eines legendären Ediktes. Dieses wurde in grauer Vorzeit von Ilak-Gathi den Hunden ausgestellt, als Gegenleistung für ihre Dienste an den Menschen. Doch damals verschwand das Edikt. Wayden trägt dem König, Agnes' Vater, das Schriftstück vor. Es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen, kein Stein bleibt auf dem anderen. Wie wird sich Prinzessin Agnes entscheiden, liebt sie doch den Rebellenführer Wayden?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel Ein Hund wird in den Saal treten

Kapitel Ein Hund tritt in den Saal

Kapitel Ein Hund war in den Saal getreten

I. Kapitel

Ein Hund wird in den Saal treten

Am Anfang war Ilak-Gathu, und nur Ilak-Gathu. Er war ehe es noch Raum und Zeit gab. Ilak-Gathu war die Unendlichkeit, die Weite, er war die Leere, das Nichts. Ohne Anfang, ohne Ende, stets bei sich und nur bei sich, ja, so war Ilak-Gathu in seiner unfassbaren Größe. Schier ewig weilte er in sich ruhend.

Irgendwann fühlte er sich einsam, denn er gewahrte nichts außer sich selbst. Mit der Zeit folgte die Langeweile. Da begann Ilak-Gathu Selbstgespräche zu führen. Und aus dem Nichts tauchten Raum und Zeit auf, als Bühne für die Geschichten, die er sich selbst erzählte. Darin wurden alle seine Gedanken und seine Träume Wirklichkeit. Sterne und Planeten, bewohnt von zahllosen Wesen, bevölkerten von nun an das Universum. So entstand der Wind, der im Frühling den Blütenstaub über farbenfrohe Wiesen bläst und das Gezwitscher der Vögel, die in frohem Flug die Hitze des Sommers teilen. So entstand das duftende Laub, das im Herbst altersschwer vom Baume gleitet und das rauschende Wasser, das in den Schluchten zur Winterzeit zu Eis erstarrt. Als es Ilak-Gathu genügend schien, ging er in Gestalt eines alten Mannes durch die Welt.

Zuletzt erzählte er sich von Menschen, furchtsamen, doch gescheiten Wesen, Wind und Wetter, vielen Raubtieren und sonstigen Gefahren ausgesetzt. Ihnen gab er ein Gesetzbuch mit auf die Reise durch die Wirrnisse ihres Lebens. Darin sollten sie nachschlagen können, was rechtens ist, auf dass sie nie den wahren Weg verlieren sollten. Damit war die Magie des Gesetzes geschaffen. Aber viele Menschen lasen das Buch nicht. So kam das Böse in die Welt.

Ilak-Gathu hatte den Menschen ein Wesen zur Seite gestellt, das ihm dienstbar sein sollte, den Hund. Dieser half, wo es nur ging. Er verteidigte seine Menschen, wenn eine reißende Bestie in der Nähe jagte, die sich in ihrer Gier am liebsten über Vieh, Alte, Kranke und Kinder gestürzt hätte. Galt es ein Kind aus einem tosenden Fluss zu retten, wer war zur Stelle? Der Hund! Wer wachte in rauen Nächten über den Schlaf von Mensch und Herde, während im trügerischen Licht des Mondes die Bedrohungen lauerten? Der Hund! Wer begleitete die Menschen treu auf ihrer Wanderung und schützte sie vor den Gefahren der Wildnis? Jawohl, der Hund!

In Wahrheit wäre der Mensch ohne Hund dem Untergange geweiht gewesen. Aber die Menschen dankten es den Hunden nicht. Sie behandelten sie ungerecht, witzelten und spotteten über sie. Futter gab es keines, dafür Tritte. Statt sie fürsorglich zu lieben, bewarf man die Tiere mit Steinen. Mochte der Winter noch so klirren vor Kälte – keiner der Menschen öffnete die Tür. Manch einer der Hunde hätte es in freier Wildbahn besser gehabt. Gleichwohl blieb der Gehorsam der Hunde unerschütterlich. Ohne Murren oder Widerwillen leisteten sie Tag für Tag ihre Dienste und waren zufrieden mit jedem Knochen, den die Menschen ihnen verächtlich zuwarfen.

Nach einiger Zeit geschah es, dass Ilak-Gathu das unwürdige, traurige Leben dieser Geschöpfe gewahrte und er sprach: „Zur Hilfe des Menschen habe ich den Hund erdacht. Unerschütterlich und mutig soll er sein Leben der Sache unterordnen. So ist mein Wille.“

Der Zufall wollte es, dass die Menschen das hörten. Sie merkten es sich gut ...

Als Ilak-Gathu seiner Selbstgespräche überdrüssig war, überkam ihn Müdigkeit mit großer Macht. Während er einschlief, driftete er dem Rande des Universums entgegen, um dort im großen Nichts zu verschwinden, so wie er gekommen war.

Und aus diesem Nichts wurde sein Sohn geboren. Dieser war Ilak-Gathi, der hinfort die Geschicke der Geschöpfe seines Vaters leitete. Er hatte es im Gegensatz zu seinem Vater mehr mit dem Verzeihen und dem Mitleid. Unerkannt ging Ilak-Gathi in Gestalt eines blonden Jünglings durch die Welt und sah, wie das Leben einer halluzinierten Blume gleich in üppigen Arabesken vor sich hinwucherte, sich selbst verschlingend und dabei immer wieder neue Formen hervorbrachte. In der Steppe Afrikas sah er einen Löwen eine Antilope reißen, in Sibirien beobachtete er ein Rudel Wölfe einen Hasen jagen.

Als er eines Tages in einem Teich einen Hecht bemerkte, der gerade seine Zähne in das Fleisch eines jungen Karpfens schlug, dünkte ihm alles ein einziges Fressen und Gefressenwerden. Also schrieb er ein Gebetbuch, worin die Geschöpfe Trost fänden und endlich auf die Stimme ihres Herzens hören könnten. Damit war die Magie des Gebetes geschaffen. Aber viele Menschen lasen das Buch nicht. So blieben Hartherzigkeit und Unduldsamkeit erhalten.

Als Ilak-Gathi über das Leben der Hunde nachdachte, dauerten sie ihn. Also ließ er eines Tages die Botschaft verbreiten, zur kommenden Vollmondnacht sollten sich die Hunde in einer Höhle in der Nähe der Menschen einfinden. Er habe ihnen etwas Wichtiges zu offenbaren. Die Hunde erschienen zur festgesetzten Stunde am nämlichen Ort.

Als die Nacht fortgeschritten war, erfüllte plötzlich überirdisches Licht den Eingang der Höhle. Angsterfüllt kauerten sich die Hunde aneinander. Aus dieser Herrlichkeit trat Ilak-Gathi hervor und sagte mit freundlicher Stimme: „Danke, meine lieben Hunde, dass ihr gekommen seid. Seit geraumer Zeit verfolge ich euer Wohl und Wehe. Ihr seid die treuesten und aufopferungsvollsten Diener der Menschen, die sich ihrerseits so wenig erkenntlich zeigen. Das ist nicht rechtens. Deswegen habe ich beschlossen, euch zu helfen, indem ich euch einen Wunsch erfülle. Was soll ich für euch tun?“

Eine Beratung folgte des Langen und Breiten, was man sich wünschen solle. Ein oder zwei zusätzliche Knochen am Sonntag wünschte sich der Boxerrüde, die Haushündin verlangte eine längere Kette, der Hirtenhund Arbeitszeitverkürzung. Die Dalmatinerhündin wollte öfter gestreichelt werden, und so ging es dahin. Jeder hatte einen anderen Wunsch und die Hunde waren uneins. Als sich die Beratung ungebührlich in die Länge zog und die Hunde letzten Endes sogar ins Streiten gerieten, rief Ilak-Gathi: „Ruhe! Ich sehe, ich muss selbst eine Lösung finden.“

Er nahm eine Rolle aus Pergament, schrieb etwas in geheimnisvollen Lettern darauf und überreichte es den Hunden mit den Worten: „Bringt dieses Edikt in die Halle der Menschen. Euer aller Leben wird es erleichtern. Versammelt euch zuweilen in dieser Höhle. Tut dies, um euch an diese Nacht zu erinnern und es wird euch besser gehen.“

Mit diesen Worten zog sich Ilak-Gathi in die Herrlichkeit zurück, aus der er aufgetaucht war. Die Hunde rollten das Schriftstück mit den für sie unverständlichen Lettern ehrfürchtig zusammen und versiegelten es. Die Dalmatinerhündin drückte ihre Pfote auf das Wachs.

Wer sollte den Erlass den Menschen überbringen? Jeder fand, einem anderen sollte die Ehre zuteil werden. Kam die Rede auf ihn, wusste gleich jeder eine Menge Gründe, warum dies keine gute Idee wäre. Zu guter Letzt beschlossen sie ein Auswahlverfahren. Alte, Kranke und Weibchen schieden von vornherein aus, denn der Weg zum nächsten Königshof war sowohl weit als auch beschwerlich. Die übrig gebliebenen Hunde bildeten einen Kreis, in der Mitte eine Anzahl Knochen und zwar einen weniger, als es Hunde waren. Auf ein kurzes Bellen der Dalmatinerhündin hin stürzten sie sich auf den Haufen und versuchten einen Knochen zu erwischen. Wer sich keinen schnappen konnte, weil ja nicht genug vorhanden waren, schied aus. Anschließend wurde von den Knochen einer weggelegt und das Spiel begann von neuem. Auf diese Weise wurden es stetig weniger Hunde, bis ein stattlicher Hirtenhund übrig blieb.

Dieser freute sich riesig, dass er gewonnen hatte, durfte er doch den appetitlichsten Knochen für sich behalten. Allerdings war dieser als Wegzehrung für seine Reise gedacht. Als er in die finstere Nacht hinausspähte, wohin man ihn gleich schicken würde, schwand seine Begeisterung. Klopfenden Herzens fiel ihm die Dalmatinerhündin ein. Auf sie würde er wohl auf unbestimmte Zeit verzichten müssen. Seufzend nahm er sein Schicksal auf sich.

Dem Sieger wurde feierlich das Schriftstück, verwahrt in einer ledernen Rolle, in das Maul gesteckt. Unverzüglich sollte er seine Mission antreten. Begleitet von wohlmeinenden Ratschlägen und allerlei Segenswünschen machte er sich auf den Weg in die Dunkelheit. Nach einigen Metern drehte er sich um. Sein Herz war ihm schwer geworden. Ein letzter Blick zurück, in die Gesichter seiner lieben Freunde, ganz besonders in das der Dalmatinerhündin ...

„Komm bald wieder“, flüsterte diese.

„Was hast du gesagt?“, wollte der Boxerrüde neben ihr wissen.

„Nichts, nichts.“

Sekunden später hörten die Hunde, wie ihr Abgesandter zügig einen Bach überquerte, dann hatte ihn endgültig die Nacht verschluckt ...

Die nächsten Tage warteten die Hunde darauf, Nachricht von ihrem Abgesandten zu erhalten; vergeblich. Ein Tag nach dem anderen verging, ohne dass man etwas von ihm gehört hätte. Nach Wochen beschlossen sie, nach ihm zu suchen. Doch so eifrig sämtliche Hunde landauf, landab nach dem Gesandten forschten, der Hirtenhund blieb verschwunden. Desgleichen sollte das Pergament mit dem Edikt nicht mehr auftauchen. Die Jahre vergingen, viele Jahre ... Letzten Endes rückten die Jahrhunderte die Geschichte von Ilak-Gathis Edikt in die weiten, nebligen Fernen der Mythen und Legenden; eine Erzählung, die bloß noch hinter vorgehaltener Pfote von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Das Leben der Hunde blieb so beschwerlich wie ehedem.

Indessen war auch Ilak-Gathi unaufhaltsam müde geworden. Während er einschlief, driftete er dem Rande des Universums entgegen, um dort im großen Nichts zu verschwinden, aus dem er und vor ihm sein Vater gekommen war. Und dieses Nichts gebar seine Tochter Ilak-Gatha. Hinfort lenkte sie die Geschicke der zahlreichen Geschöpfe ihres Großvaters. In Gestalt einer jungen, begehrenswerten Frau ging sie unerkannt durch die Welt und sah, wie das Leben einer halluzinierten Blume gleich in üppigen Arabesken vor sich hinwucherte, sich selbst verschlingend und zugleich immer wieder neue Formen hervorbrachte.

Als sie eines Tages einen indischen Tiger beobachtete, der ein krankes Schaf riss, schrieb sie ein Wörterbuch. Mit seiner Hilfe sollten sich die Geschöpfe besser verstehen lernen, damit sie in Frieden miteinander lebten. Damit war die Magie der Wörter geschaffen. Aber viele Menschen lasen das Buch nicht und so blieben Zwietracht und Hader erhalten.

Das Schicksal der Hunde jedoch stimmte Ilak-Gatha sehr traurig. Nach tiefem Nachdenken, wie ihnen am besten geholfen sei, verlieh sie den Verdienstvollsten unter ihnen menschliche Gestalt. So geschah es, dass im Laufe der Jahrhunderte die Zahl der Hunde beträchtlich kleiner wurde, die der Menschen hingegen stieg.

II. Kapitel

Ein Hund tritt in den Saal

Siddi Lohan, 16. Mai 2287. Der Morgen brach an. Die Strahlen der Sonne hatten bereits das Bergmassiv erfasst, das zuoberst das Schloss trug. Inmitten einer Ebene, soweit das Auge reichte, war der Königsberg die einzige nennenswerte Erhebung weit und breit. Prinzessin Agnes war soeben aufgewacht. Sie betrat ihre Veranda, die ihr einen Blick auf die Stadt und weit hinein in die Tiefebene gewährte. Ein bis zwei Stunden später würde der übliche Smog die Landschaft wie ein fahlgelbes Leichentuch zudecken. Wenn die Prinzessin die Aussicht genießen wollte, musste sie das beim ersten Morgengrauen tun.

Umgehend begann die Prinzessin mit ihren Tai-Chi-Übungen, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich mehr ausgezogen als bekleidet in ihrem Pyjama befand. Doch auf ihrer Veranda war sie unbeobachtet. Deshalb absolvierte sie bisweilen die Übungen so, wie die Natur sie erschaffen hatte. Zurzeit wehte ein leichter Wind aus Osten. Dort, in etwa zwanzig Kilometer Entfernung, verließ der Dessino eine weitläufige, bewaldete Hügellandschaft, die gerade noch am Horizont auszumachen war und wälzte seine braunen Fluten nach Siddi Lohan. Mitten im Ort trennte er zuerst das Süd- vom Nordviertel und bog, so wie er auf den Königsberg traf, im rechten Winkel nach Süden ab. Links lagen die exklusiven Wohnanlagen des Südviertels, rechts das Industriegebiet mit einer Erdölraffinerie, dem Kraftwerk und sonstigen vergleichbaren Einrichtungen. Danach verlor sich der Dessino um Millionen Liter Abwässer dicker geworden in der südlichen Ferne. Im Westen hingegen war Wüste, als Folge eines Fluches aus alten Zeiten. Eine andere Version der Legende jedoch besagte, dass ganz Siddi Lohan mit im Grunde demselben Fluch belegt sei ...

Üblicherweise stellte sich Prinzessin Agnes so auf, dass sie das Südviertel und seine beeindruckenden Bauwerke überblickte. Ihre Übungen sollten sie in Einklang mit dem Tao bringen. Dies war heute sehr nützlich, denn sie sah einem Termin in der Bank entgegen, um ihre geliebten Aktien zu vermehren. Das Tao der Geldvermehrung sozusagen. Obwohl es letztlich ständig das Gleiche war: Die einen Aktien einkaufen, die anderen verkaufen, auf wundersame Weise vermehrten sich diese, dafür sorgte ihr Bankier. Nicht, dass Agnes derlei Geschäfte nötig gehabt hätte, aber irgendein Hobby hat schließlich jeder.

Nach dem Frühstück war Agnes kaum mehr zu halten. Sie schritt zu ihrem Safe und entnahm ein ungefähr 5 cm dickes Bündel mit Aktien. Sicher waren ausgedruckte Aktien seit langem aus der Mode, dennoch hatte sich die Prinzessin ausdrücklich Papier ausgebeten; exquisites natürlich, edel texturiert, aus einem exotischen Material. Mit „existiert heutzutage nur im Computer“, wie ihr Bankier Drachsel hingewiesen hatte, wollte sie nichts anfangen. Sie begehrte etwas in der Hand zu halten, zwischen ihren Fingern zu spüren. Und sinnlich musste es sein. Scherzhaft hatte sie auf die Frage Drachsels nach dem Grund mit „Konkrete Poesie“ geantwortet.

Sorglos warf Agnes die Papiere in eine elegante, dunkelbraune Krokodilledertasche, und ab ging es. Die Tasche in der Hand hüpfte sie wenig damenhaft wie ein kleines, gut gelauntes Mädchen durch den Schlosspark, in Richtung oberes Portal. Von dort würde sie sich, eskortiert von ihren beiden Leibwächtern, mit einer der Dienstlimousinen in die Stadt bringen lassen. Übermütig warf sie ihre Aktien in die Luft und fing sie wieder. Weil es so schön war, gleich noch einmal, und ein drittes Mal. Da geschah es! Sie rutschte auf einer Bananenschale aus, die Tasche mit den Aktien segelte durch die Luft über die Parkmauer an der Nordseite in die Tiefe.

Zwei, drei Sekunden war die Prinzessin schlicht und einfach sprachlos. Eine Bananenschale! Das war ja wie in einer dämlichen Witzzeichnung! Wie ... gewöhnlich! Ha, Bananenschale?! Im Schlosspark?! Wo blieben die Reinigungsroboter? Was taten die Gärtner? „Wozu bezahle ich diese Leute?“, schnaufte sie entrüstet. Oh, eigentlich erhielten die ihr Geld von Vater ... Ach was, egal. Mit Schimpf und Schande rausschmeißen sollte man diese Versager, ausnahmslos, jawohl, und heute noch!

Die Hände auf die Schlossmauer gestützt und die berüchtigte Nordwand auf das Nordviertel, das Ballungszentrum der Armen, hinabsehend überlegte Agnes fieberhaft, wie sie zu ihren Aktien gelangte: Begäbe sie sich dorthin, was würden die Leute sagen? Nie und nimmer konnte sie sich so weit herablassen. Es würde heißen: Tief kann man sinken! Ihr guter Ruf! Der Dreck! Mit Sicherheit würde sie sich schmutzig machen. Wäre eine Verkleidung ein gangbarer Weg? So gelänge es ihr wenigstens, inkognito nach den Papieren zu suchen. Die erbärmlichen Fetzen der Nordviertler anziehen? Bekleidung, die unter jeder Würde lag. Und sich gar von dem billigen Zeug einen Ausschlag zuziehen! Wer tat dies freiwillig? Als Alternative auf die Aktien verzichten? Nein, das kam genauso wenig in Frage.

Kurze Zeit später ließ sich Prinzessin Agnes mit der Dienstlimousine in die Stadt chauffieren. Vom oberen Portal ging es die Serpentinenstraße hinunter, vorbei an zwei waffenstarrenden Bunkeranlagen, bis zum unteren Portal und anschließend in das Südviertel. Über das Handy informierte sie währenddessen ihren Bankier, dass der heutige Termin wegen dringlicher Geschäfte verschoben werden müsse. Zum Zwecke eines erneuten Termins dürfe er sich wieder bei ihr melden.

Weil ihr Banktermin ausgefallen war, hatte Prinzessin Agnes jede Menge Zeit. Zudem war kein Termin auf der Uni eingeteilt, wo sie hauptberuflich Welthandel studierte. Sie setzte sich in das nächstbeste Café, bestellte einen Cappuccino und überlegte misslaunig. Am Nebentisch hatten die Leibwächter Platz genommen und bemühten sich redlich, so unauffällig auszusehen wie die übrigen Gäste. Nach langem Hin und Her kam Prinzessin Agnes widerwillig zu dem Schluss, dass sie jemanden engagieren werde müssen, ihre Aktien zu suchen.

Der Sicherheitsdienst kam für sie trotz formaler Zuständigkeit weniger in Frage, das waren reichlich undurchsichtige Kerle. Nicht einem hätte sie eine sensible Angelegenheit dieser Bedeutung anvertraut. Ihre Leibwächter waren unabkömmlich. Wer würde in deren Abwesenheit für ihre Sicherheit sorgen? Von Reinmann, der Oberst der Palastwache, vielleicht. Der Oberst zählte zu ihren Verehrern, wenngleich auf der Kandidatenliste hoffnungslos hinten eingereiht. Ihm wäre es bestimmt ein Anliegen, das Verlorene zu beschaffen. Aber Agnes wollte sich ihn lieber vom Halse halten, bevor er zutraulich wurde. Abgesehen davon wäre er im Erfolgsfalle sicher der Ansicht, einen kleinen Bonus bei ihr einlösen zu dürfen. Das war das Letzte, was sie provozieren wollte.

Andererseits, eine abgestürzte Ledertasche aufzutreiben war ja so schwierig auch wieder nicht. Dafür bedurfte es keines hoch qualifizierten Agenten, es genügte ... irgendeiner. So einer, wie dieser Taugenichts an der Theke. Sein billiges Erscheinungsbild wies ihn eindeutig als Nordviertler aus. Dennoch war die Kleidung sauber und passte gut zu seinem athletischen Körper. Hier war wohl einer trotzdem um Würde bemüht; interessant ... Die wasserblauen Augen über dem 3-Tage-Bart wirkten gleichfalls durchaus angenehm. Ein stattlicher Mann, vermutlich Ende dreißig, um diese Zeit ohne Arbeit? Sicherlich hatte er nichts Wichtiges zu tun, selbst wenn die Prinzessin davon absah, dass keiner landauf, landab aktuell Dringlicheres erledigen konnte, als ihre Aktien suchen. Sie würde ihm zu einer nützlichen Tätigkeit verhelfen.

Schon sagte sie zum Taugenichts: „Guten Morgen. Sie wissen bestimmt, wer ich bin?“

„Sie sind Prinzessin Agnes“, erwiderte der Angesprochene unbeeindruckt. Er blickte kaum von seinem Glas Lagerbier auf. Von der unterwürfigen Sorte war der offenbar nicht.

„Ich hätte einen Auftrag für Sie“, fuhr Agnes fort. „Mir ist eine Tasche aus Krokodilleder die Nordwand hinuntergefallen. Könnten Sie diese für mich auffinden?“

Ihr Gesprächspartner sah auf und erwiderte stirnrunzelnd: „Das wird schwierig. Gewerbegebiet, eine Schrottpresse, daneben jede Menge Benzinfässer, ein Umspannwerk ... Und wenn Sie jemanden wie mich beauftragen, soll die Angelegenheit zweifellos diskret behandelt werden ... Ich würde sagen, es kommt darauf an, was Ihnen die Tasche wert ist.“

„Sie haben einen Wunsch frei. Äh, wenn ich ihn erfüllen kann, selbstverständlich.“

„Sicher“, gab der Mann grinsend, fast spöttisch, zurück. Dann überlegte er einen Augenblick. „Ich möchte eine Audienz bei Ihnen. Ich möchte an Ihrem Tisch sitzen, von Ihrem Teller essen und aus Ihrem Becher trinken. Anschließend möchte ich in Ihrem Bett schlafen und vorher kriege ich einen Kuss. Von Ihnen persönlich, nicht von der Köchin.“

Ein unverschämter Kerl! Schamlos nutzte er ihre Situation aus. Schnaufend erwiderte Agnes: „Das sind vier Wünsche. Ich habe Ihnen einen angeboten.“

„Entweder oder“, kam die Antwort. „Ich bin ohne Sie genauso beschäftigt. Außerdem sind es fünf Wünsche.“

Am liebsten hätte Agnes jemand anderes angesprochen, aber unverschämt waren sie letzten Endes doch samt und sonders. War der eine um keinen Deut besser als der andere. Der Mann vor ihr hatte wenigstens eine männliche Ausstrahlung, wie sie sich eingestehen musste. Nicht die Spur von Unsicherheit im Umgang mit ihr, einer Prinzessin! Wie sich die Audienz wirklich gestalten würde, bliebe ohnehin abzuwarten. Wer weiß, ob er überhaupt Erfolg haben würde. Möglicherweise war es nur ein Dampfplauderer.

Seufzend gab Agnes nach: „Da sind Aktien drin. Wehe, es fehlt eine einzige!“

Sie stand auf und verließ grußlos das Lokal. Ihr unbekannter Gesprächspartner durfte ihren Cappuccino bezahlen. Diesem fiel auf, dass die Prinzessin keine Kontaktdaten nachgefragt hatte, weder Name, noch Adresse oder Telefonnummer. Hauptsache, man kannte sie, diese verzogene Göre. Und die Aktien? Der Betreiber der Schrottpresse war ein guter Freund von ihm. Den würde er bei Gelegenheit fragen.

Abendessen der Königsfamilie. Am einen Ende der Tafel saßen Georg III., absoluter Monarch über Siddi Lohan und die Königin, daneben der Königssohn Heinrich und seine Frau Sabine. Ihnen gegenüber hatte die Großmutter Platz genommen. Agnes speiste neben ihr. Weiter die Tafel hinunter hielten sich ein paar Onkel und Tanten auf und vervollständigten die offizielle Königsfamilie.

Versonnen sah Agnes von ihrem Geschirr auf. Auf ihrer Höhe der Tafel hing ein schwerer Leuchter, geradezu wollüstig beladen mit funkelnden und glitzernden Kristallen. Hoffentlich würde das blöde Ding nicht eines Tages herabfallen. Wie hoch wären eigentlich ihre Überlebenschancen in so einem Falle?

Livrierte Diener servierten gerade formvollendet den dritten Gang. Stilvoll klirrten die Kristallgläser, edles, kunstvoll verziertes Besteck scharrte neckisch über chinesisches Porzellan aus der Zeit der Mingdynastie.

Mürrisch hörte man den Königssohn: „Aha, wieder einmal Chateaubriand à la Rochade auf Sahnespitzenhäubchen mit einem Hauch von Zimt, dazu das übliche Gläschen Chartreuse. Das hatten wir vorletzten Monat schon, wenn ich mich recht entsinne? Dabei mag ich kein Sahnehäubchen. Wir sitzen großartig im königlichen Speisesaal und was gibt es zu essen? Erbärmlich, dieser Fraß ...

Geh, Diener, tun Sie das Zeug weg, einfach bloß weg. Es reicht, wenn ich es auf den Tellern der anderen sehen muss. Lässt sich halt nicht verhindern.“ Zu seiner Frau neben ihm gewandt, fügte er halblaut hinzu: „Bevor ich so etwas esse, esse ich lieber gar nichts. Ist ohnehin besser für die Linie.“

„Sehr richtig“, bestätigte die Angesprochene grinsend und ließ es sich um so mehr schmecken.

Nach diesem Gang kam das Gespräch auf die Heiratspläne der Prinzessin. Um genau zu sein waren es die Pläne der Familie, nicht ihre eigenen. Wie meistens war es auch diesmal Mutter, die das Thema einbrachte: „Du-u, Schorschi!“

„Ja, mein Schatz“, sagte Georg III., Herr über Siddi Lohan, wohl wissend, dass seine Gattin auf diese Weise stets ernste Diskurse einzuleiten pflegte.

Die Königin fuhr fort: „Agnes ist jetzt vierundzwanzig Jahre alt und eine baldige Heirat wäre ausgesprochen opportun. Oder siehst du das anders, Schorschi?“

Agnes spitzte zwar die Ohren, verkneifte sich jedoch vorläufig das Wort. Sie fühlte sich nicht direkt angesprochen und vielleicht hörte Mutter von selber wieder auf. Bedauerlicherweise irrte sie diesbezüglich.

Georg III. saß zwischen zwei Stühlen. Er versuchte diplomatisch zu sein und meinte: „Wenn mir ein Herzenswunsch in Erfüllung gehen sollte, dann der, dass meine Tochter bald den Mann ihres Lebens findet. Also ich hätte gegen Prinz Albrecht von Keffrin zum Beispiel nichts einzuwenden.“

Nun meldete sich Agnes doch: „Ach was, mit dem läuft ja nichts im Bett. Soll ich, um Nachwuchs in die Welt zu setzen, über meine Dienstfahrer herfallen?“

„Wie wäre es mit Prinz Klaus von Perrubuti? Der wartet nach wie vor auf Nachricht von dir, Agnes“, hakte die Königin hartnäckig nach. Prinz Klaus war ihr Wunschkandidat.

Als Agnes diesen Namen hörte, wurde sie allerdings etwas schroff: „Der hat äußerst sonderbare Gewohnheiten im Bett.“

„Oh, woher willst du das wissen?“

„Wenn sich einer für mich interessiert, obwohl ich für ihn ein unbeschriebenes Blatt bin, ziehe ich lieber meine Erkundigungen ein. Prinz Klaus ist kein unbeschriebenes Blatt. Ich könnte euch die Telefonnummer von der Peitschenlady geben, die er zu besuchen pflegt. Nur um einen hoch zu kriegen, muss er ...“

„Pst!“, fuhr sie ihr Vater an, „Keine unappetitlichen Details! Tochter, du solltest unbedingt staatsmännisch denken lernen. Du heiratest zum Wohle des Königreiches und weniger zur Freude deines Unterleibes.“

Die Anwesenden erhielten den Eindruck, er spreche aus Erfahrung. So deutlich der Gedanke im Raum stand, blieb er dennoch unausgesprochen.

Agnes reichte es: „Entschuldigt mich, wenn ich mich zurückziehe. Ich bin müde.“

Erbost stand sie auf und begab sich in ihre Gemächer. Dort angelangt, meldete sich die Königin über das Handy und fragte: „Was muss Prinz Klaus tun, um ... na, du weißt schon?“

„Ach was, Vater hat Recht. Erstens geht das keinen etwas an und zweitens will ich ja nicht prüde sein. Gleichgültig ob es dir passt, Mama, der richtigen Mann ist mir bisher aus dem Weg gegangen.“

Mutter blieb hartnäckig: „Agnes, was dein Papa sagt stimmt. Unsereiner heiratet aus Gründen der Staatsräson, nicht aus Liebe. Die Etikette verlangt, dass er deiner würdig ist. Ob er schnarcht während der Nacht, interessiert niemanden. Schenk dem Volk einen Thronfolger und es wird dich lieben. Was du darüber hinaus treibst, bleibt deine private Angelegenheit.“

„Mama, warum fällt es dir derart schwer, meinen Standpunkt zu begreifen? Soweit, dass ich mich mit einem x-Beliebigen liiere, bin ich noch lange nicht. Diese Option steht mir immer offen.“

Damit beendete sie das unerquickliche Gespräch. Anschließend vertrieb sie sich die Zeit mit der Entertainmentkonsole, von aller Welt Enko genannt. Sie schaltete einen Reisebericht über Südamerika ein, den sie in bester holografischer Darstellung mitverfolgte. Eine spezielle Cyberbrille sorgte für das ganz besondere 3-D-Erlebnis. Vor allem verursachten die beiden Audiomodule über den Ohrmuscheln das Gefühl, sich mitten im Geschehen zu befinden. Als säße sie im Flugzeug flog Agnes über die Schluchten der Anden, vorbei an einem Kondor, der mit mächtigen Schwingen den azurblauen Himmel durchschnitt. Sie berauschte sich an der Architektur halb verfallener aztekischer Pyramiden, gefolgt von Ausgrabungen aus der Mayazeit.

Plötzlich klingelte der Dienstwagenfahrer und sagte durch die Gegensprechanlage an der Tür: „Sie wünschten an an Ihre Party heute Abend erinnert zu werden.“

„Ach ja, fahren Sie mich hin.“

Party bei Judith, da kam gute Laune auf! Judith war eine der Kommilitoninnen der Prinzessin, die heute ihre neue Wohnung einweihte. Es blitzte das strahlende Weiß künstlicher Zähne fernab jeder Plombe, es leuchteten die eingefärbten Augen in Rehbraun, Stahlblau oder geheimnisvollem Grün. Es funkelte allerlei Geschmeide in den Dekolletees, es wiegten sich dank Cyborg-Medizin perfekte Körper im Rhythmus gefälliger Musik. Unter einer betörenden Duftglocke aus verschiedenen, teuren Parfums verwöhnten erlesene Getränke aus aller Herren Länder den Gaumen: Cognac, gereift über Jahre in Eichenfässern, echter Rotwein vom Lande, Champagner einer Modemarke. Genüsslich kursierten die Gerüchte, wer mit wem neuerdings das Bett teilte. Kurz, die Party war, wie man mit Fug und Recht erwarten darf: bestens.

Nach einiger Zeit entwickelte sich der Abend für Agnes allerdings wie meist: zu laut, zu schrill, mäßige Getränke, langweilige Gäste, im Grunde traf man sowieso stets dieselben Menschen. Und das Personal! Im Bemühen, dienstbar zu sein, machten diese Leute in erster Linie eines, nämlich im Wege stehen und den Brandy verschütten. Nur für eine gute Freundin nahm die Prinzessin derlei in Kauf. Dennoch blieb sie bis tief in die Nacht. Sie hätte ja etwas versäumen können. Immerhin traf sich alles, was zurzeit in Siddi Lohan Rang und Namen hatte. Gegen Mitternacht fiel ihr auf, dass sie ihre Freundin Estefanie von Niederwarte noch nicht gesehen hatte.

„Judith“, fragte sie ihre Gastgeberin, „wo ist Estefanie?“

„Oh, hat es dir noch niemand erzählt?“

„Nein, was denn?“

„Estefanie musste absagen. Stell dir vor, was ihr heute passiert ist. Sie geht in eine Modeboutique und weil die Verkäuferin neu war, wurde sie nicht erkannt. Heulend hat die Arme den Laden verlassen. Sicher, die Verkäuferin wurde sofort gefeuert, ist ja das Mindeste, was man verlangen kann, aber jetzt ist es nun einmal geschehen. Jedenfalls ist Estefanie alles eher als in Stimmung für eine Party, sondern sitzt beim Psychotherapeuten.“

Also wegen eines Trampels von Verkäuferin musste Agnes heute auf die Gesellschaft ihrer lieben Freundin verzichten! Eine Zumutung!

Als sich die Party gegen drei Uhr morgens dem Ende zuneigte, nahm Agnes Judith unauffällig zur Seite und fragte sie: „Judith, ich fühle mich ein bisschen elend, mag sein dass ich zu viel getrunken habe. Wäre es möglich, bei dir zu übernachten?“

„Ist mir eine Freude. Ich lasse dir gleich das Gästezimmer richten.“

Als die letzten Gäste verabschiedet waren, betrat Judith ihr Gästezimmer. Agnes stand soeben vor dem Spiegel und wischte sich mit einem Wattebausch die Schminke aus dem Gesicht.

„Das Zimmer ist zu deiner Zufriedenheit?“, wollte Judith wissen.

„Gewiss.“

„Die Aussicht ebenfalls? Du entschuldigst bitte, unglücklicherweise ist es meinem Makler misslungen, in der Eile eine Wohnung in besserer Lage zu finden. Ich tröste mich damit, dass man ohnehin lediglich von der Gästesuite zum Nordviertel sieht.“

In der Tat öffnete sich das Fenster zum Nordviertel hin. In schätzungsweise fünfzig Metern Entfernung floss der Dessino, auf dessen anderer Seite undeutlich die Skyline zu erkennen war. Auf unbestimmte Weise vermittelte der Anblick etwas Bedrohliches.

Etwas betreten, der Prinzessin keine erfreulichere Aussicht anbieten zu können, fragte Judith: „Oder soll ich dir lieber die Außenprojektion einschalten? Was hättest du gerne? Den Fujiyama, die Schweizer Alpen oder die ostafrikanische Steppe?“

„Nein, nein, lass nur“, entgegnete Agnes und trat an das geöffnete Fenster. Tief sog sie die kühle, feuchte Nachtluft ein. Über dem Dessino lagen bereits erste Nebelfetzen, Anzeichen des kommenden Morgens. Der frische Sauerstoff tat Agnes gut. Von der anderen Seite des Flusses drangen schwer zu definierende Geräusche herüber. Wahrscheinlich befand sich eine der sieben Brücken, die das Nord- und das Südviertel verbanden, in der Nähe. Es schien, als sei die Gegend in schwefliges Licht getaucht. Von diesem Panorama war die Prinzessin bald gefesselt. Eine hypnotische Faszination ging davon aus, wie von einer schönen, Unheil bringenden Blume aus einem Hexenmärchen. Da drüben existierte viel Leben, befremdliches Leben. Wie ein riesiger, außerirdischer Organismus, mit unsichtbaren Ketten mühsam gebändigt, dünkte sie die Gegend. Agnes hätte stundenlang schauen können … Bald schien es ihr, als würde dieser Organismus mit ihr kommunizieren. Was wollte er mitteilen? Der Prinzessin blieb es rätselhaft, aber es fühlte sich sehr fremdartig, sogar bedrohlich an.

„Ich frage mich, was das für Menschen sind, die dort leben“, sagte sie ganz versonnen mehr zu sich selbst. „Die Gerüchte, die man über sie hört, sind ja schrecklich. Mir fröstelt beim Gedanken, mich im Nordviertel aufhalten zu müssen. Dabei haben wir ... ich glaube, es war vor zwei Wochen, auf der Uni gelernt, dass unsere Volkswirtschaft nur deshalb funktioniert, weil die Leute dieser Gegend wesentlich mehr an Wertschöpfung erarbeiten, als sie an Kosten verursachen.“

„Sicher, sicher“, nickte ihre Freundin zustimmend. „Lass es mich so sagen: Es sind einfach brauchbare Idioten. Erbaulich ist der Anblick dieses Viertels dennoch keineswegs. Also wenn ich mich in diesem Raum aufhalte, schalte ich mir garantiert die Außenprojektion ein.“

„Weißt du, Judith, Projektionen mögen schöner sein, aber das Nordviertel ist wenigstens Wirklichkeit. Erspare mir bitte die Frage, weshalb mir das wichtig ist, ich fürchte, ich würde Unsinn reden. Es ist eben so. Gute Nacht.“

Danach riss sich Agnes vom Anblick des Nordviertels los und begab sich zu Bett. Man konnte nicht gerade von einem erfolgreichen Tag reden. Der Verlust der Aktien frühmorgens, Langeweile den ganzen Tag über und am Abend das Gemeckere wegen ihrer Heirat. Dabei hatte Agnes höchstens ansatzweise Vorstellungen, über welche Attribute ihr Ehegatte verfügen sollte. Sie war es gewohnt, dass ihr die Männerwelt zu Füßen lag und das, wofür man keine Mühe aufzuwenden braucht, schätzt man eben nicht. Auf einen Gatten, den sie nicht schätzte, aus welchem Grunde immer, verzichtete sie lieber. Vertrackte Situation.

Einmal mehr sagte sie sich, dass sie in ihrem Alter keine überstürzte Beziehung eingehen musste. Warum hatte es Mama so eilig, Agnes unter die Haube zu bringen? Vermutlich steckte politisches Kalkül dahinter.

Der Mann im Café heute Vormittag fiel ihr ein. Erneut stand sie auf und blickte aus dem Fenster nach Norden. Irgendwo da drüben wohnte er ... Meine Güte, sie hatte vergessen, ihn nach seinem Namen und den Kontaktdaten zu fragen! Diesbezüglich würde sie morgen etwas unternehmen müssen, keine Ahnung, was. Überhaupt war Agnes dieser Mann recht komisch vorgekommen. Es war ihm absolut klar gewesen, wen er vor sich hatte, trotzdem es hatte ihn keinen Deut gekümmert. Kaum, dass er von seinem Glas billigen Bieres oder was das Gesöff gewesen sein mochte, aufgesehen hatte. Also, ein wenig Respekt wird man wohl erwarten dürfen! Dennoch ging Agnes sein Gesicht nicht mehr aus dem Kopf. Das Gefühl, einer Persönlichkeit begegnet zu sein, drängte sich ihr auf. Auf der Party vorhin wäre ihr so jemand willkommen gewesen, schade … Wie klar, ruhig und selbstsicher war sie angesehen worden! Das stand ihm gar nicht zu, verflixt und zugenäht, er war ein Untertan, schlimmer noch, ein Nordviertler ...

Der nächste Tag verlief wie gewohnt. Man wartete auf der Uni eine Dreiviertelstunde bis Agnes beliebte, zu erscheinen. Der Vortrag „Einführung in das Marketing internationaler Handelsbeziehungen“ bei Professor Ecker stand auf dem Plan.

Ecker war ein schmächtiger Mann, zwei Jahre vor seiner Pensionierung. Ihm wurden eine Reihe schrulliger Ideen und eine altmodische Unterrichtsweise nachgesagt. Beim Gehen stützte er sich auf einen Stock und man munkelte des Weiteren, er würde in Kürze erblinden.

„Da wir endlich vollzählig sind, wie ich zumindest hoffe, können wir uns ja unserem heutigen Thema zuwenden“, knurrte der Professor misslaunig, während er durch seine dicken Brillen streng in das Auditorium blickte. „Die letzten Jahrhunderte haben aus der Erde ein einziges, großes Dorf gemacht. Über internationale Handelsbeziehungen zu verfügen ist heute Standard. Umso mehr ist es für die Entscheidungsträger von Bedeutung, großräumig und strategisch zu denken. Für Kleinkrämer ist kein Platz auf diesem Planeten.“

„Entschuldigen Sie, Herr Professor“, wurde er von Roderick II., Junggraf von Seidelstein unterbrochen, „auf welchem Datenkristall können wir Ihre Ausführungen nachvollziehen?“

Aha, wieder einer, der sich entfernen wollte, wenn die Anwesenheitsliste an ihm vorbeigezogen wäre! Und wenn zu Hause Langeweile ausgebrochen war, den betreffenden Datenkristall in die Enko einlegen und sich berieseln lassen. Ein Glas Champagner in der Hand und zum Schluss selig einschlafen wie ein Baby in der Wiege ... Nein, Ecker mochte diese Leute nicht.

Mürrisch antwortete er: „In keinem. Für die Informationen aus einem Datenkristall bin ich überflüssig. Sie benötigen mich für das, was eben auf keine Buchseiten oder Datenkristallen gebannt ist. Ich habe mir vorgenommen, Ihnen zu erzählen, worum es wirklich geht. Alten Leuten, Kindern und Betrunkenen verzeiht man es, wenn sie die Wahrheit erzählen. Sonst niemandem, merken Sie sich das. Bei der Prüfung müssen Sie beherrschen, was im Lehrplan steht, das Leben später belohnt Sie für das, was ich Ihnen jenseits dessen vorgetragen habe. Ich gehe davon aus, dass Sie es schwierig finden, meine Worte zu akzeptieren. Wieso ist momentan unwichtig. Zu gegebener Zeit wird Ihnen meine Stimme im Ohr klingen.

Nun zum Thema. Jeder Markt hat seine eigenen Gesetze. Wenn Sie Erfolg haben möchten, müssen Sie diese eingehend studieren. Vermeiden Sie um Himmels willen den Fehler, von sich auf andere zu schließen. Egozentrik ist der Grabgesang aller Strategie.

Noch im 21. Jahrhundert war man der Meinung, dass der einzige lukrative Markt das damalige Internet sei, der Vorläufer unserer Entertainmentkonsole. Bald stellte sich heraus, dass viele Waren lieber bei einem Händler vor Ort gekauft werden, weil nur dieser eine wirkliche Prüfung des Produktes sowie ein Einkaufserlebnis zu bieten vermag, das sich per virtuelle Realität niemals ersetzen lässt. Kurz gesagt, entdeckte man die Grenzen des virtuellen Marktes.

Nehmen wir an, Ihre Firma plant, auf einen exotischen Markt zu expandieren und schickt Sie zur Marktanalyse über den halben Globus. Verhalten Sie sich unauffällig. Ihre örtlichen Konkurrenten dürfen auf keinen Fall vorzeitig von Ihren Aktivitäten erfahren und eine Gegenstrategie entwickeln. Im Idealfall hat Ihr Unternehmen das Überraschungsmoment auf seiner Seite, wenn es offiziell auf einem Markt auftritt.“

Junggraf Roderick meldete sich neuerlich: „Entschuldigen Sie, Herr Professor. Heißt das nicht Mitbewerber statt Konkurrent?“

„Mitbewerber ist ein euphemistischer Ausdruck. Er trifft den wirklichen Zusammenhang bloß marginal. Das Wort Konkurrent widerspiegelt viel ehrlicher das aggressive Wesen der Wirtschaft. Vergessen Sie nie: Die Geschehnisse im Wirtschaftsleben haben grundsätzlich kriegerischen Charakter. Was dem General der Landgewinn, ist dem Unternehmer die Steigerung seiner Marktanteile. Das macht die Sache eventuell subtiler, verändert sie aber keinesfalls prinzipiell. Prägen Sie sich ein: Es gibt keine Gnade. Der militärische Grundcharakter des Wirtschaftslebens bedingt ein äußerst komplexes Zusammenspiel von Strategie und Taktik, welches Sie unbedingt begreifen müssen.

Sobald Sie mit Ihrem Auftrag in der Tasche die fremde Zollabfertigung passiert haben, müssen Sie sich im Klaren sein: Sie befinden sich auf Gebiet des Feindes. Es ist in Ihrem eigenen Interesse, wenn Ihre Tarnung möglichst lange intakt bleibt. Beobachten Sie unparteiisch und vorurteilslos, machen Sie Ihre Erfahrungen und ziehen Sie Ihre Erkenntnisse daraus. Stellen Sie Ihre persönlichen Belange hintan, ordnen Sie sich der Sache unter. Der Vorposten ist in jedem Krieg die anstrengendste Position, in die man Sie stellen kann, die größte Herausforderung.

Seien Sie ausdrücklich gewarnt vor dem berüchtigten Vorpostensyndrom. Man kennt es bestens aus der Militärgeschichte: Abgeschnitten von den eigenen Truppen, zu wenig Nachschub, tief in gegnerischem Gebiet, der Feind braucht eigentlich nur einen Angriff, keine Ahnung, wann die Ablöse kommt ... Was hilft? Lassen Sie sich nicht irritieren, bleiben Sie unerschütterlich bei sich selbst, in der festen Überzeugung für das Gute auf der Welt zu stehen und zu kämpfen. Denken Sie daran: Der Weg ist das Ziel.

Nur wenn Sie demütig und beharrlich eine Strategie verfolgen können, haben Sie moralisch Anrecht darauf, dass Ihre Bemühungen am Ende der Kausalkette von Erfolg gekrönt sind. Dieser Grundsatz gilt übrigens für viele Bereiche im Leben, für die wichtigen ganz sicher. Aber das steht genauso wenig im Lehrbuch wie es bei der Prüfung gefordert wird. Ihr späteres Leben wird es verlangen, seien Sie dessen versichert.“

Manche der Zuhörer sahen sich verständnislos an, einige schüttelten den Kopf. Roderick von Seidelstein flüsterte etwas von Klapsmühle. Für sein Auditorium war der Professor offenkundig reif für die Pension. Agnes schätzte dies anders ein; sie hatte aufmerksam zugehört ...

Der Professor blickte auf seine Armbanduhr, wobei er diese mit verkniffenen Augen einmal näher zu seinem Gesicht bewegte, dann wieder weiter weg hielt. Als er endlich die Anzeige ausreichend erkannte, beendete er den Vortrag: „Oh, ich sehe, es ist spät geworden. Wir machen Schluss. Das nächste Mal wenden wir uns einem speziellen Thema zu, den branchenübergreifenden Geschäftsaktivitäten. Richtig aufgebaut erschließen sie neue Märkte und zusätzliche Umsatzquellen.“

Nicht mehr alle seiner Studenten hatten es gehört, denn sie hatten den Hörsaal verlassen. Abermals war Agnes keine von ihnen.

An den Vortrag anschließend fuhr die Prinzessin mit dem Dienstwagen ins Attika zum Essen. Als sie eintraf, stellte sie mit Entsetzen fest, dass ihr Lieblingsplatz an der nördlichen Fensterreihe besetzt war. Von hier aus bot sich ein prächtiger Ausblick auf den Königsberg. Bei näherem Hinsehen konnte man die Begrenzung ihrer eigenen Veranda ausmachen. Ein unbekannter Mann jüngeren Alters saß auf just ihrem Platz und überflog die Speisekarte. Sofort schickte die Prinzessin nach dem Geschäftsführer.

Sie sagte lediglich: „Mein Platz!“

„Oh!“, entfuhr es dem Geschäftsführer ganz betroffen. „Wird sofort erledigt, Ihre Hoheit.“

Umgehend begab er sich zu dem betreffenden Gast.

„Entschuldigung, mein Herr, Ihre Hoheit, die Prinzessin, ist soeben eingetroffen.“ Er gab mit seiner Körperhaltung den Blick auf die Prinzessin frei. Diese stand abseits in der Nähe des Einganges neben ihren zwei Leibwächtern und betrachtete demonstrativ gelangweilt ihre Fingernägel. Langsam wurde sie sichtlich ungeduldig.

„Ihre Hoheit belieben gewöhnlich diesen Tisch zu benützen“, fuhr der Geschäftsführer fort. „Sie werden Verständnis dafür haben, wenn wir diesen Wunsch respektieren. Ich möchte Sie bitten, sich dem anzuschließen und ... vielleicht ... äh, da drüben Platz zu nehmen.“

Er zeigte auf einen Tisch in der Nähe zum Kücheneingang. Der Gast machte wenig Anstalten, der Aufforderung nachzukommen. Augenblicklich tauchten zwei weitere Männer auf, die den Security Guards angehörten. Der eine trat unauffällig von hinten an den Gast heran und flüsterte ihm ins Ohr: „Noch lassen wir es nach außen hin so aussehen, als sei der andere Tisch Ihr eigener Wunsch. Ich hoffe, Sie wissen unser Entgegenkommen zu schätzen. Wir können auch anders.“

Die Macht dieser Argumente überzeugte den Gast. Er ließ sich an den anderen Tisch begleiten, wo ihm formvollendet der Stuhl angeboten wurde. Als der Geschäftsführer anschließend Prinzessin Agnes zu ihrem Tisch führte, sagte sie: „Ich liebe die dezente Nonchalance, mit der man in Ihrem Hause derlei Angelegenheiten regelt.“

Nach dem Mittagessen war die Interviewstunde für die Journalisten und Fotografen in der Veranstaltungshalle des städtischen Pressezentrums angesetzt. Weil sich Prinzessin Agnes bald verbeten hatte, dass ihr auf Schritt und Tritt ein Fliegenschwarm an Fotografen folgte, war die Interviewstunde drei Mal in der Woche eingeführt worden. Sie fand es mehr als genug, wenn sie ihre Leibwächter permanent um sich dulden musste.

Im Foyer des Pressezentrums traf die Prinzessin ihren persönlichen Manager, der ihr ihre Termine für die nächsten zwei Wochen mitteilte. Die Eröffnung eines Kinderheimes stand am Montag auf dem Programm, Dienstag wurde eine renovierte Brücke aufs Neue in Betrieb genommen usw. Wo es etwas zu eröffnen galt oder eine bedeutende Veranstaltung, vorzugsweise im Bereich der Wohlfahrt, abgehalten wurde, schätzte man sich glücklich, wenn Prinzessin Agnes wenigstens für zehn Minuten auftauchte. Es genügte durchaus, wenn sie eine Menge Hände schüttelte oder einige unverbindliche Worte verlor, die ihr der Manager vorbereitet hatte.

Einer der Journalisten erlaubte sich die Frage, von welchem Designer ihr Rock heute stamme. Der Prinzessin war Neugier betreffend ihres Privatlebens zuwider. Kurz überlegte sie, welcher Name einerseits zum Rock passen würde, andererseits garantiert keinem der aktuellen Modedesigner gehörte.

„Hectriss, ja von Hectriss stammt der Rock.“

Hastig notierte dies der Reporter, während er im Gewühl seiner Kollegen untertauchte. An das Blitzlichtgewitter und die ewig gleichen Fragen der Journalisten schloss sich ein Treffen mit ihrem Bankreferenten an. Trotz immer noch fehlender Aktien wollte sie nicht erneut absagen. Agnes war bereits sichtlich gestresst, als sie in der Bank eintraf. Dementsprechend beflissen war man, ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Ihr Bankdirektor war heute abwesend, entschuldigt wegen Krankheit. Daher musste sie mit dem Referenten Drachsel, den sie insgeheim für einen Trottel hielt, vorlieb nehmen. Glücklicherweise gab es weder viele noch wichtige Angelegenheiten zu besprechen, ansonsten hätte sie die Abwesenheit des Direktors auf keinen Fall geduldet. Für Smalltalk, gewürzt mit ein paar harmlosen Schmeicheleien, tat es der Trottel ebenso.

Außerdem war ein Teil ihrer Aktien verschwunden, wie, das behielt sie für sich. Den verbliebenen Wertpapieren ging es gut; wie schön. Die Gesamtperformance war in den letzten zwei Monaten auf 7,16 % gestiegen. Das war zwar nicht umwerfend, aber man konnte es angehen lassen.

Total geschafft fiel Prinzessin Agnes diesen Abend ins Bett. Sie würde demnächst mit ihrem Manager reden müssen, denn ein derart anstrengender Terminkalender war eine Zumutung! Das ließe sich bestimmt stressfreier einteilen. Zumindest ausgedehntere Make-up-Pausen! Möglicherweise wäre es sinnvoll, wenn die Journalisten ihre Fragen längstens einen Tag vorher bekannt geben mussten. Unruhig waren ihre Träume diese Nacht ...

Am nächsten Morgen begab sich Agnes neuerlich zu ihren Tai-Chi-Übungen auf die Veranda. Ihr Weg führte sie an einem Spiegel vorbei, der goldverziert die Gangmauer zur Veranda schmückte. Im Vorbeigehen nahm sie aus den Augenwinkeln ein fremdes Gesicht wahr, welches durch den Spiegel zog. Äh, wie bitte …!? Sie schritt zurück und warf einen bewussten Blick in den Spiegel. Iiiiiiiiii ...! Ein völlig unbekanntes Gesicht blickte sie an! Dieser Kopf hatte kurze, schwarze Haare im Pagenschnitt, keine langen, blonden. Entsetzt griff sich Agnes in die Haare, betastete unwillkürlich Nasenrücken, Lippen, Wangen ... Das ominöse Spiegelbild machte es genau gleich! Kein Zweifel, es war ihr Gesicht, nur sah sie ganz anders aus! Wo waren ihre schönen, hellblau eingefärbten Augen, die sie letztes Jahr ein halbes Vermögen gekostet hatten? Grün waren diese jetzt! Selbst Nase und Mund schienen ein bisschen anders. Das durfte nicht wahr sein! Die Kleidung war dieselbe, ja, doch der Körper … Ihr Körper! Mehrmals zwickte sie sich in den linken Unterarm, mag sein, sie würde aufwachen. Es war kein Traum ...

Schockiert nahm sie auf dem nächsten Stuhl Platz und atmete einige Male tief durch. „Du musst ganz nüchtern überlegen“, versuchte sie sich zu beruhigen. Bestimmt würde sich ein simpler Grund für dieses eigenwillige Phänomen herausstellen. Vielleicht ließ sie sich vom Arzt einmal gründlich untersuchen. Dass er endlich einmal etwas täte für sein teures Geld. In der Tat eine gute Idee.

Auf dem Weg in die Sanitätsstation begegnete ihr eine Patrouille der Palastwachen. Die Beamten verstellten ihr den Weg. „Halt, was tun Sie hier und wo kommen Sie her?“, wurde die Prinzessin angeherrscht.

Agnes ließ sich diesen Ton nicht gefallen und donnerte zurück. „Was soll das heißen? Ich verlasse meine Räumlichkeiten, ihr Esel!“

Ach herrje, sie sah ja seit Kurzem ganz anders aus! Bloß die Stimme war dieselbe geblieben, wie sie soeben festgestellt hatte. Das alleine würde zu wenig Hilfe sein.

„Sie kommen mit. Wir werden Ihre Identität bald herausgefunden haben“, hörte sie die Wachen wie von ferne. Wenig später fand sie sich in einem waschechten Verhör wieder.

Weil sich die Prinzessin nicht ordnungsgemäß ausweisen konnte, begann das Verhör mit dem offiziellen Verfahren zur biologischen Identitätsfeststellung. Das bedeutete Fotografien, man nahm ihr Blut ab, sowie eine Probe ihrer Haare und des Speichels, zuletzt die Fingerabdrücke. Während die Proben ins Labor und in die sonstigen Abteilungen weitergeleitet wurden, wurde Agnes eingehend mündlich befragt.

Bald hatte die Palastwache festgestellt, dass die Prinzessin unauffindbar war, wodurch die Causa mit der Unbekannten an Wichtigkeit gewann. Immerhin war diese in der Nähe der Räumlichkeiten der Prinzessin aufgegriffen worden. Oberst Reinmann erklärte den Fall zur Chefsache und leitete das Verhör höchstpersönlich.

Er begann: „Junge Frau, Sie kommen aus der Suite der Prinzessin, führen keine Papiere mit sich. Darüber hinaus geben Sie vor, die Prinzessin selbst zu sein. Über den wirklichen Grund Ihres Aufenthaltes im Palast schweigen Sie sich aus ... Also das ist erbärmlich! Erwarten Sie allen Ernstes, wir Ihnen diesen Schwachsinn glauben?“

Die Prinzessin, stundenlang verhört, hatte bereits glänzende Augen und Kopfweh. Wieder und wieder hatte man ihr die ewig gleichen Fragen gestellt. Und dauernd die grellen Scheinwerfer! Einmal von dieser Seite, einmal von jener. Wollte sie den Kopf abwenden, zwang man sie, weiterhin ins Licht zu blicken. Eine der Wachen machte sich einen besonderen Spaß daraus, von hinten in die Haare zu greifen und ihr Gesicht brutal zum Scheinwerfer zu reißen. Auf ihren Protest hatten die Anwesenden mit höhnischem Gelächter reagiert. Irgendwann verspürte Agnes nur mehr den Wunsch, gehen zu dürfen.

Ein Hinweis auf seinem Bildschirm unterrichtete Oberst Reinmann, dass die Ergebnisse der biologischen Identitätsfeststellung zur Verfügung stünden. Die junge Frau ihm gegenüber wäre ohne weiteres als eineiige Zwillingsschwester der Prinzessin durchgegangen, aber es handelte sich definitiv nicht um die Königstochter selbst. Die eklatanten, körperlichen Unterschiede zwischen ihr und der Prinzessin waren unübersehbar und echt. Die wahre Identität der Frau ihm gegenüber zu lüften war seinen Leuten jedoch misslungen. Eine anschließende Computersimulation bestätigte Reinmann in seiner persönlichen Einschätzung: Keine Verschwörung, die gerade im Gange gewesen wäre, keine gesuchten Schwerverbrecher zurzeit, es gab nicht die geringste Veranlassung, die Prinzessin zu entführen. Schließlich war diese erst seit wenigen Stunden unauffindbar. Rein formalrechtlich galt sie zur Stunde noch nicht einmal als abgängig. Sie würde über kurz oder lang auftauchen, daran hegte Reinmann keinen Zweifel.

Der Oberst verlor langsam das Interesse an der Sache. Er war inzwischen zur Ansicht gekommen, dass diese Zitrone restlos ausgepresst sei. Licht in die Zusammenhänge zu bringen war ihm zwar missglückt, aber daran war er gewöhnt. Die Wahrheit um diese Frau interessierte ihn sowieso herzlich wenig. Dergleichen wie Wahrheit herauszufinden war eine Ambition für die Absolventen der Polizeiakademie, die es noch nötig hatten, mit aller Gewalt auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. In der Position eines hochrangigen Offiziers hingegen stand man über den Dingen. Den persönlichen Sport, möglichst alle Geheimnisse lüften zu wollen, hatte er vor langer Zeit aufgegeben. Hauptsache, die Dinge blieben unter Kontrolle. Oft genug hatte die Erfahrung gezeigt, dass dies viel wichtiger war. Abschließend schätzte der Oberst die unbekannte Frau als harmlos ein.

Der langen Rede kurzer Sinn: Kein Grund zur Sorge. Er hatte eben eine Frau mit ungeklärter Identität vor sich; dazu eine junge, ausnehmend hübsche, die froh sein durfte, dass man sie derart höflich, fast zuvorkommend, behandelt hatte. Schließlich war sie ihm mehr oder weniger ausgeliefert. Das brachte ihn auf eine Idee ...

Ganz beiläufig schaltete der Oberst das Aufnahmegerät ab und schickte die übrigen Wachen aus dem Zimmer, mit der Bemerkung, die Angelegenheit wolle er selbst zu Ende bringen. Mit süffisantem Grinsen wandte er sich Agnes zu: „Also gut, die Angelegenheit bleibt vorerst mysteriös. Das heißt, wir werfen Sie bis zum Sankt Nimmerleinstag in eines der Burgverliese. Kann gut sein, dass man dort auf Sie vergisst. Wenn Sie sich allerdings, hmm, wie soll ich sagen?, ein wenig kooperativ zeigen würden ... Ich meine, Sie sind eine attraktive, junge Frau und wir sind allein … Ihrer anschließenden Freilassung stünde nichts im Wege.“

Schlagartig wurde Agnes klar, weshalb sie instinktiv diesen Reinmann auf Abstand gehalten hatte. So ein mieses Schwein! Schäbige Erpressung! Man sollte diesen verdorbenen Kerl von Rein- auf Schmutzigmann umtaufen! Vielleicht hatte Reinmann darauf gehofft, dass Agnes zermürbt war, außerstande, sich zu wehren. Weit gefehlt!

„Was erlauben Sie sich?! Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen, Sie alter Bock. Ich werde Ihnen verdammte Schwierigkeiten machen, das kann ich Ihnen versprechen!“

Das passte Reinmann in keiner Weise zu seinem Image als Saubermann. Sagte er doch bei jeder Gelegenheit: „Nomen est omen“. Für die ungebildeten Proleten fügte er üblicherweise gleich die Übersetzung hinzu: „Der Name ist Zeichen“. Sicher würde Aussage gegen Aussage stehen und der Vorsitzende der Disziplinarkommission war ein ehemaliger Schulkollege; Reinmann würde es hinkriegen. Ungeachtet dessen war es den Aufwand nicht wert. Zudem hätte der Vorsitzende etwas in der Hand gegen ihn. Im alten Spiel um die Macht war das taktisch unklug.

Reinmann drückte auf die Gegensprechanlage und gab seinen zwei Beamten im vorderen Zimmer die Anweisung: „Fort mit dieser Frau! Ihr wisst, was zu tun ist! Wir kriegen ohnehin nichts mehr raus aus ihr.“

Und ob sich die Beamten auskannten. Kräftige Arme rissen Agnes aus ihrem Stuhl hoch, klemmten sie förmlich ein und beförderten sie durch einige, ihr unbekannte Gänge. Zu guter Letzt setzte man ihr eine Augenbinde auf. In der Zwischenzeit löschte Oberst Reinmann unauffällig sämtliche Computeraufzeichnungen, die mit der unbekannten Frau zu tun hatten.

Nach einigen Minuten hörte Agnes einen Lift und die Tür, die sich hinter ihr und den eskortierenden Beamten schloss. Ihrem Gefühl nach ging es eine halbe Ewigkeit nach unten. Mit einem Ruck hielt der Aufzug. Ratsch – die Tür öffnete sich. Agnes wurde brutal nach draußen gestoßen und schon fuhr der Lift ab.

Erleichtert atmete Agnes auf. Schnell warf sie die Augenbinde weg und orientierte sich. Hinter ihr erhob sich schroff und abweisend die nördliche Felswand aus massivem Granit. Von hier unten war sogar undeutlich ein Stück von der Mauer zu sehen, über die sie vor zwei Tagen unabsichtlich die Aktien geworfen hatte. Von einer Lifttür war allerdings nichts zu sehen, diese war anscheinend getarnt. Vor ihr war das Gelände einer Schrottpresse. Überall lagen alte Autos und verrostete Metallteile, grob vorsortiert. Verschiedene Anlagen zur Verwertung befanden sich etwa fünfzig Meter weiter. Arbeiter erblickte Agnes keine. Rund einen halben Kilometer entfernt ragte der Turm der Kaiserkirche in die Luft.

Die Uhr unter dem Giebel zeigte Mittag. Aha, Essenspause! Sie war über vier Stunden verhört worden. Normalerweise kannte sie Derartiges lediglich vom Hörensagen oder aus den Unterhaltungsfilmen, heute war ihr das persönlich passiert. Überdies hatte sie das Gefühl, mit dem berühmten blauen Auge davongekommen zu sein. Irgendetwas sagte ihr, es hätte sie erheblich schlimmer erwischen können.

Agnes setzte sich widerwillig auf den halb zerfetzten Rücksitz eines der zahlreichen Schrottautos (igitt!) und bemühte sich, einen klaren Kopf zu bekommen. Was diesen Vormittag geschehen war, konnte und wollte sie sich nicht bieten lassen. Doch was war sie im Augenblick großartig imstande, zu unternehmen? Ein flüchtiger Blick in den letzten Splitter des Rückspiegels gab Auskunft, dass ihr neues Aussehen geblieben war. Wohl oder übel würde sie sich wenigstens kurzfristig mit den geänderten Gegebenheiten in ihrem Leben arrangieren. Dessen ungeachtet musste es ihr Ziel sein, sich zu rehabilitieren. Und dann: Wehe diesem Reinmann!

Plötzlich fielen ihr schmatzende Geräusche in der Nähe auf. Einem langgezogenen Gluckgluckgluck folgte ein kräftiges Aufstoßen. Neugierig und vorsichtig zugleich lugte Agnes aus dem Autowrack. Ein Arbeiter saß unweit von ihr und verdrückte sein Mittagsbrot. Ein Hüne von Gestalt, normalerweise rekrutierte man solche Typen für die Palastwache. In der linken Hand hielt er eine Flasche Bier, von deren Inhalt ordentlich etwas fehlte. Offensichtlich wähnte er sich alleine, sonst hätte er sich garantiert manierlicher benommen. In ihrer Anwesenheit?!

Als sich Agnes deutlich hörbar räusperte, fuhr der Mann herum. „Oh“, rief er ganz betroffen, „was tun denn Sie auf meinem Gelände?“

Agnes setzte sich zu ihm und überlegte. Jaja, gute Frage, was tat sie hier? Sollte sie einem Fremden eine Geschichte erzählen, die derart ungeheuerlich war, dass Agnes sie selbst kaum glaubte? War das die Stunde der Wahrheit? Nein, genau die musste sie dem Arbeiter verheimlichen, denn er würde sie ihr niemals abnehmen. Wenn sie sich schon gezwungen sah, sich mit der Situation zumindest vorläufig abzufinden, hielt sie es für geschickter, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen; streng genommen hatte sie keine mehr. Also kam statt der Stunde der Wahrheit diejenige der Lüge.

„Ich ... ich habe keine Ahnung. Eigentlich kann ich mich an überhaupt nichts erinnern. Das Erste, was ich weiß ist, ich kam irgendwie aus dieser Felswand. Klingt blöd, oder?“

Der Arbeiter sah überrascht auf.

„Warum denn? Ich bin Kurt“, stellte sich der Mann vor, wobei er sich mit einem reichlich verwendeten Taschentuch den Mund abwischte. „Ich leite diese Schrottpresse. Mag sein, dass man es mir nicht ansieht, es ist trotzdem so. Meine Arbeiter sind gerade zur Mittagspause. Hmmm ..., lassen Sie mich nachdenken, was ich für Sie tun kann. Wie heißen Sie eigentlich?“

„Keine Ahnung, beim besten Willen. Mein Gedächtnis ... Ich erwähnte es vorhin ...“

Zufällig fiel Kurts Blick auf ihre Halskette aus Koralle, sündteurer Modeschmuck mit einem herzchenförmigen Anhänger aus Silber mit dem Schriftzug „Agnes“.

„Agnes, ja das muss Ihr Name sein.“ Mit diesen Worten deutete Kurt auf den Anhänger. „Soll ich Sie zur nächsten Polizeistation bringen?“

„Nein, nein, nur das nicht.“

Kurt sah sie seltsam an. Achselzuckend sagte er: „Bitte, wie Sie wünschen.“

Wie sollte es weitergehen? Agnes hatte reichlich die Erfahrung gemacht, dass sich die Männerwelt mächtig anstrengte, zu Diensten zu sein. Sie musste bloß ein bisschen die Lippen schürzen, ihren unschuldig-koketten Blick aufsetzen und andeutungsweise ein schluchzendes Geräusch von sich geben. Auch dieses Mal funktionierte es.

Kurt sagte: „Wenn Sie sich wirklich an nichts mehr erinnern können, brauchen Sie zuerst einmal eine Bleibe und Arbeit. Das Gedächtnis sollte sich im Laufe der Zeit wieder einstellen. Man kennt solche Fälle ... Naja, ich jedenfalls habe für eine Bürokraft keine Verwendung. Wissen Sie, den Schreibkram erledige ich selber. Erstens ist es ohnehin wenig und zweitens kommt es billiger. Folgen Sie mir, möglicherweise kann einer meiner Freunde etwas für Sie tun.“

Er wickelte den letzten Rest seines Wurstbrotes in eine Aluminiumfolie und steckte diese achtlos in die linke Hosentasche. Agnes hätte sich nie im Leben vorstellen können, dass sie einmal brav hinter einem Arbeiter hertrotten würde. Dennoch war es so. Kurt führte Agnes in das, was er seine Büroräume nannte, und bat sie, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, den sie sofort zum Sperrmüll werfen hätte lassen. Er griff sich das Handy und rief eine Nummer an.

„Paul? ... Habe ich richtig in Erinnerung, dass dir deine Verkäuferin letzthin das Handtuch geworfen hat? ... Wenn du noch Ersatz suchst, wüsste ich unter Umständen wen ... Keine Ahnung, so schwierig ist das ja nicht. Wird sie bestimmt lernen ... Ja, sieh sie dir an ... Wann kannst du kommen? ... Gut, bis dann, tschüss!“

Er wandte sich an Agnes: „Ich kenne einen guten Freund, Paul. Er verkauft auf Flohmärkten alten Plunder. Zur Zeit sucht er jemanden, der ihm hilft. In einer halben Stunde sieht er vorbei. Vielleicht wird es was, Agnes. Ha, mir fällt auf, Sie heißen so wie die Prinzessin!“

Haargenau so wie die Prinzessin, dachte Agnes bitter ... Einerseits war sie von der Aussicht, auf windigen Flohmärkten zu stehen und flohverseuchten Trödel zu verscherbeln, zutiefst angewidert, andererseits war es wenigstens ein Anfang. Höchstwahrscheinlich klärte sich früher oder später alles auf, damit wäre der Spuk sowieso vorbei. Also würde sie sich engagieren lassen, obschon ihr ganz übel wurde bei dem Gedanken.

Die Tür ging auf und der Mann, den sie vorgestern im Café angesprochen hatte, um ihre Aktien wiederzufinden, trat herein. Ein ganz leicht vertrautes Gefühl stieg auf.

Kurt stellte die beiden vor: „Agnes, das ist Paul Wayden, Paul, das ist Agnes. Sie hat das Gedächtnis verloren. Am besten, sie geht einer Arbeit nach, bis sie sich wieder erinnern kann. Man kennt das ja, das kann Monate oder Jahre dauern. Unterhaltet euch in Ruhe. Ich habe draußen zu tun.“

Als Kurt die beiden alleine gelassen hatte, sagte Paul Wayden achselzuckend: „Nun, Agnes, ich habe einen Stand am Trödelmarkt und reise zwischendurch von Flohmarkt zu Flohmarkt. Dabei suche ich Unterstützung. Ist ein harter Job, auf seine Weise.“

„Ich wäre einverstanden, allerdings führe ich keine Papiere bei mir, weiß nicht, wo ich wohne. Um genau zu sein, ich habe keine Ahnung, wer ich bin, totale Gedächtnislücke. Irgendwie bin ich auf dem Gelände dieser Schrottpresse zu mir gekommen.“

„Ohje, das erschwert die Lage. Ich vermute, Sie haben etwas ausgefressen oder es ist Ihnen etwas Schlimmes zugestoßen; oder beides. Ach was, nebensächlich, im Augenblick hilft uns das kein bisschen weiter.“

Agnes wollte etwas erwidern, aber Paul hob die rechte Hand und unterbrach sie schnell: „Nein, lassen wir das. Es ist nicht halb so wichtig, wie es Ihnen vorkommt. Wenn Sie flexibel und zuverlässig sind und mit dem kollektivvertraglichen Lohn einverstanden sind, soll es mir recht sein.“

„Abgemacht.“

Agnes und Paul schüttelten sich zum ersten Mal die Hände. Keine fünf Minuten später saß Agnes in Pauls Auto, auf dem Beifahrersitz. Sie hatte es geschafft, zwischen zerknülltem Jausenpapier, alten Zeitungen und leeren Getränkedosen auf einem Sitz voller Flecken Platz zu nehmen. Die Bezeichnung Auto fand Agnes beinahe hochstaplerisch für Pauls billige, klapprige Mühle mit einem Anhänger hinten, der noch älter schien als der Wagen. Sie versuchte, möglichst nichts anzufassen, war das Gefährt doch so ... wie sollte sie sagen? herabgekommen? dreckig? billig? ... unter aller Kritik einfach! Ihr fehlten die passenden Worte.

Paul übersah geflissentlich Agnes' geweitete Pupillen und fuhr sie mit stoischer Ruhe nach Hause. Er würde ihr eine Dienstwohnung zur Verfügung stellen.

Agnes hatte sich bisher nie in diesem Stadtviertel aufgehalten. Vorgestern Abend hatte sie in Judiths Wohnung, in vielleicht drei Kilometer Luftlinie Entfernung, von der anderen Seite des Flusses herübergesehen. Wie heruntergekommen und vernachlässigt das gesamte Viertel war! Arbeiterwohnsilos mit 15 oder 20 Stockwerken reihten sich aneinander, allenthalben schlecht erhaltene Straßen. Wahllos duckten sich dazwischen schmucklose, überaltete Einfamilienhäuser mit erbärmlicher Architektur. Die Fassaden gaben mangels Pflege das Mauerwerk frei. Schlecht gekleidete Menschen tummelten sich auf den Straßen zwischen Autos, die kaum mehr als fahrbare Untersätze waren. Gegen manches der Vehikel, das Agnes zu sehen bekam, wirkte Pauls Wagen wie eine Luxuslimousine. Gelegentlich fanden sich ein paar Strauch- oder Baumattrappen veralteter Modellserien. Sie brachten mit viel Mühe und Not Abwechslung in die Gegend. Alles in allem eine trostlose Sinfonie.

Die natürliche Vegetation war genauso spärlich wie im Südviertel, bisweilen ein verkümmerter Strauch oder eine lebende Hecke. Niemand wusste, warum sich die natürliche Tier- und Pflanzenwelt in Siddi Lohan in einem solch desaströsen Zustand befand. Es ging die Legende von einem Fluch. Im Südviertel kämpfte man mit Pflanzenimitaten, künstlichen Vogelstimmen und Düften aus der Chemiefabrik erfolgreich dagegen, und das war auch das Ambiente, mit dem Agnes vertraut war. Im Nordviertel trat das Wesen des Fluches in seiner ganzen Hässlichkeit zutage. Wie hypnotisiert von der Faszination des Grauens blickte Agnes aus dem Fenster und ließ den Schauer der Gegend vorüberziehen. Eine wahre Geisterbahn!

Von oben, vom Schloss aus, hatte das Viertel keinen derartig tristen Eindruck erweckt. Von dort sah man lediglich ein unerfreuliches Meer aus Dächern, durchbrochen von wenigen Hauptstraßen und noch spärlicheren Parkanlagen, die Inseln gleich, die Landschaft betupften. Glücklicherweise, so gesehen ... Agnes musste sich zusammennehmen, es wäre ihr sonst beim Gedanken, hier auf unbestimmte Zeit verweilen zu müssen, übel geworden.

Sie waren keine zehn Minuten gefahren, als Paul vor einem der typischen Einfamilienhäuser in der Gegend anhielt. Sanierungsbedürftig im höchsten Grade, anspruchslos vom Architektonischen her, bot es sich ihrem Blick, mit einem Vorgarten, der dringend der intensiven Pflege bedurfte.

Paul informierte: „Wir sind da. Geht es Ihnen gut, Agnes? Sie sehen blass aus, sogar ausgesprochen blass. Übrigens, das Gras und die Thujen, die sind echt. Da bin ich stolz darauf. Bei dem, was Sie sonst die Straße entlang sehen, handelt es sich um die üblichen Attrappen.“

Agnes berührte die Pflanzen mit ihren Fingern. Tatsächlich, etwas Echtes! Wie unglaublich gut fühlte es sich an! Kein noch so perfektes Imitat im Südviertel, bestens gewartet und auf neuestem Stand, konnte dieses Gefühl vermitteln. Sofort bemerkte Agnes, wie es ihr innerlich gleich besser ging. Eine freundliche Stimmung zog auf, die von innen wärmte ... Und das mitten im Nordviertel! Allenfalls ließe es sich ja auch hier leben und nicht nur überleben, vielleicht ...

An die Garage schloss sich hinten zum Garten ein kleines Lager an, eher mehr ein Schuppen. Wiederum anschließend an dieses Lager befand sich ein winziger, bestenfalls fünfzehn Quadratmeter umfassender Raum: die „Dienstwohnung“, ihr neues Zuhause.

Prinzessin Agnes stockte der Atem! Mit schreckgeweiteten Augen und trockener Kehle sah sich die neue Angestellte um. An der linken Ecke der nördlichen Seite lehnte ein altes Stahlrohrbett an der Wand. Vermutlich sollte die von zwei Mauern flankierte Lage den vorzeitigen Zusammenbruch des Gestells verhindern. Der Blick der Prinzessin schweifte weiter zu einem Schrank, der garantiert mehr Jahre auf dem Buckel hatte, als sie selbst. Ein grober, wackeliger Tisch, offenbar früher einmal zum Werken benützt, flankiert von drei Sesseln, war vor das einzige Fenster geschoben. In der rechten Ecke eine nachträglich eingebaute Duschtasse, daneben eine Klomuschel ohne Deckel, vervollständigten den „Komfort“ ihres neuen Zuhauses. Kurzum: eine lose, wenngleich zweckdienliche Anhäufung wertlosen Gerümpels.

„Machen Sie es sich gemütlich“, forderte sie Paul freundlich auf.