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Gemeinde-Coaching (Band 1) Begeben Sie sich auf eine spannende Reise, bei der "Die Vision der Fixstern der Veränderung" Ihrer Gemeinde sein kann! "Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit." (2. Timotheus 1,7) In vergangenen Jahrhunderten führten sie die Seefahrer sicher in den heimatlichen Hafen. Es waren die Fixsterne, allen voran der Nordstern. Wer auf ihn schaute und seine Reise nach ihm ausrichtete, konnte nicht in die Irre gehen. Heutzutage wird diese Aufgabe von modernen Satelliten-Navigationssystemen übernommen. Wobei auch diese Technik nicht ohne einen Bezugspunkt auskommen kann - den Satelliten. Eines ist also durch alle Zeiten geblieben: Menschen suchen einen festen Bezugspunkt, an dem sie ihre Reise ausrichten können, um sicher ans Ziel zu gelangen. Wenn Sie sich auf die Reise einer Veränderung Ihrer Gemeinde machen, werden auch Sie einen solchen Bezugspunkt benötigen. Und dieser Bezugspunkt ist die Vision, die Ihnen schon bei den ersten Plänen zu einer Veränderung helfen kann, dann aber auch während der Umsetzung immer wieder als Navigationspunkt dienen wird. Die Inhalte dieses Buches werden Ihnen dabei helfen, eine Vision zu erarbeiten, die aus dem Herzen Gottes kommt und mit der Sie es wagen können, einen Veränderungsprozess in Gang zu setzen, der Ihre Gemeinde nicht mehr so lassen wird, wie sie war. Lassen Sie sich auf diese spannende Reise ein. Es lohnt sich, den Gott wird mit Ihnen sein!
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Seitenzahl: 438
Ein solches Buchprojekt ist immer eine spannende Sache, bei der auch der Autor nicht unverändert bleiben kann. Das ist eine sehr schöne Erfahrung. Deshalb danke ich zuerst dem unveränderlichen Schöpfer des Universums für dieses Geschenk, dass Veränderung von Menschen, Strukturen, Kulturen und Institutionen möglich ist!
Und ich danke auch meiner lieben Frau, Angelika, dass sie mich nicht nur bei diesem Projekt seelisch und moralisch unterstützt, sondern auch alle Veränderungen mitgetragen hat, die durch mich und meinen Lebensweg auch in ihr Leben gekommen sind.
Zu Dank verpflichtet sehe ich mich auch gegenüber allen Autoren (siehe Bibliografie), die mir beim Lesen ihrer Bücher zu Mentoren wurden, indem sie mich herausforderten, mich inspirierten und mir Verständnis und Liebe für dieses Thema vermittelt haben.
Einleitung
Kapitel 1 Standortbestimmung als Basis der Vision
theologisch
Gemeinde und ihre Geschichte
Gemeinde und ihr Auftrag
Gemeinde und ihre Strukturen
gesellschaftlich
Armut und Reichtum
Individualisierung
Patchwork Religiosität
Globalisierung
soziologisch
Vertrauen
Motivation
Kommunikation
Führung
Leiter-Nachwuchs
Organisation
Kapitel 2 So wird die Vision zum Fixstern
Definition
Leitbild
Identität
Werte
Kultur
Struktur
Strategie
Vision (erarbeiten)
Wo stehen wir?
Wo wollen wir hin?
Wie kommen wir dorthin?
Vision (vermitteln)
Kapitel 3 Veränderungsprozesse mit dem Fixstern im Blick
Grundlagen
Phasen der Veränderung
Preis der Veränderung
Wann Sie besser so bleiben, wie Sie sind
Wann Sie Veränderungen wagen können
Phasen der Umsetzung
Veränderungsplan
1.
Schritt: Wecken Sie ein Gefühl der Dringlichkeit!
2.
Schritt: Stellen Sie ein Leitungsteam zusammen.
3.
Schritt: Zielvorstellung und Strategie für die Veränderung.
4.
Schritt: Werben Sie um Verständnis und Akzeptanz.
5.
Schritt: Sichern Sie anderen Handlungsfreiräume.
Exkurs: Konfliktbewältigung
6.
Schritt: Sorgen Sie für kurzfristige Erfolge.
7.
Schritt: Lassen Sie nicht nach.
8.
Schritt: Entwickeln Sie eine neue Kultur.
Phasen der Veränderung und Veränderungsplan
Die Nerven behalten
Kapitel 4 Konkrete Schritte aus der Praxis visionärer Arbeit
Konzepte/Modelle für Visionsorientierte Veränderungsprozesse
Willow Creek Community Church (WCCC)
Natürliche Gemeindeentwicklung (NGE)
Saddleback Church (SC)
Mosaic Church Los Angeles (MC L.A.)
Basileia Vineyard Basel (BVB)
Veränderungsplan - Aus der Praxis, für die Praxis
Persönliche Erfahrungen praktizierter Gemeindearbeit
Gemeindekonzepte/-modelle in der Praxis
1.
Schritt: Wecken Sie ein Gefühl der Dringlichkeit
2.
Schritt: Stellen Sie ein Leitungsteam zusammen.
Exkurs: Der fünffältige Dienst - Die starke Hand Gottes
3.
Schritt: Zielvorstellung und Strategie für die Veränderung.
Exkurs: Prozess der Entwicklung geistlichen Lebens
4.
Schritt: Werben Sie um Verständnis und Akzeptanz.
5.
Schritt: Sichern Sie anderen Handlungsfreiräume.
6.
Schritt: Sorgen Sie für kurzfristige Erfolge.
7.
Schritt: Lassen Sie nicht nach.
Zusammenfassung
Eine Gemeinde muss wissen, warum Veränderung nötig ist
Eine Gemeinde braucht den Blick für die realen Ressourcen
Eine Gemeinde braucht den Blick für nutzbare Ressourcen anderer Gemeinden
Eine Gemeinde muss ihre Ressourcen zielgerichtet einsetzen
Eine Gemeinde braucht Willen und Mut zur Veränderung
Schlusswort
Bibliografie
Anlage 1 Definition und Klassifikation einer NPO
Anlage 2 Fragebogen: Stärken u. Schwachpunkte einer Gemeinde
Anlage 3 Checkliste: Maßnahmen überprüfen
Anlage 4 Formular: Ziele formulieren
Anlage 5 Checkliste: Ziele
Anlage 6 Formular: Ziele - Projekte - Aktionen
Anlage 7 Flexibel einsetzbare Methoden im Veränderungsprozess
Anlage 8 Vision u. Strategie der Willow Creek Community Church
Anlage 9 Vision u. Strategie der Natürlichen Gemeindeentwicklung
Anlage 10 Vision u. Strategie der Saddleback Church
Anlage 11 Informationen zur Mosaic Church Los Angeles
Anlage 12 Vision der Basileia Vineyard Basel
Weitere Bücher von Hans-Werner Zöllner:
Über den Autor
„Wer keine Vision hat, vermag weder große Hoffnung zu erfüllen, noch große Vorhaben zu verwirklichen.“
(Thomas Woodrow Wilson1)
„Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der HERR Zebaoth.“
(Sacharja 4,6)
Die Abenddämmerung legte sich langsam über den großen Wald, in dem wir uns als kleine Gruppe von Soldaten befanden. Es war eine 36-Stunden-Übung und wir waren schon über 10 Stunden unterwegs. Karten lesen bei Nacht ist keine einfache Sache, doch wir schlugen uns durch bis zum nächsten Morgen. In der Ferne sahen wir etwas glitzern, wie ein großer Spiegel. Das musste ein See sein. Doch auf unserer Karte war kein See eingezeichnet. Wir gingen weiter, bis wir uns sicher waren: Ja, auf der linken Seite vor uns befand sich ein See. Aber auf unserer Landkarte durfte er dort nicht sein. Als wir unsere Karten nach Seen absuchten, fanden wir ihn, allerdings in genau entgegengesetzter Richtung dessen, wo wir uns befinden sollten. Das war kein Glanzstück eines militärischen Gruppenführers, denn nun mussten wir den doppelten Weg marschieren und hatten doch schon fast 20 Stunden in den Knochen...
Ja, bei dieser militärischen Übung, an der ich in den 1980er Jahren teilnahm, wäre ein Anhaltspunkt wirklich hilfreich gewesen; etwas, an dem wir uns mitten im Wald, in der Dunkelheit hätten orientieren können. Wie den alten Seefahrern ein Fixstern den Weg weisen konnte, so hätten wir auch einen festen Punkt gebraucht, durch den wir uns mehrere Stunden zusätzlichen Marsches hätten sparen können.
In ihrem Buch „Erweckungs Kultur“ weisen die Autoren Brodeur und Liebscher darauf hin, dass im Rahmen der Arbeit einer christlichen Gemeinde die Vision ein solcher Fixstern sein könnte. Dabei verweisen sie auf das Bild einer Pyramide (Abb. 1), das John Wimber zeichnete, als es ihm um gesunden Gemeindeaufbau ging: „Wimber glaubte, dass das Fundament jedes geistlichen Dienstes die gemeinsamen Werte sind, die all seine Mitglieder anerkennen.
Dann sollten Prioritäten, Arbeitsweisen, Programme und Personen hinzugefügt werden, um den Dienst ‚von innen heraus‘ oder von unten nach oben zu bilden“2.
Abb. 1: Gemeinde-Pyramide
Wimber hatte das Gefühl, dass der Fehler, den die meisten Leiter machen, der ist, sich auf äußerliche Dinge wie Programme und Personal zu konzentrieren. Er meinte, dass die Effektivität eines Dienstes oder einer Organisation wesentlich durch Werte, Prioritäten und Praktiken bestimmt wird, welche die drei ersten Elemente der Kultur sind. Es war seine Überzeugung, dass sich die Kraftlosigkeit einer Gemeinde oder eines Dienstes direkt auf den Mangel an Beständigkeit zwischen ihrer Kultur und ihren Programmen bezieht.3
Dies ist auch meine Erfahrung, aus über 25 Jahren praktischer Gemeindearbeit. Ich schätze jedoch eine gemeinsame Vision als noch grundlegender ein, als das Fundament allein auf gemeinsame Werte zu stellen. Denn wer nicht weiß, wo ein (Gemeinde-) Zug hinfährt, wird nicht in den Zug einsteigen, auch wenn er mit den Werten der Eisenbahngesellschaft einverstanden ist.
Einem Team werden gemeinsame Werte nicht viel helfen, wenn es keine gemeinsame Vorstellung (Vision) hat von dem, was es gemeinsam erreichen bzw. wo es mit seiner Arbeit landen möchte. Damit möchte ich natürlich nicht zum Ausdruck bringen, dass Werte bedeutungslos sind. Aber ich sehe sie in jedem Fall der Vision einer Gemeinde nachgeordnet, maximal „auf Augenhöhe“. Dennoch halte ich das Modell Wimbers für so wesentlich, dass ich die Gliederung dieses Buches an den Bereichen dieser „Kultur-Pyramide“ ausgerichtet habe.
Dazu beginne ich mit einer Standortbestimmung, denn wer nicht weiß, wo genau er steht, kann auch keinen Weg zu dem Punkt finden, auf den er zusteuern möchte. Danach wird es um die Auseinandersetzung mit dem Begriff „Vision“ gehen und um Prioritäten und Ziele. Unter dem Stichwort „Praktiken“ werde ich mich mit dem Thema „Veränderungsprozesse“ und deren Steuerung auseinandersetzen. Danach analysiere ich mit Ihnen zum Stichwort „Programme“ ein paar Gemeindemodelle, unter der Fragestellung, welchen Stellenwert Vision und Struktur in den jeweiligen Gemeindemodellen haben, und wie sich das auf Veränderungsprozesse im Rahmen der Gemeindearbeit ausgewirkt hat.
Schließlich möchte ich im letzten Teil des Buches alle gewonnenen Erkenntnisse in einen praktischen Teil einfließen lassen, bei dem wir uns anschauen werden, welche praktischen Konsequenzen sich aus all dem ergeben können, was in den vorhergehenden Kapiteln thematisch entfaltet wurde.
Ich wünsche Ihnen als Leser, dass Sie nicht nur Vergnügen haben am Lesen dieses Buches sondern dass es Ihnen zu einem hilfreichen Begleiter wird für alle Fragen rund um visionäre Veränderungen in Ihrer Gruppe oder Gemeinde. Gott segne Sie durch das Studium und mache dieses Buch für Sie zu einem Instrument, mit dem Sie die Vision als Fixstern jeglicher Veränderung erkennen und anwenden können!
1 US-amerikanischer Historiker und 28. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika (1856-1924).
2 Brodeur: Erweckung, 297.
3 Vgl. ebd.
„Eine gute Vision erwächst aus einer delikaten Balance zwischen Realitätssinn und Utopie.“ (Hermann Simon4)
„Denn wer ist unter euch, der einen Turm bauen will und setzt sich nicht zuvor hin und überschlägt die Kosten, ob er genug habe, um es auszuführen, damit nicht, wenn er den Grund gelegt hat und kann's nicht ausführen, alle, die es sehen, anfangen, über ihn zu spotten, und sagen: Dieser Mensch hat angefangen zu bauen und kann's nicht ausführen?“ (Lukas 14,28-30)
Wer kennt sie nicht, diese Apps, die mittlerweile auf Smartphones und Tablets aller Plattformen installiert werden und den jeweiligen Nutzer darüber informieren können, was sich alles in seiner Umgebung befindet? Vom Restaurant, über die Apotheke, bis hin zur Tankstelle bleibt kein Standort verborgen. Wenn Sie diese Apps allerdings in Betrieb nehmen möchten, werden Sie freundlich darauf hingewiesen, dass vorher der eigene Standort bestimmt werden muss. Wenn eine App nicht „weiß“, wo Sie sich befinden, wird sie Sie auch nirgendwo hinbringen können.
Aber das ist nicht nur auf dem Tablet- und Smartphone-Markt so, sondern Sie werden heutzutage auch in allen möglichen privaten und beruflichen Entscheidungen, die Sie in Bezug auf Ihre Entwicklung bzw. Ihr Fortkommen zu treffen haben, darauf hingewiesen, dass Sie zunächst einmal wissen müssen, wo Sie derzeit stehen, bevor Sie auf etwas zugehen bzw. sich entscheiden können.
Das ist in der praktischen Arbeit christlicher Gemeinden nicht anders. Es ist einfach eine menschliche Gegebenheit, dass das Erreichen eines Zieles signifikant davon abhängt, ob vorher klar ist, von wo aus gestartet wird. Deshalb werde ich mit Ihnen eine solche Standortbestimmung in drei Bereichen vornehmen, die ich für relevant halte, wenn es um Veränderungsprozesse geht, die der Umsetzung einer Vision dienen sollen: theologisch - gesellschaftlich - soziologisch.
Was ist Gemeinde Jesu? Was macht sie aus? Welchen Herausforderungen hat sie sich zu stellen? Wer am Beginn eines Prozesses der Veränderung steht, sollte, ja muss sich diese und ähnliche Fragen stellen, denn „wer Gemeindeaufbau will, muss in Eindeutigkeit wissen, was Gemeinde ist, welche Gemeinde also gebaut werden soll. Ist der Gemeindebegriff unklar, so wird »Gemeindeaufbau« schon vom Ansatz her eine völlig nebulöse Größe“.5
Die Gemeinde Jesu ist eine göttliche Schöpfung.6 Nach dem NT der Bibel hat sie ihren Ursprung im ewigen Ratschluss Gottes (vgl. Eph 1,4; 3,11). Alles, was in ihr ist und sie ausmachen soll ist Ausdruck der Weisheit, Macht und Liebe Gottes (Eph 1,3-12). Einen ersten Impuls für Gemeinde erhalten wir im Alten Testament (AT) der Bibel, wenn es um das durch die Tora ins Leben getretene Gottesvolk geht, das sehr viel später Jahwe-Gemeinde (qahal JHWH) genannt wird.7 Die Gemeinde Jesu, die mit Ostern und Pfingsten ins Leben tritt, ist damit keine völlig neue Struktur, auch wenn sie sich durch die Lehrautorität Jesu konstituiert (vgl. Mt 28,18-20). Sie bleibt Gemeinde Gottes8 und ist zugleich Gemeinde Jesu.9
Der Apostel und Gemeindegründer des Neuen Testaments (NT), Paulus, nennt die Gemeinde und deren Mitglieder „die Heiligen“ und „hat dabei die Ortsgemeinde im Blick (vgl. 1. Kor 1,2), deren gottesdienstliche Versammlung die Mitte des Gemeindelebens ist“10. Zunächst war diese Gemeinde keine rechtliche Organisation, sondern vielmehr ein durch den Heiligen Geist Gottes gesteuerter Organismus11, der aber dennoch eine gewisse personelle Struktur hatte12. Dabei waren die ersten Gemeinden vermutlich relativ klein und kamen als Haus-Gemeinden zusammen.13 Man könnte darum die Gemeinde der ersten Zeit auch definieren als „primär lokal bestimmt durch einen gemeinsamen Grund, dann aber auch durch das gemeinsame Leben derer, die durch den gemeinsamen Grund miteinander verbunden sind“14.
Dies veränderte sich im Lauf der Jahrhunderte dahin gehend, dass sich die Gemeinde von diesem relativ lose empfundenen Organismus hin zu einer Organisation entwickelte, angestoßen vor allem im dritten und vierten Jahrhundert durch die konstantinische Wende, die formell mit dem Edikt von Mailand (313) begann. Damit waren die Weichen gestellt für die Organisationsform der Staatskirche, die durch die römisch-katholische Kirche zunehmend an Macht und Einfluss gewann, nicht nur im geistlichen Bereich, sondern auch im weltlichen. „Den Höhepunkt seiner Machtfülle erreichte das Papsttum mit Innozenz III. (1198-1216)“15, der sich als Stellvertreter Jesu auf Erden verstand und für sich nicht nur die geistliche Herrschaft, sondern auch die weltliche Obergewalt in Anspruch nahm.
Mitte des 16. Jahrhunderts sollte sich im Rahmen der Reformation der Kirche aber herausstellen, dass diese Sicht nicht von allen geteilt wurde. Der Reformator Dr. Martin Luther verstand die Gemeinde stets als eine Schöpfung des Wortes Gottes oder, wie Melanchton später in der Confessio Augustana - CA VIII16 formuliert hat, als „die Versammlung aller Gläubigen und Heiligen“. Seine Betonung lag damit vor allem - im Gegensatz zum Papsttum - nicht auf dem Drang nach weltlicher Obergewalt, sondern auf der ursprünglichen Form der Gemeinde Jesu als Ort, an dem das Evangelium verkündigt wird und darum der Heilige Geist die Menschen zur Gemeinde ruft und sie als Volk Gottes versammelt. Er betrachtete den Organismus Gemeinde sozusagen als dynamisches Element (Ereignis) in dieser Welt, auch wenn dieser nach CA VII17 dennoch durch institutionelle Elemente wie z.B. Predigt oder Sakramente gekennzeichnet sein sollte.
Was damit bei Luther noch nicht so deutlich formuliert war, dass nämlich das Wesen der Gemeinde sowohl durch ein dynamisches Element (Ereignis) als auch durch ein statisches Element (Institution)18 gekennzeichnet ist, wurde im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts in der sog. Barmer Theologischen Erklärung19 und dort vor allem in der dritten These20 formuliert. Damit wurde zusammengebracht, was zusammengehört: das Ereignis, das in neutestamentlichen Bildern zum Tragen kommt wie z.B. dem Bild vom Leib21 Christi, an dem die einzelnen Christen Glieder22 sein können, und die Institution, der solche Aussagen zugeordnet werden können, die z.B. den Aspekt des Bauens (vgl. 1. Kor 3,10f) betonen, der bei dem Apostel Paulus immer wieder eine Rolle spielt. Dass diese Bilder nicht immer zu trennen sind, vor allem, wenn es um den Aufbau der Gemeinde geht, zeigen biblische Aussagen wie z.B. „Wachstum (Ereignis) des Tempels (Institution)“ aus Eph 2,19-22 oder „Gottes Ackerfeld (Ereignis) und Gottes Bau (Institution)“ aus 1. Kor 3,9.
Gemeinde ist ihrem Wesen nach also immer beides: Ereignis und Institution. Ereignis, in dem sich Glaube, Gemeinschaft und Dienst entfalten können, und Institution, in der Lehre, feste Struktur und Ämter als Unterstützung der Gemeindearbeit organisiert werden. Wenn man es genauer betrachtet, bedingt das eine das andere bzw. stehen die beiden Elemente in wechselseitiger Beziehung zueinander, wie ein ständiger Kreislauf, bei dem das Ereignis in seiner ganzen Dynamik die Institution hervorbringt und die Institution in ihrer Struktur und Organisation wiederum das Ereignis fördert.23
Helmut Gollwitzer beschreibt dies in folgenden Worten: „Die Gemeinschaft des neuen Lebens ist eine öffentlich sichtbare Personengemeinschaft, als konkrete Gruppe lokal und regional existierend, zugleich über alle räumliche und zeitliche Trennung hinweg verbunden in der Einheit dessen, den sie als Herrn und Heil der Welt mit Wort und Tat proklamiert“24. Damit bleibt die Gemeinde bei allen Erklärungsversuchen ihrem irdischen Wesen nach ein geheimnisvolles Konstrukt. Und dennoch ist eines klar: Jesus Christus als Haupt der Gemeinde gibt zu jeder Zeit die Richtung vor. Ich will „meine Gemeinde bauen“ (Mt 16,18b) ist dabei seine klare Vorgabe und weist damit auch auf die Beauftragung der Gemeinde hin.
Keine Gemeinde ist um ihrer selbst willen vorhanden, sondern sie „ist hervorgebracht worden zur Vollbringung guter Werke, die Gott selbst schon für sie vorbereitet hat (vgl. Eph 2,10)“25. Dazu ist sie von ihrem Herrn Jesus Christus selbst beauftragt, denn es geht um kein geringeres Ziel als die Nationen zu Jüngern zu machen (siehe Mt 28,18-20). Und dies geschieht nach Theo Sorg als „Gemeinschaft von Menschen, denen das Gemeinsame größer und wichtiger geworden ist als das Eigene, weil Jesus Christus sie losgelöst hat von ihren eigenen Wichtigkeiten, frei gemacht für andere Menschen, die neben ihnen stehen und mit ihnen leben“26.
Das heißt, dass sich keine Gemeinde nur mit sich selbst und der Pflege der eigenen Gemeinschaft beschäftigen, sondern sich „der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder“27 bezeugen soll. Dabei hat jede Gemeinde sowohl Aufgaben in der Beziehung zu Gott als auch im Verhältnis der Gemeindeglieder zueinander und zu Nichtchristen28 und deren gesellschaftlichem Umfeld29. Der Missionswissenschaftler George Peters ordnete diesen drei Bereichen die folgenden Aufgaben30 zu:
Nach oben (Gottesdienst, Anbetung, Lobpreis, Fürbitte)
Der Gottesdienst am Sonntag ist die Mitte der Gemeinde, in der es um die Mitte der göttlichen Heilsgeschichte geht, Jesus Christus. Darum wird ER in den Gottesdiensten auch als Heiland und Herr verkündigt. Dabei werden die Menschen in die Lebensgemeinschaft mit Christus eingeladen, weil ER aus christlicher Sicht der einzige Weg zu Gott ist.31 Lob und Anbetung in den Gottesdiensten sind Ausdruck des Glaubens und der Liebe zu Gott, was sich sowohl in der gesamten Gestaltung der Veranstaltungen widerspiegeln soll als auch im Alltagsleben der Besucher dieser Gottesdienste.
Gebet, Moderation, kreative Gestaltung, geistliche Lieder und Musik haben dabei eine wesentliche Bedeutung.32 Dank, Bitte und Schuldbekenntnis im Gespräch mit Gott unterstellt die Gemeinde bewusst dem Willen Gottes und hilft dazu die Verheißungen Gottes ernst zu nehmen. Dabei können Gebetsgruppen außerhalb der Gottesdienste das geistliche Fundament und die missionarische Kraft im Gemeindeaufbau unterstützen und stärken.33
Nach innen (Gemeinschaft, Erziehung, Erbauung, Ausbildung)
„Christlicher Glaube verlangt nach Gemeinschaft. Kein Christ kann auf Dauer ohne sie leben. Deshalb ist Gemeindebildung eine Urfunktion des Glaubens.“34 Diese Aussage lässt sich an der Praxis messen, ja Fritz und Christian Schwarz gehen sogar so weit, zu sagen, dass die Gemeinde aufhören würde Gemeinde zu sein, „wenn sie sich nicht als personale Gemeinschaft mit Jesus und mit Schwestern und Brüdern ereignet“35. Geprägt soll diese Gemeinschaft durch liebevolle Beziehungen sein, die gepflegt werden können durch Gebet und Dankbarkeit füreinander, Offenheit und Vertrauen, Vergebung und Versöhnung, gegenseitige Annahme und Wertschätzung, Verständnis füreinander, Gutes Übereinander-Reden und Fürsorge.36 Der alleinige Maßstab dazu ist das Wort Gottes, die Bibel.37
Und weil das Wort Gottes Menschen verändert, soll es alle Altersgruppen einladend, herausfordernd und umfassend weitergegeben werden. Hierzu sind Menschen in der Gemeinde von Gott aufgerufen, mit den ihnen anvertrauten geistlichen und natürlichen Gaben entsprechende Aufgaben zu übernehmen. Diese unterschiedlichen und doch gleichwertigen Aufgaben sollen verantwortlich, treu und in guter gegenseitiger Ergänzung wahrgenommen werden, damit der gemeinsame Dienst von der Liebe zu Jesus und zu den Menschen und nicht von Aktionismus bestimmt ist. Innerhalb dieses Auftrags „nach innen“ soll sich der Einzelne verstanden fühlen. Deshalb muss in Verkündigung und persönlichen Gesprächen die annehmende, konfrontierende, suchende und ganzheitliche Seelsorge Jesu praktiziert werden. Seelsorge üben kann jeder, der sein Verhältnis zu Gott und zu den Menschen durch Jesus Christus bestimmen lässt.38
Nach außen (Evangelisation, Dienst, Wegweisung, Zurechtweisung).
Ein definiertes „nach außen“ kann es nur geben, wenn es auch ein definiertes „nach innen“ gibt. Eine Festlegung auf Kriterien ist nötig, die es möglich machen, Menschen als zugehörig oder als zu gewinnend anzusehen. Es darf nie „vergessen werden, dass der universale Ruf zur Entscheidung des Glaubens kraft dieser Entscheidung auch die Scheidung von Glaubenden und Nichtglaubenden provoziert“39. Wenn es diese Grenze nicht gibt, kann auch nicht zum Glauben gerufen werden bzw. Menschen sehen keine Notwendigkeit, sich von ihrem alten Leben abzuwenden, um sich dem neuen Leben in Christus zuzuwenden.
Das Gleiche gilt für die Menschen, die schon zur Gemeinde gehören. Wenn die Grenzen zwischen dem Nachfolger Jesu und dem Menschen ohne Jesus verschwimmen, verliert sich die Notwendigkeit der Rettung von Menschen mehr und mehr. Aber genau das soll und darf nicht geschehen, denn die Gemeinde Jesu „will nicht ein paar Inseln der Seligen, ein paar Ghettos der Gerechten schaffen, sondern Strahlungskerne, die ihre Umgebung verändern mit ihren Erkenntnissen, Erfahrungen und Aktionen“40. Hilfreich hierbei sind sowohl persönliche Kontakte der Gemeindeglieder zu Menschen aus ihrem Umfeld, die noch keiner Gemeinde angehören, als auch ansprechende Veranstaltungen der Gemeinde, die die Gemeindeglieder motivieren, Menschen einzuladen.
Dabei beschränkt sich der Auftrag „nach außen“ jedoch nicht nur auf die Verkündigung des Evangeliums und entsprechende Veranstaltungen, sondern beinhaltet auch die Möglichkeiten der Gemeinde, Menschen durch diakonisches Handeln zu helfen, wo diese es nötig haben. Dabei ist wichtig, dass auch diakonisches Handeln untrennbar an den Glauben an Christus gebunden bleibt.41 Darüber hinaus gehört dazu auch die Unterstützung der Gemeindeglieder, „als Diener und als Könige und Priester dort zu handeln, wo sie leben und arbeiten, dort, wo sie hingestellt sind, Errettung von Sünden und soziale Reformen zu bewirken“42.
An diesen Vorgaben für den Auftrag der Gemeinde „nach oben“, „nach innen“ und „nach außen“ muss sich die Arbeit der Gemeinde messen lassen und sich deshalb auch immer wieder fragen:43
Wird Gott in und durch die Gemeinde gelobt und gepriesen?
Fördern sich die Gemeindeglieder in der inneren Auferbauung?
Versucht die Gemeinde leidenschaftlich Menschen für Jesus Christus zu gewinnen und ihr gesellschaftliches Umfeld zu durchdringen?
Blicken wir auf das Wesen und den Auftrag der Gemeinde, so kann von dort aus keine einheitliche Struktur als Vorgabe für die Gemeindearbeit abgeleitet werden. Auch das NT der Bibel kennt nur wenige Vorgaben, aus denen sich eine für alle Zeit und jede Art von Gemeinde gültige Struktur einer Gemeindearbeit ergeben würde. Daraus könnte man schließen, dass Strukturen für die Gemeindearbeit nicht so wichtig sind, was ich aber nicht für zulässig halte, weil auch in den Gemeinden des NT Strukturen vorhanden gewesen sein müssen, auch wenn sie nicht detailliert wiedergegeben werden.
Heinz Zahrnt schreibt dazu, dass die Gemeinde im NT zwar Institutionen und Ordnung hat, sie aber weder Institution noch Ordnung ist.44 Wenn sich aber Ereignis und Institution bedingen, wie weiter oben beschrieben, kommt auch eine Gemeinde nicht ohne Strukturen aus, denn zwischen „Ereignis und Struktur besteht ein Wechselverhältnis. Eine fremde, inadäquate Struktur der Kirche ist nicht etwa wertneutral, sondern bedroht und gefährdet das Ereigniswerden der Kirche, ja kann es zerstören“45.
Fritz und Christian Schwarz formulieren sogar: „Wer Institutionen grundsätzlich für einen Widerspruch zur Ekklesia hält, hat sich den Zugang zu ihrer positiven Nutzung von vornherein verbaut“46. Damit wären zwar Strukturen grundsätzlich als wichtig und notwendig erkannt, aber eine konkrete Struktur nicht abgeleitet. George Peters meint, dass diese im Blick auf die äußere Erscheinungsweise der Gemeinde, durch die Zeiten, die Formen der Umwelt, Kultur und Gesellschaft leicht verändert übernommen wurden.47 Strukturen scheinen sich also nicht als allgemeingültig etablieren zu können, auch wenn sie ein Kriterium auf jeden Fall erfüllen müssen: Sie müssen zweckmäßig48 sein.
Das bedeutet, dass sie sich als hilfreich erweisen müssen, bei der Erfüllung des individuellen Auftrags der Gemeinde vor Ort. Strukturen, die die Arbeit erschweren, die Kommunikationswege umständlich machen und Bürokratie vermehren, müssen deshalb solchen weichen, die sich als erleichternd, schnell und hilfreich erweisen. Diese hängen „von der Prägung der Gemeinde, der Mentalität der Menschen, der Frömmigkeitsrichtung, den Auflagen der Denomination und unzähligen anderen Faktoren ab“49.
Sicher macht dies die Gemeindearbeit in ihrer Dienststruktur nicht beliebig, denn nach Brunner besteht „in der Ekklesia allgemeine Dienst- ‚pflicht’, allgemeines Dienst-‚recht’, allgemeine Dienstwilligkeit und gleichzeitig größte Differenzierung der Dienste“50. Sie lässt sich jedoch nicht konkret und allgemeingültig festlegen. Wer sich aber in dieser Hinsicht mit Gottes Wort beschäftigt51, auf Gottes Geist hört und sich mit Menschen bespricht, wird einen Weg zu zweckmäßigen Strukturen finden können, die der Gemeinde so dienen, dass sie sich dabei gleichzeitig selbst weiterentwickeln kann52.
Gemeindearbeit, wie sie vorher beschrieben wurde, vollzieht sich immer im Kontext einer Gesellschaft, der je nach Standort sehr verschieden sein kann. Aus diesem Grund sollen hier ein paar Aspekte des gesellschaftlichen Kontextes beschrieben werden, in dem sich deutsche Gemeinden im Großen und Ganzen befinden.
Nach dem Soziologen Rainer Geißler ist die deutsche Gesellschaft „eine moderne und offene Gesellschaft: Die meisten Menschen verfügen über eine gute Ausbildung, einen international betrachtet hohen Lebensstandard und über entsprechende Freiräume zur individuellen Lebensgestaltung. Dennoch steht die deutsche Gesellschaft, ähnlich wie andere große Industrienationen, vor der Herausforderung, Probleme der demografischen Entwicklung, insbesondere die Alterung der Bevölkerung, zu lösen.
Auch die gesellschaftlichen Folgen der deutschen Teilung sind nach drei Jahrzehnten der Wiedervereinigung noch nicht völlig beseitigt. Im Zuge der Globalisierung hat sich Deutschland zudem auf den Weg zu einer modernen Einwanderungsgesellschaft mit zunehmender ethnokultureller Vielfalt begeben und seine Bemühungen verstärkt, die Migranten angemessen in die Kerngesellschaft zu integrieren. Der sozioökonomische Wandel der vergangenen Jahre - beschleunigt durch die Folgen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise - hat zum Entstehen neuer sozialer Risikolagen geführt und zu einer sich abzeichnenden stärkeren Auffächerung der Gesellschaft nach ökonomischen Lebensverhältnissen“53.
Dies führt uns zu der im März 2013 erschienenen und über 500 Seiten umfassenden 4. Studie54 des Bundesarbeitsministeriums zu Armut und Reichtum in Deutschland, nach der unser Land kein Land der Armen, sondern der Reichtum nur unterschiedlich verteilt ist. Nach den Zahlen des Berichtes vereinen die vermögensstärksten 10% der Haushalte 53% des gesamten Nettovermögens auf sich (Stand 2008). Diese Quote lag 1998 noch bei 45%. Die untere Hälfte der Haushalte besaß zuletzt lediglich gut ein Prozent des Nettovermögens. Zehn Jahre zuvor waren es noch vier Prozent. Von 2010 bis 2019 hat sich das Gesamtvermögen der Haushalte um weitere 1,6 Milliarden Euro erhöht.
Dabei liegt die „Armutsgefährdungsschwelle“ laut der Zahlen des Statistischen Bundesamtes für 2019 bei ca. 1.074 Euro im Monat (Einzelhaushalt). Wer darunter liegt, ist armutsgefährdet. Je nach Datengrundlage gilt dies für 14 bis 16% der Bevölkerung. Wobei man ehrlicherweise zugeben muss, dass Armut hierzulande relativ ist - immer gemessen am Vermögen oder Einkommen der anderen. Einkommensarm ist, wer weniger als 60% des mittleren Einkommens bezieht. Bei einem Alleinerziehenden sind das zurzeit ca. 1.309 Euro pro Monat.
Gleichzeitig vollzieht sich in unserer Gesellschaft auch das, was Opaschowski als „Wandel in der Lebensqualität“ der Deutschen bezeichnet55. Er stellt fest, dass der Begriff „Lebensqualität“ in den 1960er bis 1980er Jahren noch mit der Schaffung materieller Werte und der Erhöhung der Güterproduktion zusammenhing, während er in heutiger Zeit viel eher mit persönlichen Bedürfnissen, Ansprüchen, Dienstleistung, individuellem Wohlbefinden und höherer Lebenszufriedenheit verbunden wird.
Dies zeigte sich im Umfeld von christlichen Gemeinden vor allem dadurch, dass in den 1960ern bis spät in den 1990er Jahre viele Gemeindehäuser gebaut wurden, heutzutage die Bereitschaft aber mehr und mehr sinkt, in solche Projekte zu investieren. Auf Zielgruppen zugeschnittene Gottesdienste mit Betreuung der Kinder sind gefragt, Veranstaltungen, die dem Besucher „etwas bringen“ und in denen man sich wohlfühlt, auch wenn die Räume nicht optimal oder vielleicht sogar gemietet sind.
Das Gemeinwohl scheint also dem Individuum mehr und mehr Platz zu machen. Das zeigt sich vielleicht auch darin, dass es zwar - wie Michael Herbst meint - nur wenige Menschen gibt, „die keinen Ort haben, an den sie gehören“, es dagegen aber viele gibt, „die sich gleichzeitig einer Reihe von Orten zugehörig fühlen“56. Herbst zitiert dazu den Soziologen Ulrich Beck, der darauf hinweist, dass man nicht mehr unbedingt von einem Zusammenleben sprechen kann, wenn man an einem Ort lebt, und deshalb Zusammenleben auch nicht mehr auf einen Ort begrenzt sein muss57. Das heißt, und man kann das vor allem im städtischen Leben in Deutschland feststellen, dass immer weniger Menschen ihre Nachbarn wirklich kennen und mit ihnen etwas zusammen unternehmen.
Das Individuum sucht sich heute die Menschen sehr genau aus, mit denen es zusammen sein möchte. Dass dies einmal anders war, bestätigt eine Umfrage des BAT Freizeit-Forschungsinstituts58: Darin wird statistisch belegt, dass im Jahr 1990 fast zwei Drittel der Bevölkerung (ca. 62%) einem Verein oder einer Organisation angehört haben. Diese Zahl ist laut einer Studie der „Zivilgesellschaft in Zahlen“ (ZiviZ) bis in das Jahr 2017 auf ca. 50% gesunken und sinkt vor allem auf dem Land weiter. Die Bindung an Organisationen weicht laut der BAT-Umfrage mehr und mehr jederzeit kündbaren Zeitmitgliedschaften. Es gehört also nicht mehr unbedingt zum guten Stil dem Sportverein des eigenen Ortes anzugehören, es sei denn, es entspricht eigenen Interessen bzw. erfüllt die eigenen Erwartungen und Bedürfnisse.
Heinzpeter Hempelmann bestätigt und erweitert diese Ansicht, wenn er feststellt, dass wir es zwar in der postmodernen Gesellschaft mit einer Lebensphilosophie zu tun haben, die bunt ist, desorganisiert, dezentriert und sich jeder Formierung entzieht59, dass die deutsche Gesellschaft aber dennoch nicht in 80 Millionen Individuen zerfällt. Vielmehr schließt sie sich in Kulturen und Subkulturen zusammen, die den Menschen Werte und Sinn stiften und ihren Mitgliedern die wichtige Überzeugung geben, das Richtige zu tun60. An dieser Stelle haben viele Gemeinden und Verbände gut reagiert, indem sie aufgehört haben, sich über das zu definieren, was sie nicht sind61, und sich ein eigenes geistliches und strukturelles Profil gegeben haben, welches es Menschen ermöglicht über die Art der Zugehörigkeit zur jeweiligen Gemeinde zu entscheiden.
Der Theologe und Soziologe Prof. Dr. Klaus-Peter Jörns hat sich in Bezug auf diese gesellschaftlichen Gegebenheiten gefragt, was die Menschen, die darin leben, eigentlich glauben. Er macht in seinem Buch „Die neuen Gesichter Gottes“ deutlich, dass sich die Beziehung von Menschen zu Gott bzw. die Religiosität des Menschen in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat von einem Fürwahr-Halten von Glaubenssätzen hin zu einer Religiosität, die sich an einer veränderten Weltanschauung, Lebensweise und Selbstwahrnehmung des religiösen Menschen orientiert.
Hempelmann spricht in diesem Zusammenhang von einer Abkehr von dogmatischer Religiosität und konfessionsgebundener Spiritualität und einer Hinkehr zu Patchwork Religiosität.62 Demnach verändert sich unsere Gesellschaft nicht nur in ihrem Beziehungsgeflecht, sondern auch in ihrer Art zu glauben und ihren Glauben zu leben. Diesen Wandel habe ich zum Teil selbst miterlebt:
In meiner Kinderzeit gehörte es zum guten Ton, dass ortsansässige Bürger in die Gottesdienste der örtlichen Kirchengemeinde gingen. Glaube und Kirche waren untrennbar miteinander verbunden und durch das, was im Religions- und später Konfirmandenunterricht gelehrt wurde, war auch klar, wie dieser Glaube auszusehen hatte.
Heutzutage ist nicht mehr selbstverständlich, was Glaube ist und in welcher Beziehung er zum Alltagslegen eines Menschen steht, sondern religiöses Leben wird immer öfter unter dem Begriff der „Spiritualität“ zusammengefasst, den jeder inhaltlich so füllen kann, wie es seinen persönlichen Bedürfnissen entspricht.
Bei seiner Gesellschaftsanalyse63 geht Horst W. Opaschowski von einem globalen Strukturwandel64 aus, in dem wir uns momentan weltweit befinden. Vor allem die westliche Welt entwickelt sich durch die zunehmende Globalisierung zu einer Gesellschaftsform, die man am besten mit dem Stichwort „Netzwerkgesellschaft“65 wiedergeben kann. Dies hat zur Folge, dass der lokale und nationale, gesellschaftliche Einfluss immer mehr sinken und dem Einfluss des globalen Marktes Platz machen wird. Eine der negativen Folgen dieser Entwicklung konnte der deutsche Bürger im Jahr 2007 hautnah66 miterleben, als deutsche Banken dadurch ins Wanken gerieten, dass der amerikanische (private) Immobilienmarkt aufgrund von Zinsveränderungen praktisch zahlungsunfähig wurde.
Die Menschen des 21. Jahrhunderts haben es demnach mit einem weltweiten gesellschaftlichen Wandel zu tun, der sich bis in das Leben und Handeln des einzelnen Bürgers auswirkt. Und das wird auch in Zukunft so weiter gehen, glaubt man den Worten des „Global-Change-Experten“ Patrick Dixon, der an dieser Stelle zitiert werden soll. Er buchstabiert die Zukunft (FUTURE) unserer globalen Welt folgendermaßen67:
„
F
ast:
Das Tempo der Innovation und Veränderung nimmt durch die digitale Revolution ständig zu. Wie auf der Autobahn muss man mit zunehmender Geschwindigkeit noch weiter vorausschauen, um sicher zu fahren.
U
rban:
Die moderne Massengesellschaft brachte die Auflösung klassischer Familienstrukturen mit sich und daraus entstehend neue
Fragen und massive Probleme im Zusammenleben.
T
ribal:
Gleichzeitig suchen immer mehr entwurzelte Menschen Halt in alten und neuen »Stammeszugehörigkeiten«: Regionale Identität, Dialekt, Geschichte und Tradition werden neu entdeckt.
U
niversal:
Die Globalisierung bringt unsere sozialen und ökonomischen Systeme ins Schleudern und beschert uns eine zunehmend multikulturelle Situation. Globale Krisen treffen uns alle: Klimawandel, Flüchtlingsströme, Börsencrashs.
R
adical:
Nachhaltige Problemlösungen erfordern harte Schnitte und in Fragen wie der Bioethik verschärfen sich ideologische Gegensätze.
E
thical:
Sinn wird wichtiger als materieller Wohlstand und das Interesse an Glauben und Spiritualität (aber nicht am organisierten Christentum) nimmt zu.“
Was also noch vor 50 Jahren den „Deutschen ihr Deutsches“ war, muss zunehmend einem globalen Markt Platz machen. Dies führt jedoch zwangsläufig zu Verunsicherung der Menschen bezüglich ihrer Zukunft und ihrem Platz innerhalb dieser globalen Gesellschaft. Die Gemeinde kann diesem Faktum von ihrem Wesen her dadurch begegnen, dass sie zu einem Ort wird, der dem verunsicherten Menschen Perspektiven aufzeigt in der Beziehung zu Menschen und zu Gott, und ihm Möglichkeiten gibt, die Gesellschaft positiv zu beeinflussen bzw. zu gestalten. Ereignis und Institution können in dieser gesellschaftlichen Situation zu einem „gesicherten Raum“ werden, auch wenn die Gemeinde selbst ebenfalls nicht ohne Veränderungen auskommen kann und wird.
Gesellschaftlicher Wandel ist demnach nicht nur ein Relikt aus vergangenen Tagen, sondern er geht kontinuierlich weiter. Neu ist allerdings, dass er sich dabei nicht mehr nur im überschaubaren Bereich der eigenen Gesellschaft abspielt, sondern weit darüber hinausgeht und damit zur globalen Veränderung wird. Dr. Uwe Klein schreibt in diesem Zusammenhang, dass wir uns lächerlich machen, wenn wir überrascht davon sind, dass der Wandel die Konstante von Gegenwart und Zukunft ist und sein wird.68
Als christliche Gemeinden, die einen Auftrag in dieser globalisierten Welt haben, können wir diese Sicht von Gesellschaft und Zukunft nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen und wieder zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen uns dem stellen, auch wenn sich die Situation als komplex und problematisch darstellt. Es ist bestimmt nicht einfach, einer zunehmenden Individualisierung zu begegnen, hinter der sich auf der anderen Seite auch der Wunsch bzw. die Sehnsucht nach Zugehörigkeit verbirgt, wenn auch nur zu einem Teil der Gesellschaft.
Vielleicht kann die Gemeinde solch ein Teil der Gesellschaft sein, oder in Form von Zell- und Dienstgruppen Möglichkeiten schaffen, in denen Menschen Zugehörigkeit erleben und sich mit Gemeinde vor Ort identifizieren können, auch wenn sie sich mit einer formellen Mitgliedschaft in der Gemeinde im großen Ganzen noch schwertun. Die Hauskreisbewegung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hat hierzu gute Vorarbeit geleistet, auf die es nun aufzubauen gilt, und die es ermöglicht, flexibel auf die derzeitige Situation bezogen zu reagieren.
Einer immer stärker werdenden Tendenz hin zu Patchwork Religiosität können wir als Gemeinden nur begegnen, wenn wir uns als Christen in spirituellen Fragen profilieren. Das Evangelium ist eine klare Botschaft mit starkem Profil, auch wenn man in einzelnen Fragen anderer Meinung sein kann. Diese Klarheit gilt es zu verkündigen und zu leben, damit der verunsicherte Mensch auch spirituell Perspektiven erhält, an denen er sich und sein Leben festmachen kann.
Wenn von Gemeinde Jesu die Rede ist, spricht man vielerorts gerne von einem Organismus69, transportiert damit aber nicht selten die versteckte Botschaft, dass dies mit Organisation bzw. mit einer Institution ziemlich wenig zu tun hat. Sicher hängt das auch damit zusammen, dass sich eine christliche Gemeinde sowohl mit der Welt Gottes, der geistlichen Welt, als auch der Welt der Menschen, der irdisch/realen Welt, auseinandersetzen muss70. Dabei wird manchmal vergessen, dass in der Welt der Menschen Dinge von Bestand immer in irgendeiner Form organisiert oder strukturiert und vom Umgang miteinander geprägt sind, wie folgende Themen zeigen werden.
Es liegt in der Natur des Menschen, den einfachen Weg zu gehen. Doch sollte man bei anstehenden Veränderungen dieser Verlockung nicht nachgeben, will man nicht von Anfang an gerade diejenigen in Abwehr versetzen und auf Widerstand programmieren, auf die man bei der Umsetzung in allererster Linie angewiesen ist.71 Es gibt deshalb „nichts Effizienteres als auf Offenheit und Vertrauen beruhende Zusammenarbeit“72. Sie werden in Ihrer Gemeinde nichts erfolgreich verändern können73,
wenn die Menschen in der Gemeinde Ihnen nicht vertrauen;
wenn Sie Ihren Mitarbeitern und Partnern nicht vertrauen;
wenn es um das Vertrauensklima in Ihrer Gemeinde schlecht bestellt ist.
Als Führungskräfte brauchen Sie das Vertrauen Ihrer Gemeinde, damit sie Ihnen zuhört und mit Offenheit auf Ihre Vorschläge für neue Wege reagiert. Dieses Vertrauen wird einem nicht, wie in vergangenen Zeiten, automatisch durch „Amtsautorität“, Fachkompetenz und solide Arbeit entgegengebracht, sondern es wird sehr viel davon abhängen, ob
die persönliche Integrität und Reife,
die strategische Kompetenz,
die Entschlossenheit,
die persönliche Überzeugung von und Identifikation mit der neuen Sache,
die echte und tiefe Frömmigkeit,
die Mitmenschlichkeit,
die persönlich empfundene Nähe und
die verlässlichen Erfahrungen in der Vergangenheit
das Miteinander und die Zusammenarbeit prägen. Gegenseitiges Vertrauen spielt demnach eine sehr große Rolle. Denn wenn Sie Ihren Mitarbeitern und Partnern nicht vertrauen74, werden Sie
lieber alles selbst machen wollen,
keine Verantwortung abgeben,
keine wirkliche Übereinkunft treffen können,
zu stark mit Kontrolle arbeiten und
schon gar nicht ernsthaft gemeinsam nach den neuen Wegen suchen.
Völlig klar ist, dass ein Team, in dem Misstrauen Fuß gefasst hat und in dem die daraus entstandenen Tabus eine offene Kommunikation unmöglich machen, kein Nährboden für neue Pflanzen sein kann. Gute Zusammenarbeit, Kreativität und geistliche Kräfte erwachsen nur aus einer liebevollen und vertrauensvollen Atmosphäre.75
„Es werden nicht alle, die zu mir sagen: »Herr, Herr!«, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel“ (Mt 7,21). Dies ist eine starke Warnung vor frommer Selbsttäuschung, denn manche Motive können völlig andere Ergebnisse hervorbringen als in Gottes Plänen vorgesehen. Deshalb ist es wichtig, nicht nur im Rahmen von Veränderungen in der Gemeinde, immer wieder seine Motivation zu überprüfen. Kein Mensch hat nur gute Motive, auch wenn er es von sich denkt.
Manfred Beutel spricht von sechs Motiven, die nach seiner Erfahrung einen Veränderungsprozess in der Gemeinde massiv gefährden könnten76:
Wenn Sie durch einen gelungenen Veränderungsprozess Ihr Ansehen, Ihren Ruf und Ihr Prestige verbessern wollen.
Wenn Sie eine gelungene Veränderung um jeden Preis sichern wollen: Ihre inneren Werte und Gewohnheiten, die Sie persönlich brauchen, und Ihre existentielle Sicherheit, wenn Sie zum Berufsstand der Hauptamtlichen in der Kirche gehören.
Wenn Sie Ihre Gemeinde ändern, weil Ihnen sehr viel schon lange auf die Nerven geht, und Sie endlich auch mal nach Ihrer Nase Christsein leben möchten.
Wenn Sie persönlich materiellen Nutzen aus einer erfolgreichen Gemeinde schlagen wollen.
Wenn Sie Ihren Einflussbereich und Ihre Macht dadurch erweitern wollen, dass Sie sich mit Ihren guten Ideen und Ihrer Kompetenz an die Spitze setzen und sich unentbehrlich machen.
Wenn Sie sich nicht so sehr um die Menschen, mit denen Sie es zu tun haben, kümmern, sondern alles auf die Ergebnisse Ihres Veränderungsprogrammes setzen, weil nur Ergebnisse zählen.
Wer sich mit seinen Leitern und Mitarbeitern über seine Motive klar wird und sich von der Bibel leiten und - wo nötig - seine Motive verändern lässt, legt eine solide Basis für eine vielversprechende Gemeindearbeit, auch in Zeiten der Veränderung.
Veränderungen jedweder Art erzeugen bei den Betroffenen in der Regel „Unsicherheit, Unruhe und eine Vielzahl von Fragen“77. Deshalb ist „gute und richtige Kommunikation, gleich welcher Art sie auch sein mag, die entscheidende Führungsaufgabe überhaupt“78. Manche Führungskräfte beklagen sich darüber, dass sie nur noch mit Gesprächen und Sitzungen beschäftigt sind, und deshalb keine Zeit mehr hätten für die eigentliche Arbeit. Aber das ist weit gefehlt, denn „Kommunikation ist der Job der Führung“79!
Wenn man nur bedenkt, wie viel Kommunikation schon das Tagesgeschäft einer christlichen Gemeinde erfordert: es müssen Veranstaltungen unter der Woche koordiniert, Gottesdienste am Sonntag durchgeführt und die Zell- und Dienstgruppen mit den richtigen Informationen versorgt werden. Außergewöhnliche Events stehen regelmäßig an und auch die verantwortlichen Gremien wollen konstruktiv geführt und geleitet werden, einmal ganz abgesehen von Konflikten, die gelöst, Missverständnissen die geklärt und strukturellen Gegebenheiten, die gelebt werden wollen.
Was kommt da erst auf eine Gemeinde zu, wenn auch noch ein Veränderungsprozess ins Haus steht? Der Kommunikationsbedarf steigt enorm. Und in „einer Zeit, da Veränderungen nicht die Ausnahme, sondern den Normalzustand darstellen, ist es keine grobe Vereinfachung, wenn Peter Drucker80 sagt: Management ist Kommunikation“81. Es kommt einfach darauf an, dass „die richtigen Informationen zur rechten Zeit, bei den richtigen Leuten sind“82, damit alle Beteiligten sich zur gegebenen Zeit mit den richtigen Dingen auf die richtige Art und Weise auseinandersetzen.
Auch wenn ich nicht näher darauf eingehen kann, möchte ich zur Art und Weise von Kommunikation in Veränderungsprozessen doch so viel sagen: Wer mit Menschen erfolgreich zusammenarbeiten möchte, braucht eine transparente, offene, klare und vor allem ehrliche Art, mit ihnen zu kommunizieren. Wir haben heutzutage in der Regel kein „Informationsdefizit. Im Gegenteil, wir leiden unter einer nicht mehr zu bewältigenden Informationsflut. Unser Problem ist vielmehr ein Kommunikationsdefizit“83.
Woran das liegt? Einer der Gründe dafür könnte sein, dass manche Angst vor der Auseinandersetzung haben, wenn es mal Meinungsverschiedenheiten gibt. Und das sicher nicht zu Unrecht. Ich glaube, dass Auseinandersetzungen sehr zerstörerisch sein können, wenn es den Gesprächspartnern nur darum geht, Recht zu haben. Und deshalb liegt mir so sehr an einer gemeinsamen Vision. Denn gerade die eher kontroversen Gespräche können sehr konstruktiv und für eine gute Zusammenarbeit ebenso fruchtbar sein, wenn alle Beteiligten eine gemeinsame Vision haben, an der sie sich alle gleichermaßen ausrichten können und die eine Richtschnur in allen Gesprächen sein kann.
Der beste Weg dazu ist die direkte Kommunikation zwischen Menschen und nicht zwischen E-Mail-Postfächern oder Messengern. Elektronischer Informationsaustausch ist eine geniale Sache, um Themen, Prozesse, Sitzungen und Gespräche vor- und nachzubereiten und zu begleiten. Aber es darf niemals die Begegnung von Menschen und das direkte Gespräch zwischen Menschen ersetzen. Kommunikation lebt von der Begegnung zwischen Menschen und das über alle Ebenen hinweg, denn „nur wer sich in den Entscheidungsprozess mit einbezogen fühlt, wird mit aller Kraft in die richtige Richtung gehen und den gemeinsamen Projekterfolg zum Ziel haben“84.
„Es wird kaum eine Führungskraft geben, die bestreiten würde, dass Menschen das Wichtigste in einer Organisation sind.“85 Deshalb gehört es auch zu den erstrangigen Aufgaben eines Leiters, Menschen zu fördern und ihnen zu helfen, sich zu entwickeln. Und dabei geht es nicht um Mitarbeiter, sondern ich spreche ganz bewusst von Menschen. Denn eine Organisation hat und ist mehr als nur ihre Mitarbeiter!
Dies wird Ihnen spätestens dann bewusstwerden, wenn wir uns mit den einzelnen Phasen des Wachstums einer christlichen Gemeinschaft auseinandersetzen. Der amerikanische Franziskaner und Psychotherapeut Richard Rohr beschreibt in seinem Buch „Nicht die ewige Leier“ vier Wachstumsphasen christlicher Gemeinschaften, die immer dann, mehr oder weniger stark auftreten, wenn sich Menschen zu einem Team oder einer Gruppe zusammen finden, um sich gemeinsam an einem Projekt zu beteiligen (Abb. 2)86:
Abb. 2: Wachstumsphasen
Phase 1: Inspiration und Begeisterung
Der Start einer gemeinsamen Sache ist meist von viel Euphorie und Begeisterung begleitet. Nicht selten ist dies auch mit einer Führungspersönlichkeit verknüpft, die andere motivieren kann. Alles erscheint machbar und die Zukunft sieht meist nur noch rosig aus. Die emotionale Energie füreinander und für die Sache ist sehr hoch, obwohl viele Dinge noch gar nicht klar sind: Aufgaben, Beziehungen, Verteilung der Rollen, etc. Dabei hält sich der reale Einsatz noch in Grenzen.
Phase 2: Krise
Richard Rohr: „Auf dieser Stufe beginnen die Schwierigkeiten. Wir würden lieber blind bleiben, als zu sehen, was uns allmählich auf der zweiten Stufe aufgeht: Die Gemeinschaft ist unvollkommen“. Was anfänglich so rosig aussah, schlägt nun auf den harten Boden der Realität auf, die Perspektiven gehen verloren und die Nerven liegen blank. In dieser Phase treten manche der anfänglich Begeisterten wieder aus, weil ihnen klar wird, dass die Gemeinschaft doch nicht alles im Griff hat.
Es ist vor allem ein emotionaler Prozess, der nicht nur mit Logik und Argumenten bewältigt werden muss, sondern auch auf der Ebene der Gefühle. Es ist der Moment, an dem uns deutlich wird, dass wir unvollkommene Sünder sind und Vergebung und Begleitung benötigen. Und genau das muss sich die Gemeinschaft in dieser Phase geben: Die Gewissheit, dass sie zueinander halten, einander annehmen und gemeinsam das Licht am Ende des Tunnels suchen werden.
Phase 3: Klärung
Für die Gemeinschaft wäre es sehr schlimm, wenn sie in der zweiten Phase hängen bleiben würde. Deshalb ist es wichtig, dass sie in die dritte Phase kommt, in der sich die gemeinsame Kultur entwickelt, die Schuldzuweisungen und Polarisierungen überwunden, die Rollen klar werden und Verantwortung angemessen verteilt wird.
Es ist eine Zeit, in der die Leiter nicht mit Lob sparen und die Mitarbeiter stärken und zum Weitermachen anregen sollten. Dabei ist es wichtig, einander Mut zu machen, denn das Neue muss erst noch gelernt, Rollen eingeübt und Verantwortung wahrgenommen werden.
Phase 4: Frucht
Richard Rohr: „Nun beginnt eine erfolgreiche Phase. Sie wäre ohne die geduldige Abarbeitung der ersten drei Phasen nicht möglich gewesen. Aber nun klappt es miteinander, die Chemie stimmt, und wir arbeiten Hand in Hand [...] Im Laufe ihrer gemeinsam erlebten Zeit und ihrer gemeinsam bestandenen Prüfungen sind - die Mitarbeiter - auf eine gemeinsame Grundlage für ihr Einssein gestoßen, die von keinerlei augenblicklichen Schwierigkeiten erschüttert wird. Gott ist weiterhin am Werk, und genauso sind sie es [...] Wachstum stellt sich nicht von allein ein, es braucht geeignete Umstände. Zwei dieser geeigneten und notwendigen Umstände sind Zeit und Weisheit“.
Ich denke, es ist klar geworden, warum es mir so wichtig ist, dass wir in Sachen Führung nicht nur von Mitarbeitern reden, sondern dass wir in den Menschen, mit denen wir gemeinsam an einer Sache stehen genau das sehen: den Menschen mit seinen Emotionen, seinen Ideen, seinen Stärken, aber auch seinen Schwächen.
Und noch etwas wird deutlich, wenn man sich diese Phasen etwas genauer betrachtet: Es ist nicht möglich, als Führungskraft in allen Wachstumsphasen den gleichen Führungsstil an den Tag zu legen. Nicht nur deshalb unterscheidet z.B. Kenneth Blanchard in seinem Buch „Der Minuten-Manager: Führungsstile“ vier verschiedene Führungsstile, die auf die jeweiligen Phasen des Wachstums anwendbar sind (Abb. 6).
Und die beginnen beim Menschen! Wenn es um die Führung von Menschen geht, müssen Sie sich immer vor Augen halten, dass Menschen ganz wertvolle Wesen sind! Dies wird am deutlichsten in dem Satz, den der Apostel Johannes in seinem Evangelium geschrieben hat: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16).
Man könnte es auch anders sagen: Für Gott ist jeder Mensch einen ganzen Christus wert! Das sollte Sie leiten, wenn Sie mit Menschen umgehen. Und ein weiteres sollte Sie dabei leiten: Ihr Stand, den Sie selbst vor Gott, durch Jesus Christus, einnehmen.
Ruth Heil hat dies in unvergleichlicher Weise zusammengefasst. Es ist auf einer Postkarte niedergeschrieben, die ich einmal geschenkt bekam. Bei diesen Sätzen geht es um die Würde eines Königs, die wir als Christen im Reich des Königs aller Könige einnehmen. Und das klingt dann folgendermaßen:
Hiermit verleihe ich dir die KÖNIGSWÜRDE!
„Ich habe dich erwählt, weil du unendlich kostbar bist in meinen Augen. Du bist unvergleichlich und einmalig. Ich setze mein Leben für dich ein, so wichtig bist du mir. Nimm deinen Platz ein, da, wo ich dich eingesetzt habe. Lass dich nicht durch deine Aufgaben dazu verleiten, dich minderwertig zu fühlen. Keine Arbeit braucht dir zu gering sein. Deine Treue ist wichtig, auch im Kleinen. Sei dir deiner Erwählung täglich gewiss. Wenn dir Fehler unterlaufen, komm zu mir und erzähle es mir. Dann werde ich da sein und für dich einstehen, wiedergutmachen und die Schuld bezahlen. Geh fröhlich deinen Weg. Ich werde dich keinen Moment im Stich lassen. Diene an deinem Platz in der Gewissheit deiner Königswürde. Ich selbst stehe zu dir und habe dir die Krone aufgesetzt und ich habe dich unendlich lieb. DER KÖNIG ALLER KÖNIGE!“
Aus diesem Menschenbild heraus ergibt sich das Verhalten einer Führungsperson, das zwar niemand von außen einklagen kann, das aber der Aufgabe bzw. der Position eines Leiters angemessen ist:
Menschen achten und wertschätzen.
Andern dienen, aber nicht versuchen, es allen recht zu machen.
Tägliche Verpflichtung zum Dienen (Kurs halten).
Konzentration auf geistliche Relevanz (Frucht), statt auf irdischen Erfolg (Profit).
Zunächst einmal gehen wir immer von einem Führungsstil aus, der Menschen zwar in Verantwortung stellt, sie aber letzten Endes in die Freiheit führt. Dabei setze ich voraus, dass in jedem Menschen das Potential steckt, seinen Beitrag in dieser Welt zu leisten. Da spielt es keine Rolle, wie dieser Mensch aussieht, wie er sich kleidet oder wie er sich gibt. Um dieses Potential entfalten zu können, benötigt der Mensch, der angeleitet bzw. geführt werden soll, drei wichtige Substanzen (Abb. 3):
Er braucht Informationen über die verschiedenen Aspekte und Bereiche seiner Arbeit. Er braucht Informationen über die Kontaktpersonen, die ihm weiteren Input geben können. Und er braucht Informationen über das Ziel, das er mit seiner Arbeit erreichen soll.
Abb. 3: Substanzen
Als nächstes benötigt er eine entsprechende Motivation, die extrinsisch (von außen) z.B. durch ein Ziel gegeben sein kann. Dies kann auch durch Belohnungen etc. herbeigeführt werden. Dabei darf die von innen her kommende Motivation nicht unterschätzt werden. Es gibt nichts Wertvolleres als solch eine Art der Motivation! Wenn man den Hund zum Jagen tragen muss, wird die Jagd ziemlich beschwerlich. Wenn der Hund allerdings intrinsisch motiviert ist, muss man ihn eher in seine Grenzen weisen als ihn zur Jagd zu bewegen.
Und schließlich muss es immer darum gehen, einen Mitarbeiter auch in die Verantwortung zu nehmen und ihm nicht nur die Arbeit vor die Füße zu werfen. Wenn ein Mensch den Eindruck bekommt, dass er nur die Arbeit machen und ansonsten nichts zu melden hat, wird er alles andere als motiviert sein. Es muss daher immer darauf ankommen, Arbeit und Verantwortung zu übertragen. Allerdings muss man sich auch hier mäßigen bzw. auf den Mitarbeiter einstellen. Oftmals heißt es: „Fang schon mal an. Du weißt ja, wie es geht!“ Das kann sehr erdrückend sein, wenn der Mitarbeiter z.B. doch nicht so genau weiß, wie es geht. Auf der anderen Seite kann es auch sehr demotivierend sein, wenn der Mitarbeiter zu wenig Verantwortung übertragen bekommt.
Deshalb muss noch ein weiterer Punkt bedacht werden, wenn Sie damit beauftragt sind, Menschen zu führen: Der Entwicklungsstand des Mitarbeiters. Wenn Sie in Ihrer Führungsweise das richtige Maß treffen möchten, müssen Sie automatisch beurteilen, in welchem Entwicklungsstand sich dieser Mitarbeiter befindet. Dieser hängt meist von zwei Faktoren ab; dem Engagement des Mitarbeiters und dessen Kompetenz (Abb. 4).
Abb. 4: Kompetenz und Engagement
Wenn eine Person eine neue Aufgabe übernimmt, ist das Engagement meist ziemlich hoch, aber die Kompetenz für die Bewältigung der Aufgabe meist noch eher niedrig. Auf der X-Y-Achse ausgedrückt könnte man sagen, dass er gerne etwas tun möchte, aber noch nicht kann, weil ihm die dazu nötigen Kompetenzen fehlen!
Wie können Sie das ändern? Zunächst einmal, indem Sie die Bereitschaft des Mitarbeiters anregen, sich die notwendigen Kompetenzen anzueignen bzw. sich anleiten zu lassen. In diesem Fall könnten Sie für Weiterbildungsmöglichkeiten sorgen oder solche empfehlen. Ziel ist es, dass der Mitarbeiter sagen kann: „Ich will diese Aufgabe auch weiterhin tun und ich kann es auch!“ Da dies nicht sofort der Fall sein wird, müssen Sie den Mitarbeiter durch die einzelnen Entwicklungsstufen führen (Abb. 5).
Abb. 5: Entwicklungsstufen von Mitarbeitern
Das Ziel dabei ist, dass die fachliche, persönliche und soziale Kompetenz bei dem Mitarbeiter kontinuierlich ansteigt, ohne dass die Motivation verloren geht. Das hört sich auf den ersten Blick sehr schwierig und kompliziert an, ist es in der Praxis aber nicht, wenn Sie mit dem Mitarbeiter in Kontakt und im Gespräch sind.
Die Entwicklung und die Übergänge finden fließend statt und werden weitestgehend durch den Mitarbeiter selbst gesteuert werden. Denn sowohl Engagement als auch Kompetenz sind seine Sache. Ihre Sache ist es, das nötige Umfeld zu schaffen und die nötigen Hilfen zur Verfügung zu stellen, damit der selbst motivierte Mitarbeiter seine Aufgabe konsequent erfüllen und ausfüllen kann.
Dazu können verschiedene Führungsstile angewendet werden. Ziel eines situativen Führungsstils - sprich, eines Führungsstils, der sich sowohl den Gegebenheiten als auch dem Entwicklungsstand des Mitarbeiters angleicht - ist es, sich nicht nur auf eine Monokultur des Führens zu beschränken, indem Sie immer Ihren Lieblingsführungsstil anwenden, sondern dass Sie versuchen, in jeder Phase des Entwicklungsprozesses den jeweils angemessenen Führungsstil anzuwenden (Abb. 6).
Dazu werden wir uns nachfolgend die Führungsstile etwas näher ansehen.87
Dirigierender Führungsstil (F1)
Wer den dirigierenden Führungsstil anwendet, muss ...
klare Aufgabenbeschreibungen und Struktur geben,
detaillierte und schrittweise Anweisungen/ Informationen geben, wie eine Aufgabe erledigt werden muss,
bei der Ausführung der Aufgabe - zur Begleitung und Überwachung - in unmittelbarer Nähe des Mitarbeiters sein,
Rückmeldung über die Leistung geben können, und
Ziele und Qualitätsmaßstäbe setzen.
Dadurch gewinnt der Mitarbeiter an Know-how. Er lernt Stück für Stück und wächst in die Aufgabe hinein.
Einsatzbereiche des dirigierenden Führungsstils
Abb. 6: Führungsstile in versch. Situationen
Bei hohem Engagement und geringer Kompetenz des Mitarbeiters;
Z.B. zu Beginn einer neuen Aufgabe: Normalerweise hat ein neuer Mitarbeiter genügend Engagement. Seine Begeisterung ist ansteckend. Was ihm in diesem Stadium fehlt ist die Kompetenz. Es fehlt an aufgabenspezifischem Wissen, am nötigen Gesamtüberblick, der bisherigen Geschichte etc.;
In gewissen Krisensituationen;
In Phase 1 (Inspiration und Begeisterung), in Bezug auf die Wachstumsphasen christlicher Gemeinschaften.
Trainierender Führungsstil (F2)
Wer den trainierenden Führungsstil anwendet, geht schon einen Schritt weiter als der dirigierende Führungsstil. Jetzt gibt nicht mehr nur der Leiter den Ton an, sondern
er bittet um Ideen und Vorschläge des Mitarbeiters,
er erläutert seine Entscheidungen,