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Dramatisch, sehnsuchtsvoll, zum Träumen schön: In der 4. Familiensaga von Soraya Lane sucht die Engländerin Georgia am zauberhaften Genfer See nach Antworten – und der wahren Liebe, die ihr Herz heilen könnte. Eigentlich hat Georgia wenig Interesse an der mysteriösen Schachtel mit dem Namen ihrer Großmutter, die ihr von einem ehemaligen Frauenhaus in London übergeben wurde: Zu verletzt ist ihr Herz, und zu gern würde sie die komplizierte Geschichte ihrer Familie einfach vergessen. Doch der wunderschöne rosafarbene Edelstein in der Schachtel lässt sie einfach nicht los. Ein Hinweis führt Georgia schließlich an den Genfer See, wo sie auf den attraktiven Juwelier Luca trifft. Er sucht seit Jahren nach dem Stein, der einst Teil eines königlichen Diadems war. Wo sich mächtige Alpengipfel im funkelnden Wasser spiegeln, entdecken Georgia und Luca die Geschichte einer tragischen Liebe. Wird jetzt endlich geheilt, was vor so vielen Jahren zerbrochen ist? Die romantischen Romane der Bestseller-Saga sind unabhängig voneinander lesbar In ihrer Familiensaga-Reihe »Die verlorenen Töchter« erzählt Bestseller-Autorin Soraya Lane von sieben jungen Frauen, geheimnisvollen Erbstücken aus einem Londoner Frauenhaus und schicksalhafter Liebe. Die Romane spielen jeweils auf zwei Zeitebenen und an wunderschönen Sehnsuchtsorten, die zum Träumen einladen. Soraya Lanes Familiengeheimnis-Romane sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Die verlorene Tochter (Italien) - Die vermisste Tochter (Kuba) - Die verheimlichte Tochter (Griechenland) - Die verborgene Tochter (Genfer See)
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Seitenzahl: 385
Soraya Lane
Roman
Aus dem Englischen von Sigrun Zühlke
Knaur eBooks
Eigentlich hat Georgia wenig Interesse an der mysteriösen Schachtel mit dem Namen ihrer Großmutter, die ihr von einem ehemaligen Frauenhaus übergeben wurde: Zu verletzt ist ihr Herz, und zu gern würde sie die komplizierte Geschichte ihrer Familie einfach vergessen. Doch der wunderschöne rosafarbene Edelstein in der Schachtel lässt sie einfach nicht los. Ein Hinweis führt Georgia schließlich an den Genfer See, wo sie auf den attraktiven Luca trifft. Er sucht seit Jahren nach dem Stein, der einst Teil eines königlichen Diadems war. Wo sich mächtige Alpengipfel im funkelnden Wasser spiegeln, entdecken Georgia und Luca die Geschichte einer tragischen Liebe. Wird jetzt endlich geheilt, was vor so vielen Jahren zerbrochen ist?
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Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
Epilog
Liebe Leserinnen und Leser,
Danksagung
Für Lisa. Danke für alles, was du jede einzelne Woche für mich tust. Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne dich tun würde!
Delphine ließ sich auf der Liege am Pool nieder, der seidene Morgenmantel glitt von ihrer Schulter, und als sie in der Sonne lag, musste sie lächeln, weil sie Florians Schritte näher kommen hörte. Sie streckte die Hand nach dem Drink aus, den er ihr versprochen hatte, doch statt ihr ein Glas in die Hand zu geben, schob er seine Hand in ihre.
Sie öffnete die Augen, setzte sich auf und drehte sich zu ihm um, als sie seinen ernsten Gesichtsausdruck sah. In der Ferne schimmerte der See, die Nachmittagssonne spiegelte sich im Wasser.
»Du siehst besorgt aus«, sagte sie und legte die andere Hand an seine glatte Wange.
Er ließ sich auf die Liege neben sie sinken und beugte sich vor. Sein dunkles Haar fiel ihm in die Augen.
»Stimmt etwas nicht?«
»Ganz im Gegenteil«, antwortete er lächelnd und drückte ihre Hand. »Ich habe etwas, das ich dir zeigen möchte.«
Delphine lächelte zurück, genoss es, mitzuspielen. Ihre heimlichen gemeinsamen Momente brachten ihr solche Freude, ließen sie all den Herzschmerz vergessen, den sie erlitten hatte, weshalb sie jetzt geduldig darauf wartete, dass er weitersprach.
Ihre Neugier wuchs noch, als sie sah, dass er in der anderen Hand eine Schatulle hielt. »Was möchtest du mir denn zeigen?«, fragte sie.
»Das hier«, sagte Florian und ließ ihre Hand los, um den Deckel der Schatulle zu öffnen, »gehörte einmal der früheren Königin von Italien. Ich hatte das Gefühl, du wirst es vielleicht wiedererkennen.«
Delphine traute ihren Augen kaum. »Das rosafarbene Saphirdiadem«, sagte sie, und ihr stockte der Atem, als sie zu ihm aufblickte. »Das kenne ich gut. Einmal, als die Königin es zu einer Hochzeit trug, durfte ich es sogar persönlich bewundern. Ich glaube, es gibt keine Frau in Italien, die es nicht wiedererkennen würde.« Sie schüttelte den Kopf und beugte sich vor, um die atemberaubenden Juwelen besser betrachten zu können. Sie versetzten sie zurück in ihre Zeit in Italien, in die ersten Jahre ihrer Ehe, als sie auf rauschende Partys gegangen war und in denselben Kreisen verkehrte wie der italienische Adel. »Wie ist es in deinen Besitz gekommen?«
»Die königliche Familie hat, nachdem sie Italien verlassen musste, diskret ein paar einzigartige Stücke ihrer Sammlung verkauft, und mein persönlicher Kurator hat dafür gesorgt, dass ich das Diadem erwerben konnte. Das meiste wurde der Banca d’Italia in Rom zur Aufbewahrung übergeben, was die wenigen Stücke, die die Familie verkauft hat, umso exklusiver macht«, sagte er und hielt das Diadem zwischen ihnen hoch, sodass Delphine es näher betrachten konnte. »Über die Jahre habe ich viele schöne Juwelen und Schmuckstücke zu sehen bekommen, aber dieses Diadem? Es gibt auf der Welt nichts, was die Geschichte und die Schönheit eines solchen Stücks übertreffen könnte.«
Es war ganz gewiss ein einzigartiges Geschmeide, und die Tatsache, dass er es hatte erwerben können, erinnerte sie wieder daran, wie gut Florian vernetzt war. Die Diamanten fingen das Licht auf, als er das Diadem in den Händen drehte, und die Saphire changierten von leuchtendem, lebendigem Rosa zu beinahe dunklem Violett. Das Geschmeide glitzerte noch mehr, wenn die Sonne sich darin spiegelte. Er hatte recht, dies musste eines der begehrtesten Schmuckstücke sein, in das er hätte investieren können.
»Dieses Diadem war seit dem 19. Jahrhundert im Besitz der italienischen Königsfamilie, bis man sie vor fünf Jahren ins Exil gezwungen hat«, sagte Florian. »Und die nächsten Generationen wird es in meiner Familie bleiben. Dies ist eines der Stücke, von denen ich mich niemals trennen werde.«
»Ich bewundere die ehemalige Königin sehr«, sagte Delphine. »Ich erinnere mich noch, wie sie sagte, das Einzige, was sie im Krieg bereut hat, war, Adolf Hitler nicht selbst getötet zu haben, als sie mit ihm im selben Zimmer war, und ich dachte immer, dass ich ihr das auch zugetraut hätte. Sie ist eine der wenigen Frauen, die sowohl feminin als auch direkt sind. Ich kann mir vorstellen, dass es so gut wie unbezahlbar ist.«
»Allerdings«, sagte Florian. »Und es wird die Krönung meiner Privatsammlung sein, wenn du mir das Wortspiel verzeihst.«
»Es ist fantastisch, Florian. Danke, dass du es mir gezeigt hast.« Sie zog die Beine unter sich, während Florian sie mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck ansah.
»Ich habe es dir nicht ohne Grund gezeigt, Delphine«, sagte er schließlich, legte das Diadem neben sich und griff nach ihren Händen. »Ich möchte, dass du dir einen der Saphire aussuchst, damit ich dir daraus einen Verlobungsring machen lassen kann.« Florian küsste ihre Hand und senkte seine Stimme zu einem Flüstern, während er sie eindringlich aus seinen dunkelbraunen Augen ansah.
»Florian …«
»Ich möchte, dass wir den Rest unseres Lebens zusammen verbringen, Delphine. Ich will mich nicht mehr verstecken. Ich möchte, dass die ganze Welt erfährt, dass du meine Frau wirst, und dies ist meine Art, dir zu zeigen, wie viel du mir bedeutest.«
Tränen traten ihr in die Augen, ein einsamer Tropfen rann über ihre Wange, als sie den Blick abwandte und sich wünschte, es wäre so einfach, sich wünschte, sie wäre frei, ihre eigenen Entscheidungen im Leben zu treffen. Ihr Blick fiel auf das Diadem, und sie fragte sich, wie viel Herzschmerz es wohl schon miterlebt haben musste, Zeuge welcher Liebe es gewesen war; und wie viel Trauer.
»Du weißt, dass ich nicht einfach Ja sagen kann. Wenn es so wäre …« Sie konnte sich nicht dazu bringen, den Satz zu beenden. Wenn sie so zusammen waren wie jetzt, fühlte es sich an, als gäbe es nur sie beide auf der Welt. Doch jenseits der Mauern dieses Anwesens, jenseits der Grenzen dieses schönen, abgeschiedenen Grundstücks am See, das die vergangenen paar Monate ihre private Oase gewesen war, durften sie nicht zusammen gesehen werden.
Florian nickte und zog sie an sich heran, bis sie auf seinem Schoß saß, die Arme um seinen Hals schlang und sich an seine Brust schmiegte. Mit einem fehlenden Saphir würde der Wert des Diadems ins Bodenlose fallen, sollte es jemals zum Verkauf angeboten werden, daher wusste sie, was er ihr damit sagen wollte: dass er das wertvollste Stück seiner Sammlung zerstören würde, das Stück, das ihm am meisten bedeutete, für sie. Es war nicht zu übersehen, dass er wohlhabend genug war, um ihr den teuersten Diamanten von Tiffany’s zu kaufen, und dennoch war er willens, als Zeichen seiner Liebe, das Diadem zu opfern.
»Ohne dich bin ich nichts«, murmelte Florian in ihr Haar. »Bitte sag Ja. Lass mich einen Weg finden, damit wir heiraten können.«
Ich auch, Florian. Auch ich bin nichts ohne dich.
Delphine sah zu ihm auf, ihre Finger strichen über seine Wange, und sie drückte ihren Mund zu einem langen, langsamen, warmen Kuss auf seinen.
»Ja«, flüsterte sie schließlich an seinen Lippen. »Ich werde dich heiraten, Florian. Wenn du einen Weg findest, dann verspreche ich dir, dass ich dich heirate.«
Georgia stieg aus dem Taxi und eilte die enge Londoner Straße entlang, wobei sie auf ihrem Handy die Adresse nachsah. Zu beiden Seiten erstreckten sich Altbauten, mit Ausnahme eines modernen Gebäudes mit Glasfassade, das am Ende der Straße eingezwängt zwischen den Backsteinhäusern stand und an dessen Tür ein diskretes Schild hing, das besagte, dass es sich um die Anwaltskanzlei handelte, nach der sie suchte – Williamson, Clark & Duncan. Den ganzen Morgen, bis zu dem Moment, an dem sie ihr Büro verlassen hatte, war sie eigentlich entschlossen gewesen, nicht hinzugehen, hatte sich gesagt, dass es sich bei dem Brief, den sie erhalten hatte, um einen schlechten Scherz handeln musste. Und doch bin ich jetzt hier.
Sie holte einmal tief Luft, nahm die Schultern zurück und marschierte in die Kanzlei, nannte der Empfangsdame ihren Namen und setzte sich im Wartebereich auf den Stuhl, der dem Empfang am nächsten war. Es überraschte sie, dass noch andere junge Frauen hier warteten. Eine hob kurz den Blick und sah sie an, bevor sie sich wieder in ihre Zeitschrift vertiefte.
Der Brief, dem zufolge sie sich in der Kanzlei einfinden sollte, um etwas abzuholen, das zum Nachlass ihrer Großmutter gehörte, hatte sie überrascht. Aber da sie das letzte lebende Familienmitglied war, war sie zu dem Schluss gekommen, es wäre dumm, nicht hinzugehen, besonders, nachdem ihre Assistentin ihr versichert hatte, dass es sich um eine seriöse Kanzlei handelte.
Was sie nicht erwartet hatte, war, dass, kurz nachdem sie angekommen war, ihr Name zusammen mit fünf anderen aufgerufen wurde und sie alle zusammen in einen Konferenzsaal geführt wurden. Ihr Herz begann zu rasen, als sie sich die anderen jungen Frauen ansah, und sie fühlte sich unbehaglich. Die wollen uns doch jetzt nicht verkünden, dass wir alle miteinander verwandt sind, oder?
Nachdem sie sich hingesetzt hatte, trank Georgia einen Schluck Wasser aus dem Glas auf dem Tisch, um ihre plötzlich trockene Kehle zu besänftigen, und sah sich in dem modernen Büroraum um. Eigentlich hatte sie wirklich keine Zeit für das Ganze.
Am Kopf des Raums erhob sich ein Mann, räusperte sich und stellte sich als der Anwalt vor, der sie alle eingeladen hatte. Dann übergab er das Wort an die gut gekleidete Frau neben sich, die sich als Mia Jones vorstellte. Das Handy in Georgias Handtasche vibrierte; sie wusste, dass sie auf keinen Fall länger als eine Viertelstunde bleiben konnte. Sie stellte die Handtasche auf ihren Schoß, in der Hoffnung, das Geräusch dämpfen zu können. Aber sogar als sie die Arme auf die Tasche drückte, war das Brummen noch zu hören.
Wäre es unhöflich zu fragen, ob ich ein andermal wiederkommen kann?
Georgia begann ungeduldig mit dem Fuß zu wippen. Gespannt darauf zu erfahren, warum man sie herbestellt hatte, sah sie sich zu den anderen Frauen um, immer noch rätselnd, welche Verbindung zwischen ihnen bestehen mochte.
Da waren die hübsche Dunkelhaarige mit den Sommersprossen auf der Nase, die ihr im Wartebereich einen Blick zugeworfen hatte, eine weitere Dunkelhaarige und eine sehr attraktive Blondine, die sie beide sofort über den Tisch hinweg angelächelt hatten, als sie sich gesetzt hatten. Eine der anderen Frauen hatte dunkelblondes Haar und ein breites Lächeln, das von einem knallroten Lippenstift noch betont wurde; und dann gab es noch eine Frau mit Haar beinahe so dunkel wie Georgias, die den Kopf gesenkt hielt und am Tischrand nestelte.
Erst als sie den Blick von der letzten Frau abwandte und Mia begann, einige kleine Holzkästchen auf den Tisch vor ihnen zu legen, bekam Georgia eine Idee, weshalb sie hier war. Ihre Augen wurden wie magisch angezogen von einem Namen, der ihr bekannt vorkam, einen Namen, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte und der auf einem Schildchen stand, das mit einem Stück Schnur an einem der Kästchen befestigt war. Cara Montano. War sie deshalb hier? Um das Kästchen in Empfang zu nehmen? Sie sah zu den anderen Frauen, fragte sich, ob sie den Namen ebenfalls erkannt hatten, aber niemand anderes schien ihn bemerkt zu haben, oder falls doch, sagte er ihnen anscheinend nichts.
Georgia setzte sich ein wenig gerader hin, während die Frau namens Mia, die eindeutig dafür verantwortlich war, dass sie hier einberufen worden waren, fortfuhr und dabei die Schachteln in einer Reihe auf den Tisch legte.
»Wie Sie gerade gehört haben, war Hope Berenson meine Tante. Sie hat ein privates Heim für ledige Mütter und ihre Babys hier in London geführt, das Hope’s House. Sie war für ihre Diskretion ebenso bekannt wie für ihre Güte, trotz der schwierigen Umstände in der damaligen Zeit.«
Hope’s House? Georgia hatte keine Ahnung, was das mit ihr zu tun haben sollte, aber sie konnte den Blick nicht von dem Kästchen wenden, vom Namen ihrer Großmutter – Cara Montano –, der ihr klar und deutlich von dem Schildchen entgegenleuchtete. Ihr Rücken wurde steif, und sie grub unabsichtlich die Finger in die Handflächen. Wenn sie gewusst hätte, dass es um ihre Großmutter ging, wäre sie vielleicht überhaupt nicht gekommen.
Nach all diesen Jahren, in denen ich mir nichts sehnlicher gewünscht habe, als dass sie mich zu sich holt, mich nach ihrer Zuneigung gesehnt habe, kann ihr Name mich immer noch verletzen.
Sie ignorierte das Vibrieren ihres Handys weiterhin und hörte Mia zu, die ihnen berichtete, wie sie die kleinen Schachteln unter den Dielen im Haus ihrer Tante gefunden und entschieden hatte, sie den Nachkommen der Frauen zu übergeben, für die sie bestimmt gewesen waren. Es war faszinierend, und an jedem anderen Tag hätte sie wirklich gern mehr darüber erfahren.
Georgia riss die Augen von dem handgeschriebenen Schildchen los und sah zu dem Anwalt auf, der jetzt wieder das Wort ergriff.
»Als Mia diese Schachteln fand, hat sie sie zu mir gebracht, und wir sind die alten Unterlagen ihrer Tante durchgegangen. Die Akten waren akribisch geführt, und obwohl sie eigentlich vertraulich bleiben sollten, haben wir uns entschieden, nach den Namen auf den Schachteln zu suchen, um zu sehen, ob wir sie nicht ihren rechtmäßigen Besitzern zukommen lassen können.«
»Haben Sie sie geöffnet?«, fragte eine der Frauen, die Georgia gegenübersaß.
»Nein«, sagte Mia leiser als zuvor. »Ich habe Sie heute alle hergebeten, damit Sie selbst entscheiden können, ob Sie sie öffnen wollen oder nicht.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und Georgia beobachtete, wie sie sie schnell wegwischte. »Sie müssen meiner Tante sehr wichtig gewesen sein, wenn sie sie all die Jahre lang so sorgsam versteckt gehalten hat, aber ich verstehe nicht, warum sie die Schachteln ihren rechtmäßigen Besitzern nicht zu Lebzeiten ausgehändigt hat. Ich hielt es für meine Pflicht, es zumindest zu versuchen, und nun liegt es an Ihnen, ob sie versiegelt bleiben oder nicht.«
»Was wir nicht wissen«, sagte der Anwalt und stützte die Hände auf den Tisch, »ist, ob es noch weitere Schachteln gab, die im Lauf der Jahre verteilt wurden. Entweder hatte Hope einen Grund, warum sie diese sieben nicht herausgegeben hat, oder niemand hat Anspruch darauf erhoben.«
»Oder sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie besser verborgen bleiben sollten«, setzte Mia hinzu. »In diesem Fall habe ich vielleicht etwas aufgedeckt, das besser verborgen geblieben wäre.«
Der Anwalt räusperte sich gerade, als Georgias Handy wieder summte. Seufzend griff sie danach und sah, dass es Sam war, ihre Geschäftspartnerin. Natürlich war es Sam. Sie würde einfach immer wieder anrufen, wenn Georgia nicht abnahm – immerhin war heute möglicherweise der aufregendste Tag ihrer beider Karrieren –, was wiederum bedeutete, dass sie jetzt tatsächlich gehen musste. Georgia hörte dem Gespräch nur noch mit halbem Ohr zu, während sie auf eine Pause wartete, um sich zu entschuldigen.
»Ja«, sagte der Anwalt. »Aber was auch immer der Grund gewesen sein mag, es obliegt nun mir, sie ihren rechtmäßigen Besitzern auszuhändigen, oder in diesem Fall den Erben der rechtmäßigen Besitzer.«
»Und Sie haben keine Ahnung, was sich darin befindet?«, fragte eine Frau von der gegenüberliegenden Seite des Tisches.
»Nein, das haben wir nicht«, antwortete Mia.
Da nutzte Georgia die Gelegenheit, stand auf, hängte sich ihre Tasche über die Schulter und räusperte sich. So faszinierend das hier auch war, sie musste gehen.
»Nun, so interessant das alles auch klingt, ich muss leider zurück zur Arbeit«, sagte sie in der Hoffnung, nicht ganz so unhöflich zu klingen, wie sie sich fühlte. Aber als sie in die Gesichter der anderen Frauen blickte, wurde ihr klar, dass dies genau der Eindruck war, den sie hinterließ. »Wenn Sie mir bitte die Schachtel geben könnten, die mit Cara Montano beschriftet ist? Tut mir leid, ich kann wirklich nicht länger bleiben.«
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte der Anwalt und nickte ihr zu. »Wenn Sie noch Fragen haben, zögern Sie bitte nicht, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Wir sind gern bereit, die Angelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt mit Ihnen zu besprechen.«
Georgia nickte, unterschrieb das Stück Papier, das Mia ihr zuschob, und wühlte in ihrer Tasche nach ihrem Portemonnaie, um sich auszuweisen. Ihre Wangen wurden heiß, als sie aller Augen auf sich spürte.
»Danke«, murmelte sie Mia zu und legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich sehe, wie viel Ihnen das alles bedeutet. Es tut mir leid, dass ich nicht länger bleiben kann.«
Mia schenkte ihr ein kleines Lächeln, bevor sie ihr das Kästchen gab, und Georgia ließ es in ihre Tasche fallen, durchquerte den Raum, öffnete die Tür und griff nach ihrem Handy.
Sam antwortete in einem Ton, der sich anhörte wie Georgias Absätze auf dem Fliesenboden.
»G, wo warst du? Ich brauche dich! Der Investor …«
»Schon unterwegs«, sagte Georgia, während sie einem Taxi winkte und ungeduldig mit den Füßen aufstampfte, während es für sie wendete. »In zwanzig Minuten bin ich zurück und komme dann gleich zu dir, versprochen.« Sie beendete das Gespräch, stieg in das Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse.
Georgia legte den Kopf in den Nacken, holte tief Luft und versuchte zu verarbeiten, was gerade geschehen war. Manchmal kam es ihr vor, als hätte sie sich seit Jahren nicht ausgeruht, als wäre jede Minute jedes Tages mit Arbeit ausgefüllt und als würde sie ihre Nächte damit verbringen, E-Mails zu beantworten und mit ihrem Laptop im Bett zu sitzen, bis sie einschlief, bevor alles wieder von vorn losging. Im Grunde war sie übermüdet, solange sie denken konnte.
Sie beugte sich vor und suchte in ihrer Tasche nach dem Kästchen, das sie gerade erhalten hatte. Sie drehte es in ihrer Hand, blies ein bisschen Staub fort, der sich am Band gesammelt hatte, und fragte sich, ob sie tatsächlich wissen wollte, was darin war. Die letzten fünfzehn Jahre hatte sie damit verbracht, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie keine Familie mehr hatte, und sich und der Welt zu beweisen, dass sie es trotzdem schaffen konnte, dass sie über den Schmerz ihrer Jugendjahre hinwegkommen konnte. Und trotzdem fühlte es sich an, als würde sie den Schutzwall niederreißen, den sie so gewissenhaft um sich herum errichtet hatte, wenn sie das Kästchen öffnete.
Mach’s einfach auf. Denk nicht nach, einfach aufmachen.
Sie brauchte einen Augenblick, um den Knoten aufzubekommen, ihre Nägel verfingen sich in der Schnur. Schließlich löste sich der Knoten, und sie ließ den Bindfaden zusammen mit dem Etikett in die Tiefen ihrer übergroßen Tasche fallen, wo er sich verlieren würde, dann hob sie den Deckel ab und fand einen enormen Edelstein. Es verschlug ihr den Atem. Niemals hätte sie mit etwas so Außergewöhnlichem gerechnet, besonders da sie wusste, dass das Kästchen jahrzehntelang unter dem Dielenboden eines alten Hauses versteckt gewesen war und Staub angesetzt hatte. Sie legte die Schachtel in ihren Schoß und nahm den Stein heraus, drehte ihn zwischen den Fingern, bewunderte seine Schönheit und fragte sich, ob es sich um einen seltenen Stein handelte oder vielleicht sogar um einen Diamanten, so strahlend leuchtete er in tiefem Rosa, das im Licht beinahe violett wirkte. Seine Größe war schier unfassbar – er war mindestens doppelt so groß wie der größte Verlobungsring, den sie je gesehen hatte.
Auf dem Boden der Schachtel lag ein Zeitungsausschnitt. Sie gab den Stein widerstrebend zurück in das Kästchen und nestelte das vergilbte Papier heraus. Der Artikel war in einer ihr unbekannten Sprache geschrieben, also faltete sie ihn zusammen und legte Stein und Papier wieder vorsichtig so hinein, wie sie sie vorgefunden hatte. Ihre Großmutter war wohlhabend gewesen – so viel wusste sie –, und sie hatte bis zu ihrem Tod so fest auf ihrem Reichtum gesessen wie nur irgend möglich. Doch dieser Stein war möglicherweise etwas, wovon ihre Großmutter gar nichts gewusst hatte. Oder hatte sie im Gegenteil vielleicht ihr Leben lang danach gesucht? Hatte ihre Großmutter überhaupt gewusst, dass sie adoptiert war?
»Miss, näher kann ich Sie nicht bringen«, sagte der Fahrer.
Georgia blickte auf. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und bemerkte jetzt, dass sie beinahe an ihrem Büro angekommen waren. Als ihr Handy wieder zu vibrieren begann, schloss sie schnell das Kästchen, nahm ihre Tasche, bezahlte den Fahrer und nickte ihm dankend zu, während sie den Anruf annahm.
»Sam, ich bin da. Ich hatte dir …«
Sie legte die Hand auf ihre Tasche, in Gedanken noch immer bei dem Stein, den sie gefunden hatte, während ihre beste Freundin und Geschäftspartnerin ihr vor Aufregung geradezu quietschend berichtete, dass sie in einer Stunde zu einem abschließenden Meeting geladen waren, um den Verkauf ihres Unternehmens zu besprechen. Georgia überquerte die Straße und eilte auf das Gebäude zu, in dem sich ihre Geschäftsräume befanden, und beschloss, ihnen beiden einen sehr starken Kaffee aus dem Café im Erdgeschoss mitzubringen, obwohl Sam darauf bestanden hatte, dass sie direkt nach oben gehen sollte.
Trotz Georgias Aufregung darüber, was sie gerade dabei waren zu erreichen, drehten sich ihre Gedanken ausnahmsweise nicht um ihren Job, als sie auf ihre Espressos wartete. Nach all den Jahren, in denen sie sich mehr Erinnerungen an ihre Familie gewünscht hatte, mehr hatte erfahren wollen über die liebevollen Eltern, um die zu trauern sie niemals aufgehört hatte, hatte sie jetzt endlich etwas in die Hand bekommen.
Sie wünschte nur, dass dieses eine Erinnerungsstück nicht ausgerechnet dem Familienmitglied gehören würde, das sie am liebsten vergessen hätte.
Georgia ging durch einen Saal des Auktionshauses Christie’s und bewunderte den ausgestellten Schmuck. Sie drückte Sams Schulter, als sie an einer Kette vorbeikamen, von der die Diamanten förmlich tropften, so groß, dass man fast nicht glauben konnte, dass sie echt waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, wer so etwas kaufte, um es zu tragen; vielleicht wanderten die Schmuckstücke auch direkt in irgendwelche Safes, als Geldanlage, nie dafür gedacht, getragen zu werden.
»Als du gesagt hast, dass wir uns mal was Nettes gönnen sollten, habe ich definitiv nicht an so was gedacht«, flüsterte Sam.
Sie steckten die Köpfe zusammen und lachten, bevor sie zu einem Arrangement aus Designerhandtaschen weitergingen. Nach Jahren, in denen sie kaum etwas anderes getan hatte, als zu arbeiten, hatte Georgia kürzlich beschlossen, dass es an der Zeit für einen Luxuskauf war, und es war nicht schwer gewesen, Sam davon zu überzeugen, sie zu begleiten. »Weißt du, als wir damals auf dem Dachboden meiner Eltern angefangen haben, hätte ich mir nie vorstellen können, dass wir mal hier enden würden«, sagte Sam mit einem Seufzer, während sie auf eine knallrosa Birkin Bag aus Schlangenleder zeigte. »Ich bin noch immer nicht bereit, mich von so viel Geld zu trennen, aber allein die Tatsache, dass wir hier sind und uns umsehen, dass wir etwas kaufen könnten, wenn wir wollten …«
Georgia hakte sich bei Sam unter und dachte an ihre Anfangsjahre zurück, erinnerte sich an das Feuer, das in ihr gebrannt hatte, das dafür gesorgt hatte, dass sie sich nicht von der Tragödie, die ihr Leben ruiniert hatte, hatte behindern lassen. Das Feuer brannte immer noch in ihr, aber jetzt ging es ihr eher darum, sich selbst zu beweisen, dass sie alles erreichen konnte, was sie sich in den Kopf setzte.
»Ich weiß genau, was du meinst. Ich komme mir vor, als hätte ich jahrelang nur Schaufenster angesehen und könnte jetzt plötzlich in den Laden gehen. Es ist wirklich kaum zu fassen.« Genauso, wie sie nicht fassen konnte, dass sie keine Arbeit mehr übers Wochenende mit nach Hause nehmen mussten, wenn sie doch bis vor Kurzem noch jeden wachen Moment vor ihrem Laptop verbracht hatten.
Sie schlenderten weiter, ohne lange stehen zu bleiben, bis Sam an einem Armband von Cartier vorbeikam, das ihr ins Auge gefallen war. »Ich glaube, das ist der Grund, weshalb ich hergekommen bin«, verkündete sie und winkte eine der Angestellten heran. »Ist es nicht toll?«
Georgia nickte, aber es war nicht länger das rotgoldene Armband mit den Diamanten, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. In einem Glaskasten ein paar Schritte weiter war ein Paar Ohrringe ausgestellt, jeder ein einziger großer Edelstein, gefasst in einen Kreis aus Diamanten und kleineren rosa Steinen in demselben Ton, und Georgia konnte den Blick gar nicht davon abwenden. Wenn das Licht darauf fiel, wurde das Rosa beinahe zu Violett, eine Farbe, die sie bisher nur ein einziges Mal gesehen hatte. Sie ging um den Schaukasten herum, um die Stücke näher zu betrachten.
»Georgia?«, rief Sam. »Was meinst du?«
Georgia blickte auf und ging zu Sam hinüber, um sich das Armband an ihrem Handgelenk anzusehen, das sie ihr entgegenstreckte. »Es ist wunderschön. Ich finde, du solltest definitiv darauf bieten.«
»Was hast du dort drüben entdeckt?«, wollte Sam wissen und nickte der Angestellten zu, ihr das Armband wieder abzunehmen. Man musste es mit einem kleinen Schraubenzieher öffnen, und Georgia kam der Gedanke, wie gefangen sie sich fühlen würde, falls sie so ein Schmuckstück nicht einfach abnehmen konnte, wenn ihr danach war. »Nur so eine Theorie, aber ich könnte mir denken, dass die Sachen in den abgeschlossenen, mit Alarmanlagen gesicherten Glaskästen unser Budget überschreiten könnten.«
Sie lachten, bevor die Frau, die ihnen behilflich gewesen war, sich räusperte.
»Sprechen Sie von den rosafarbenen Ohrringen?«, fragte sie.
»Ja. Sie sind umwerfend, nicht wahr? Die Farbe hat im Vorbeigehen meine Aufmerksamkeit erregt, aber ich habe sofort gesehen, dass sie ganz sicher eine Nummer zu teuer sind.« Und selbst wenn sie das Geld gehabt hätte, entsprachen sie überhaupt nicht ihrem Stil. Georgia trug ein Paar kleiner Solitäre, die ihrer Mutter gehört hatten, als Ohrstecker, und eine Smartwatch am Handgelenk – ihr Stil war eher praktisch als extravagant.
»Die Steine sind rosa Turmaline, und in dieser Größe sind sie einmalig«, erklärte die Angestellte, während sie das Armband, das Sam anprobiert hatte, an seinen Platz zurücklegte. Dann ging sie zu der Vitrine.
Georgia folgte ihr und bewunderte erneut die Ohrringe. Offensichtlich wollte die Frau ihnen etwas darüber erzählen, obwohl Georgia klargestellt hatte, dass sie sie nicht kaufen würde.
»Sie gehörten den italienischen Monarchen und waren seit Ende des 19. Jahrhunderts im Besitz des Königshauses. Sie wurden tatsächlich noch kurz vor der Abdankung des Königs von der Königin getragen. Als sie ins Exil gingen, gab es Gerüchte, dass ein paar Stücke diskret an wohlhabende Sammler in der Schweiz und in London verkauft worden seien, unter der strengen Auflage, dass sie mindestens ein halbes Jahrhundert lang nicht ausgestellt werden durften.«
Die Frau ging um die Vitrine herum und beugte sich nach vorn. Georgia tat es ihr gleich.
»Viele Menschen, die sich an den Schmuck der Familie erinnern, hätten erwartet, dass es sich um Saphire handelt, passend zu dem berühmten italienischen Diadem aus rosafarbenen Saphiren, das seit der Abdankung nicht mehr gesehen wurde, aber die Stücke wurden zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Steinen gefertigt. Dennoch gelten sie alle als besonders wertvolle Stücke aus der Sammlung des Monarchen.«
»Also mussten diese Leute, die Sammler, die den Schmuck gekauft haben, den Schmuck all diese Jahre verstecken? Nachdem sie eine, wie ich mir nur vorstellen kann, unfassbare Summe dafür bezahlt hatten?«, fragte Georgia und versuchte sich auszumalen, wie es sein mochte, etwas so Atemberaubendes zu besitzen und es dann so lange verstecken zu müssen.
»So ist es«, bestätigte die Angestellte. »Diese Ohrringe werden bei unserer nächsten Auktion zum allerersten Mal auf dem freien Markt angeboten, und es wird mit Spannung erwartet, ob sich noch andere Sammler melden, wenn sie sie im Katalog entdecken. Damit könnte endlich die Frage geklärt werden, wie viele Stücke sich noch in den Händen privater Sammler befinden. Vielleicht lässt sich ja die italienische Königsfamilie selbst von dem Interesse beeindrucken und entschließt sich, weitere Stücke zum Kauf anzubieten.«
»Wow, ich verstehe, wieso die dich so fasziniert haben«, sagte Sam, die über Georgias Schulter blickte. »Es muss den Familienmitgliedern das Herz gebrochen haben, sich von solchen Stücken zu trennen.«
»Wir wissen, dass sie den Großteil ihrer Sammlung behalten haben, anders als andere europäische Monarchen, die alles verkauften, als sie ins Exil gingen. Aber das, was sie verkauft haben, war wohl schon damals ein kleines Vermögen wert.«
Georgia lächelte, während die Angestellte sich entschuldigte, um sich einem anderen Kunden zuzuwenden, und riss den Blick von den Ohrringen los.
»Hast du was gefunden, worauf du bieten möchtest?«, fragte Sam, als sie weggingen. »Ich glaube nicht, dass ich ohne das Armband weiterleben kann.«
»Nein«, antwortete Georgia mit einem Seufzen, als sie sich bei ihrer Freundin unterhakte. »Es ist nur …« Ihre Stimme verlor sich.
Sam blieb stehen und stöhnte. »Wolltest du das Armband haben? Hast du dir das auch ausgesucht? Es war ja klar, dass wir beide …«
»Nein, nein, es geht nicht um das Armband. Es sah toll an dir aus, Sam. Wirklich.«
Sam zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Diese Ohrringe, sie …« Georgia fragte sich, ob sie vielleicht gerade durchdrehte, aber wenn sie es überhaupt jemandem erzählen wollte, dann Sam. »Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem wir mitten in den Verhandlungen über den Verkauf der Firma waren und ich zu einem Termin in einer Anwaltskanzlei musste? Du hast mich ständig angerufen, weil alles so aufregend war. Die Käufer hatten uns zu einer abschließenden Sitzung gebeten, und ich war nicht da.«
»Der Termin zum Nachlass deiner Großmutter oder so was?«, fragte Sam, als sie weitergingen. »Natürlich erinnere ich mich an den Tag. Verrückt, wenn man überlegt, wie lange es danach noch gedauert hat, die Verhandlungen abzuschließen und den Verkauf durchzuziehen.«
»Damals waren wir so beschäftigt, dass wir das Büro kaum noch zum Schlafen verlassen haben. Seitdem habe ich kaum daran gedacht, um ehrlich zu sein, es ist in der Zwischenzeit so viel passiert. Bis ich gerade diese Ohrringe gesehen habe …«
Sam drückte ihren Arm. Sie war der einzige Mensch, der die Wahrheit über Georgias Familie kannte, was bedeutete, dass sie nicht zu erklären brauchte, warum alles, was mit ihrer Großmutter zu tun hatte, für sie traumatisch war. Sam war dabei gewesen, als Georgia erfuhr, dass ihre Großmutter sie nicht abholen würde. Der Familienanwalt hatte Georgia über ihre Lage aufgeklärt, eine Minderjährige ohne einen nahen Angehörigen, der als Vormund für sie agieren konnte. Georgia würde nie vergessen, wie beschützend Sam gewesen war, wie lautstark sie darauf bestanden hatte, dass sie bei ihnen wohnen könne und dass Georgia niemals allein sein werde.
»Ich glaube, ich erkenne den Zusammenhang nicht«, sagte Sam, als Georgia nicht weitersprach. »Was hat der Termin mit diesen Ohrringen zu tun?«
»Der Anwalt hat mir damals eine kleine Schachtel ausgehändigt, die für meine Großmutter bestimmt war. Darin lag ein Edelstein, der genau dieselbe Farbe hatte wie diese Turmaline.«
»Dieselbe wie diese Ohrringe?«, fragte Sam.
»Genau dieselbe wie diese Ohrringe. Ich meine, ich habe das Kästchen in meine Nachttischschublade gelegt und gar nicht mehr hervorgeholt, also könnte ich mich irren, aber …«
»Warum hast du mir damals nichts davon erzählt?«, fragte Sam. »War sonst noch was in dem Kästchen?«
»Ein Ausschnitt aus einer Zeitung, den ich aber nicht lesen konnte, muss Italienisch oder vielleicht Französisch gewesen sein.«
Sam trat Georgia in den Weg. »Nur mal kurz, damit ich das richtig verstehe: Du hast eine mysteriöse kleine Schachtel bekommen mit einem rosa Edelstein darin und einem Zeitungsausschnitt, und du hast bis jetzt nicht daran gedacht, mir davon zu erzählen? Du hast tatsächlich seitdem keinen Gedanken mehr daran verschwendet?«
Georgia zuckte die Achseln. »Das habe ich wirklich nicht, ich hab’s einfach vergessen. Obwohl, wenn du’s so sagst …«
»Okay, ich trage mich jetzt schnell in die Bieterliste ein, dann gehen wir was trinken, und du kannst mir alles erzählen, was damals bei diesem Termin passiert ist. Ich fass es nicht, wie du das so lange für dich behalten konntest.«
Georgia wusste, was gut für sie war, und widersprach nicht. Seit sie als Fünfzehnjährige bei Sams Familie eingezogen war, nachdem ihre Welt zusammengebrochen und sie zur Waise geworden war, waren sie wie Schwestern gewesen, und wenn Sam etwas wollte, machte sie vor nichts halt, bis sie es bekam. Auch wenn das bedeutete, dass Georgia ihr all ihre Geheimnisse erzählen musste.
»Aber bevor wir gehen, kannst du dir bitte einfach was aussuchen, was dir gefällt? Ich kann nicht als Einzige bieten.«
Georgia nickte und führte Sam zurück zu den Handtaschen, da sie beschlossen hatte, dass sie, wenn sie schon keinen Schmuck wollte, zumindest versuchen würde, eine Vintage-Designertasche zu finden, die mit der Zeit vielleicht sogar im Wert steigen würde.
Am Abend stand Georgia vor ihrem Badezimmerspiegel, trug Nachtcreme auf ihr Gesicht auf und betrachtete ihr Spiegelbild. Wenn sie über ihre Familie sprach, sogar mit Sam, wühlte das so viele Erinnerungen auf, die sie ihr Leben lang versucht hatte zu vergessen. Normalerweise war sie immer viel zu beschäftigt, immer in Bewegung, und hatte immer genug zu tun, um die Vergangenheit zu verdrängen oder ihre Gefühle zu dem, was geschehen war. Doch in Momenten wie diesen, wenn sie durchatmen konnte, kam alles wieder an die Oberfläche. Als sie sich jetzt so im Spiegel betrachtete, erkannte sie die Augen ihrer Mutter, die zu ihr zurückblickten, und das Grübchen auf der linken Seite ihrer Wange hatte sie mit ihrem Vater gemeinsam. Sie strich sich mit den Fingern über die Wange und fragte sich, ob das, was ihr vor Augen stand, wenn sie versuchte, sich an ihn zu erinnern, eine echte Erinnerung war oder das Abbild eines Fotos in ihrem Gedächtnis.
Sie schlenderte vom Badezimmer ins Schlafzimmer, ging vor dem Nachttisch in die Hocke und zog die Schublade auf, dann tastete sie ganz nach hinten, wo sie vor so langer Zeit das kleine Kästchen verstaut hatte. Ihre Finger fanden es, sie nahm es heraus, schloss die Schublade und setzte sich aufs Bett. Sie zog sich die Decke über die Beine und machte es sich in den Kissen bequem, dann öffnete sie die Schachtel. Ihr stockte der Atem, als sie den rosafarbenen Stein auf dem Zeitungsausschnitt liegen sah.
Er war exquisit; mindestens so atemberaubend wie die Ohrringe vorhin, und sie fragte sich, was für ein Stein es wohl sein mochte – ein Turmalin, ein Saphir oder vielleicht sogar ein Diamant? Es war ganz sicher nicht mangelnde Leuchtkraft, die sie dazu bewogen hatte, den rosafarbenen Stein und die kleine Schachtel in ihrer Nachttischschublade zu verstecken, und ebenso wenig mangelndes Interesse oder weil das kleine Schatzkästlein sie nicht genügend beeindruckt hatte. Manchmal war es schlichtweg einfacher, Gefühle zu begraben, als sich mit ihnen auseinanderzusetzen, vor allem, wenn es um Erinnerungen an ihre Familie ging.
Georgia legte das Kästchen neben sich und beugte sich über die Bettkante, um unter dem Bett nach ihrer Harry-Potter-Tasche zu suchen, die sie stets dort aufbewahrte. Die Tasche stammte von einer Studiotour, die sie mit ihren Eltern gemacht hatte, ein Jahr bevor sie gestorben waren. Als Teenager, als sie sich mit Sam ein Zimmer teilte, hatte sie sie unter ihrem Bett verstaut und oft nachts danach gegriffen, weil sie die Rückversicherung der Vergangenheit brauchte, und jetzt, als Frau von dreißig Jahren in ihrer eigenen Wohnung, hatte sie sie noch immer dort liegen.
Georgia war überzeugt, dass die Jacke ihres Vaters nach all diesen Jahren noch immer nach ihm roch, und so nahm sie sie jetzt heraus, sog den Duft ein und drückte sie sich an die Brust, als könnte sie ihren Vater heraufbeschwören, nur indem sie die Jacke hielt. Sie nahm immer alles in derselben Reihenfolge heraus, als Nächstes kam ein weicher Kaschmirschal, den ihre Mutter im Winter immer getragen hatte, dann Fotos, ihr alter Teddybär und schließlich ein Brief. Der Brief lag immer ganz unten, und jedes Mal, wenn sie ihn las, wollte sie ihn am liebsten in kleine Stückchen zerreißen; aber irgendwie packte sie ihn immer wieder mit allem anderen zurück in die Tasche.
Dieser Brief von vor so langer Zeit hatte ein Feuer in ihrem Herzen entfacht; er hatte ihr den Willen eingeflößt, mit gerade mal zwanzig Jahren gemeinsam mit Sam eine Firma zu gründen, hatte ihren Wunsch getrieben, wieder aufzubauen, was sie verloren hatte, sich ein Zuhause und ein Leben zu erschaffen, das ihr niemand mehr nehmen konnte. Obwohl das einzige Familienmitglied, das sie hätte aufnehmen können, sie nicht gewollt hatte, hatte sie es geschafft, sich ein erfülltes Leben aufzubauen.
Ihr Blick wanderte langsam über die Worte, obwohl sie sie auswendig hätte hersagen können, so oft hatte sie sie bereits gelesen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich glaube nicht, dass es in Georgias Interesse wäre, bei mir zu wohnen, obwohl ich ihre leibliche Großmutter bin, und ich möchte hiermit mitteilen, dass ich keinen Anspruch auf die Vormundschaft erheben werde. Ihr Vater und ich hatten keinen Kontakt mehr, seit er beschloss zu heiraten, obwohl ich damals mehr als deutlich gemacht habe, dass ich mit seiner Wahl nicht einverstanden war. Daher habe ich ihn wie angekündigt aus meinem Testament gestrichen und ihn enterbt, und trotz der unglücklichen Umstände werde ich meine Haltung nicht ändern, und daher muss das Kind auch anderweitig untergebracht werden oder eine Familie gefunden werden, die es aufnimmt. Allerdings bin ich bereit, ihre Ausbildung zu bezahlen, sollte es notwendig sein; diese Unterstützung muss über meinen Anwalt beantragt werden. Eine gute Ausbildung ist der Schlüssel für den Erfolg eines jeden jungen Menschen, und ich kann nur hoffen, dass sie das Beste aus ihrem Leben macht, trotz der Schwierigkeiten, die sie jetzt überwinden muss.
Ich wünsche Georgia alles Gute, auch wenn ich darum bitten möchte, dass kein weiterer Kontakt mit mir direkt aufgenommen wird.
Cara Montano
Als kleines Kind hatte Georgia jedes Jahr ein kleines Geschenk von ihrer entfremdeten Großmutter erhalten und immer gedacht, dass es ihr Vater gewesen war, der sie aus ihrem Leben fernhielt. Es war nie ein Geschenk, das sie sich gewünscht hätte, denn ihre Großmutter schickte jedes Jahr fünfundzwanzig Pfund in Aktien, aber es war immerhin etwas. All diese Jahre hatte sie sich das Bild einer herzlichen weißhaarigen Frau ausgemalt, die nach der Schule oder am Wochenende mit ihr Eis essen oder ins Kino gehen würde, die alles über ihre einzige Enkelin wissen wollte, wenn Georgias Vater sie nur an ihrem Leben hätte teilhaben lassen.
Doch diese Illusion war schnell zerbrochen, nachdem ihre Eltern kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, sie zur Waise geworden war und ihre ferne Großmutter die einzige Verwandte gewesen war, an die sie sich wenden konnte. Als der Brief kam, erfuhr sie, dass die Großmutter, die sie sich immer ausgemalt hatte, nicht weiter von der Wahrheit hätte entfernt sein können. Ihr Vater hatte nie schlecht über seine Mutter gesprochen, aber Georgia war in dem Wissen aufgewachsen, dass ihre Großmutter nicht mit ihrer Mutter einverstanden war. Seine Familie habe sich gewünscht, er hätte jemanden aus einer prominenteren Familie geheiratet, hieß es; sie sei entsetzt darüber gewesen, dass ihre Mutter ihr Studium abgebrochen hatte – schwanger –, und noch entsetzter, als ihr Vater ihr einen Antrag machte. Doch nach allem, was Georgia aus dem Nachlass ihrer Mutter ersehen konnte, war sie diejenige gewesen, die ihre Großmutter davon abgehalten hatte, Georgia zu sehen. Sie hatte ihre Schwiegermutter vor die Entscheidung gestellt, sie entweder als vollwertiges Familienmitglied zu akzeptieren oder sich ganz von ihnen fernzuhalten, und so hatte sich Georgias Großmutter wohl für Letzteres entschieden.
Georgia blinzelte die Tränen weg, Tränen, die jedes Mal flossen, wenn sie den Brief las, wie sehr sie auch versuchte, sie zurückzuhalten. Dann faltete sie das Papier wieder so zusammen, wie sie es gefunden hatte, und atmete tief durch. Sie wollte ihn schon in die Tasche zurückstecken, als sie es sich noch einmal anders überlegte.
Ursprünglich hatte sie den Brief behalten, um ihrer Großmutter später einmal zu beweisen, wie falsch sie gelegen hatte; um ihr zu beweisen, dass sie auch ohne sie erfolgreich geworden war: ohne ihre Liebe, ohne ihr Mitgefühl, und ganz sicher ohne ihr Geld. Sie hatte eine Firma gegründet, die von einem der weltweit größten Kosmetikunternehmen aufgekauft worden war, aber nicht einmal dies genügte offenbar. Jetzt weiß ich, wie du dich gefühlt hast, Dad. Nichts, was du getan hast, konnte jemals ihren Erwartungen gerecht werden, oder deinen eigenen. Ihre Großmutter war vor ein paar Jahren gestorben, was Georgia erst durch eine E-Mail eines Anwalts erfahren hatte, aber irgendwie besaß sie noch immer die Macht, sie zu verletzen.
Georgia zerknüllte das Papier und warf es auf den Boden, nicht sicher, ob sie es am Morgen zurücklegen oder in den Müll werfen würde. Sie nahm den Schal, ihren Teddy und dann die Jacke ein letztes Mal in die Hand, bevor sie alles vorsichtig zurück in die Tasche legte und ihre Aufmerksamkeit wieder dem Stein zuwandte.
Morgen würde sie ihn zum Auktionshaus mitnehmen und sehen, ob sie ihn schätzen lassen und zum Verkauf anbieten lassen konnte. Ihre Großmutter hatte sie nicht gewollt, also wollte sie den Edelstein auch nicht, so einfach war das. Außerdem würde sie sich jemanden suchen, der ihr den Zeitungsausschnitt übersetzte, nur für den Fall, dass er wichtige Informationen über ihre Familie enthielt, die mit ihrem Vater zu tun hatten, und anschließend würde sie alles, was damit zu tun hatte, getrost vergessen, inklusive der Abstammung ihrer Großmutter.
Georgia legte alles wieder in die Schachtel zurück, stellte sie auf ihren Nachttisch, schaltete das Licht aus und kuschelte sich unter die Decke.
Es war die richtige Entscheidung, den Stein loszuwerden, genauso wie es richtig war, nach all den Jahren den Brief endlich loszuwerden. Den ganzen Tag war sie ein wenig melancholisch gewesen, hatte an die Großmutter gedacht, die sie niemals kennengelernt hatte, und es war sicher am besten für sie, sich von allem zu trennen, was sie traurig machte oder dafür sorgte, dass sie sich wertlos fühlte. Sie hatte zu hart daran gearbeitet, mit der Vergangenheit abzuschließen, um sich jetzt wieder von ihr einholen zu lassen.
Georgia lachte leise in sich hinein, als sie die Augen schloss. Wahrscheinlich handelte es sich sowieso nur um eine wertlose Fälschung, ganz im Gegensatz zu den Turmalinen im Auktionshaus, an denen sie sich gar nicht hatte sattsehen können. Nach einem verbitterten Leben in materiellem Reichtum wäre es doch zu ironisch, wenn ihrer Großmutter ausgerechnet ein wertvoller Edelstein hinterlassen worden wäre, auf den ihre Enkelin nun Anspruch erheben könnte, oder?
Delphine war überrascht, Giovanni, ihren Mann, mit den Kindern am Frühstückstisch zu sehen, als sie herunterkam. Sie frühstückte oft im Bett, aber heute wollte sie sich zu den Kindern setzen, bevor sie zur Schule gingen. Ihr Mann war fast zwei Wochen lang weg gewesen, und obwohl es sie noch immer erstaunte, dass er so lange einfach verschwinden konnte, gewöhnte sie sich allmählich daran.
»Guten Morgen«, sagte sie und küsste im Vorbeigehen erst ihren Sohn Tommaso auf die Stirn, dann ihre Tochter Isabella. Sie sah ihren Mann an, der ihr mit einem höflichen Lächeln über die Zeitung hinweg zunickte. »Wie schön, dich wiederzuhaben, Giovanni. Bist du gestern Abend spät nach Hause gekommen?«
»Ja, ziemlich spät«, antwortete er, ohne noch einmal aufzublicken.
Früher in ihrer Ehe, als die Familie noch nur aus ihnen beiden bestand, hätte sie ihm in solchen Momenten am liebsten die Zeitung aus der Hand genommen und sie ihm über den Kopf gehauen, verzweifelt bemüht, mehr aus ihm herauszubekommen als nur ein Nicken. Sie wollte, dass er sie ansah, mit ihr sprach, den Tag mit einer lebendigen Unterhaltung begann, mit etwas, worauf sie sich jeden Morgen freuen konnte. Wenn er zum Abendessen nach Hause kam, war es auch nicht viel besser gewesen – er hatte ihr einen Kuss auf die Wange gegeben oder manchmal auch auf die Stirn, so, wie sie jetzt ihre Kinder begrüßte, und dann hatten sie in einer Stille zu Abend gegessen, die sie nicht gerade als gesellig beschreiben würde.
Nachdem sie die Hoffnung aufgegeben hatte, dass er sie jemals lieben würde, hatte Delphine sich gefragt, ob nicht jede Reaktion besser wäre als diese Gleichgültigkeit. Einmal hatte sie sich vorgestellt, ihm die Kaffeetasse an den Kopf zu werfen, um zu sehen, ob er wenigstens zu Wut fähig war, wenn schon nicht zu Liebe. Aber natürlich hatte sie sich nicht so kindisch aufgeführt. Oder dumm. Es war ihr schmerzhaft bewusst, dass es Männer gab, die ihren Frauen blaue Flecken beibrachten. Aber sie wusste auch, dass viel mehr Ehemänner ihre Frauen auf eine Weise liebten, an der ihrer einfach nicht interessiert war. Er war nicht mehr zu ihr ins Schlafzimmer gekommen, seit sie Isabella, ihr jüngstes Kind, empfangen hatte, und sie hatte längst die Hoffnung aufgegeben, dass er es jemals wieder tun würde.
»Wie geht es heute Morgen allerseits?«, fragte Delphine strahlend, setzte sich und sah zuerst Tommaso an, der ihr gegenübersaß.
Sein fast schwarzes Haar war noch feucht, es lockte sich leicht hinter den Ohren. Er trug es aus dem Gesicht gebürstet und sah seinem Vater sehr ähnlich, obwohl er vom Temperament her ganz anders war. Ihr lieber, sensibler Junge.
»Mir geht’s gut, Mama«, sagte er mit einem Lächeln.
Sie nickte und wandte sich an ihre Tochter, die Brot mit Milch aß wie ihr Bruder. Es regte ihren Mann regelmäßig auf, dass die Kinder noch immer etwas aßen, das er mal für Kinderkost, mal für Bauernfraß hielt, aber ihrer Meinung nach durften sie essen, was sie glücklich machte.
»Isabella?«, fragte sie.
»Ich mag nicht in die Schule gehen«, sagte ihre Tochter, aber mit einem so niedlichen Lächeln, dass Delphine sie unmöglich dafür ausschimpfen konnte.
»Bald kommst du sowieso in eine neue Schule«, verkündete Giovanni, faltete seine Zeitung zusammen und lächelte sie alle an.
Delphines Blut gefror in ihren Adern. So lange hatte sie verzweifelt darauf gewartet, dass er mit ihnen sprach, und jetzt, wo er es endlich tat, wünschte sie sich, er würde schweigen.
»Gio«, sagte sie mit einem angespannten, erzwungenen Lächeln. »Sollten wir das nicht erst einmal unter uns besprechen?« Warum wollte er sie die Schule wechseln lassen? Beide Kinder waren eingewöhnt und zufrieden.