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»Bei dem Ort habe ich an Griffen gedacht, wo ich herkomme, an die Straße, die nach Süden, in ein Dorf namens Ruden, führt. … Im Stück ist die Straße außer Betrieb, ein Wächter sitzt dort, es ist sein Reich, keiner darf dort hinein. Die Unschuldigen kommen daher, sind unschuldig, machen jedoch einen Haufen Scheiß. Es sind nicht die alten Bösewichte, die alles absichtlich machen, sondern sie wissen nicht, was sie tun, wie Jesus sagt: Herr, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Ich bin eher der Meinung: Herr, verzeih ihnen nicht! Es gibt jedenfalls Konfrontationen der Figuren, ganz lustige, scharfe und traumhafte, wie es meine Art ist. Dann geht es ordentlich los, aber dann höre ich wieder auf, weil ich finde, es nicht interessant, nur draufzuschlagen. … Der Held heißt ›Ich‹, er ist eine Mittelgestalt zwischen Caliban und Prospero, ein Monstrum, ein Irrer, ein Tier und zugleich ein Zauberer. Es gibt auch zwei Frauen in dem Stück, die ›Unbekannte‹ und die ›Andere‹, diese ist ein bisschen wie Lady Macbeth. Sie ist die Frau des Anführers der Unschuldigen, letzten Endes schreit sie vorlauter Jammer, aber sie geht nicht zugrunde, sie geht nur weg.«
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Seitenzahl: 174
Peter Handke
Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße
Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten
Suhrkamp Verlag
»Go sleep and hear us«
William Shakespeare, The Tempest
»In ihrer Erdenzeit sehnt sich die Seele nach dem reinen Ruf.«
Ibn al-Fāriḍ, Das Muster der Wege
»Wir aber, auf der Allerweltslandstraße …«
J. W. von Goethe an Marianne von Willemer, 13. Januar 1832
Personen
Ich, im Wechsel zwischen »Ich, Erzähler« und »Ich, der Dramatische« nicht immer unterschieden; zeitweise beide in einem
DIE UNSCHULDIGENnicht wenige, unter ihnen mein Doppelgänger
DER WORTFÜHRER DER UNSCHULDIGEN oder: HÄUPTLING/CAPODIE WORTFÜHRERIN DER UNSCHULDIGEN oder: HÄUPTLINGSFRAU/HÄUPTLINGIN/FRAUDIE UNBEKANNTE VON DER LANDSTRASSE
ICH, Erzähler
Kommen lassen. Anfliegen lassen. Träumen lassen. Hellträumen. Umfassend träumen. Verbindlich! Freiträumen. Wen? Mich? Uns? Traumtanzen lassen. Gestalten lassen. Umgestalten lassen. Aufeinandertreffen lassen. Wen mit wem aufeinandertreffen lassen? Wen gegen wen? Kommen lassen erst einmal die Szenerie: Und da kommt sie, da erscheint sie, da fliegt sie mich an, da erstreckt sie sich, die Landstraße, vorderhand leer. Und indem ich mir das laut vorerzähle, ist die Straße auch schon bevölkert mit mir, derICHam Rand der Straße daherschlendere, mit ausgreifenden, epischen Schritten, vorderhand allein. Allein, bevölkernd? So sehe ich es, so erscheint es mir, in meinem Ausschreiten unter einem großen Himmel, welcher den Frühling ausstrahlt, wieder einen Frühling, noch einen Frühling, in meinem zeitweisen Mich-um-mich-selber-Drehen, Innehalten, Rückwärts- und Vorangehen. Und es geschieht jetzt, daßICHmich am Rand der Landstraße, der Departementale, der Carretera, der Magistrala niederlasse. Da zeigt sich nämlich eine Sitzgelegenheit, ein Gestell aus Holz, Stein, Beton, eher ein Verschlag. Auch Schilfteile sind darunter. Es könnte sich um einen aus früheren Zeiten am Straßenrand übriggebliebenen, längst ausgedienten Milchstand handeln, oder auch um den dachlosen Rest einer seit langem aufgelassenen Bushaltestelle, einer Schafhürde oder die Überbleibsel einer Imbißbude? Eines vom Winde verwehten Zeitungskioskes? Einer all ihrer Sichtschutzplanken beraubten und nach sämtlichen Himmelsrichtungen offenen Bedürfnisanstalt? Oder ist das die Ruine der aus wieder einer anderen Vorzeit stammenden Rinderbesamungsanlage, von deren Geviert, darin festgezurrt die Kuh zum Besprungenwerden vom Stier, nur noch ein Trümmerhaufen am Straßenrand zeugt? So oder so, und welch Überbleibsel auch immer: ein Stapel, ein beträchtlicher, und als Sitzgelegenheit eine im Verhältnis zur Landstraße ziemlich erhöhte, eine, woICHmich, in dem Durcheinander der Bretter, Pfeiler, Schilfteile und Balken, unauffällig sitzen sehe, begünstigt durch das Grau in Grau des Stapels wie meines Gewands. UndICH? Wer bin »ich«, wer ist »ich« hier? Und wer oder was bin ich? Ich kann es nicht sagen. Was ich sagen kann: Dieses »Ich« verwandelt sich nun unversehens, ohne daß ich weiß, wie mir geschieht, in einen anderen als der, welcher ich, so oder so, je gewesen bin oder der je mir vorgeschwebt hat. »Ich« dort am Rande der Landstraße nehme etwas Dramatisches an, springe auf, samt Schattenboxen gegen Phantome, und auch die Szenerie, in der ich mich auf dem Stapel hocken sehe, erscheint mir als eine dramatische, gar wüste, samt jähem Wind-, ja Sturmröhren. Szene und wüst? Und indem ich das, laut oder halblaut, denke, mit wie gegen meinen Willen dramatisierender Stimme, einer grundverschiedenen zu der erzählenden zuvor, heitert der Ort, der Platz, die Straße augenblicks auf, und ebenso »ich«, der andere, Düstere, gar Dräuende am Landstraßenrand.ICH, der wieder Epische, strahle übers ganze Gesicht, so als sei ein Zitronenfalter, der erste des noch jungen Jahres, über die Landstraße gegaukelt, und strecke einen Arm aus, öffne die Hand, wie um einem Vogel, einem gar kleinen, sagen wir einem Rotkehlchen, eine Art Lande- oder Futterplatz anzubieten, wobeiICHmich auch hören lasse, mit meiner anfänglichen Stimme, und einem zugleich gesungenen, herausgeschmetterten, oder auch bloß gekrächzten, als sei ich schon lange nicht mehr recht laut geworden:
Na so was! Grüß dich! Seid mir gegrüßt! Wie geht's dir, wie geht's euch? Frühling ist's wieder, also doch noch einer, doch noch einmal der Frühling auf Erden …
Einen Augenblick später zeigeICHmich von neuem als der Umdüsterte. Dabei recke und streckeICHmich, wie bereit zu einer Konfrontation. Doch die Gegenspieler oder wer, oder die feindlichen Mächte oder was, sie bleiben aus, oder lassen auf sich warten. Auch wenn sie sich nicht sehen lassen, sind sie für mich dort auf dem Nieder-Hoch-Sitz, gerade als Unsichtbare, vorhanden, und so adressiereICHmich im Umkreis der Landstraße an diese Unsichtbaren, und dabei zugleich, von einer Silbe zur andern, einem Wort und Satz zum nächsten, an mich selber. Was so mehr oder weniger zu hören sein wird, vom
ICH, dem Dramatischen:
Gibt's denn das, daß einer, der träumt, in seinem Traum das erste Wort hat? ‒ Ja, in einem Wachtraum. ‒ Warum bin ich nicht zuhause geblieben, in meinem Anwesen, im Garten? Zuhause: Ich, der Erzähler. Das Erzähler-Ich, mein wahres Ich, das rechtmäßige, das naturgemäße. Was bloß hat mich aus Haus und Garten hierher an die Straße getrieben, wo ich den Dramatischen spielen muß. Muß? Mein dramatisches Ich, das unrechtmäßige, das ewig unschlüssige. Ah, Reiz der Gesetzlosigkeit und des Unschlüssigbleibens. Reiz? Lust? Mich aufs Spiel zu setzen, fern vom Ich, dem Erzähler: schon spüre ich das Heimweh. Und doch. Du liebe Zeit. Liebe Zeit? Ach, Leute. Leute? Liebe? Ach. Der Wind weht, wo er will? Schön wär's. Schön war's. 's war einmal. Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken, regnet ihn herab? Tautropfen, das da, von der Nacht und vom Morgen übriggeblieben im Straßenrandgras hier? Angstschweiß! Tropfen um Tropfen, Tröpfchen um Tröpfchen von Angstschweiß oben an den Halmspitzen glitzernd und funkelnd, milliardenfach, zitternd im Frühlingswind, der längst nur mehr weht, wo er muß, gestern sechs, heute sieben und morgen acht Milliarden von Tropfen und Tröpfchen im Wind wechselnd quer durch das Spektrum von Bronze zu Gold zu Lila zu Purpur zu Kobalt, wie vorzeiten der Tau im Gras, als der Wind noch wehte, wo er wollte, bis die Tropfen dann getrocknet waren ‒ indes die Angstschweißtropfen, sie trocknen wohl nimmermehr? Aber, hört, ihr, wer ihr auch seid: Hier an der alten Landstraße, der lang schon unbefahrenen, der unbefahrbar gewordenen, bin ich am Platz, und vielleicht mehr denn je, und vielleicht mehr als sonstwo in der Welt. Diesen Platz werdet ihr mir nicht nehmen. Dieser Platz ist mein: Hier bin ich Menschenkind, hier kann ich's sein. Und wehe, ihr kommt mir hier in die Quere, ob in Worten oder in Taten, wehe! ‒ wenn auch seit dem Ende des letzten Jahrhunderts, oder seit wann, kein ausgesprochen, kein entschieden Böswilliger, kein ausgewachsener, kein erpichter Bösewicht mehr auftritt, so daß ich um meinen Platz hier im Grunde nichts zu befürchten habe, im Grunde … Ah, alte Straße: Nie im Leben ist mir auf dir, an dir und mit dir etwas Böses widerfahren. Alles Widrige habe ich ein jedes Mal durch dich, dank dir, kraft deiner fahrenlassen können. Das Böse um mich, seinen sonstwo ständigen Ansturm, ebenso wie das Böse in mir, meinen sonstwo beständigen Urwurm: du Landstraße hast jeweils beides verläßlich in Luft aufgelöst. Und das war dann kein Nichts. Das war keine Leere, es war Frischluft wie nur eine: Luft der Verwandlung. Der Erzfeind sprang auf dir um zum Herzfreund, und eben noch den Selbsthaß im Schlund, und geblendet von Selbstzorn, wurde ich in dem Landstraßenlicht augenblicklich gesund und sah mich, Kind der Straße, dem Himmel erkor'n. Allgemeines Mißfallen verwandelte sich in besonderes Wohlgefallen. Es gefiel mir, daß meine Schuhbänder abgerissen waren. Es gefiel mir, wie ich schwitzte und wie mein Schweiß roch. Es gefiel mir, wie beim Gehen meine Arme ausschwangen. Ich betrachtete mit Wohlgefallen ‒ kaum zu glauben, aber wahr ‒ sogar meinen Schatten. Und mit dir, liebe Straße, gefiel mir gleich, was mir in der Folge begegnete, vor Augen und zu Ohren kam. Es gefiel mir das Hundebellen, ein jegliches. Es gefiel mir das nichtendenwollende Gelb der Flachsfelder. Ich geriet in Verzückung vor einem Stück Scheiße mitten auf dir, Straße, einem Stück getrockneter Scheiße, die sich wie von alleine da bewegte, dahinruckelte und vorwärts ruckelte, und daß dann momentlang ein goldglänzender Mistkäfer zutage trat, der die Scheiße gleich wieder unsichtbar schulterte und weiterstemmte, verstärkte meine Verzückung noch ‒ übertrug sie auf den Umkreis, auf eine Jauchenlache, auf die vor das Sonnenblumenfeld aufgehängten toten Krähen, auf jenen überspitzen Kirchturm in der Ferne, von dem erzählt wurde, im letzten oder vorletzten Krieg sei daran ein Fallschirmspringer, ein feindlicher, aufgespießt worden. Der Maschinenpark noch weiter weg: kein stillerer Park. Und sämtliche mir auf dir, Landstraße, begegnenden Leute wurden in meinen Augen schön, und fast hätte ich das dem jeweils andern jeweils laut zugerufen, so wie einst jene Frau in dem Theaterstück, die alle ihr begegnenden Männer schön findet, worauf ein jeder, wenn ich mich recht erinnere, sich in Apollo verwandelt, innerlich wenigstens. Und wozu hat das Erscheinen all der Schönheiten, mit dir, Landstraße, als Untergrund, mit dir als dem zusätzlichen Licht, aufgestachelt?: Jeden einzelnen der mir auf dir Entgegenkommenden zu grüßen. Jeden einzelnen, wirklich? Ja, jeden einzelnen. Auch die Unbekannten? Gerade die Unbekannten, je unbekannter der oder die andere, desto herzhafter mein Gruß. Und das Schicksal war mir dabei gnädig, denn so wie ich grüßte, so wurde ich zurückgegrüßt, oder es kamen mir die Unbekannten mit dem Grüßen sogar zuvor. Damals, im Grüßen, war Frieden. Und heute ist Frieden, wenn nur je einer, und wie erst hier an der alten Straße. Nur daß gar niemand vorbeikommt: Ist auch nicht erwünscht! Denn grußbedürftig, bedürftig zeitweise des Grüßens und des Gegrüßtwerdens, bin ich weiterhin, wie eh und je, mehr denn je, mit jedem Lebenstag inständiger, und zugleich grußbedürftig in Maßen, ein Gruß am Tag genügt. Die eine Sekunde des Grußglücks: Wie habe ich dank ihr immer neu schimmern sehen den Tag und sich röten die Nacht! Meinen täglichen Gruß gib mir heute. Mir scheint, im Moment könnte ich sogar, kraft meiner alten Straße, dem Lehrer, der mir damals, als ich von seinem Musikunterricht aus dem Fenster weg in die Bäume schaute, seinen Geigenbogen über den Rücken schnalzte, einen guten Tag wünschen, und ebenso dem Gendarmen, der meinem Kind die Arme auf den Rücken drehte und ihm dann, als es schon dalag, den Stiefelfuß auf das Hinterteil drückte, und sogar, wenn Richard der Dritte vorbeikäme und vor mir seinen Hut mit der Feder, rot von der gerade von ihm gemeuchelten Wildtaube, zöge, meinerseits den Hut mit der Falkenfeder ziehen, und würde auch, tauchten sämtliche Bösewichte der Welt- und Menschheitsgeschichte hier auf, sie mir nichts, dir nichts grüßen, und sie würden zurückgrüßen. Grußbotschaft? Das Grüßen selber die Botschaft. ‒ Ja, noch ist nicht alles verloren, noch kann ich die Unbekannten grüßen und werde von ihnen gegrüßt. Grüßen: das Erblühen des Anderen und meiner selbst. Heute wird sich's entscheiden, heute lass' ich's darauf ankommen. Straße der Beständigkeit: Wie ich auf dir, auf deiner Wölbung, doch immer wieder überrascht bin worden, von meiner Vergangenheit ‒ von dem, was ich alles schon erlebt habe! ‒ Ah, niemand. Was für ein Spektakel. Wie sie schimmert, wie sie summt und surrt vor Abwesenheit, meine Landstraße. Der Erdkreis leuchtet von Menschenleere. ‒ Aber Achtung: Menschenleere nicht gleich Menschenferne. So, hier allein, fühle und weiß ich mich UNTER UNS. Freude, holder Niemandsfunken. Ort, der keine Verschwisterung braucht mit einem andern, auch nicht in Mali oder Vietnam! Der einzige Ort, wo ich nicht in die Menschen-, in die Unschuldigenfalle geraten bin, noch nicht … Heimgekehrt hier an die alte Straße, in die andere Zeit. Das Epos ohne Krieg. Das Drama ohne Intrige.
ICHverlasse für einen Moment meinen Sitz, gehe einmal an der Landstraße auf und nieder, klettere zurück auf den Ausguck und schlage mit einem Stück Holz auf Holz, Schilf und Beton. Wie gerufen kommt nunEINERvon denen daher, die bei mir in der FolgeDIE UNSCHULDIGENheißen werden oder schon vorher insgeheim so geheißen haben. Er ist gekleidet, wie es ihm und euch gefällt, und insbesondere auch mir, vielleicht, weil sein Aufzug dem meinen ziemlich entspricht, im Einklang mit dem Licht und der Luft der Straße, und zudem segelgleich knatternd, als sei der Mensch da aufgroßer Fahrt.ICHwinke ihm von weitem zu, dann wieder und wieder. AberERscheint mich nicht zu bemerken, blickt im Gehen starr geradeaus, oder auf die Schuhspitzen. Auch alsICHmich erhebe und mich räuspere, ihn dann gar ansumme, hat er für mich weder Augen noch Ohren. Einmal, mitten im Dahinschreiten, das mehr und mehr einem Paradieren gleicht ‒ nicht mir bestimmt, wem sonst?, ihm selber? ‒, entfährt ihm ein Schluckauf. Und dann, auf meiner Höhe, bleibtERdoch stehen ‒ ob ich endlich für ihn existiere? ‒, hebt den Kopf dorthin, woICHstehe und ihm grüßend zulächle, blickt freilich ‒ wenn das überhaupt ein Blick ist ‒ durch mich durch, und es entfährt ihm ein zweiter, womöglich doppelt so lauter Schluckauf, welcher zugleich ein Rülpsen sein könnte. Und dann spuckt derERSTEderUNSCHULDIGENin dieser Stunde an der alten Landstraße vor mir aus, spuckt, nach einer langwierigen, kunstvollen Vorbereitung, mir wie vor die Füße, dabei ohne jeden bösen Willen, Vorsatz oder Hintergedanken, so blind wie blindlings, spuckt im Weitergehen noch ein zweites Mal, ein drittes, was durch die Wiederholung einen Anschein von Übelwollen oder gar Verwünschen bekommt, was in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist, und läßt im Verschwinden, Gipfelpunkt der Unschuld, auch noch, wie tief in einem Tagtraum gefangen, eine wenn nicht fußball- so doch tennisballgroße Kaugummiblase platzen.
Kaum habeICHZeit, ihm nachzublicken, mich zu setzen auf meinen Landstraßensitz, tritt schon derZWEITE, der Folge-UNSCHULDIGEauf den Plan. Geht da nicht eine Frau? Ja, da kommt eine Frauengestalt daher. Ah, gib, daß es sich umDIE UNBEKANNTE VON DER LANDSTRASSEhandelt, die erhoffte, seit jeher ersehnte. Und so steheICHjetzt nicht auf, vielmehr springe auf und rufe derANKÖMMLINGINvon weitem entgegen:
ICH
Dem heutigen Himmel und der alten Landstraße sei Dank. Nofretete: Heißt das nicht, übersetzt: Die Schönheit ist erschienen!? La beauté est apparue. La belleza e aparecida. Mein Tag, er ist geschaukelt. Schaukle mit mir in den Abend, schaukle mit mir nach Hawaii. Und dann der neue Tag. Sei mir gegrüßt, Schönheit, du Tag werden im Tag.
Und diesmal nimmt, die sich da auf der Landstraße nähert, mich wahr, hört mir zu, schaut mir entgegen, lächelt, nickt zu meinen Sprüchen und wiegt dazu nicht allein den Kopf, und auch ihre Aufmachung scheint mit einzustimmen, eine durch und durch frühlingshafte.SIEbleibt vor mir stehen und schaut zu mir auf. Aber das ist beileibe nicht jenes Aufschauen und schon gar nicht jenes Mich-Anschauen, wie es mir, früher einmal, geträumt hat. Nicht ich bin es, ich!, den diese fremdeFRAUda ins Auge faßt, wobei sie ein Bein vorschiebt und die Arme in die Hüften stemmt. Und auch was und wie sie nun redet, dünkt mir an jemand Grundanderen gerichtet. Nein, das ist unmöglich meine Unbekannte von der Landstraße. Nicht etwa, daß die Frühlingsfrau mich als einen Feind ansieht und jetzt als einen solchen anspricht. Ah, wenn es doch so wäre ‒ dann könnte ich mich konfrontieren oder wenigstens widerreden, vielleicht mich erklären. Ihre Augen strahlen, während sie redet (ohne mich freilich anzustrahlen), und ihre Stimme ist friedlich, vibriert gar von Friedlichkeit, fast einer Extra-Friedlichkeit, als wolle sie sich damit jemanden vom Leib halten und ihn zugleich in die Schranken weisen: Sie und er, das heißt ich?, gehören nicht in dieselbe Kategorie. Ich komme als ihr Gegenüber nicht in Frage. Und doch bin ich für sie scheint's jemand Altbekannter, ein, wie heißt das, »sattsam« Bekannter. Aber sie will mir nichts Böses. Sie will keinem was Böses. Sie ist überhaupt außerstande, Böses zu wollen. Und in diesem Sinn hatDIEUNSCHULDIGEzu sprechen begonnen:
DIE UNSCHULDIGE
Ich kenne dich. Lieblingsgetränk: Holundersaft. Ein seit Jahrzehnten eingewachsener Zehennagel, nicht wahr, aber halb so schlimm, du bist nicht der einzige mit dem Problem. Bei mindestens jedem zweiten Mal das Hemd falsch zugeknöpft, aber auch da bist du kein rarer Vogel. Die Männer meines Lebens haben sich freilich nie die Hemden falsch zugeknöpft, keiner. Und außerdem haben sie fast nur T-Shirts getragen, der letzte meiner Lebensmenschen ein ärmelloses, und Holundersaft haben wir beide, der Anselm und ich, schon gar nicht riechen können ‒ eh, allein der Geruch. Mit Jean-Didier haben wir am liebsten Americano getrunken. Und vorher Karl-Ferdinand, sein TRIUMPH-Motorrad, sein behaarter Rücken, sein Tigerlächeln, seine Mansarde mit Montblancblick, seine Bergkristallsammlung in der Duschkabine. Ich kenne dich. Dünne Stimme, die sich für die eines Baritons hält und dabei nicht einmal von einem Randstein zum nächsten trägt. Aber mach dir nichts draus: Nicht jeder Mann ist zum Vorbeter geschaffen, geschweige denn zum Tonangeben. Ein Herr ist nicht aus dir geworden, und wird auch nie einer werden. Zum Herrscher bist du halt nicht geschaffen, weder zum Machtmenschen noch zu demjenigen, von dem, ob er es will oder nicht, eine stille, ah so stille, ah so unwiderstehliche Macht ausgeht. Wie solch einer auf den zwei Beinen dasteht, Beinen wie das Säulenpaar eines Tempels, vor dem es unsereinen auf die Knie zu fallen oder sich an sie anzuschmiegen drängt: Macht, ah, Macht, oh Macht ‒ nichts geht über sie, über eine solche! Da können Leute wie du mir nur leid tun, ohne daß ich dich damit kränken möchte. Es muß auch euresgleichen geben, es lebe der Unterschied, ah, Lebensgefühl gerade durch die Unterschiede! Und glaub nicht, daß behaarte Rücken unbedingt mein Ideal sind. Ich kann auch anders. Ihr sollt mich noch kennenlernen. Auch du da? Nein, du da nicht. Und wenn, dann wehe. Träum dich aus dem Weg. Wir brauchen keine Träumer, haben nie welche gebraucht. Schnitte, von den Männern meines Lebens mir zugefügt in der gemeinsamen Ekstase, mit einer Rasierklinge, mit einem Damaszenerdolch, mit einem Perlmuttmesser, hier, hier und hier. Zwischen Nabel und Schambein Wunde um Wunde, Blut um Blut, Narbe um Narbe, die ganz anderen Kaiserschnitte, das ist mein Weg, das ist mein Fall, das ist meine Macht. Nichts für ungut, das jetzt ist nicht dein Spiel, kein Spiel für einen Unter-dem-Standard, einen Bastard, eine Landstraßenmischung. Weg mit deiner Freude allein unterm Himmel. Lust, Lust, nichts als Lust! Ich meines Mannes Um und Auf, und er mein Dran und Drauf. Von Fuß bis Kamm, ein ganzer Mann. ‒ Wie zu sich selber: Ein ganzer Mann, der dauert bloß nie an, selten eine Stunde, meistens nur eine Sekunde. Es gibt kein Mittel gegen mich, als hin zu mir!
Mit diesen Worten, mehr und mehr aus der Entfernung, zuletzt schon wie aus der Ferne, istDIE UNSCHULDIGE, dabei zugleich Blumen ausstreuend, im Horizont verschwunden. Und ihr folgen auf der Stelle andere. Auch sieUNSCHULDIGE? Das wird sich nun zeigen, und dazu werdeICHmich unter sie mischen und mich gegebenenfalls mit ihnen konfrontieren. Sie erscheinen auf der alten Landstraße, anfangs jedenfalls, einzeln, und einer tritt auf im Abstand zum nächsten. DerERSTE, wie auch derZWEITEund der oder dieDRITTEdann, sie gleichen einander, obwohl sie grundverschieden gekleidet sind ‒ gekleidet? eher uniformiert, ein jeder in einer neuen Spielart, mehr Mode als Uniform. Meine Einmischung besteht erst einmal darin, daßICHdie drei, einen nach dem andern, grüße, oder zu grüßen versuche. Denn mein Grüßen, stumm, wie es geworden ist nach dem lauten Gruß zuvor, erreicht keinmal das Ziel, und ich breche es dann entweder mittendrin ab oder lasse es, beim dritten Versuch, schon im Ansatz bleiben. Zunächst einmal ist mein erhobener Arm übersehen worden ‒ wobei ich einräume, daß ich ihn zu früh erhoben habe, und dann, vor demselben einzelnen Landstraßenbegeher, zu spät, für den Passanten außer Blick. Und vorDEM FOLGENDEN UNSCHULDIGEN‒ inzwischen glaubeICHzu wissen, mit was für welchen ich es da zu tun habe ‒ gerät mein Arm aufhalber Höhe ins Stocken, denn mein Adressat ist mir zuvorgekommen, aber indemER, statt zu winken, ohne mich überhaupt in seinem Blick, abwinkt, und zwar nicht etwa klein und unauffällig, vielmehr monumental und geradezu abtuend wie ein für alle Male, in einer Bewegung zusammengesetzt aus der einer Sense und eines Schafotts, dabei rein mechanisch oder marionettenhaft, weder von ihm gewollt noch ihm überhaupt bewußt. Und bei dem oder derDRITTENhabeICHdie Geste des Grüßens nicht mehr versucht, oder sie gar nicht mehr so recht gewagt. Trotzdem habeICHmich wohl weiterhin irgendwie gebärdet, und der, dieANDEREist mit einem Ruck zum Stehen gekommen und hat mich starr, starrer nicht möglich, ins Auge gefaßt. Auch er, sie, scheint mich oder den, den sie, er vor sich hat, zu kennen. Er, sie bleibt aber stumm, zieht höchstens lautstark, was für ein Zischen, die Luft zwischen Lippen und Zähne, zupft sich am Ohrläppchen, schüttelt den Kopf und geht so, weiter kopfschüttelnd, aus dem Bild, ein Gehen im übrigen, das mit dem der ihm vorangeschrittenen beidenUNSCHULDIGEN, bei all dem Kontrast sonst zwischen den dreien, übereinstimmt, in der Gangart wie im Rhythmus und sogar in den Geräuschen beim Aufsetzen der Füße, indem es ganz und gar nicht das übliche Gehen am Rand einer Landstraße darstellt, sondern ein Begehen, das Ausmessen eines Grundstücks, eines Privatbesitzes, durch den oder die Eigentümer.
Normalerweise würde ich mir das wohl gefallen lassen, es könnte mich sogar erheitern, und ich hätte die Gehweise dieserUNSCHULDIGENnotiert, skizziert, gezeichnet ‒ und wenn bloß in den Luftraum. Das tueICH