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Ein tragisches Familiengeheimnis, eine malerische griechische Insel – und die große Liebe. Soraya Lane verführt auch mit ihrem dritten Familiengeheimnis-Roman zum Träumen, wenn sich die 30-jährige Ella aus London auf Spurensuche nach Griechenland begibt. Schon lange hat Ella das Gefühl, dass in ihrem Leben etwas fehlt. Es erscheint ihr wie ein Zeichen, als sie von einem ehemaligen Londoner Frauenhaus eine mysteriöse Schachtel überreicht bekommt, auf der der Name ihrer verstorbenen Großmutter steht. Die Schachtel enthält lediglich ein verblichenes Foto aus Griechenland und ein altes Notenblatt. Ella nimmt sich spontan eine Auszeit, um dem Rätsel auf den Grund zu gehen. Bei ihren Recherchen zu dem Notenblatt lernt sie den charmanten Pianisten Gabriel kennen, der das Lied darauf erkennt. Das Foto wiederum führt Ella auf eine kleine griechische Insel. In einem malerisch gelegenen Häuschen am türkisblauen Meer entdeckt sie nicht nur ihre lange vernachlässigte Kreativität wieder: Zusammen mit Gabriel kommt Ella ihrer tragischen Familiengeschichte auf die Spur und dem Geheimnis um eine verbotene Liebe. Kann das Erbe ihrer Großmutter Ella auch einen neuen Weg in die Zukunft weisen? »Die verheimlichte Tochter« ist der dritte Familiengeheimnis-Roman der ergreifenden Bestseller-Saga »Die verlorenen Töchter« von Soraya Lane. Jede der geheimnisvoll-atmosphärischen Liebesgeschichten entführt an einen Sehnsuchtsort und erzählt, wie eine von sieben jungen Frauen das Erbe ihrer Großmutter ergründet – perfekte Unterhaltung für Leser*innen von Lucinda Riley oder Katherine Webb. Die einzelnen Romane der Familiengsaga-Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden und sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Die verlorene Tochter - Die vermisste Tochter - Die verheimlichte Tochter
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Seitenzahl: 432
Soraya Lane
Roman
Aus dem Englischen von Sigrun Zühlke und Hannah Freiwald
Knaur eBooks
Schon lange hat die 30-jährige Ella das Gefühl, dass in ihrem Leben etwas fehlt. Als sie von einem ehemaligen Londoner Frauenhaus eine Schachtel überreicht bekommt, auf der der Name ihrer Großmutter steht, nimmt sie sich spontan eine Auszeit. Der rätselhafte Inhalt der Schachtel – ein altes Foto und ein Notenblatt – führt Ella nach Griechenland. In einem malerisch gelegenen Häuschen am türkisblauen Meer entdeckt sie nicht nur ihre lange vernachlässigte Kreativität wieder: Zusammen mit dem charmanten Pianisten Gabriel kommt Ella ihrer tragischen Familiengeschichte auf die Spur und dem Geheimnis um eine verbotene Liebe. Kann das Erbe ihrer Großmutter Ella auch einen neuen Weg in die Zukunft weisen?
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Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
Epilog
Liebe Leserinnen und Leser
Danksagung
Leseprobe »Die verlorene Tochter«
Für meine wunderbaren Leserinnen und Leser auf der ganzen Welt.Danke, dass ihr mit mir auf diese Reise geht!
Alexandra schloss die Augen und atmete flacher, als sie den Griff um ihre Violine verstärkte. Sie hob das Kinn, ging in Gedanken noch einmal alles durch und versuchte, nicht auf die tadellose Aufführung des Geigers vor ihr zu achten, sich nicht mit ihm zu vergleichen, während sie sich für ihren bevorstehenden Auftritt bereit machte.
Ich schaffe das nicht.
Angst stieg in ihr auf, und Schweißperlen traten ihr auf die Oberlippe, als ihr Herz heftig zu schlagen begann. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte sie daran, einfach ihre Sachen zusammenzupacken und wegzurennen, sich die schmerzhafte Erfahrung zu ersparen, die ihr bevorstand. Fand, dass sie eigentlich gar nicht hier sein sollte.
»Alex.«
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, sanft und beruhigend. Sie öffnete die Augen, wandte sich um und sah Bernard vor sich stehen. Sein volles Haar fiel ihm in die Stirn, und der Blick seiner sanften haselnussbraunen Augen beruhigte sie, als sie ihn ansah, den Mann, der all dies möglich gemacht hatte.
»Dies ist der Augenblick, der Welt zu zeigen, wer du wirklich bist«, flüsterte er, als er die Hände leicht auf ihren Rücken legte und sie näher an sich zog, woraufhin sie Violine und Bogen sinken ließ. »Du verdienst es, hier zu sein, Alex. Du verdienst alles, was dich hierhergebracht hat.«
Seine Lippen streiften ihre, und als er sich von ihr löste, drückte er seine Stirn leicht gegen ihre und streichelte vorsichtig über ihr Haar. Sein Atem auf ihrer Haut war warm, und als sie ihn so nah spürte, erinnerte sie sich wieder daran, wie weit sie gekommen war, an die Chance, die sie bekommen hatte, an das Geschenk, das er ihr gemacht hatte.
»Nach heute Abend wird nichts mehr sein wie zuvor«, murmelte er. »Heute ist dein großer Tag, mein Liebes.«
Sie sah zu ihm auf, als er einen Schritt zurücktrat, ihre Hand nahm, die den Bogen hielt, und sie sanft anhob, einen Kuss auf ihre Haut drückte und ihr in die Augen sah. Augen, deren Blick ihr sagte, dass sie nichts zu fürchten brauchte, dass er an sie glaubte.
»Danke«, flüsterte sie, schluckte die Angst in ihrer Kehle herunter und beschloss in diesem Moment, den Worten des Mannes, der sie liebte, Glauben zu schenken.
Dann wurde ihr Name aufgerufen, und während Bernard im Hintergrund verschwand, richtete Alexandra sich auf und betrat mit wenigen Schritten die Bühne. Ihre Absätze klackerten auf dem Bühnenboden, um sie herum wurde es still.
Bernard hatte recht. Es war an der Zeit, der Welt zu zeigen, wer sie wirklich war.
Ella drehte die Holzschachtel in der Hand, strich mit den Fingerspitzen über das Etikett und starrte auf den Namen ihrer Großmutter. Jetzt war es schon beinahe dunkel, und sie wusste noch immer nicht, was sich darin befand. Bevor sie die Schnur aufzog, hielt sie inne und dachte darüber nach, wie viele Jahre lang die Schachtel ungeöffnet geblieben war, zutiefst neugierig, was sie finden würde.
Ein Teil von ihr fragte sich, ob sie auf ihre Mutter oder ihre Tante hätte warten sollen, aber ein anderer Teil von ihr wusste ganz genau, dass sie es einfach keine Sekunde länger aushalten konnte.
Ella zog leicht an der Schnur, und Fasern stoben in die Luft, als der Knoten aufging. Vorsichtig legte sie das Etikett auf den Schreibtisch, bevor sie tief durchatmete und den Deckel von der kleinen Holzschachtel abhob. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber es lag nur ein Blatt Papier darin, das zu einem winzigen Quadrat gefaltet war. Sie nahm es so behutsam heraus, wie sie ein wertvolles Kunstwerk in ihrer Galerie anfassen würde, entfaltete es vorsichtig und ließ schnell den Blick darüber gleiten.
Es waren Noten, ein Musikstück, mit einer handgeschriebenen Notiz in der rechten, unteren Ecke versehen.
Ich weiß, du kannst es dir zu eigen machen.B.
B.? Sie las die Notiz noch einmal und dann noch einmal, doch sie sagte ihr genauso wenig wie die Noten selbst, und ihre Neugier wuchs. Ein weiterer Blick in die Schachtel offenbarte ihr, dass noch etwas darin lag. Mit dem Fingernagel löste sie es vorsichtig vom Boden, wo es teilweise festklebte. Ein Foto. Es war schwarz-weiß, wirkte aber sogar ohne Farbe lebendig und erinnerte sie an eine griechische Insel: die endlose Weite des Wassers, seitlich im Bild ein weiß gekalktes Haus, und in der Tür eine Frau mit einem Kind – einem Mädchen –, die in die Kamera blickte. Sie betrachtete die Gesichter, kniff die Augen zusammen und hielt sich die Fotografie näher vors Gesicht, um die beiden Menschen darauf zu erkennen oder zumindest etwas an ihrer äußeren Erscheinung zu finden, was ihr bekannt vorkam. Die Frau lächelte, lachte vielleicht gerade, und das Mädchen lehnte sich an sie, den Kopf an die Schulter der Frau gelegt, ihre Hände waren miteinander verschränkt. Vielleicht ihre Tochter?
Einen Moment lang richtete Ella ihr Augenmerk auf den Hintergrund, bevor sie das Foto schließlich weglegte und sich in ihren Computer einloggte.
Sie erkannte zwar die Menschen nicht, aber bei der Umgebung konnte es sich nur um Griechenland handeln.
Sobald sie die Onlinesuche begann, wurde sie mit Fotos von endlos blauem Wasser und pittoresken Häusern überflutet. Sie lehnte sich zurück, hielt das Foto noch einmal hoch und stellte es sich in Farbe vor, ohne den geringsten Zweifel, dass es sich um eine Insel irgendwo in Griechenland handeln musste. Bevor sie auf die Uni gegangen war, war sie einmal in den Sommerferien dort hingefahren, in jenem letzten Sommer, den sie mit ihrem Bruder verbracht hatte.
Ella ließ das Foto auf den Schreibtisch zurückfallen und stand auf, streckte sich und ging zu dem kleinen Kühlschrank hinter der Theke am Ende der Galerie hinüber. Kaum eine Stunde zuvor hatte sie mit einem Kunden eine Flasche Champagner geöffnet, um ihre neueste Erwerbung zu feiern, und obwohl sie da nur einen Schluck getrunken hatte, war sie jetzt bereit für ein weiteres Glas. Es war ein langer Tag gewesen, noch länger, weil sie gleich am Vormittag, als sie die Galerie nach ihrem Kanzleitermin betreten hatte, erst einen launischen Künstler hatte verhätscheln müssen, ganz zu schweigen von dem Kunden, der stets darauf bestand, dass ein Mordsaufhebens um ihn gemacht wurde, wenn er die Galerie betrat. Die Schachtel mit den Hinweisen war großartig geeignet, um sie nach diesem stressigen Tag auf andere Gedanken zu bringen. Nachdem sie sich nun ein Glas eingeschenkt hatte, setzte sich Ella wieder an ihren Schreibtisch und starrte auf das Notenblatt und das Foto.
Was sie erwartet hatte, wusste sie nicht, aber ganz sicher keine Erinnerungsstücke, mit denen sie so gar nichts anfangen konnte. Wenn es sich um einen Brief gehandelt hätte oder vielleicht ein Erbstück, vielleicht eine Geburtsurkunde mit Namen oder etwas, das erklärte, wonach oder nach wem sie suchen sollte, um mehr über die Vergangenheit ihrer Großmutter herauszufinden, hätte sie den Sinn der Holzschachtel eher verstanden. Aber sie bezweifelte, dass das hier überhaupt für irgendjemanden in ihrer Familie von Bedeutung sein könnte.
Außer für Harrison … Ihr Bruder hätte vielleicht das Musikstück verstanden, denn soweit sie wusste, war er der Einzige in ihrer Familie gewesen, der Noten lesen konnte. Für sie selbst hätte es genauso gut ein Text in einer Fremdsprache sein können, nichts weiter als ein sorgfältiges Arrangement von Zeichen auf einem Blatt Papier.
Ella trank aus, genoss das Kitzeln der Champagnerperlen in ihrer Kehle, legte dann die Hinweise in die Schachtel zurück, verschloss sie und steckte alles in ihre Tasche. Sie ließ das Glas auf dem Schreibtisch stehen und stand auf, knipste im Hinausgehen die Lichter aus, wobei ihre Absätze auf dem polierten Betonfußboden der Galerie klackerten. Sie liebte diese Abendstunden, wenn sie allein war, jedes Kunstwerk erleuchtet von seiner eigenen, sorgfältig positionierten Lampe, das Gebäude still, abgesehen vom Geräusch ihrer Schritte. Es erinnerte sie an früher, wenn sie als Erste zum Schwimmtraining gekommen war. Dieser Augenblick, wenn die Stille der perfekten, reglosen Wasseroberfläche glich, bevor jemand ins Becken sprang und sie aufwühlte.
An diesem Abend war es allerdings das Gemälde, das der Tür am nächsten hing, das sie innehalten ließ. Ella hob die Hand und berührte vorsichtig die Ränder der Leinwand, wobei ihr Blick auf das »Verkauft«-Etikett am Rand fiel, während sie die kühnen Pinselstriche und die satten Farben bewunderte. Die Künstlerin war neu in ihrer Galerie, sie hatte sie selbst entdeckt und erst vor ein paar Wochen der Ausstellung hinzugefügt. Und jetzt, da ihr erstes Gemälde schon ein paar Tage nach seinem Eintreffen verkauft war, hatte Ella das Fundament für die Karriere dieser jungen Frau gelegt, deren Name so bescheiden in der unteren Ecke stand.
Das erinnerte sie wieder an die hingekritzelten Worte, die sie vor ein paar Minuten gelesen hatte, und als sie das letzte Licht ausknipste und die Tür abschloss, fragte sie sich, ob sie jemals herausfinden würde, wer sich hinter diesem B. verbarg und wie genau das Notenblatt mit der Notiz in einer Schachtel gelandet war, die mit dem Namen ihrer Großmutter beschriftet war. Stand die Initiale für eine der Personen auf dem Foto, oder waren die Noten für eine von ihnen geschrieben worden, unterschrieben von einem Freund oder Verwandten? Und wie sollte sie sich ohne Hilfe von jemandem, der mehr Ahnung hatte, einen Reim auf diese Dinge machen, die man ihr ausgehändigt hatte? Was verband das Foto mit dem Notenblatt?
Sie seufzte, legte im Gehen die Handfläche auf ihre Tasche und spürte das Gewicht der Holzschachtel darin, bevor sie die Alarmanlage einschaltete. Vielleicht wusste ihre Tante ja etwas. In weniger als einer Stunde waren sie zum Abendessen verabredet, und sie konnte sich schon vorstellen, wie Kates Augen aufleuchten würden, wenn sie von der möglicherweise sogar skandalösen Vergangenheit ihrer eigenen Mutter erfuhr.
Ella lachte leise auf. Eines war sicher: Ihre Tante würde die genau entgegengesetzte Reaktion zu ihrer Mutter zeigen, und genau deshalb würde sie es ihr zuerst erzählen.
Ella trat durch die Tür des Restaurants »Barrafina« in Soho und entdeckte sofort ihre Tante, die bereits dort war und eifrig mit einem der Köche plauderte, während sie ihm und der Küchencrew von einem hohen Barhocker aus beim Kochen zusah.
»Kate«, sagte Ella, als ihre Tante aufstand, um sie zu umarmen. Kate umarmte wirklich – die Art von Umarmung, die der Person sagte, dass sie ihr wichtig war, anstelle der Luftküsse und des Rückentätschelns, woran Ella von allen anderen Leuten in ihrem Leben gewöhnt war. Dafür liebte sie ihre Tante nur noch mehr.
»Ella, du siehst so schön aus wie immer«, sagte Kate, als sie sich setzten. Ihr Blick glitt über das Gesicht ihrer Nichte, als wollte sie deren Anblick nach einer langen Zeit der Trennung erst einmal wieder ganz in sich aufnehmen. In Wirklichkeit war es nur ein paar Wochen her, dass sie sich zuletzt gesehen hatten. »Wie geht es dir? Hast du in der Galerie gut zu tun?«
»Die Galerie ist toll«, antwortete Ella mit einem Seufzer. »Toll, aber anstrengend. Es kommt mir vor, als ginge ein Tag nahtlos in den anderen über, aber ich kann mich nicht beklagen.«
»Malst du?« Kates Augenbrauen zogen sich auf beinah komische Art zusammen, so ernst war es ihr mit ihren Fragen.
Ella lachte. »Ist dir klar, dass du mich das jedes Mal fragst, wenn wir uns sehen, und dass meine Antwort immer dieselbe ist?«
Der Gesichtsausdruck ihrer Tante blieb auch derselbe. »Ich frage jedes Mal, weil ich hoffe, dass du mich eines Tages überraschst.«
Ella war dankbar, als der Kellner vorbeikam und sie nach ihren Getränkewünschen fragte. Sie bestellten beide Wein, aber aus Kates hochgezogenen Augenbrauen konnte sie schließen, dass das Thema noch nicht beendet war.
»Reicht es denn nicht, dass ich mich jeden Tag mit Kunst umgebe?«, fragte sie.
»Tut es das?« Kate seufzte. »Mir kommt es vor, als müsstest du dich selbst davon überzeugen.«
»Ich habe ein tolles Leben«, sagte Ella fest, wobei sie mit ihrer Handtasche spielte, die auf ihrem Schoß stand. »Ich liebe meine Arbeit, ich liebe mein Leben, nur …«
Ihre Getränke kamen, und Kate hielt ihr Glas hoch und wartete darauf, dass Ella mit ihr anstieß. »Ich freue mich, dass du dein Leben liebst, Darling.«
Sie tranken beide einen Schluck, bevor sie die Gläser abstellten.
»Aber?«, fragte Ella lachend. »Ich kann das unausgesprochene Aber hören! Komm schon, spuck’s aus.«
Kate grinste und hob wieder ihre perfekt gestylten Augenbrauen, wobei sie mit den Schultern zuckte, als wäre sie ertappt worden. »Aber ich kann die talentierte junge Künstlerin nicht vergessen, die sich den Wünschen ihrer Eltern widersetzen und ihren eigenen Weg gehen wollte.«
Ella trank noch einen Schluck Wein. »Das war vorher.«
Sie saßen eine lange Weile schweigend da, Kates Hand auf ihrer. »Ich weiß, Ella. Ich weiß.« Sie räusperte sich. Wie immer, wenn jemand von ihrem Bruder sprach oder darüber, wie sich alles verändert hatte, seit er gestorben war, wurde ihr schwer ums Herz. »Also, erzähl, was heute passiert ist. In der Anwaltskanzlei. Ich sitze hier schon seit einer halben Stunde, weil ich es nicht erwarten kann, dass du mir alles berichtest.«
Ella öffnete ihre Handtasche und lächelte ihre Tante an. »Du weißt, dass Mum meinte, ich sollte nicht hingehen, oder? Dass es reine Zeitverschwendung wäre?«
»Ich habe die Stimme deiner Mutter genau im Ohr«, spottete Kate. »Natürlich hat sie das gesagt. Aber Gott sei Dank hast du nicht auf sie gehört.«
Ella nahm die Holzschachtel heraus und gab sie Kate. »Ich habe diese Schachtel bekommen.«
»Eine Schachtel? Wofür? Ist etwas drin?«
Ella nickte und deutete darauf. »Mach sie auf.«
Kate sah sie wieder an, bevor sie zögernd den Deckel abhob, als würde sie etwas Schreckliches erwarten. Ella sah zu, als sie das Notenblatt hervorholte und es ausgiebig betrachtete, bevor sie es weglegte und die Fotografie herausnahm. Ihre Tante sah verwirrt aus.
»Was ist das alles? Warum hat man dir das gegeben? Ich bin mir nicht sicher, ob ich es verstehe.«
»Offenbar handelt es sich um Hinweise, von meiner Großmutter, deiner Mutter, glaube ich. Falls man dem Ganzen überhaupt Glauben schenken darf natürlich.«
»Hinweise, sagst du? Ich dachte, es handelte sich um etwas, was den Nachlass meiner Mutter betrifft. Aber das hier?« Kate schüttelte den Kopf. »Nun, das ist jedenfalls eine Überraschung.«
»Würdest du mir glauben, wenn ich dir sagte, dass deine Mutter in einem Heim für ledige Mütter geboren wurde?«
Da kam der Kellner, um ihre Bestellung aufzunehmen, und Ella sah sich schnell die Karte an, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Tante zuwandte. Kate schien von der Schachtel fasziniert zu sein, sie drehte sie immer noch in den Händen und konnte den Blick gar nicht abwenden. Ella wählte gewöhnlich für sie beide, wenn sie ausgingen, also wusste sie, dass es Kate nichts ausmachte, wenn sie eine Auswahl von Gerichten bestellte, die sie sich teilen würden.
»Erzähl mir alles, Ella. Ich will ganz genau wissen, was heute geschehen ist, und lass nichts aus.«
Sie beugte sich zu ihrer Tante vor und ließ ihre Fingerspitzen über das Foto gleiten.
Etwas daran, wie die Frau und das Mädchen in die Kamera blickten, erweckte wieder ihre Aufmerksamkeit, brachte sie erneut dazu, das Bild genauer zu betrachten.
»Ich war mir nicht sicher, was mich erwartete, als ich heute bei dem Termin in der Kanzlei ankam, aber ich war nicht die Einzige dort. Da waren noch andere Frauen, die meisten in meinem Alter, und wir wurden alle in einen Raum gebeten.«
»Und alle waren wegen ihrer Großmütter gekommen? Genau wie du?«
Ella nickte. »Wir waren alle aus demselben Grund da. Da war ein Anwalt, jener, der den Brief an Großmutters Erben geschickt hatte, und er sagte uns, dass er vor vielen Jahren eine Frau namens Hope vertreten habe. Offenbar führte sie ein Heim für ledige Mütter und deren Babys, und diese kleinen Schachteln wurden vor kurzer Zeit gefunden, und zwar von ihrer Nichte. Die erklärte uns, dass sie anfangs nicht sicher war, was sie damit anfangen sollte, weil die Schachteln schon so lange verborgen gewesen waren, aber da sie sie nun einmal gefunden hatte, würde sie sich unwohl fühlen, wenn sie nicht versuchte, die Frauen ausfindig zu machen, für die sie bestimmt waren.«
»Warte mal.« Kate nahm einen großen Schluck Wein, wobei sie die Hand hochhielt. »Willst du mir ernsthaft sagen, dass deine Großmutter, meine Mutter, in diesem Heim geboren und adoptiert wurde? Dass ich nicht biologisch mit meinen Großeltern verwandt bin? Und dass diese Schachtel für meine Mutter hinterlassen wurde? Dass sie die ganze Zeit versteckt war?«
Ella nickte wieder. »So scheint es zumindest. Sie waren unter den Fußbodendielen in Hope’s House versteckt und wurden nur entdeckt, weil das Haus abgerissen werden soll. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt gefunden wurden.«
Kate klappte der Unterkiefer herunter, und Ella zog eine Grimasse. »Also wusstest du gar nichts von einer Adoption?«
»Wusste es nicht?«, stieß Kate hervor. »Ella, das ist absurd! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Glaubst du, dass das alles wahr ist? Dass es sich nicht um eine Art, was weiß ich, eine Art Betrug handeln könnte? Und bitte sag nicht, dass ich mich wie deine Mutter anhöre … Aber könnte es nicht ein ausgeklügelter Schwindel sein, um uns in irgendetwas hineinzuziehen? Heutzutage geschieht so was doch häufig, oder?«
Ella bedeutete dem Kellner mit einer Handbewegung, dass sie mehr Wein brauchten, und lächelte, als er zur Antwort nickte. »Ehrlich gesagt habe ich mir schon genau dieselbe Frage gestellt, aber ich neige dazu, es zu glauben. Sie haben mich nur um meinen Ausweis gebeten und darum, den Erhalt der Schachtel zu quittieren. Die Nichte, Mia, schien aufrichtig zu sein. Sie wollte die Schachteln nur ihren rechtmäßigen Besitzern geben, und die Anwaltskanzlei war sehr beeindruckend. Und tatsächlich hatte ich durch die Galerie schon vorher geschäftlich mit einem der Anwälte zu tun, ich kann also nicht sehen, was hieran nicht rechtmäßig sein sollte.«
Kate hob die Schachtel noch einmal hoch und drehte sie in ihren Händen, als erwartete sie, noch etwas anderes zu finden, vielleicht ein verborgenes Fach. Auf dem Weg ins Restaurant hatte Ella dasselbe getan, beinahe überzeugt davon, dass es noch mehr geben musste als nur die beiden Dinge, die sie darin gefunden hatte. »Also war diese Schachtel jahrelang versteckt? Jahrzehntelang sogar? In diesem Haus? Und hat nur darauf gewartet, dass jemand sie entdeckt?«
»Hope’s House«, sagte Ella. »Und ja, es hört sich an, als hätte diese Hope den Müttern vorgeschlagen, etwas für ihre Kinder zurückzulassen, das ihnen eines Tages ausgehändigt werden könnte. Und sie hat die Namensschilder an den Schachteln angebracht. Ihre Nichte Mia wusste aber nicht, ob über die Jahre hinweg noch weitere Schachteln ausgehändigt wurden, wenn Frauen kamen und nach Antworten suchten. Oder ob ausgerechnet diese Schachteln vielleicht aus einem bestimmten Grund versteckt wurden oder ob sie nur deshalb noch da waren, weil diese Frauen nie erfahren haben, dass sie adoptiert wurden. Vielleicht wollte diese Hope sie ihnen auch geben, ist aber gestorben, bevor sie dazu gekommen ist? Ich nehme an, das werden wir niemals erfahren.«
»Meinst du, diese Hope hat sie um etwas für diese kleinen Schachteln gebeten, damit die adoptierten Kinder eines Tages ihre leiblichen Familien finden würden?«
Ella zuckte die Schultern. »Möglicherweise. Oder vielleicht nur, damit sie etwas bekamen, das ihren Müttern gehört hatte? Vielleicht ging es gar nicht darum, ihre leiblichen Mütter zu finden, sondern es sollte eher eine Art Erinnerungsstück sein? Ich weiß nur, dass Hope sich wohl gut überlegt hatte, was sie tat. Jede Schachtel hatte ein handgeschriebenes Namensschild und war mit einer Schnur zugebunden. Ich weiß nicht, aber es schien mir, dass jede mit viel Sorgfalt hergerichtet war. Es war schon beeindruckend, sie alle zusammen zu sehen.«
»Wie viele gab es?«
»Sieben«, sagte Ella. »Aber es waren nur sechs Frauen da. Sie haben wohl nicht geschafft, die Familie der siebten zu kontaktieren, oder falls doch, war sie jedenfalls nicht erschienen.«
Dann kam ihr Essen, und Ella legte das Foto sanft in die Schachtel zurück, wobei sie darauf achtete, das Notenblatt wieder auf seine beabsichtigte Größe zusammenzufalten, bevor sie die Schachtel wieder in ihre Handtasche steckte. Kates Hand schloss sich über ihrer, als sie den Reißverschluss der Tasche zugezogen hatte, und ihre Blicke trafen sich einen Moment lang.
»Deiner Grandma hätte das gut gefallen. Sie hätte diese kleinen Hinweise mit Freuden aufgegriffen und nicht eher geruht, bis sie herausgefunden hätte, was sie bedeuten. Ich kann das Funkeln in ihren Augen beinahe sehen.«
Ella lächelte, als sie an ihre Grandma dachte – sie war erst vor ein paar Monaten gestorben, und das war für sie alle nicht einfach gewesen. Doch am Ende war es leichter gewesen, sie sterben als sie leiden zu sehen. Ihr Krebs war so aggressiv gewesen, dass sie nach ihrer Diagnose nur noch Monate zu leben gehabt und schließlich im Beisein von Ellas Mutter ihren letzten Atemzug getan hatte.
»Du meinst also, wir sollten versuchen herauszufinden, was sie bedeuten? Du meinst, wir sollten es für sie tun?«, fragte Ella.
Kate nickte. »Das meine ich. Und ich meine außerdem, dass wir es im Augenblick für uns behalten sollten.«
»Mit anderen Worten, du möchtest nicht, dass meine Mutter uns entmutigt und damit unseren Nachforschungen vorzeitig ein Ende macht?«
»Ella, genau das meine ich. Du kennst mich einfach zu gut.«
Sie mussten beide lachen. Und du kennst meine Mutter nur zu gut. Ella hielt ihr Weinglas hoch, fühlte sich schuldig, dass sie Kates Gesellschaft derzeit so viel mehr genoss als die ihrer Mutter. Kate war für sie eher Freundin als Tante. »Darauf, herauszufinden, wer meine Urgroßeltern waren.«
»Darauf lass uns anstoßen«, sagte Kate, und sie stießen an, bevor sie ihre Aufmerksamkeit dem Essen zuwandten.
Ella hob die Gabel, um den Mönchsfisch zu probieren, zögerte dann aber, als Kate plötzlich ihr Besteck weglegte und sie ansah.
»Was, wenn diese Nichte von Hope mehr weiß, als sie zugibt? Vielleicht hat sie Akten, um die wir sie bitten könnten? Vielleicht gibt es noch mehr Hinweise?«
Ella dachte einen Augenblick nach. Mia hatte bei dem Termin am Morgen ganz und gar aufrichtig gewirkt, und wenn ihnen irgendjemand helfen konnte, die Hinweise zu verstehen, dann wäre sie es vielleicht. Aber hätte sie es nicht gleich gesagt, wenn es mehr zu erzählen gäbe?
»Du hast recht. Ich setze mich morgen früh mit dem Anwalt in Verbindung und bitte ihn, mich mit ihr in Kontakt zu bringen. Das ist wahrscheinlich einen Versuch wert.«
Kate stieß mit ihrer Schulter an Ellas. »Es ist ganz sicher einen Versuch wert.«
Ella legte sich etwas Oktopus auf den Teller, genoss jeden Bissen des köstlichen Essens. Doch in Gedanken war sie Millionen Meilen weit weg und überlegte, wie genau sie Mia dazu bringen konnte, ihr mehr über die mysteriöse Hope zu erzählen. Sie wollte mehr über Hope’s House wissen und darüber, wie eine einzige Frau den Schwangeren und ihren Babys hatte helfen können.
Ella saß im Bett, die Füße in das dicke Federbett gekuschelt, und lehnte sich in die Kissen zurück. Die Schachtel lag geöffnet auf ihrem Schoß, und das Notenblatt lag neben ihr, während sie auf das Foto starrte, als könnte sie auf magische Weise die Menschen besser erkennen, wenn sie nur scharf genug hinsah.
Aber wenn sie ehrlich war, war es die Landschaft, die sie anzog. Stell dir vor, wie es wäre, so etwas zu malen. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf, konnte sich beinahe vorstellen, wie sie zum Pinsel griff und diese Schönheit nachbildete, die so einzigartig griechisch war. Ihre Haut von der Hitze gerötet, die Finger mit Farbe bekleckst, während sie unter der strahlend goldenen Sonne arbeitete.
Wie würde sich das anfühlen? Es war Jahre her, seit sie das letzte Mal gemalt hatte. Am Tag, nachdem Harrison gestorben war, hatte sie ihre angefangenen Arbeiten weggepackt und ihre Staffelei auf dem Dachboden im Haus ihrer Eltern verstaut. Dieser Teil von ihr war zusammen mit ihrem Bruder gestorben, und obwohl sie sich manchmal auf eine Weise nach dem Malen sehnte, die sie kaum in Worte fassen konnte, war sie in ihrer Entscheidung nie ins Wanken geraten. Aber heute Abend, nachdem Kate wieder einmal nachgehakt hatte, fragte sie sich »Was wäre, wenn?«. Wäre es denn so schlimm, wenn sie diesen Teil von sich selbst wiederfände? Warum konnte sie nicht erfolgreich Karriere machen und gleichzeitig ihrem Traum folgen? Musste sie den Rest ihres Lebens die perfekte Tochter mit der perfekten Karriere sein, die von ihren Eltern gebilligt wurde? Oder konnte sie irgendwie einen Weg finden, der besser zu ihren eigenen Wünschen und Sehnsüchten passte?
Sie sah auf ihr Handy und wollte ihre Mutter anrufen, wusste aber, dass das falsch wäre. Früher einmal wäre ihre Mutter die Erste gewesen, die sie mit Neuigkeiten angerufen hätte oder auch nur, um ihr zu erzählen, wie es ihr ging. Es wäre ihre Mutter gewesen, die mit ihr gelacht hätte, die sie gefragt hätte, woran sie gerade arbeitete, die ihr gesagt hätte, dass ihre kreative Seite genauso wichtig war wie ihre praktische. Aber am Abend ihres ersten Tages an der Uni hatte sie nicht nur ihren Bruder, sondern auch ihre Mutter verloren. Plötzlich hatte sich die warmherzige, positive Frau, für die das Glas immer halb voll gewesen war, in jemanden verwandelt, den sie kaum wiedererkannte. Und wie viele Jahre auch vergangen sein mochten, sie hatte diese Mutter nie wiedergefunden. Nicht ein einziges Mal. Ihr Haus war zu einem Schrein für Harrison geworden, ein Ort der Trauer, an dem sie an einer Vergangenheit festhielt, die unwiederbringlich vorüber war, ganz gleich wie sehr sich alle wünschten, sie könnten die Ereignisse ungeschehen machen.
Ella legte die Hinweise auf ihren Nachttisch und knipste das Licht aus, machte es sich unter der Decke gemütlich und schloss die Augen. Aber sie hatte immer noch dieses Bild von sich selbst vor Augen, wie sie mit einem Pinsel in der Hand auf ein reines, blaues Meer hinausblickte, das auch auf der Leinwand vor ihr abgebildet war.
Ich möchte wieder Künstlerin sein. Es gab Worte, die sie nur im Schutz der Dunkelheit aussprach, weil sie sich eine Karriere im Kunsthandel aufgebaut hatte, nicht als Künstlerin, und sie vermochte sich nicht vorzustellen, wie diese beiden Teile ihrer selbst jemals wirklich nebeneinander bestehen konnten. Nicht jetzt.
Darling, bist du dir sicher, dass du nicht mitkommen möchtest?«
Alexandra blickte auf, als ihre Mutter mit ihr sprach. Sie stand in Reithosen, einer weißen, ärmellosen Bluse und hohen schwarzen Lederstiefeln auf der Schwelle ihres Zimmers und sah aus wie für einen Fototermin gekleidet. Ihr dunkles Haar war aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zu einem Knoten gebunden.
Alexandra schüttelte den Kopf, wobei sie abwesend ihre eigenen dunklen Locken berührte, die denen ihrer Mutter glichen, nur dass ihre ihr ungezähmt über den Rücken fielen. »Du weißt, dass ich nicht so gerne reite wie du, Mama. Vielleicht ein andermal.«
Ihre Mutter kam ins Zimmer und setzte sich neben ihr aufs Bett, als sie sich streckte. Alexandra ließ sich von ihr das Buch aus den Händen nehmen und zog die Beine unter sich, während ihre Mutter sie anlächelte.
»Du liest Jane Austen?«
Alexandra nickte, und ihre Wangen röteten sich leicht. Ihr Vater hielt Lesen für Zeitverschwendung, aber sie mochte nichts lieber, als sich mit einem Buch ins Bett zu kuscheln.
»Ja.« Sie wusste, wie sehr ihre Mutter davon beeindruckt war, dass sie las, besonders, wenn es sich um Bücher auf Englisch handelte. Ihre Reitstunden hatte sie in den letzten Jahren vielleicht nicht immer genossen, wohl aber ihren Englischunterricht, dem sie stets mit Vorfreude entgegensah.
»Bist du dir sicher, dass du deinen Roman nicht eine Stunde lang aus der Hand legen kannst, um mit deiner Mama reiten zu gehen? Es ist so ein schöner Tag, und ich glaube, dass mich vielleicht die Königin begleitet.«
Alexandra sah auf ihr Buch und wollte gerade den Mund öffnen, als ihre Mutter die Finger leicht an ihre Wange legte und sie anlächelte, bevor sie sie an die Stelle küsste, an der eben noch ihre Finger gewesen waren. »Darling, genieße dein Buch. Ich hätte es besser wissen müssen. Versprich mir nur, dass du mir heute Abend beim Essen deine Gedanken über den schneidigen Mr. Darcy mitteilst.«
»Du hast Stolz und Vorurteil gelesen?«
Ihre Mutter stand auf und lachte, als sie ihrer Tochter das Buch zurückgab. »Natürlich. Nur war ich schon etwas älter als zwölf, als ich das Buch geschenkt bekam.« Sie lächelte. »Deine Großmutter hätte mich in deinem Alter noch keine romantischen Geschichten lesen lassen. Sie war immer schrecklich besorgt um meine beeinflussbare junge Seele.«
Alexandra lächelte, als ihre Mutter durchs Zimmer ging und in der Tür stehen blieb. Ihre Blicke trafen sich, und die Augen ihrer Mutter sagten ihr, wie sehr sie sie liebte, ihr einziges Kind, ihre einzige Tochter.
»Ich habe dich lieb, Alexandra.«
»Ich dich auch«, gab sie zurück, wobei sie sich einen Augenblick lang fragte, ob sie sich umentscheiden sollte. Aber draußen war es heiß, und sie mochte Pferde wirklich nicht so sehr wie ihre Mutter.
Sie schlug das Buch auf und las weiter, aber als sie ein paar Minuten später hörte, wie draußen jemand lachte, stand sie auf und ging zum Fenster. Unten vor dem Haus stand ein Auto auf der gekiesten Auffahrt, und sie sah, wie ihre Mutter darauf zuging. Als spürte sie, dass ihre Tochter sie beobachtete, sah sie zum Haus hoch, wobei sie ihre Augen vor der hellen Sonne abschirmte.
Alexandra hob die Hand und winkte, und ihre Mutter warf ihr eine Kusshand zu, bevor sie in dem Auto verschwand.
Alexandra seufzte und ging wieder ins Bett, kuschelte sich auf den Kissen zusammen und fand die Stelle, wo sie aufgehört hatte zu lesen. Ihre Mutter hatte recht, sie konnten beim Abendessen darüber sprechen, und wenn sie sie morgen fragte, ob sie reiten gehen wollte, dann würde sie Ja sagen. Es gab Schlimmeres als einen Ausritt am Nachmittag, und sie genoss es stets, die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu haben.
Alexandra hob den Kopf und blinzelte, als sie zum Fenster sah. Das Licht war verblasst. Sie streckte sich, fragte sich, wie spät es wohl war, und sah auf die Uhr. Als sie die Füße auf den Boden stellte, fiel ihr Blick auf das Buch auf dem Nachttisch, das aufgeschlagen dalag. Sie musste es so hingelegt haben, bevor sie eingeschlafen war.
Alexandra grinste, als sie sich daran erinnerte, dass ihre Mutter beim Abendessen ihre Meinung über Mr. Darcy hören wollte, und überprüfte schnell ihre Erscheinung in dem großen Spiegel in der Ecke ihres Zimmers, wobei sie mit den Händen die Falten ihres Kleides glättete. Sie bürstete ihr Haar, band es zurück und lächelte ihr Spiegelbild an. Dann ging sie schnell den Flur entlang und horchte nach ihrer Mutter, während sie die Treppe hinunterging.
Im Haus war es still. Alexandra ging zuerst in die Küche, weil sie erwartete, dass ihre Mutter dort die Zubereitung des Abendessens beaufsichtigte. Der Koch blickte auf und lächelte, und Alexandra winkte ihm zu, enttäuscht, sie dort nicht vorgefunden zu haben. Sie sah im Esszimmer nach und im vorderen Salon, fand aber noch immer keine Spur von ihr. Ihre Mutter nahm gern vor dem Essen einen Drink zu sich, während sie überprüfte, ob alles so vorbereitet wurde, wie es ihr gefiel.
Als sie Stimmen aus dem Büro ihres Vaters hörte, zögerte Alexandra kurz, bevor sie auf die geöffnete Tür zuging und sich fragte, ob ihre Mutter vielleicht dort war. Alexandra war immer vorsichtig, wenn sie den einzigen Raum im Haus betrat, der allein ihrem Vater vorbehalten war – sogar das Dienstmädchen musste um Erlaubnis bitten, bevor es dort sauber machte.
»Alexandra? Brauchst du etwas?«
Sie lächelte ihren Vater höflich an und ging zu ihm, als er ihr bedeutete, näher zu kommen. Sie lächelte den Mann an, der ebenfalls im Büro saß. Sie hatten ihr Gespräch unterbrochen, als sie hereingekommen war. Ihr Vater freute sich gewöhnlich, sie zu sehen, solange sie nicht lästig war und ihn um nichts bat. Anscheinend war es ihm lieber, wenn sie zwar zu sehen, aber nicht zu hören war.
»Ich suche Mama«, sagte sie. »Hast du sie gesehen?«
Ihr Vater küsste sie auf den Scheitel. »Ich vermute, sie ist ausgeritten.«
»Aber sie ist schon seit Stunden weg«, sagte Alexandra. »Papa, sie …«
Doch er wandte sich von ihr ab und nahm das Gespräch mit seinem Besucher wieder auf, womit er klarstellte, dass sie entlassen war. Sie würde niemals so lange ausreiten. Das war es, was sie ihrem Vater hatte sagen wollen. Stattdessen senkte sie den Kopf, verließ den Raum und entschied, wieder nach oben zu gehen und dort nachzusehen, für den Fall, dass ihre Mutter in ihrem Ankleidezimmer war und sich umzog. Ihr Vater würde die Abwesenheit ihrer Mutter wahrscheinlich erst bemerken, wenn er sich zum Abendessen hinsetzte und den Tisch leer vorfand.
Alexandra hatte die Hand gerade erst auf das Treppengeländer gelegt, als laut an die Tür geklopft wurde. Sie fuhr zusammen und stand da, als Sekunden darauf ein zweites Klopfen ertönte. Niemand kam, um zu öffnen, also ging Alexandra selbst zur Tür und zog sie auf, etwas, das sie vorher selten getan hatte. Gewöhnlich war immer jemand im Haus, um solche Pflichten zu übernehmen.
»Miss Konstantinidis?«
Sie schluckte, als die beiden uniformierten Männer sie ansahen, offenbar überrascht von ihrem Erscheinen. Sie blickte auf den Polizeiwagen hinter ihnen, dann zurück in ihre Gesichter, sah, wie ihre Mienen weich wurden und ein mitleidiger Ausdruck in ihre Augen trat. Sie hätte die Tür niemals öffnen sollen.
»Geht es um meine Mutter?« Ist sie deshalb noch nicht hier? Sind Sie gekommen, um mir zu sagen, warum?
»Ist Ihr Vater zu Hause?«, fragte der Beamte sanft. »Wir müssen …«
»Bitte, sagen Sie es mir«, flüsterte sie und hielt sich an der Tür fest, als ihre Beine zu zittern begannen und drohten, unter ihr wegzusacken. »Geht es um meine Mutter? Ist etwas passiert?«
Weitere Worte blieben ihr im Hals stecken, als der Beamte, der gesprochen hatte, einen Schritt auf sie zu machte und nach ihrem Arm griff, wobei seine Hand sich auf dem Stoff ihres Kleides merkwürdig anfühlte.
Dann sah sie, dass er Tränen in den Augen hatte, und wusste es. Sie wusste in diesem Moment, dass, mit welcher Nachricht auch immer die beiden Beamten gekommen waren, es ihr das Herz brechen würde.
Ihr Vater tauchte neben ihr auf, aber sie blieb stehen, anstatt wie gewöhnlich im Hintergrund zu verschwinden. Sie musste hören, was sie zu sagen hatten.
»Unser Beileid, Mr. Konstantinidis«, sagte einer der Männer. »Wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihre Frau sich tödliche Verletzungen zugezogen hat, als sie …«
»Beileid?«, schrie Alexandra. Er hatte Beileid gesagt. Bedeutete das, dass ihre Mutter nicht mehr nach Hause kommen würde?
Sie blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen gestiegen waren, und die Feuchtigkeit blieb an ihren Wimpern hängen, als sie versuchte zu verstehen, was der Polizist ihrem Vater sagte. »Ist sie, ich meine, ist meine Mutter …«
»Meine Frau ist tot? Sie sind gekommen, um mir zu sagen, dass meine Frau nicht mehr am Leben ist?«
»Ja. Sie hatte einen Reitunfall.«
Alexandra schloss die Augen, die Welt begann, sich um sie herum zu drehen, sie konnte nicht mehr hören, was gesagt wurde, dann wurde alles um sie herum schwarz. Ihre Beine gaben unter ihr nach, und sie fiel zu Boden.
Als ihr jemand von hinten aufhalf und sie die laute Stimme ihres Vaters hörte, begann sie zu weinen. Tränen rannen ihre Wangen hinunter, und ihr Herz sehnte sich schmerzhaft nach ihrer schönen Mutter, die sie nie wieder sehen würde.
Warum habe ich nicht Ja gesagt? Warum bin ich nicht mitgekommen? Warum bin ich nicht aufgestanden, als sie mich abholen wollte? Warum war ich nicht bei ihr?
Ihr Vater nahm sie kaum wahr, hatte kaum Zeit, sie morgens auch nur zu begrüßen, aber ihre Mutter, ihre Mutter war ihr Ein und Alles gewesen. Ihre Mutter war ein helles Licht in einem Raum voller biederer alter Männer, eine Frau, die genau wusste, was sie vom Leben wollte, und die keine Angst hatte, es für sich und ihre Tochter zu fordern. Ihre Mutter hatte ihr Leben lebenswert gemacht.
Mama, ohne dich kann ich nicht weiterleben. Ich kann es nicht.
Alexandra saß mit im Schoß gefalteten Händen am Tisch und starrte auf die Mahlzeit vor ihr. Auf einer Seite stand ein hohes Glas Milch, daneben lagen dicke, mit Honig bestrichene Brotscheiben, aber sie konnte es nicht über sich bringen, etwas davon anzurühren.
Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie kaum gegessen, es drehte sich ihr der Magen um, wenn sie versuchte, etwas zu schlucken. Sie hatte an diesem Morgen bemerkt, dass ihr Kleid lose an ihr herunterhing wie von einem Kleiderbügel.
Da berührte eine Hand ihre Schulter, und sie sah auf und erkannte das Dienstmädchen, Thalia, das sie mit von Sorge gezeichnetem Gesicht ansah. Sie arbeitete im Haus, seit Alexandra ein kleines Mädchen war, und Alexandra hatte sie letzthin häufig dabei ertappt, wie sie sich Tränen aus dem Gesicht wischte, weil auch sie um die Hausherrin trauerte. Dann hatte Alexandra zumindest das Gefühl, dass noch jemand an ihre Mutter dachte, dass noch jemand sie vermisste.
»Alexandra, du musst etwas essen«, flüsterte sie und beugte sich zu ihr hinunter. »Bitte. Für mich?«
Alexandra blickte kurz zu ihrem Vater hinüber, der sich hinter seiner Zeitung versteckte und die Tatsache ignorierte, dass seine Tochter verzweifelt auf ein Zeichen der Aufmerksamkeit wartete. Er würde aufstehen und das Haus verlassen, ohne auch nur zu bemerken, dass sein einziges Kind es – wie jeden Tag – nicht über sich brachte, sein Essen anzurühren. Es schien, als hätte er den Tod ihrer Mutter in dem Augenblick vergessen, als sie unter der Erde war, und als ginge sein Leben weiter wie gewöhnlich. Die Gefühle seiner Tochter waren eine Ungelegenheit, die er weitgehend zu ignorieren versuchte. Sie hatte ihn nicht einmal weinen sehen, nicht einmal, als Marias Sarg in der Erde versenkt wurde. Sie fragte sich, warum er so abweisend war, warum er nicht so trauerte, wie sie es erwartete. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter einmal gesagt hatte, dass er sich nie von dem Verlust seines Sohnes erholt hatte, der tot geboren worden war, als Alexandra kaum zwei Jahre alt gewesen war.
Alexandra schüttelte den Kopf, aber Thalia seufzte nur, griff nach einem Stück Brot und hielt es ihr mit einem Gesichtsausdruck hin, der besagte, dass sie sich nicht mit einem Nein zufriedengeben würde, genau wie sie es getan hatte, als Alexandra noch ein kleines Mädchen war. Sie öffnete den Mund und gehorchte, wollte keine Schwierigkeiten machen, schob das Brot im Mund herum, versuchte, es zu kauen. Aber ihr Blick fand den leeren Platz zu ihrer Linken, wo ihre Mutter jeden Morgen gesessen hatte. Das Frühstück mit ihrer Mama war immer eine muntere Angelegenheit gewesen, sie beide hatten sich unterhalten und gelacht, erst recht, wenn ihr Vater aufstand und sie vorwurfsvoll ansah, so als wollte er sagen: Ihr zwei könnt nicht einmal lang genug still sein, dass ich in Ruhe meinen Morgenkaffee trinken kann. Um dann seine Zeitung auf den Tisch zu knallen.
Sie versuchte, den Bissen zu schlucken, und als spürte sie ihr Unwohlsein, hielt ihr Thalia das Glas Milch hin und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Erst als Alexandra einen Schluck genommen hatte, ließ Thalia ihre Schulter los, was ihr wieder bewusst machte, wie allein sie war.
Sieh mich an, Papa. Bitte. Sprich mit mir. Alles, nur nicht dieses endlose Schweigen. Warum kannst du mich nicht sehen? Warum vermisst du Mama nicht so sehr wie ich? Warum haben wir nicht mehr von ihr gesprochen, seit sie uns verlassen hat?
Als hätte er ihre lautlosen Bitten gehört, senkte ihr Vater seine Zeitung, faltete sie zusammen und legte sie auf den Tisch. Sie sah zu, wie er den Rest seines Kaffees austrank, den morgendlichen Teelöffel voll Fruchtsüßigkeit hatte er bereits genossen, bevor er seinen Blick auf sie richtete. Er sah sie lange an, als wäre er tief in Gedanken versunken, und stieß dann einen tiefen Seufzer aus.
»Alexandra, ich glaube, es wäre das Beste, wenn du nach London zu deiner Tante ziehen würdest.«
Alexandras Gesicht wurde heiß, und ihr klappte der Kiefer herunter, als sie fassungslos den Blick ihres Vaters erwiderte. Er wollte, dass sie wegging und in einem anderen Land lebte? Er wollte, dass sie Griechenland verließ?
»Papa, das kann nicht dein Ernst sein!«
Er stöhnte, als würde seine zwölfjährige Tochter sich mit ihm über Zubettgehzeiten streiten oder darüber, was sie zu einem Treffen mit Freunden anziehen sollte, nicht über eine Entscheidung, in deren Folge sie in ein anderes Land geschickt wurde. Nach London!
»Ich habe beschlossen, dass es das Beste für dich ist, Alexandra, und damit hat es sich.«
Sie ballte unter dem Tisch die Hände zu Fäusten, und ihr Körper zitterte vor Wut. Wie konnte er so grausam sein? So kalt? Wie kam es, dass er nicht spürte, wie sehr sie ihn gerade jetzt brauchte?
»Aber Mama ist doch hier. Ich könnte sie nicht mehr besuchen.« Sie wollte, dass ihre Stimme laut und kräftig klang, aber stattdessen blieb sie ihr im Hals stecken und klang belegt, kaum mehr als ein Flüstern. Sie wollte sich anhören wie eine junge Dame, stattdessen klang sie wie ein kleines Kind. »Papa, bitte. Bitte, tu mir das nicht an. Denk noch einmal darüber nach.«
Er stand auf, und als er auf sie herunterblickte, sah sie in seinen Augen etwas, das sie lieber nicht gesehen hätte. Erinnerte sie ihn zu sehr an seine verstorbene Frau? War sie ihm nur noch lästig, jetzt, wo er allein mit ihr war? Als sich ihre Blicke begegneten, sah er schnell weg, als könnte er ihren Anblick nicht ertragen.
»Alexandra, deine Mutter ist tot. Ihr Grab ist nichts weiter als ein Erdhügel.«
»Aber Papa, mein Platz ist hier in Griechenland. Mein Zuhause ist hier.« Mein Herz ist hier.
Der distanzierte Blick, mit dem er sie bedachte, zeigte ihr, dass ihre Bitten ihn kaltließen. Wenn er einmal eine Entscheidung getroffen hatte, blieb er dabei. Ihre Mama hatte immer gesagt, er sei so dickköpfig wie ein Ochse, aber zum ersten Mal erlebte Alexandra, wie grausam und unerbittlich er sein konnte.
Tränen begannen, ihre Wangen herunterzulaufen, und sie biss sich fest auf die Lippen, um nichts zu sagen, was sie später bereuen würde. Ich hasse dich. Ich wünschte, du wärst gestorben und nicht sie. Das war es, was sie herausschreien wollte, aber sogar in ihrem Schmerz hütete sie sich, das zu tun. Sie würde ihre Zunge im Zaum halten, wie heftig die Worte auch aus ihr herausbrechen wollten.
»Ich habe alles gesagt, was es zu diesem Thema zu sagen gibt. Geh jetzt und mach dich zurecht. Die königliche Familie kommt heute, um ihr Beileid auszusprechen, und ich möchte dich bei ihrer Ankunft unten sehen, bereit, sie zu begrüßen.«
Ihr Vater verließ den Raum, und Alexandra sackte in sich zusammen. Ihr Atem ging schnell und stoßweise, als sie sich gegen den Gedanken wehrte, ihre Mutter zu verlassen und all die Dinge, die sie in ihrem geliebten Athen nie wieder sehen oder tun würde. Alles, was sie aufgeben müsste. Wenn ihr Vater sie erst einmal nach London geschickt hatte, käme sie wahrscheinlich nie wieder nach Hause zurück, dessen war sie sicher. Nie wieder würde sie durch die Räume ihres schönen Hauses schlendern, nie wieder aus dem Fenster über die endlosen Gartenanlagen blicken, die sie seit ihrer Kindheit bewundert hatte, oder an das Grab ihrer Mutter gehen. Sie würde nie wieder den Palast und die Prinzessinnen besuchen oder mit der Königin zu Mittag essen, wie sie es mit ihrer Mutter häufig getan hatte. Indem er sie wie ein ungewolltes Erbstück der Schwester ihrer Mutter übergab, sagte er ihr, dass er nicht wollte, dass sie zurückkehrte.
Sie hob den Kopf, nahm ihr Glas Milch und schleuderte es mit einem wütenden Schrei durchs Zimmer. Aber auch das nützte nichts. Sie konnte so viel weinen und toben, wie sie wollte, ihr Vater würde seine Entscheidung nicht ändern, und das Einzige, was sie gerade erreicht hatte, war, der armen Thalia eine Sauerei zum Aufwischen zu hinterlassen.
Alexandra sah ihrem Vater zu, wie er hin und her ging, während er auf die Ankunft von König Theodor und seiner Familie wartete. Sie hatte jetzt seit mindestens zwei Stunden geduldig dagesessen, hatte mit dem Stoff ihres Rockes gespielt und verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht, ihren Vater davon zu überzeugen, sie zu Hause bleiben zu lassen. Aber in ihrem Inneren wusste sie, dass sie bitten und betteln konnte, so viel sie wollte – wenn er erst einmal eine Entscheidung getroffen hatte, war diese nicht rückgängig zu machen. Außer natürlich, ich lege meinen Fall der königlichen Familie dar. Papa würde mir das niemals verzeihen, aber er würde auch niemals ungehorsam sein, wenn sie bestimmten, dass ich bleiben darf.
Endlich wurde an die Tür geklopft, und Alexandra fuhr zusammen und setzte sich mit aufrechtem Rücken auf ihrem Stuhl zurecht. Ihr Vater war stehen geblieben, aber es war nicht der König, sondern nur ein Bote, der den Raum betrat, formell gekleidet und mit einem verstörten Gesichtsausdruck. Sie hatte die königliche Familie ihre ganze Kindheit über persönlich gekannt – ihre Mutter war schon als Kind eine der engsten Freundinnen der Königin gewesen, und sie waren als Erwachsene befreundet geblieben. Ihr Vater war einer der Ratgeber des Königs geworden – also wusste sie, dass sie keinen Stellvertreter geschickt hätten, wenn sie noch kommen würden.
»Sir, ich bringe eine Nachricht von König Theodor.«
Alexandra beugte sich vor und spitzte die Ohren. Beinahe erwartete sie, hinausgeschickt zu werden, bevor der Bote die Nachricht überbrachte, aber dieser räusperte sich nur und sprach gleich weiter. Ihr Vater schien zu beschäftigt, um sich auch nur daran zu erinnern, dass sie anwesend war.
»Was für eine Nachricht?«, wollte ihr Vater wissen. »Wo ist er?«
»Der König und seine Familie haben das Land verlassen, Sir. Die Familie ist mit dem königlichen Flugzeug abgereist.«
»Sie sind geflohen?«, stieß er hervor. »Sie wollen sagen, dass der König Griechenland verlassen hat, ohne dass man mich vorher davon in Kenntnis gesetzt hat?«
»Ja, Sir. Allerdings hat er verfügt, dass seine Familie und engsten Berater Griechenland angesichts der Tumulte ebenfalls verlassen sollten. Er hat ein Privatflugzeug bereitgestellt, um Sie ausfliegen zu lassen, falls Sie das wünschen.« Der Mann hielt inne und fuhr dann fort. »Er hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, wie sehr die Königin und er Sie und Ihre Tochter schätzen, und dass sie alles dafür tun wollen, damit Ihnen nichts geschieht, wie auch immer sich die Lage in ihrer Abwesenheit entwickelt.«
Der König hatte Griechenland verlassen? Hatte er abgedankt? Aus welchem Grund sonst würde die königliche Familie das Land verlassen? Drohte ihr und ihrem Vater wirklich Gefahr durch das Volk? Fragen über Fragen drängten sich ihr auf, doch sie blieb still sitzen in dem Wissen, dass sie sofort aus dem Zimmer geschickt würde, wenn sie auch nur wagte, einen Ton von sich zu geben. Es war immer ihre Mutter gewesen, die ihr wichtige Neuigkeiten mitgeteilt hatte, also wusste sie nichts von den politischen Entwicklungen, über die gerade gesprochen wurde.
Ihr Vater begann wieder auf und ab zu gehen, sein Gesicht war bleich und zeigte nichts von der tiefen Sonnenbräune, die gewöhnlich seine Wangen färbte. Das ließ ihr Herz rasen. Etwas Schreckliches musste geschehen sein. Ihr Atem setzte aus wie an dem Tag, als die Polizei die Nachricht vom Tod ihrer Mutter überbracht hatte. Sie wünschte, sie wüsste mehr.
»Wie viel Zeit haben wir noch?«, fragte er. »Was hat der König gesagt? Bitte, ich muss den genauen Wortlaut erfahren.«
»Die Empfehlung lautet, dass Sie bei Einbruch der Dunkelheit abreisen. Der König hat nachdrücklich betont, dass Sie und Ihre Tochter aufbrechen sollten, bevor jemand merkt, dass die königliche Familie geflohen ist. Es wird nicht lange dauern, bis die Neuigkeit sich verbreitet, und es wäre sicherer für Sie, Griechenland zu verlassen, wenigstens vorübergehend.«
Dann verabschiedete der Bote sich mit einem Nicken, und als Alexandra aufblickte und darauf wartete, dass ihr Vater ihr erklärte, was los war, fand sie sich allein im Raum wieder. Sie saß in der Stille, und ihr Herz klopfte, während sie darauf wartete, dass er zurückkam. Als das nicht geschah, stand sie schließlich auf und machte sich allein auf den Weg in ihr Zimmer. Ihre Mutter hätte ihr alles erklärt, ihre Sorgen gelindert und ihr gesagt, was im Falle dieses eiligen Aufbruchs zu berücksichtigen war.
Alexandra dachte an die schönen Pferde ihrer Mutter, die zurückbleiben würden und sich zweifellos fragten, was mit ihrer Herrin geschehen war, die sie abgöttisch liebte. Sie dachte an das Grab, an dem sie nie wieder sitzen würde, an den Duft des Parfüms ihrer Mutter, der noch in der Luft hing, wenn sie an deren Schlafzimmer vorbeiging. Hatte sie vorhin noch an eine Chance hierzubleiben geglaubt, so bestand diese jetzt ganz sicher nicht mehr, nicht nach dieser plötzlichen Wende der Ereignisse. Sie musste abreisen, ob sie es wollte oder nicht.
Sie lief nach oben ins Ankleidezimmer ihrer Mutter und nahm die Flasche mit ihrem Parfüm an sich, die dort noch immer stand, seit sie es zum letzten Mal benutzt hatte, dann ging sie eilig in ihr eigenes Zimmer. Thalia würde bald heraufkommen, da war sie sich sicher, aber in der Zwischenzeit nahm sie schon einmal Kleider aus dem Schrank und legte sie auf dem Bett zusammen, um vorbereitet zu sein, wenn man ihre Koffer brächte. Sie sammelte ein paar persönliche Dinge zusammen, aber als sie ihre Ausgabe von Stolz & Vorurteil noch immer neben ihrem Bett liegen sah, seit dem Tag, an dem sie zuletzt darin gelesen hatte, an dem Tag, der alles verändert hatte, nahm sie das Buch auf und fing an, wütend die Seiten herauszureißen. Sie zerfetzte sie und warf sie weinend zu Boden, wo sie wie weiße Blütenblätter sanft landeten.
Sie würde nie wieder lesen. Das würde ihre Strafe dafür sein, dass ihr ihr dummes Buch wichtiger gewesen war, als den letzten Tag mit ihrer Mutter zu verbringen. Sie hätte sich in ihrem Lächeln und ihrem Lob sonnen können, sie hätte zusehen können, wie ihre Mutter mühelos Hürden genommen hätte und über den Reitplatz galoppiert wäre und das Reiten wie den schönsten Sport aussehen ließ, den es gab. Sie hätte dabei sein können, als sie stürzte, wäre vielleicht imstande gewesen, etwas zu tun, um ihr Leben zu retten, hätte sie zumindest in den Armen halten können. Doch stattdessen hatte sie es vorgezogen, zu Hause zu bleiben und ihre Nase in ein Buch zu stecken.
Alexandra kauerte sich auf ihrem Bett zusammen, lag auf den Kleidern, die sie gerade zusammengelegt hatte, und ihre Wangen waren voller Tränen. Sie kniff die Augen fest zu, ihr Körper schauderte und zitterte, und sie konnte vor Schluchzen kaum Atem holen.